Der Krieg, den es nicht gab

Am 11. Dezember 1994 marschierten russische Streitkräfte in Tschetschenien ein, um die Unabhängigkeitsbestrebungen der Teilrepublik zu beenden. Aus dem geplant schnellen Sieg wurde für die schlecht ausgerüstete Wehrpflichtigenarmee Russlands ein Fiasko: Allein in den ersten zwei Monaten starben rund 2000 russische Soldaten. Insgesamt haben die Tschetschenienkriege mehr als 100.000 Zivilisten und über 10.000 russischen Armeeangehörigen das Leben gekostet.

25 Jahre nach dem Beginn des Ersten Tschetschenienkriegs macht sich der russische Künstler Slawa PTRK an dessen Aufarbeitung. Dazu hat er ein Projekt gestartet, in dem unter anderem Interviews mit den Teilnehmern beider Tschetschenienkriege veröffentlicht werden. Takie Dela zeigt Teile davon: Fotos und Interviews mit Soldaten, die über die Gräuel des Krieges erzählen und darüber, wie man es schafft, daran nicht zu zerbrechen. 

„Als ich ankam, war da fieser Matsch, der an den Stiefeln klebte. Dieser tschetschenische Matsch klebt immer weiter fest und wird immer mehr. Das ist ein Gefühl, als hättest du gusseiserne Gewichte an den Füßen.“ / Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

Georgi, Feldwebel

„Die Veteranen beider Tschetschenien-Feldzüge sind Veteranen eines Krieges, den es nicht gab. In sämtlichen Informationsquellen wird dieser Krieg als Antiterror-Operation bezeichnet.

Den ersten Krieg verloren wir in jeder Hinsicht mit Schande, als Versager auf der ganzen Linie, sowohl medial als auch real. Eine riesige Menge junger Kerle wurde niedergemetzelt – sie könnten jetzt noch am Leben sein, herumlaufen, sich amüsieren, Kinder kriegen und ihren Sachen nachgehen.

Den Zweiten Krieg haben wir damals in einem gewissen Maß gewonnen. Die Streitkräfte hatten die Aufgabe erfüllt, die ihnen abverlangt wurde, und der Gegner war niedergestreckt und vernichtet. Doch die politischen Folgen waren derart, dass die Frage aufkommt: Warum haben wir so viele Menschen begraben, so viele Leben und Psychen zerstört?

Ich hatte mein Studium an der Philologischen Fakultät in Petersburg abgebrochen, nach einem halben Jahr. Eigentlich hatte ich damals vor, nach Los Angeles zu gehen, auf eine Filmhochschule. Aber bevor es soweit war, wurde ich eingezogen, völlig zufällig bin ich da gelandet.

Ich glaube, ich habe die Armee schon als Kind geliebt. Das war spannend, ich hab gern Krieg gespielt, wie alle Kinder in den 1980ern, Ende der 1970er. Warum soll man nicht seine Kräfte messen, das ist noch so eine Challenge – was wohl geht. Irgendwann dann wurden die Jungs losgeschickt in den Nordkaukasus, in verschiedene Einheiten, und mir war plötzlich klar: Wenn Kerle losgeschickt werden, die jünger sind als ich, warum dann nicht auch ich? Zumal ich immer sehen wollte, was Krieg ist.“

Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

„Ins Eingemachte der Hölle bin ich nicht vorgedrungen. Nur in kleinere Feuergefechte, so, wenn du eben den Schwanz einziehst, die Zähne zusammenbeißt und zusieht, dass sie dich nicht totschießen. 
Außerdem ist die Zahl der Toten immer erheblich kleiner, als man denkt, denn die Kugeln treffen nicht so oft lebenswichtige Organe und bringen dich nicht immer gleich um. Das sind gewöhnlich extrem starke Verletzungen, wenn jemand entweder an einem Schock stirbt oder am Blutverlust, doch bis dahin vergeht einige Zeit. 
Wenn du dem Menschen [einem sterbenden Gegner – Takie Dela] in die Augen schaust, der eben noch warm war und jetzt schon kalt wird, dann wird dir klar, dass der dir genauso gut den Hals hätte aufschlitzen oder ein Messer in den Rücken hätte jagen können, dich hochnehmen oder vergewaltigen … Die Gegner sind ungewaschen, behaart, stinken, in dreckigen Uniformen oder dreckiger Kleidung … In den Momenten kriegst du Angst, weil dir klar wird, was mit dir passiert wäre, wenn du kein Glück gehabt hättest.“Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

„Wenn du mit Leuten zusammen dienst, kommst du ihnen nah und du begreifst sie als Menschen, wer auch immer sie sind. Wenn die Zeit sich hinzieht, dann wird der Begriff von Freundschaft plötzlich sehr eng: ‚Ich halte dir den Rücken frei und du mir, und kein Keil wird zwischen uns geraten.‘

Der Krieg nimmt einem die Gefühle. Sehr lange, viel Zeit ist nach der Armee vergangen, bevor ich wieder gelernt habe, jemanden zu lieben. Und ich weiß nicht, ob es mir noch einmal gelingt.
Wenn du einen Lastwagen mit verbrannten Soldaten siehst, dann riecht es nach gebratenem Speck. Heute esse ich kein Schweinefleisch mehr.

Noch ein Minuspunkt, den der Krieg für mich mit sich brachte, ist, dass ich wahrscheinlich ein Ziel verloren habe, für das ich lebe. Alles, was nach dem Krieg passiert, passiert eher mechanisch. Ja, ich bin auf der Suche nach Gefühlen, Emotionen und so, aber … Wenn alles plötzlich zu Ende geht … Ich sehne mich nicht nach dem Ende, aber ich hab auch keine besondere Angst davor.“

Sergej, Militärchirurg

„Ich war in einer Einheit mit 70 Kämpfern – und mir, als Arzt.

Medikamente gab es gar keine, die Versorgung … naja. Einiges konnte ich hinzukaufen, aber sie gaben einem nur einzelne Verbandskästen, Erste-Hilfe-Sets und Staubinden. Das war’s. Darin [in den Erste-Hilfe-Sets] gab es Promedol. Eine Droge. Das einzig Wertvolle. Bei Verletzungen, bei Prellungen – eine Spritze rein, fertig. Erste-Hilfe-Sets gab es für jeden eins, beim Ausrücken gab ich immer nur ein paar raus, die waren schließlich alle dokumentiert.“

Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)„In den Kampfzonen: menschliche Fäulnis. Die ist wie Schaum, löst sich auf, und weg ist sie. Man erkennt das gleich. Wenn ein Mensch ein Arsch ist, sieht man das gleich. Die bleiben dann meist im Hinterland. Dort machen sie einen auf dicke Hose, die Brust voller Orden … Der Mensch ändert sich [im Krieg] nicht. Bloß wird das Verborgene sichtbar. Wenn ein Mensch gut ist, dann wird sich sein Gutsein weiterentwickeln. Aber wenn ein Mensch scheiße ist, dann dringt die Scheiße an die Oberfläche. Darum sag ich auch, dass es mir dort leichter fällt: Du siehst gleich, wer zu dir gehört und wer dir fremd ist, wer gut ist und wer schlecht, mit wem du dich einlässt und mit wem nicht.“ 

Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

„Patriotismus bedeutet für mich: „Wenn nicht ich, wer dann?“ Das heißt nicht, mit Flaggen rumrennen und rufen: ‚Ich bin ein Patriot!‘ Sondern etwas tun. Alles soll für die Kinder erhalten bleiben. Denn: Du hast was bekommen – gib es weiter in unversehrtem oder gar noch besserem Zustand, als du es vorgefunden hast.

Nach meinem ersten Einsatz hing ich ein halbes Jahr an der Flasche. Bei vielen war das so. Nicht einen nüchternen Kopf habe ich nach dem Krieg gesehen. Keinen. Gibt es nicht. Oder man darf gar kein Herz haben. Denn allen geht das ans Eingemachte. Ein Rehabilitations-Programm hat es nicht gegeben, gibt es nicht und wird es vermutlich auch nie geben.“ 

Jewgeni, Sergeant der Luftlandetruppen

„Ich habe von 1999 bis 2000 gekämpft. Ich wusste, dass ich zu den Luftlandetruppen komme. Alle in meiner Familie waren entweder Fallschirmjäger oder bei den Spezialeinheiten.

Das erste Mal war im Botlichski Rajon. Sie haben uns aus dem Hubschrauber abgesetzt. Ich schaue von da oben: Von rechts schießt eine Haubitzen-Division, oben fliegen die Jagdbomber, die Berge werden niedergewalzt, entlang der Startbahn liegen die Leichen in Plastikfolie. Keine Ahnung, bestimmt 30 oder 40. Die Bergschlucht, durch die kein Wind geht – und dann der Geruch: faulendes Fleisch. Da hab ich kapiert, dass ich besser hätte studieren sollen. Und dann die Hitze. In den Bergen ist es tagsüber sehr heiß und nachts sehr kalt. Über mehrere Tage gab es kein Wasser. Die Sonne verbrennt alles mögliche, wir hatten weder Cremes noch Salben, nichts. Es gab auch nicht wie heute diese modernen Schlafsäcke, Matten – all das gab es nicht. Wir hatten ein Maschinengewehr, einen Rucksack, einen Haufen Patronen, etwas Essen, ein Funkgerät. Und irgendwann, das weiß ich noch, verlassen dich einfach die Kräfte, dir kommt der Gedanke in den Kopf: Wenn mich jetzt ein Scharfschütze erledigt, wär das okay.“ 

Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

„Krieg ist eine Sache der jungen Leute. Solange man Energie hat. Jetzt erinnerst du dich, wie du im Schnee schläfst, Wasser aus Pfützen trinkst. Ich habe den Dienst beendet, als ich nach Hause gekommen bin – habe Wasser aus dem Hahn getrunken, da hat’s mir den Magen umgedreht. Dort gehst du einfach und trinkst aus der Pfütze, pustest einmal drauf, um das Benzin, den Diesel wegzumachen.

Patriotismus ist Liebe zu seinem eigenen Volk, und nicht Hass gegenüber anderen. So sieht’s aus.“

Foto © Wladimir Swarzewitsch (Privatarchiv Anastasia Swarzewitsch)

Fotos: Wladimir Swarzewitsch, mit freundlicher Genehmigung von Anastasia Swarzewitsch
Quelle: Takie Dela
Übersetzung: dekoder-Redaktion
veröffentlicht am 11.12.2019

Weitere Themen

Im Schwebezustand – Südossetien

Totenwasser

„Patrioten gibt’s bei euch also keine?“

„Den Hass haben wir von den deutschen Soldaten gelernt“

Was ist eigentlich im Nordkaukasus los?

Was ist Krieg?


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter: