„Wir haben absolut nichts gegen Russland“

Seit dem 9. August dauern die Proteste in Belarus an – am Wochenende gingen wieder zehntausende in Minsk auf die Straße, auch am Mittwoch hat es massive Proteste gegeben: Nach der im Geheimen durchgeführten Vereidigung Lukaschenkos ist die Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Demonstranten vorgegangen. Von Anfang an waren die Demonstrationen weder antirussisch noch pro-westlich, sondern richteten sich gegen die Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl und gegen Lukaschenko. So fordern die Demonstranten, Swetlana Tichanowskaja als eigentliche Wahlsiegerin anzuerkennen.

Unterdessen ergibt sich in einem gewissen Sinne dennoch eine Lagerbildung: Lukaschenko bat Russland um Hilfe, während Swetlana Tichanowskaja im EU-Ausland Exil suchen musste. Vergangene Woche hat Alexander Lukaschenko sich in Sotschi mit Putin getroffen, der Belarus einen Kredit in Höhe von 1,5 Milliarden US-Dollar gewährte. 
Eine Woche später trafen die EU-Außenminister Swetlana Tichanowskaja in Brüssel – allein, dass sie sich mit ihr an einen Tisch setzen, hat hohen Symbolwert. Geplante und von Tichanowskaja geforderte Sanktionen gegen das belarussische Regime scheitern jedoch bislang am Veto Zyperns. Moskau verurteilte das Treffen als Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Belarus.

Das russische Wirtschaftsmagazin RBC, das seinen einstigen Ruf als Vorreiter des unabhängigen Journalismus nach einem Eigentümerwechsel inzwischen eingebüßt hat, hat Tichanowskaja vor dem Brüsseler Treffen online interviewt. Tichanowskaja spricht dabei über ihre eigene Rolle – sie sei mit dem Versprechen für Neuwahlen angetreten, nicht als künftige Präsidentin. Gleichzeitig kann man an einzelnen Äußerungen Tichanowskajas in dem russischen Medium durchaus ablesen, dass sie das „Einmaleins der Diplomatie“ inzwischen beherrscht – wie sie selbst ganz offen sagt. 

Alexander Atassunzew: Sie hatten bislang noch keinen Kontakt zu offiziellen Vertretern aus Moskau. Warum?

Swetlana Tichanowskaja: Diese Frage kann ich nicht beantworten. Das entscheidet ja jedes Land selbst. Die einen unterstützen uns, andere nicht. Aber natürlich ist Russland ein befreundetes Land, und ich weiß, dass die Russen, das heißt die Menschen dort, die Belarussen unterstützen. Wir bedauern es natürlich sehr, dass Herr Putin Lukaschenko unterstützt hat und nicht das belarussische Volk. Doch wir sind immer offen, unser Koordinationsrat ist immer offen für einen Dialog. Auch ich bin offen für einen Dialog mit Vertretern der Russischen Föderation.

Ich bitte Sie, in mir nicht die zukünftige Präsidentin von Belarus zu sehen, denn als die bin ich nicht angetreten

Warum sieht Moskau in der Politik von Swetlana Tichanowskaja nicht das, worauf man bauen will? Worin besteht Ihrer Meinung nach das Problem?

Ich bitte Sie, in mir nicht die zukünftige Präsidentin von Belarus zu sehen, denn als die bin ich nicht angetreten. Mein Wahlprogramm bestand aus drei Punkten, von denen der wichtigste die Durchführung neuer, ehrlicher und transparenter Wahlen war. Und erst bei diesen Wahlen wird der Präsident gewählt. Ich bin mir sicher, dies wird eine äußerst starke Führungspersönlichkeit sein, mit der Herr Putin gemeinsame Verhandlungs- und Gesprächsthemen auf Augenhöhe finden wird, falls er mich nicht als Menschen sieht, mit dem er sprechen kann.

Worin besteht der Sinn der regelmäßigen und recht häufigen Treffen mit Vertretern der Europäischen Union? Als Reaktion intensiviert Lukaschenko doch nur die Bindung an Russland, schließt die Grenzen zur EU und kontrolliert die Grenzen zur Ukraine stärker. Meinen Sie nicht, dass Ihre ständigen Kontakte zur EU Moskau verschrecken und Anlass geben zu sagen, dass Ihnen da jemand den Rücken stärkt.

Ich würde nicht sagen, dass es häufige Treffen sind. Sie finden je nach Notwendigkeit und Bedarf statt. Treffen mit Staatsoberhäuptern gibt es nicht täglich, nicht mal wöchentlich. Ich glaube nicht, dass Russland da etwas befürchtet.

Unser sogenannter Präsident hat noch nie adäquat auf Europa reagiert

Ich sehe auch keine Verbindung zwischen diesen Treffen und Lukaschenkos Verschärfung der repressiven Maßnahmen, denn unser sogenannter Präsident hat noch nie adäquat auf Europa reagiert. Doch wir sind gezwungen, adäquat zu reagieren, denn uns geht es vor allem um die Unterdrückung der Menschenrechte in Belarus. Die Repressionen gehen weiter und werden stärker, denn die Belarussen sind aufgewacht und haben beschlossen, für ihre Rechte zu kämpfen. Denn genau aus diesem Grund können sie nicht länger so leben und nicht aus dem Grund, weil wir uns mit Vertretern der Europäischen Union treffen.

Ich möchte Sie daran erinnern, dass Herr Lukaschenko uns noch vor ein paar Monaten [während des Wahlkampfs – dek] beschuldigt hat, wir würden aus Russland gelenkt werden und dass der Kreml uns in der Hand habe. Und jetzt hat dieser Mensch seine Meinung um 180 Grad geändert. Plötzlich finanzieren uns angeblich die USA und diverse andere Strippenzieher, Lettland, Polen, und jetzt ist auch schon die Ukraine mit von der Partie.

Wissen Sie, Wladimir Putin ist trotz allem eine kluge Führungsperson. Ihm ist klar, dass alles, was da geredet wird, die Fantasien eines einzelnen Mannes sind. Und er weiß genau, dass wir immer gesagt haben: Wir sind offen für einen Dialog. Und dass wir, ich meine das belarussische Volk, niemals Russland den Rücken zukehren würden. Wir sind befreundete Länder, und das wollen wir auch bleiben.

Wissen Sie, Wladimir Putin ist trotz allem eine kluge Führungsperson. Ihm ist klar, dass alles, was da geredet wird, die Fantasien eines einzelnen Mannes sind

Wir hätten gern von allen Ländern Unterstützung in unserem Kampf dafür, dass das Volk über die Zukunft des Landes entscheidet. Denn wir kämpfen für das Recht zu wählen, mit wem wir unser Land aufbauen wollen. Das ist kein prowestlicher oder prorussischer Kampf, das ist das Aufstehen gegen einen Mann, zu dem unsere Leute das Vertrauen und vor dem sie die Achtung verloren haben und mit dem wir weder weiter leben noch weiter arbeiten wollen. Das hat weder etwas mit Herrn Putin noch mit der Ukraine noch mit irgendwelchen anderen Ländern zu tun. 

Sprechen Sie denn auf den Treffen mit den EU-Vertretern über mögliche Wirtschaftshilfen für Belarus, etwa durch einen Stabilisierungskredit für den Fall, dass die Opposition siegen sollte? Und wenn ja, wie und zu welchen Bedingungen soll das geschehen?

Ja. Belarus wird für die Stabilisierung und die wirtschaftliche Entwicklung Hilfe brauchen. Wir haben darüber mit vielen Staatsoberhäuptern und internationalen Organisationen gesprochen, auch mit potentiellen Investoren. Es gibt Interesse und den Wunsch zu helfen. Der Ministerpräsident von Polen machte den Vorschlag eines Marschallplans für Belarus. Wir begrüßen alle Vorschläge, die auf die Entwicklung unseres Landes abzielen. Die Bedingungen und Formen der Unterstützung sollen Experten vereinbaren, und ich weiß, dass sie schon in die Richtung arbeiten.

Warum sind auf Ihrer Website Links aufgetaucht zu einem Reanimationsmaßnahmen-Paket, das unter anderem den Austritt von Belarus aus der OVKS vorsieht, aus der Russisch-Belarussischen Union, der Eurasischen Wirtschaftsunion und so weiter? 

Da verblüffen Sie mich jetzt aber, denn es kann nicht sein, dass von unserer Website, die für Swetlana Tichanowskaja und ihren Wahlkampf erstellt wurde, auf so etwas verlinkt wurde – das hätte ich nicht zugelassen, und ich habe auch nichts davon gehört. Von solchen Ideen habe ich erstmals von Staatsbeamten gehört, die diesen Unsinn verbreitet haben. Das kann jedenfalls nicht stimmen. Mein Programm besteht aus drei Punkten. Wenn irgendwann irgendwo irgendwas aufgetaucht ist, dann hat das mit mir überhaupt nichts zu tun. 

Finden Sie die Ideen des Reanimationsmaßnahmen-Pakets gut? Entrussifizierung, Austritt des Landes aus Bündnissen mit Russland und so weiter?

Diese Frage kann ich nicht beantworten, denn bei solchen Fragen muss das belarussische Volk mitentscheiden. Es gibt viele Fragen, in die die Meinung der Menschen einfließt, und wenn der neue Präsident der Republik Belarus einmal solche Entscheidungen treffen muss, dann werden die Menschen darüber abstimmen, sie werden ihre Meinung äußern, und Entscheidungen werden nur unter Berücksichtigung dieser Meinung getroffen werden. 

Wir haben absolut nichts gegen Russland. Das ist nur die künstlich aufgeblasene Meinung eines Einzelnen

Vor dem Treffen von Putin und Lukaschenko [in Sotschi am 13. September 2020 – dek] haben Sie angekündigt, dass alle Verträge, die Moskau und Minsk jetzt schließen, ihre Gültigkeit verlieren, falls Sie an die Macht kommen. 

Ich habe gesagt, dass ich sie überprüfen werde. Weil das belarussische Volk jetzt kein Vertrauen zu Herrn Lukaschenko hat. Sie betrachten ihn nicht als ihren Präsidenten. Sobald ein neuer, gesetzlich gewählter Präsident sein Amt antritt, werden diese Abkommen, wenn sie Belarus, der belarussischen Wirtschaft oder dem belarussischen Volk irgendwie schaden, natürlich abgeändert. Der zukünftige, gesetzlich gewählte Präsident wird natürlich das Recht haben, Abkommen mit allen Ländern neu zu verhandeln. Wir wollen jetzt nicht ins Detail gehen, ob Russland, die Ukraine oder sonst ein Land – das gilt für alle Länder. 
Sie müssen verstehen, wir haben absolut nichts gegen Russland. Das ist nur die künstlich aufgeblasene Meinung eines Einzelnen. 

Es geht um die Verträge, die nach dem 9. August 2020 [dem Tag der belarussischen Präsidentschaftswahl – dek] abgeschlossen wurden. Ist das der Zeitpunkt, ab dem sich, wie Sie sagen, das Volk von Alexander Lukaschenko abgewandt hat?

Ganz genau. 

Sie haben außerdem erklärt, die zukünftigen belarussischen Machthaber hätten das Recht, den jetzt von Russland gewährten Kredit über 1,5 Milliarden Dollar nicht zurückzuzahlen. Finden Sie das wirklich?

In den Augen der Menschen hat Lukaschenko keine Legitimität, sie haben ihn nicht gewählt. Wenn dieser Mensch einen Kredit aufnimmt und die Belarussen sollen ihn zurückzahlen, obwohl sie diese Person gar nicht anerkannt haben und nicht anerkennen werden, wovon reden wir dann? Natürlich ist das ein emotionales Statement, kann sein, aber ich habe es gemacht, weil wir in Wirklichkeit alle wissen, wofür dieses Geld verwendet wird. Für die Vernichtung der eigenen Leute. Sie kaufen damit kugelsichere Westen. Gegen wen müsst ihr euch verteidigen? Gegen unbewaffnete Menschen?

Dieses emotionale Statement habe ich gemacht, weil wir wissen, dass dieses Geld für die Vernichtung der eigenen Leute ausgegeben wird

„Den Kredit zahlen wir nicht ab, die Abkommen erkennen wir nicht an“ und so weiter – glauben Sie nicht, dass Ihre Aussagen Moskau erst recht anspornen, Lukaschenko vorbehaltlos zu unterstützen? 

Das weise Moskau denkt nicht so. Denen ist klar, dass man heutzutage alles im Dialog lösen kann, zu dem wir die derzeitige sogenannte Staatsmacht von Belarus gerade einladen. Und genauso werden alle anderen Fragen im Dialog gelöst werden. Zwischenstaatliche Fragen und Fragen bezüglich der Abkommen, die in diesem Zeitraum geschlossen wurden. Das heißt nicht, dass wir alle Verpflichtungen ignorieren, keineswegs. Aber der Punkt ist, dass nur der Dialog aus dieser Situation herausführen kann. Und für uns, die Mehrheit, ist es natürlich schwer zu sagen, dass Wladimir Putin die Meinung der belarussischen Mehrheit nicht berücksichtigt hat. Weil ihm klar sein muss, dass Lukaschenko die Situation nicht mehr im Griff hat. Und als weiser Anführer sieht Herr Putin das alles.
Das Entscheidende ist, dass dieser Konflikt ein innerer ist, und wir bitten die Länder, sich nicht in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen. Weil dieses Problem ohne äußere Einmischung viel schneller zu lösen wäre. 

Warum sprechen Sie von der Weisheit Moskaus und schließen aus, dass Wladimir Putin annimmt, dass Sie in der Minderheit sind oder dass Sie NATO-Stützpunkte in Belarus wollen?

Ich könnte auch etwas anderes sagen, aber ich habe mir das Einmaleins der Diplomatie schon ein wenig angeeignet – das musste ich –, daher sage ich es genau so.

In einem Interview sagten Sie, Lukaschenko bekäme im Fall seines friedlichen Rücktritts eine Garantie auf Immunität. In einem anderen Interview sagten Sie dagegen, er hätte sich für die Verbrechen der Silowiki zu verantworten. Welche Zukunft sehen Sie denn nun für Lukaschenko? 

Bei dieser Frage gerate ich immer ein wenig ins Schlingern, weil ich auch nur ein Mensch bin und meine eigene Haltung dazu habe. Aber ich verstehe, dass es Leute gibt, die von den Ereignissen seit dem 9. August besonders betroffen sind, deren Angehörige getötet wurden, die diesem Menschen niemals verzeihen werden, und sie wären absolut dagegen, dass er diese Garantie bekommt. Und daher schlagen bei dieser Frage immer zwei Herzen in meiner Brust. Was kann ich da antworten als Vertreterin aller und für mich persönlich?

Das Entscheidende ist, dass dieser Konflikt ein innerer ist, und wir bitten die Länder, sich nicht in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen

Wahrscheinlich ist die richtige Antwort: Wenn es keine weiteren Opfer gibt, dann kann und wird diese Frage zum Gegenstand von Verhandlungen werden. Wenn wir uns an einen Tisch setzen, können wir das alles diskutieren. 

Sie werden das letzte Wort haben, wenn Sie Präsidentin werden.

Nein, das letzte Wort wird ein faires Gericht haben. 

Wie kann es ein Gericht geben, wenn eine Garantie auf Immunität gewährt wird?

Da sehen Sie es, es ist klar, dass solche Verbrechen unverzeihlich sind. Wir wollen nicht, dass auch nur ein Tropfen Blut fließt. Daher sind unsere Demonstrationen prinzipiell friedlich. Daher kann die Frage der Immunität unter der Bedingung, dass es keine weiteren Opfer gibt, Gegenstand von Verhandlungen werden. 

Warum kehren Sie nicht nach Belarus zurück?

Ich fühle mich dort nicht sicher. Sogar wenn man sich in keiner Weise schuldig macht, denken sie sich irgendeinen Paragrafen für dich aus, dazu braucht es nicht viel. Ich bin ja nicht aus freien Stücken im Ausland. Wenn man bei uns offen reden und seine Position zum Ausdruck bringen könnte, glauben Sie, dann würde irgendjemand auswandern? Es würden natürlich alle in ihrer Heimat bleiben und von dort aus predigen und ihre Meinung kundtun. Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, glauben Sie mir, ich wäre geblieben, ich hätte keine Minute überlegt. 

Finden Sie nicht, dass Sie sich seit dem Wahltag stark verändert haben? Am 9. August haben die Menschen für eine Swetlana Tichanowskaja gestimmt, die ihnen eine Volksabstimmung versprochen hat. Jetzt sind Sie zur Politikerin geworden mit eigener Meinung zu vielen internationalen Fragen. Obwohl die Belarussen damals eigentlich keine Politikerin gewählt haben. 

Natürlich war ich gezwungen, in sehr kurzer Zeit einiges zu lernen, und ich lerne weiter, das Leben verlangt mir das gerade ab. Aber meine Position in Bezug auf Belarus hat sich überhaupt nicht verändert. Dass wir beginnen müssen, gemeinsam mit den Menschen ein neues, demokratisches Land aufzubauen, das sehe ich nach wie vor so. Und ich weiß, dass mich die Leute als Symbol für den Wandel gewählt haben, auch wenn das pathetisch klingt. Weil alle wussten, dass ich mein Versprechen halten würde, dass, wenn sie Tichanowskaja wählen, was die Mehrheit auch gemacht hat, es Neuwahlen geben wird, in denen sie einen richtig starken Ökonomen, einen Politiker wählen. Das wird dann ein Wettkampf unterschiedlicher Programme sein, aber er wird fair und transparent sein. 

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