Protest in Moskau: Ausblick auf 2024?

Seit über zwei Wochen gehen Menschen in Moskau wegen der Nichtzulassung von Oppositionskandidaten zur Regionalwahl auf die Straße. Nachdem die letzte große Kundgebung am 20. Juli weitgehend friedlich verlief, ist der Protest am vergangenen Samstag eskaliert: Die Polizei und die Nationalgarde griffen hart durch, zumal die Demonstration nicht von den örtlichen Behörden genehmigt worden war. Laut Menschenrechtlern gab es viele Verletzte, mehr als 1300 Menschen wurden verhaftet.

Schon im Vorfeld haben Sicherheitskräfte einige der Oppositionskandidaten festgenommen, Mitarbeiter des unabhängigen Fernsehsenders Doshd sprachen genauso von Einschüchterungsversuchen wie einige Mitstreiter von Alexej Nawalny. Nawalny selbst sitzt seit Mittwoch eine 30-tägige Haftstrafe ab; am Sonntag wurde nun bekannt, dass er mit dicken Schwellungen im Gesicht ins Krankenhaus eingeliefert wurde, mit Verdacht auf eine allergische Reaktion. Nawalnys Umfeld behauptet demgegenüber, dass der 43-jährige Politiker noch nie Allergien hatte.

Warum setzen die Behörden nun auf Gewalt, und welche Folgen wird die Eskalation haben? Diese Fragen stellt Kirill Martynow in der Novaya Gazeta

 

Die unabhängigen Kandidaten, von denen viele bis vergangene Woche vergleichsweise unbekannt waren, punkten derzeit kräftig und zeigen, dass sie im Unterschied zu den Jedinorossy bereit sind, die Rechte ihrer Wähler zu verteidigen. Folgendes Signal ging an die Regionen: In Moskau sind die Bürger schon auf der Straße, um für ihre Rechte zu kämpfen. Schließt euch an. 

Für die Regionalregierungen wird es nun wahrlich kein Leichtes sein, sich der Taktik der Moskauer Stadtregierung anzuschließen, die für einen Teil der Bürger von einem politischen Opponenten zu einer Struktur wurde, die sich mit Hilfe einer Phalanx aus Polizisten von den Bürgern abschirmt. Das Vorgehen der Silowiki hat die Opposition einerseits geeint, andererseits den Wahlen im September jeglichen Sinn geraubt: Mit gleichem Erfolg hätte man als regierungsnahe Kandidaten auch eine Kompanie der russischen Nationalgarde aufstellen können.

Das Auseinanderklaffen von politischen Zielen und Ergebnissen ist beeindruckend: Aus ganz normalen Wahlen zum Stadtparlament hat die Regierung ein Problem von landesweitem Ausmaß gemacht. 

„Wir sind unbewaffnet!“, rufen die Demonstranten der Polizei zu / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta

Allen Anzeichen zufolge steht hinter der Logik der aktuellen Entscheidungen ein spezifisches Weltbild, in dem die Politik nach einem Kasernenmodell funktioniert. Die Moskauer Bürger jedoch wechseln bislang nicht überstürzt in den Kriegsmodus. 

Die Regierung handelt also nur folgerichtig, wenn sie entscheidet, politische Probleme mit Schlagstöcken zu lösen. Und so haben sie im Vorfeld der Demonstration vor dem Rathaus statt sie zu genehmigen (und damit die Unzufriedenheit der Menschen zu zerschlagen) eine fiktive Strafsache zur „Behinderung der Arbeit der Wahlkommissionen“ eingeleitet. Wie diese Sache ausgeht, wissen die Silowiki bislang selbst nicht. Aber erst einmal wird diese Nachricht breit in den Medien diskutiert und dann gibt es massenweise nächtliche Hausdurchsuchungen bei den Kandidaten. Bei diesen Durchsuchungen wird nichts Konkretes beschlagnahmt, ihr Ziel ist es, allen Angst zu machen. 

Mit eben diesem Ziel wurde die Mehrheit der Kandidaten im Vorfeld der Demonstration verhaftet: Der Protest hat auf diese Weise seine Köpfe verloren, und so wird nun ganz bestimmt nichts passieren. Das bedeutet, dass diejenigen Figuren, die an der Macht sind und Entscheidungen auf derartigem Niveau getroffen haben, berauscht sind von der eigenen Propaganda und tatsächlich glauben, dass die Bürger auf die Straße gehen, weil sie von Provokateuren aufgehetzt werden. 

Obwohl kein einziger bekannter Oppositionsführer auf der Straße ist, befindet sich das Moskauer Rathaus am 27. Juli im Belagerungszustand / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta

So befindet sich das Moskauer Rathaus den gesamten 27. Juli im Belagerungszustand, obwohl kein einziger bekannter Oppositionsführer auf der Straße ist.

Das Büro von Nawalny streamt auf Youtube live von der Demo, im Laufe des Tages versuchen Polizisten die Tür zu öffnen und in das Studio einzudringen. Gegen 16 Uhr ist die Tür aufgebrochen, und die Polizisten verlesen gegenüber den FBK-Mitarbeitern in entschuldigendem Ton den strafrechtlichen Beschluss. Über 40.000 Menschen verfolgen diese Farce im Livestream, noch weitaus mehr schauen sich die Aufzeichnung an. Später dringt die Polizei während der Liveübertragung ins Studio des Fernsehsenders Doshd ein, wahrscheinlich in der Annahme, dass hierher die „Steuerzentrale des Protests“ verlegt worden sei. Die Chefredakteurin des Senders, Alexandra Perepelowa, erhält eine Vorladung in derselben  Strafsache – wegen Behinderung der Wahlen.

Die Silowiki knobeln den ganzen Tag: Wer muss festgenommen werden, damit alles aufhört? Es geht ihnen nicht in den Kopf, dass die Leute einen freien Willen haben.

Das Vorgehen von Polizei und Nationalgarde gegen die Protestierenden ist kein bisschen abgestimmt, die an der Auflösung der friedlichen Demo Beteiligten verstehen nicht, warum sie hier sind, und behindern einander gegenseitig. Die Silowiki auf den Straßen agieren ebenso professionell wie ihre Kollegen, die dem Journalisten Golunow Drogen untergeschoben haben: Sie können der Masse nicht folgen, haben keine klaren Anweisungen, schnappen und verprügeln zufällige Passanten.

Die Kommunalabgeordnete Alexandra Paruschina wurde bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei verletzt / Foto © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta

Hinter all diesen hauptstädtischen Sommerlandschaften öffnet sich der Horizont des russischen politischen Dramas mit dem Titel Organisation der Machtübergabe bis 2024. Die Zustimmungswerte fallen, das Geld wird immer knapper, Leute werden wegen Beamtenbeleidigung verfolgt, die Teilnahme an Wahlen wird zur Straftat erklärt, als Silowiki dienen die Taugenichtse von gestern mit entsprechender Weitsicht, neue Gesichter gibt es in der regierungstreuen Politik keine, und die aktuellen sind samt all ihrer Projekte diskreditiert. Bitte, übergebt die Macht. Aber wie bitte wollt ihr das anstellen, wenn sogar gewöhnliche Regionalwahlen in Moskau zur untragbaren politischen Last werden? 

Prognosen anstellen ist eine undankbare Beschäftigung. Aber eines lässt sich sicher nach den Ereignissen vom 27. Juli in der Hauptstadt sagen: Den Moskauer Wahlkampf haben die Amtsträger schon verloren. Was auch immer für Ergebnisse sie da in ihre Wahlprotokolle kritzeln mögen.

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