Zitat #9: „Nawalny kämpft nicht für Meinungsfreiheit, sondern um die Macht“

Zwei erste große Interviews mit Alexej Nawalny nach seiner Nowitschok-Vergiftung sind in der vergangenen Woche erschienen: Das erste ist auf Deutsch, in Der Spiegel. Christian Esch und Benjamin Bidder, der derzeitige und der ehemalige Moskau-Korrespondent des Blattes, hatten Nawalny in Berlin getroffen. „Ich behaupte, dass hinter der Tat Putin steht, und andere Versionen des Tathergangs habe ich nicht“, wird er im Spiegel zitiert. Allein die Tatsache, dass er mit Nowitschok vergiftet worden sei, verweise auf Geheimdienste wie den FSB oder den Auslandsgeheimdienst SWR, die in der Lage seien, den Nervenkampfstoff herzustellen und einzusetzen. 
Kreml-Sprecher Peskow erklärte daraufhin, hinter Nawalny stünde der US-Geheimdienst CIA. Ungeachtet dessen wiederholte Nawalny seine Version der Dinge auch in seinem zweiten großen Interview – diesmal gab er es zusammen mit seiner Frau Julia in einem russischen Medium, dem YouTube-Kanal von Juri Dud. Im reichweitenstarken Staatsfernsehen ist Nawalny ein Tabu, aber die Videos von Dud finden ebenfalls ein (wenn auch kleineres) Millionenpublikum – auf YouTube, quasi als Samisdat des Online-Zeitalters.

Im Spiegel-Interview wird Nawalny auch dazu gefragt, weshalb er 2011 den „Russischen Marsch“, eine Kundgebung von Nationalisten, mitorganisiert habe. Er distanzierte sich nicht von seinem damaligen Tun: „Ich sehe kein Problem in der Zusammenarbeit mit allen, die im Grundsatz antiautoritäre Positionen vertreten“, sagte er. Und weiter: „Ihr in Deutschland habt schon die Demokratie. Wir müssen erst einmal eine Koalition aller Kräfte schaffen, die für die Abwählbarkeit der Machthaber eintreten, für die Unabhängigkeit der Gerichte. Deshalb habe ich eine Zeit lang versucht, das liberalnationalistische Lager der Opposition zu einen.“
Gerade im liberalen russischen Lager machte sich Nawalny mit solchen Positionen aber auch viele Feinde. 
Alexander Baunow hat auf Carnegie.ru die „Wiederauferstehung“ des Alexej Nawalny analysiert – und inwiefern der Oppositionspolitiker dadurch dem Kreml sogar noch gefährlicher werden könnte.

[bilingbox]Nawalny hat noch nie so ganz zum Liberalen gereicht und war noch nie ein Dogmatiker. Sprich, er ist ein Mensch mit einer Unterstützerschaft, die in ihrer Breite bewusst nicht festgelegt ist und die enorm zulegt, wenn die Umstände für ihn günstig sind. Jetzt nach der Vergiftung sind beispielsweise sowohl seine positiven als auch seine negativen Umfragewerte gestiegen, und mit ihnen ist sein Bekanntheitsgrad in die Höhe geschnellt. Außerdem kämpft Nawalny im Gegensatz zu vielen ehemaligen Oppositionellen nicht um das Recht, Putin zu kritisieren, nicht für Meinungs- und Versammlungsfreiheit, sondern um die Macht als solche.~~~Навальный всегда был недостаточно либерал и совсем не догматик, то есть человек с заведомо неопределенно широкой базой, которую могло увеличить в разы любое благоприятное для него стечение обстоятельств. Например, сейчас после отравления заметно выросли его и положительный, и отрицательный рейтинги, а вместе с обоими подскочила узнаваемость. Кроме того, в отличие от многих старых оппозиционеров Навальный борется не за право критиковать Путина, не за свободу слова и собраний, а именно за власть. [/bilingbox]

In ganzer Länge erschien der Artikel am 02.10.2020 auf carnegie.ru unter dem Titel Woskresschi politik. Stary Kreml i nowy Nawalny (dt. „Der auferstandene Politiker. Alter Kreml und neuer Nawalny“). Das russische Original lesen Sie hier. Die englische Version finden Sie hier.

Weitere Themen

Eine toxische Angelegenheit

Nawalny: Wer war’s und warum gerade jetzt?

Nawalny vergiftet – wo bleibt der Protest?

Wie Merkel lernte, mit dem Gopnik zu reden

„In meinem Kopf fügen sich die Puzzleteile zusammen“


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter: