Wer hat Angst vor Greta Thunberg?

Umweltstreiks sind in Russland eher eine Privatangelegenheit. Das liegt auch an den Gesetzen. So verboten die Moskauer Behörden einen Massenprotest fürs Klima, zu dem die Umweltbewegung Fridays for Future am 20. September weltweit aufgerufen hatte. Während beispielsweise in Berlin laut Polizeiangaben rund 100.000 Menschen fürs Klima auf die Straße gingen, konnte der Protest in Moskau höchstens in Form von Einzel-Pikets stattfinden.

Und während sich die Debattenbeiträge in westlichen Blättern häuften, war Greta vor allem in sozialen Netzwerken, kaum aber in russischen Medien Thema. Bis Wladimir Putin sich Anfang Oktober auf einem Energieforum in Moskau zu der prominenten Klimaaktivistin äußerte und sagte, es sei bedauerlich, wenn jemand „Kinder und Jugendliche in seinem Interesse nutzt“.

Große Klimaproteste gibt es in Russland nicht, die Umweltbewegung insgesamt ist eher marginal. Wohl aber gibt es lokale Umweltproteste, etwa gegen die Abholzung eines Waldes oder eine Mülldeponie vor Ort
Auf Republic kommentiert der Politologe Sergej Medwedew das russische Verhältnis zu Natur und Umwelt sowie den Argwohn, ja Hass, den Greta Thunberg in Russland auf sich zieht – und sieht eine russische Spezifik. 

Greta Thunberg sorgt für einen seltenen Konsens in der russischen Gesellschaft / Foto © Andreas Hellberg/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0

Russische Verschwörungstheoretiker sind enttäuscht: Greta Thunberg hat den Friedensnobelpreis nicht bekommen. Dabei hätte er sich perfekt in die bei ihnen beliebte Theorie einer Verschwörung der Klimaforscher und Umweltaktivisten eingefügt, die alles daransetzen, die Welt zu destabilisieren, Jugendliche zu politisieren und nach der Orangenen nun eine Grüne Revolution anzuzetteln. Aber Greta Thunberg ist auch ohne Nobelpreis zu einer neuen geistigen Klammer für Russland geworden, indem sie nahezu jeden gegen sich aufgebracht und einen seltenen Konsens in der russischen Öffentlichkeit herbeigeführt hat. 

In der Kritik an ihrer Rede beim UN-Weltklimagipfel vereinen sich die unterschiedlichsten Kräfte, angefangen bei Wladimir Putin, der erklärt, es sei „falsch, Kinder im eigenen Interesse zu nutzen“, und sei es auch für einen guten Zweck, bis hin zu aufgeklärten Liberalen, die schreiben, man solle sich erst um das eigene Land und dann um die Erderwärmung kümmern. 

Was hat dieses Kind gesagt, dass sich das ganze Land seit Wochen nicht mehr einkriegt?

Russland ist nicht das einzige Land, in dem sich die Gemüter über Gretas apokalyptische Predigt erhitzen, weltweit strotzen die sozialen Netzwerke vor Sarkasmus und Hasskommentaren. Doch nur bei uns scheint Greta wirklich alle Gesellschaftsschichten und politischen Strömungen gegen sich aufgebracht zu haben. Was hat dieses Kind also gesagt, dass sich ganz Russland seit Wochen nicht mehr einkriegt?

Aber die Frage ist gar nicht, was gesagt wurde, sondern, wer etwas gesagt hat. Wie Ayman Eckford in ihrer Kolumne festgestellt hat, besteht das Problem darin, dass es sich um ein Mädchen, eine Schülerin und eine Autistin handelt. Dadurch gerät Greta ins Kreuzfeuer der vollen Bandbreite von Diskriminierungen, die für Russland typisch sind: Sexismus, Altersdiskriminierung, Ableismus (Diskriminierung von Menschen mit Behinderung) und Mentalismus (Diskriminierung von Menschen mit einer psychischen Störung). Aus diesem bunten Strauß an Triggern sticht insbesondere ihr Alter hervor – in Russlands traditionellem paternalistischen Diskurs ist ein Kind kein vollwertiges Subjekt und hat weder ein Mitsprache- noch ein Stimmrecht. 

Politischer Generationenkonflikt

In den Reaktionen auf Greta manifestieren sich also der politische Generationenkonflikt und die wachsende Forderung junger Menschen nach politischer Repräsentation – insbesondere bei Fragen, die sie stärker betreffen werden als die Menschen, die im vergangenen Jahrhundert geboren wurden. Denn einen Generationenkonflikt gibt es nicht nur, was Technologie, Soziologie und Anthropologie betrifft, sondern auch hinsichtlich des Wertesystems: Junge Menschen vertreten zunehmend postmaterielle Werte, Umweltschutz ist ein wesentlicher davon. In Russland ist der Generationenkonflikt zwar nicht so offenkundig wie im Westen, dennoch spüren junge Menschen immer deutlicher, dass sie von der Politik ausgeschlossen sind – daher auch das überraschende Auftauchen von „Schülerpack“ bei Nawalnys Demonstrationen im Frühling und Sommer 2017, die Protestaktionen im Sommer 2019 und die Politisierung der Moskauer Universitäten. 

Unterminierung der Kontrollinstanzen

Aus diesem Grund fällt auch die Reaktion der älteren Generation so scharf aus und wird oft begleitet vom Ausruf: „Warum ist die eigentlich nicht in der Schule?!“ Kurz gesagt, mit ihrem Aktivismus unterminiert Greta gleich mehrere Kontrollinstanzen der heutigen Gesellschaft: die Schule, die Universität, die Autorität von Eltern, den Expertenkult und die psychische „Norm“.

Aber es geht natürlich nicht nur um Greta als Mensch, sondern auch um ihre umweltpolitische Botschaft. Genauer gesagt, um den globalisierungs- und kapitalismuskritischen Diskurs, der im Westen immer breitere Schichten der Gesellschaft erfasst, während er in Russland nur ein ironisches Schmunzeln hervorruft und Anlass zu provinziellen Verschwörungstheorien bietet. „Wem nutzt das?“, fragen hausbackene Analytiker, die Augen listig zusammengekniffen wie Lenin. 

Obwohl der Klimawandel im vergangenen Jahr nach allen wissenschaftlichen Standards bewiesen wurde und keine Hypothese mehr, sondern ein wissenschaftlicher Fakt ist, halten ihn viele Russen nach wie vor für eine Verschwörung von Klimaforschern und Umweltaktivisten. 
Überhaupt hat die Wissenschaft an Autorität eingebüßt in Russland, einem Land, wo mehr Kirchen gebaut werden als Schulen, wo in den Nachrichten das Horoskop auf einer Stufe mit dem Wetterbericht und dem Währungskurs durchgegeben wird und wo Verschwörungstheorien und der Glaube an verborgene Kräfte, die das Weltgeschehen lenken, zu einem universellen Erklärungsmodell avanciert sind. 
Für das Massenbewusstsein steht außer Frage, dass die Welt von einem (unweigerlich bösen) Willen gesteuert wird und dass alles, was passiert, von der Erderwärmung bis hin zur Orangenen Revolution, auf einen Strippenzieher à la Soros zurückgeht. Es überrascht daher nicht, dass auch Greta zu einer „PR-Puppe von Soros“ erklärt wurde, obwohl das Bild eines Philanthropen, der sich seit 30 Jahren aktiv für die Entwicklung des Liberalismus und die Öffnung der Märkte einsetzt, nicht gerade mit Gretas kapitalismus- und globalisierungskritischer Botschaft zusammenpasst.

In einem paranoiden Diskurs ist natürlich auch die Theorie der Erderwärmung antirussisch

Hinzu kommt, dass alle Weltverschwörungstheorien bei uns unweigerlich eine antirussische Note haben: Russland gilt als Sand im Getriebe einer „neuen Weltordnung“ – was dieser Begriff auch immer bedeuten mag. In so einem paranoiden Diskurs ist natürlich auch die Theorie der Erderwärmung antirussisch: Weil sie den CO2-Ausstoß als Ursache benennt und auf alternative, erneuerbare Energien setzt und damit Russland seiner wesentlichen Exportgüter – Öl und Gas – beraubt und das Land vom Weltmarkt drängt. Während Greta persönlich, so die regierungsnahe Rossijskaja Gazeta, versucht die russische Jugend auf die Straßen zu bringen und zum Sturz der bestehenden Ordnung aufruft – im Grunde bereitet also auch sie den schrecklichen Maidan vor, gegen den Russland in den letzten 15 Jahren ankämpft.

Russland ist grundsätzlich kein umweltfreundliches Land. Das liegt an der allgemeinen Unordnung und der enormen Fläche

Allerdings geht das Problem über die Verschwörungstheorien hinaus: Russland ist grundsätzlich kein umweltbewusstes, geschweige denn ein umweltfreundliches Land. Das liegt an der allgemeinen Unordnung und der enormen Fläche – der Russe betrachtet seine Umwelt nicht als etwas, das ihm gehört, er fühlt sich nicht verantwortlich, sondern sieht sich als vorübergehenden Nutzer, während der wahre Eigentümer der Staat ist. 

Daraus entspringen auch die Gleichgültigkeit und der Zorn im Umgang mit der Umwelt: der Vandalismus im Wald und die Brandrodungen, die zerstörerischen Ausflüge in die Natur mit Motocross-Bikes, Lagerfeuern, abgebrochenen Ästen und hinterlassenen Müllhaufen. 
Die Umwelt gilt als etwas Äußeres, etwas Fremdes, deswegen transferiert der Russe auch alles Mögliche in die Natur: Die Couch schleppt er in den Wald, alte Reifen wirft er den Abhang herunter, Kippen schnippt er aus dem Autofenster oder leert ganze Aschenbecher an einer roten Ampel mitten auf die Straße. 
Schon Nikolaj Berdjajew und Iwan Iljin schrieben, in Russland gebe es zu viel Raum, somit betrachte man ihn als eine grenzenlose Ressource, die „alles verkraftet“. Genauso wird übrigens auch die erneuerbare Bio-Ressource namens Bevölkerung behandelt, die man getrost für höhere Staatsziele opfert, frei nach dem Motto: „Die Weiber werden schon neue gebären“.

Eine Marotte des reichen Westens

Bei seinem Privateigentum (Wohnung, Datscha, Auto) legt der Mensch ein anderes Verhalten an den Tag, doch die Umwelt gilt als etwas Fremdes, das niemandem gehört: Daher kommt auch die Scheißegalhaltung sowohl zur heimischen Natur als auch zu globalen Umweltproblemen, die von unserer provinziellen Warte aus als eine Marotte des reichen Westens erscheinen. 

Deswegen nervt Greta Thunberg auch so – die Tochter reicher Eltern, die ihr einen Törn mit der Segelyacht nach New York finanzieren. Die russische Öffentlichkeit wurmt vor allem diese unerreichbare „Yacht“. Und die Rettung des Planeten wirkt dann auch wie die Yacht und Eskapade eines verzogenen Kindes in einer überfressenen Gesellschaft in den oberen Etagen der Maslowschen Bedürfnishierarchie

„Welcher Klimawandel?“, fragt der Durchschnittsrusse, „ich hätte lieber mal eine Gehaltserhöhung, keinen Kredit im Nacken, eine anständige Straße in die nächste Kreisstadt, effektive Terrorismusbekämpfung, keine Politgefangenen, keine Korruption und Beamtenwillkür (Zutreffendes bitte ankreuzen) – und dann können wir über die Rettung von Amur-Tigern und Eisbären reden.“ 

Frust gegen die Welt da draußen

In den letzten Jahren tut sich etwas, die Bürger erkennen ihr Recht auf den eigenen Lebensraum und eine saubere Umwelt: Man kämpft für Parks und Grünanlagen, gegen Mülldeponien. Aber diese Proteste sind immer nur lokal, und ich scheue mich nicht, es zu sagen: egoistisch (was sie nicht weniger wichtig macht). Die Menschen gehen nicht auf die Straße, solange niemand vor ihren Fenstern Jahrhunderte alte Bäume fällt oder eine neue Müllhalde errichtet. Diese lokalen Proteste stehen nicht im globalen Kontext, den man nur als Störfaktor sieht, als einen Medienrummel, der von „unserem“ richtigen Kampf ablenkt. 

Alles in allem handelt es sich um ein typisches Ressentiment, einen Frust gegen die Welt da draußen und um eine Übertragung der inneren Probleme nach außen. Um die Unfähigkeit, sich in eine neue Ordnung einzufügen, in der Fliegen als unethisch gilt und Kinder, anstatt die Schulbank zu drücken, Erwachsenen die Leviten lesen. Ich sage nochmals: Das betrifft nicht nur Russland, Greta hat weltweit Millionen Menschen aufgebracht (um nicht zu sagen zu Trollen gemacht), hat die patriarchalen Stereotype auf den Kopf gestellt. Doch gerade in Russland verbindet sich das mit einem umfassenden Frust gegen die Welt, mit der postsowjetischen Identitätskrise und unserem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber Umweltthemen. 
Globalisierung und Globalisierungskritik, Autismus und Toleranz, Feminismus und Kinderrechte – die ganze bei uns so verhasste Losung des Liberalismus und der politischen Korrektheit verdichtet sich in einem schwedischen Mädchen mit Autismus, das zur Zielscheibe und zum Blitzableiter für das russische Ressentiment wurde. Und nun übt sich dieses Ressentiment in Ironie und Hass, ohne zu begreifen, dass es keine skandinavische Zügellosigkeit und keine Klimaverschwörung, sondern nur sich selbst entlarvt.

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