„Die Perestroika lebt“

Im Westen verehren ihn viele – in Russland selbst ist das anders: Im März 2016 räumten in einer WZIOM-Umfrage zwar 46 Prozent der Befragten ein, Michail Gorbatschow habe zum Wohl des Landes handeln wollen, aber 47 Prozent waren der Ansicht, er habe nichts Gutes für den Staat getan. Ganze 24 Prozent meinten sogar, Gorbatschow sei ein Verbrecher gewesen, der die Großmacht Sowjetunion bewusst zu Fall gebracht habe.

Sicher ist die Bilanz von Gorbatschows Regierungsjahren eine gemischte, und die Begeisterung, die ihm speziell in Deutschland entgegengebracht wird, lässt sich nicht einfach verallgemeinern. Oft zum Beispiel wird vergessen, dass Gorbatschow zwar beim Zerfall des Warschauer Pakts (und so auch bei den Ereignissen, die zum Fall der Berliner Mauer führten) auf jede Gewaltausübung verzichtete, in der damaligen Sowjetunion aber durchaus für Militäreinsätze gegen die sich verselbständigenden Republiken verantwortlich war, wie etwa beim Vilniusser Blutsonntag.

In den letzten Jahren gibt der heute 88-jährige Michail Gorbatschow nur noch wenige Interviews. Meduza hat im März 2018 mit ihm gesprochen, natürlich auch über die Perestroika und seine Sicht der Dinge.

„Wenn ich gefragt werde, was ich bedauere, antworte ich, ‚Ich habe zuviel verziehen‘.“ – Michail Gorbatschow im Interview / Foto © Veni/flickr unter CC BY-SA 2.0

Ilja Scheguljow: Sie waren sechs Jahre an der Macht, das entspricht nach heutiger Gesetzeslage einer Amtszeit des Präsidenten. Haben Sie nie daran gedacht, dass Sie, wenn Sie nicht die Reformen angestoßen hätten, vielleicht heute noch Generalsekretär sein könnten? Dann hätten Sie doppelt so lang regiert wie Breshnew.

Michail Gorbatschow: Dann wäre das schon nicht mehr Gorbatschow. Das wäre dann ein Jelzin oder irgendein anderer Kerl.

Wie auch immer Ihre Haltung zu Jelzin sein mag, Sie haben etwas mit ihm gemein. So sind weder Sie noch er gegen die Meinungsfreiheit vorgegangen, auch wenn die Ihnen beiden riesige Probleme bereitete.

Solschenizyn hat irgendwo gesagt: Gorbatschows Glasnost hat alles zugrunde gerichtet. Ich fand eine Gelegenheit, ihm darauf zu antworten: Das ist ein tiefgreifender Irrtum eines Menschen, den ich sehr achte. Und schließlich die Frage: Wie kann das sein, dass Menschen mit verschlossenem Mund [leben], dass sie nicht einmal einen Witz erzählen können, dass sie sofort irgendwohin verschickt werden, zur Umerziehung, oder zum Holzfällen? Aber genau so war das ja bei uns. Wenn es keine Glasnost gegeben hätte, hätten bei uns keine Veränderungen zum Besseren eingesetzt.

Wenn es keine Glasnost gegeben hätte, hätten bei uns keine Veränderungen zum Besseren eingesetzt

Und es hätte keinerlei Freiheit gegeben. Freiheit, das bedeutet vor allem Glasnost. Die Freiheit, mit den Menschen über seine Sorgen zu reden, darüber, was man [rundum] wahrnimmt, und wie man sich dazu verhält. Und wenn sich jemand täuscht, wird man ihm qua Freiheit helfen, das zu korrigieren. Sowohl die Presse wie auch die Gesellschaft …

Die ganzen 1990er Jahre und die erste Hälfte der 2000er Jahre haben Sie von Vorträgen gelebt. Worum ging es in diesen Vorträgen?

Ich bin zum Beispiel kurz vor der Wahl Obamas in den Mittleren Westen [der USA] gefahren, nach St. Louis. Dort kamen 13.000 Menschen zu dem Vortrag, im Stadion der Universität. Das Thema meines Vortrags lautete „Perestroika“. 

Da stand ein junger Mensch auf, so in deinem Alter, und fragte: „Herr Präsident, dürfte ich Sie etwas fragen: Sie sehen, dass sich die Lage in Amerika immer mehr verschlechtert, was raten Sie uns?“ Ich antwortete: „Wissen Sie, ich werde Ihnen jetzt keinen Fahrplan, kein Menü vorschlagen. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Meiner Meinung nach braucht Amerika eine eigene Perestroika.“ Der ganze Saal erhob sich. Nun, und zwei Jahre später haben sie Obama gewählt.

Also selbst Mitte der 2000er Jahre waren alle interessiert, von der Perestroika zu erfahren?

Die Perestroika lebt. Auch wenn man sie jetzt beerdigen will. Aber man kann Gorbatschow und die Perestroika nicht begraben. Das geht nicht. Wem sonst ist es schon gelungen, einfach so die ganze Welt zu verändern? Und gleichzeitig will man mich erschossen sehen. Ich bekomme Briefe, in denen ich gefragt werde, warum ich mich nicht erschossen habe. Weil ich angeblich schuld sei. „Sie hätten sich umbringen sollen, Herr Gorbatschow. Und wenn Ihnen das schwerfällt, rufen Sie mich, ich erledige das.“ Solche Briefe kriege ich. Es gibt da aber auch andere.

Ich bekomme Briefe, in denen ich gefragt werde, warum ich mich nicht erschossen habe

Woran soll ich schuld sein? Die einen werfen mir vor, dass ich Ungarn weggegeben habe. Andere sagen, ich hätte Polen weggegeben. Weggegeben? Wem denn? Den Polen und den Ungarn. Das ist natürlich wirres Zeug. Andere geben nichts weg, stimmt.

Ihre Vorträge haben Ihnen gutes Geld eingebracht …

Ja, auf unserer ersten Reise 1992 haben wir eine Million [Dollar] verdient. Wir haben sie für unsere Sache eingesetzt. Übrigens, zum Thema, wie ich das Geld, was ich bekommen habe, verwendete. [1990] erhielt ich den Nobelpreis: 1,1 Millionen Dollar. Von der Million wurden sechs Kliniken gebaut, zur Hilfe für die Opfer von Tschernobyl, am Aralsee in Asien und in Russland.

Erzählen Sie von ihrer Tätigkeit im Umweltbereich. Schließlich sind Sie der Gründer und Präsident des [Internationalen  dek] Grünen Kreuzes, einer großen zivilgesellschaftlichen Umweltschutzorganisation.

Ja, das Grüne Kreuz, das ist tatsächlich mein Kind. Da waren alle möglichen Leute versammelt: Angehörige der Intelligenzija, Politiker, Vertreter der Religionen, Frauen, junge Menschen, und natürlich die Presse. In 31 Ländern wurden Grüne Kreuze gegründet! Das Ansehen [der Organisation] ist riesig. Zu einem gewissen Grad hatte mich damals Pitirim ins Boot geholt. Er ist auch sonst zu einem guten Freund geworden.

Nach Ihrem Rücktritt haben Sie versucht, Politik zu machen. Sie haben beispielsweise 2001 die Sozialdemokratische Partei organisiert, gemeinsam mit dem damaligen Gouverneur der Oblast Samara, Konstantin Titow. Warum? Wer ist Titow, aus Ihrer Sicht? 

Ein Dreckskerl.

Warum?

Er hat fürchterlich getrickst. Aber dann hat er mit der Regierungspartei angebandelt, und sie haben einen Deal gemacht. Die Hauptsache war, dass wir bei den Wahlen außen vor bleiben sollten. Sie hatten Angst vor uns, deshalb haben sie alles unternommen, um [uns] kleinzukriegen.

Aber wozu hatten Sie Titow überhaupt gebraucht?

Ich habe vieles verziehen. Übrigens, wenn ich gefragt werde, was ich bedauere, antworte ich: Ich habe zu viel verziehen.

Ich habe zu viel verziehen

Aber stell dir mal vor, was gewesen wäre, wenn ich aus ähnlichem Holz geschnitzt wäre wie Josef [Stalin]? So kann man einem Land auch den Rest geben.

Warum war es überhaupt nötig, dass Sie in die Politik zurückkehrten?

Es musste etwas geschaffen werden, was unverdorben ist. 

Und warum?​

Die Menschen verlangen nach einer Organisation, nach einer Bündelung der Kräfte; allein kann man nichts bewegen. Zusammen werden wir siegen!

Aber warum mussten Sie sich da persönlich hineinziehen lassen?

Ungefähr diese Frage hat mir auch mal ein junger Mann gestellt, der war in der Regierungspartei mit der Innenpolitik befasst …

Etwa Surkow?

Ja. Ein talentierter Kerl. Aber mit starkem Beigeschmack.

Er hat Sie angerufen?

Nein. Wir hatten 82 Regionalverbände gegründet, die Partei hatte schon 35.000 Mitglieder. Danach bin ich zu eben diesem Freund Surkow gegangen. Ich musste mich registrieren lassen, und alle haben die [Partei]Unterlagen angeschaut. Und Surkow sagte: „Michail Sergejewitsch, was wollen Sie denn? Sie haben doch erreicht, was noch niemandem in der Geschichte gelungen ist. Was wollen Sie also?! Das haben Sie doch nicht nötig.“ Ich habe ihm gesagt: „Das ist eine dumme Frage. Wenn jemand sein ganzes Leben so mit der Politik verbunden war, dann ist er schon … Das ist mein Wesenskern.“

Surkow sagte: ,Michail Sergejewitsch, was wollen Sie denn? Sie haben doch erreicht, was noch niemandem in der Geschichte gelungen ist. Das haben Sie doch nicht nötig.‘

Letztendlich kamen sie dann mit Beanstandungen, sie hätten da irgendwelche Unterschriften gefunden, die nicht korrekt wären [die Sozialdemokratische Partei Russlands wurde 2007 vom Obersten Gericht aufgelöst, wobei Gorbatschow sie bereits 2004 – nach einem Konflikt mit Konstantin Titow – verlassen hatte – Anm. Meduza].

Ich habe mich vor einigen Jahren mit Boris Beresowski unterhalten, wenn Sie sich an den erinnern.

Natürlich erinnere ich mich.

Und er hat mir damals gesagt, dass er es bedauert, immer eine schlechte Menschenkenntnis gehabt zu haben, dass er die menschlichen Qualitäten der Leute nicht erkannte. Von sich können Sie so etwas nicht behaupten?

Ja, das würde ich auch sagen. Ich war zum Beispiel der Meinung, dass man nicht auf alle möglichen Angriffe und Ausfälle reagieren sollte. Wenn sich mal was zuspitzte, haben wir Mittel gefunden, nicht etwa Druck zu machen, sondern die Dinge intellektuell klarzustellen. 

Wie jene Geschichte [mit dem Putsch] 1991. Ich dachte: Wieviel Versuche hatte es da gegeben! Mal wollte jemand dem Präsidenten Rechte entziehen, sie jemandem anderen übertragen, mal dies, mal das. Das war eine Sitzung in Ogarjowo unter meiner Leitung, wir wollten den neuen [Unions-] Vertrag vorbereiten, und die veranstalten da sowas hinter meinem Rücken. Ich kam am zweiten Tag und habe sie zusammengestaucht. Da dachte ich, dass ich alle Fragen geklärt hätte, und diese Überzeugtheit wurde dann fast zu einer Überheblichkeit.

Ich habe auch Putin gewarnt [, dass zu große Selbstsicherheit schädlich ist]. Als ich sagte, dass er sich für den Vertreter Gottes hält. Das machte ihn natürlich wütend: Er hat ja mal gesagt, dass man Gorbatschow das Maul stopfen sollte. Einem Präsidenten! Das Maul stopfen!

Gefällt Ihnen Putin?​

Ich denke, er ist da recht am Platz. Durch Zutun aller sind dort die Dinge bis ins Letzte verkommen – aber es musste bewahrt werden, damit es nicht zerfällt. 

Sie meinen Russland?

Ja, ja. Wir müssen das in Betracht ziehen, trotz aller Verstöße und Fehler. Ich erinnere mich natürlich, wie er sagte, dass er mich – angeblich – bei den Feiern zum Sieg [am 9. Mai 2016] nicht gesehen habe. Als Putin [vom Regisseur Oliver Stone in dessen Film] gefragt wurde, warum er mich nicht gegrüßt hat, sagte er, dass er mich nicht bemerkt habe.

Sie haben ihn einige Male unter vier Augen getroffen, soviel ich weiß.​

Ja.

Hat er sich mit Ihnen beraten?​

Nein.

Aber wozu haben Sie sich getroffen? Welchen Sinn sollte das haben? ​

Gar keinen: Händeschütteln. Die letzte Begegnung war am 12. Juni 2017, am Tag Russlands.

Nur Sie zwei?

Nein, nein. Absolut zufällig. Wir kamen gerade aus diesen Zelten, die da im Kreml stehen, wo der Tag Russlands gefeiert wurde. Wir gingen draußen zum Kremlpalast hinüber. Und plötzlich schau ich, irgendwie hatte es bei denen, die mich begleiteten, einen Ruck gegeben, und sie hatten angehalten. Was war los? „Da läuft Putin.“ „Na und?! Und was heißt das jetzt, Leute? Was habt ihr denn bloß? Lasst uns weitergehen!“ Und ich ging ihm direkt entgegen, gerade so, wie es passiert, wissen Sie, dass man sich auf einem Pfad begegnet, zwischen Feldern, und nicht ausweichen kann. Wir grüßten uns. Ich sagte: „Wir haben uns lange nicht gesehen!“ Und er darauf hin: „Mur, mur, mur“ – er brummelt jetzt ganz viel.

Brummelt?

Damit es unklar ist. Ich sagte: Sie haben für mich dreimal einen Termin angesetzt, Wladimir Wladimirowitsch, und dreimal hat der nicht stattgefunden. Danach bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich mich nicht aufdrängen werde. Und das war’s dann auch.

Putin brummelt jetzt ganz viel

Vergnügung hat er genug. Er trinkt, tanzt, fliegt, fährt Schiff und macht, weiß der Teufel, was man alles so machen kann. Nur in den Weltraum traut er sich nicht. Dann würden ja alle schreiben: „Herr Putin, bleiben Sie dort, tun Sie dem Volk einen Gefallen!“

Wir unterhalten uns hier in den Büroräumen der Gorbatschow-Stiftung. Die Stiftung ist bereits 26 Jahre tätig, und Sie haben sie die ganze Zeit unterstützt. Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit der Stiftung?

Sie hält, was sie verspricht.

Was wurde erreicht? Welche Ziele hatten Sie sich gesetzt?

Das Ziel war erstens, die Geschichte der Perestroika zu erforschen. Und überhaupt war das Ziel ein kulturelles, politisches und gesellschaftliches Zentrum.

Gaidar oder Kudrin zum Beispiel haben ähnliche Stiftungen. Sie schreiben Entwicklungskonzepte für Russland.

Das sind Wirtschaftsfachleute. Uns geht es eher um ein neues Modell. Und dieses Modell muss gesucht werden. Wenn Einiges Russland [weiter so] arbeitet [wie jetzt], dann wird diese Partei das gleiche Schicksal erleiden wie die Kommunistische Partei.

Uns geht es um ein neues Modell

Wir werfen diese Fragen in Artikeln auf, in allen möglichen Denkschriften, in Reden und so weiter. Und weißt du, man spürt jetzt, dass ein Bedarf an Sozialdemokratie entsteht. Und dass die Suche nach einer neuen Plattform vonnöten ist. Wir haben ein Buch herausgegeben, das heißt Ein sozialdemokratisches Projekt für Russland. Wie es so schön heißt: Alles, was wir geschaffen oder noch nicht ganz geschaffen haben, es steht alles da drin …

In meiner Familie sagen sie: „Wann gibst du endlich Ruhe?“.

Die gleiche Frage hätte ich auch.

Dazu muss man ein Leben in der Politik gelebt haben, so wie ich es getan habe. Ehrlich gesagt, habe ich mir die Frage auch schon gestellt. Ich denke aber, dass es für mich schlimmer wäre, wenn ich mich aus der Politik zurückziehen würde.

Sie halten sich also für einen Politiker?

Vor allem werde ich als Politiker wahrgenommen. Es gibt bei uns viele, die sich für Politiker halten, obwohl sie gar keine sind.

Wie kam es dazu, dass ein großer Teil Ihrer Familie jetzt nicht mehr bei Ihnen lebt?

Die haben alle hier gelebt, in Moskau. Dann hat Irina [die Tochter Gorbatschows – dek] zum zweiten Mal geheiratet. Andrej Truchatschow. Und der arbeitet [in Deutschland] in der Wirtschaft: Logistik, Transporte. Er gefällt mir, er ist ein guter Kerl. Aber er muss vor Ort sein. Und als sie [Irina und er] umzogen, zog es alle anderen hinterher, ihre Töchter. Wir haben fast das ganze Geld zusammengekratzt; wir haben ja nur ganz bescheidene Reserven. Aber wir konnten ihnen allen dort, in Berlin, Wohnungen kaufen.

Und Sie wollen nicht dorthin umsiedeln?

Nein, ich ziehe da nicht hin.

Warum? Sie meinen, dass Sie als ehemaliger Präsident nicht einfach übersiedeln können? Dass das unpatriotisch wäre?

Ich will einfach nicht mit Russland brechen!

Ihre Familie aber hat mit Russland gebrochen?

Nein. Sie und mich zu vergleichen … das wär‘ wie Äpfel mit Birnen oder Spatzen mit Stuten.

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