Chernobyl-Serie: Der fremde Spiegel

Chernobyl ist eine neue Fernsehserie, auf der Internet Movie Database ist sie die bislang am besten bewertete Serie ever. Es ist eine US-amerikanisch-britische und keine russische Produktion. In Russland sei eine solch kritische und ernste Auseinandersetzung mit der Reaktorkatastrophe derzeit einfach nicht möglich, meint Andrej Archangelski auf Republic. Ein Hohelied auf das therapeutische und das versöhnende Potential des Serien-Genres plus eine Abrechnung mit dem aktuellen russischen Fernsehen.

Die Serie Chernobyl – eine Produktion von HBO und dem britischen Sky TV – steht im Ranking der Internet Movie Database (IMDb) auf Platz 1. In Russland wird sie, wie nicht anders zu erwarten, von regierungstreuen Medien kritisiert. Das ist eine Art sowjetischer Instinkt – man muss, und sei es im Nachhinein, die Sache grundlegend bewerten. 
Worin genau die ideologische Sabotage der Serie besteht, ist zwar schwer zu sagen, aber der parteihörige Spürsinn (auch so ein Wort aus dem sowjetischen Lexikon) souffliert fehlerfrei: Irgendwas Aufrührerisches verbirgt sich in Chernobyl, unsichtbar, aber nicht ungefährlich. Man geht dabei allerdings nicht wirklich in die Tiefe und bezeichnet den Film als „einwandfreie Propaganda“ und Teil einer Verschwörung gegen die Atomenergiebehörde Rosatom.   
Diesmal, so bizarr das auch sein mag, irrt der Spürsinn der Medien nicht – für die russische Ideologie, die sich weitgehend auf Fernsehen und Filme stützt, ist dieser Film tatsächlich gefährlich.

Für die russische Ideologie ist dieser Film gefährlich 

Mit regierungsfreundlichen Filmen und ebensolchem Fernsehen ist es in den letzten zehn Jahren gelungen, das Land in einen hermetischen Kokon zu wickeln und das Bewusstsein des Großteils seiner Bewohner zu verändern. Mit Serien und Filmen über die Vergangenheit wurde auf dem Bildschirm das Idyll einer himmlischen Sowjetunion geschaffen – in der es keine Probleme mit Lebensmitteln, Kleidung und Freiheit gab. Und in der der geheimnisvolle Tod von Skiwanderern am Djatlow-Pass ein Riesenereignis darstellte. 

Das Idyll der himmlischen Sowjetunion

Eine solche Sowjetunion hat es in Wirklichkeit nie gegeben, und die Fernsehzuschauer wissen das genau, aber trotzdem gucken sie es. Psychologisch ist das leicht zu erklären. All diese Serien sagen dem ehemaligen Sowjetmenschen quasi: Mit der Vergangenheit ist alles in Ordnung, es gibt keinen Grund sich aufzuregen, man hat sich auch nichts vorzuwerfen. So ist es mit Hilfe des Fernsehens gelungen, das kollektive Gedächtnis mehrerer Generationen zu beeinflussen. 

Die Formel „es gab Repressionen, aber es gab auch Gutes“ ist nicht aus der Luft gegriffen, sie ist das Ergebnis genau dieser Serienpropaganda. Anstatt das sowjetische Trauma zu behandeln, macht man Unterhaltung daraus. Dieser Sieg über die Vernunft schien eine Universalwaffe zu sein. Doch auf einmal zeigt sich, dass ein anderer Blick auf unsere Geschichte diesen Kokon binnen Augenblicken kaputtmachen kann.  

Spricht man über das Sowjetische, ist es vorrangig ein Gespräch über die Lüge

Die Serie Chernobyl beginnt mit den Worten „Was ist der Preis der Lüge?“. Wenn man über das Sowjetische spricht, ist es vorrangig ein Gespräch über die Lüge, die vom Mechanismus zu einem Wert wurde, der über allem steht. „Die ganze Welt weiß es“, sagt der sowjetische Politiker Boris Schtscherbina entsetzt, als Meldungen über den Super-GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl in der westlichen Presse auftauchen. Das erscheint noch schlimmer als die Bedrohung durch radioaktive Strahlung, als der drohende Tod von hunderttausenden Menschen. Die Welt weiß die Wahrheit – das ist das Allerschlimmste. Die Strahlung durchdringt alles, aber noch mächtiger ist die staatliche Lüge: Sie hat alles um sich herum verseucht. Für die Lüge sind Menschen bereit, sich selbst zu opfern. Und natürlich auch andere.   

Der russische Film macht jede Tragödie zur Banalität

Es kommt einem nur so vor, dass in unserem Fernsehen „lauter Sowjetunion“ läuft. Wenn man Chernobyl sieht, wird einem klar, dass es unsere historischen Serien in zehn bis fünfzehn Jahren fertiggebracht haben, fast nichts auszusagen. Lässt man sich auf Chernobyl ein, dann sieht man, dass der russische Film sich nur die leichten, ungefährlichen Themen auswählt; dass er fähig ist, jede Tragödie zur Banalität werden zu lassen, zum Kostümdrama, großzügig aufgepeppt mit Liebesgeschichten. Abgesehen davon erzählt unsere Fernsehmaschine niemals von der Wirklichkeit. Sie packt lieber selbstgemachten Irrsinn auf die Wirklichkeit obendrauf und vermeidet dabei jede Thematisierung tatsächlicher Schlüsselereignisse der Sowjetzeit, zu denen auch der Unfall in Tschernobyl zählt.    

Gorbatschow im Kino darzustellen ist in Russland ein Tabu

Der globale Markt, hier vertreten durch den Fernsehsender HBO, hat dieses Defizit rechtzeitig bemerkt; aber wie viele solche Themen gibt es noch, die für das russische Fernsehen tabu sind? Die Revolution von 1917, das Jahr 1937, die Jahre 1941 und 1942, Stalins Tod, die Perestroika, die 1990er … 

Das Erfolgsgeheimnis der Serie ist nicht, dass ihre Macher mehr Geld haben, sondern dass es keine Zensur gibt. Die Autoren müssen sich nicht überlegen, was man sagen kann und was nicht, um es dem obersten Chef rechtzumachen. Die Autoren von Chernobyl schrecken nicht davor zurück, Gorbatschow darzustellen – bei uns war er jahrzehntelang (!) kein einziges Mal im Kino zu sehen, es ist ein Tabu.

Die Macher trauen sich, mit den Zuschauern wie mit Erwachsenen zu sprechen – über den Tod. Sie betrachten die Sowjetzeit nicht als Museum oder staatliche Schatzkammer, sondern als universelle Geschichte der Opposition von Individuum und Staat, als Geschichte menschlichen Widerstands gegen äußere Verhältnisse – und stoßen plötzlich auf abgründigen, existenziellen Stoff. In diesem Sinne kann die sowjetische Geschichte als eine Art Game of Thrones verstanden werden, das ist gar nicht so unpassend. 

Die Macher trauen sich, mit den Zuschauern über den Tod zu sprechen  

Außerdem wurzelt das Interesse der Welt an der Sowjetunion nicht in Nostalgie, sondern in dem Versuch zu verstehen, was denn heute nicht stimmt mit uns, woher dieser kollektive Todestrieb kommt. Chernobyl erzählt natürlich vor allem eine Geschichte über uns, wie wir heute sind, auf welcher Stufe der Reflexion und Moral unsere Gesellschaft heute steht. 

Das erste und stärkste Gefühl, das Chernobyl auslöst, ist Mitleid mit den Opfern der Tragödie. Die Szene im Krankenhaus, in der sich die Frau eines Feuerwehrmanns von diesem verabschiedet, ist unendlich schwer. Gleichzeitig wird einem klar, dass in unseren Serien nie etwas Vergleichbares zu erleben war. Ein Meer von Blut, Tod, Mord, aber sie erzeugen kein Mitgefühl. Der Tod ist in russischen Serien nur ein Handlungsmotor – unser Kino weicht jeder ernsthaften Beschäftigung mit dem Menschsein ängstlich aus, wagt keine geistige Herausforderung, keinen Diskurs über wichtige Angelegenheiten.  

Der Tod ist in russischen Serien nur ein Handlungsmotor

So hat unser Fernsehen mit seinem unerträglichen Pathos den Menschen das abtrainiert, was man seelische Arbeit nennt. Hat ihnen im Grunde normale menschliche Gefühle abtrainiert. Hat jede Tragödie zur Unterhaltung gemacht, bei deren Konsum man dasselbe perverse Vergnügen empfindet wie bei Propagandashows. Tragödien sind für uns nur dazu da, um uns nach der Arbeit auf der Fernsehcouch berieseln zu lassen. 
Das Genre der Serien leistet heute enorme therapeutische Arbeit, dient als Bildungsprogramm für die Menschen, führt ihnen die Komplexität des Lebens vor Augen. Unsere Serien gewöhnen den Menschen das Fühlen ab. Bringen ihnen bei, mit halber Kraft, mit halbem Hirn, wie Kleinkinder zu leben. 

Dabei schafft es diese Serie, vom Heldentum des Sowjetmenschen zu erzählen. In russischen Filmen ist der Mensch allzeit bereit für große Taten und vollbringt sie, ohne mit der Wimper zu zucken, im Namen des Staates. Glaubwürdig ist das natürlich keineswegs. 

In Chernobyl vollbringt der Mensch seine Großtaten trotz des Systems, als würde er dessen Unmenschlichkeit kompensieren. Doch genau an diesem Punkt wächst er über sich selbst hinaus, setzt sich über die Ideologie hinweg. Der Sowjetmensch wird einfach zum Menschen. Die Serie versucht, universelle Motive im Verhalten der sowjetischen Menschen aufzuspüren und uns davon zu überzeugen, dass auch in einem totalitären System alles von der Persönlichkeit abhängt. Entgegen ihrem Selbsterhaltungstrieb hören zwei sowjetische Physiker auf ihr Gewissen und erzählen die Wahrheit über Tschernobyl – um das Land und die Welt vor neuerlichen Katastrophen zu bewahren. 

Im sowjetischen Heroismus hat der Mensch keine Wahl

Die Besonderheit des sowjetischen Heroismus besteht darin, dass der Mensch in der Regel keine Wahl hat. Soldaten, Feuerwehrleute, Ärzte gehen hier dem fast sicheren Tod entgegen; das vermindert ihre Leistung nicht, sondern verleiht ihr zusätzlich eine tragische Dimension. Genau wegen dieser verdoppelten Tragik erreichen die Autoren der Serie einen Effekt, den auch das russische Kino erreichen will, aber nicht kann: eine Versöhnung mit der Vergangenheit. Nicht durch Gleichmacherei, Vertuschung, Banalisierung oder Karnevalisierung, sondern durch eine Tragödisierung des sowjetischen Alltags, in dem jeder ein potenzielles Opfer ist und allein schon dadurch Mitgefühl verdient. 

Viele sind jetzt damit beschäftigt, die Patzer in der Serie aufzuzählen – aber man kann nur staunen, wie psychologisch präzise hier viele Details sind. Wie das alte Parteimitglied im Namen der sowjetischen Ideale empfiehlt, „alles zu verheimlichen“ – ein absolut Pelewinsches Bild, aus Omon hinterm Mond. „Die guten Messgeräte sind im Safe“ ist ein Satz, den nur Sowjetmenschen verstehen (alles, was funktioniert, wird für alle Fälle sicher verwahrt und versteckt). Die routinierte Geste, mit der die kleine Aufmerksamkeit in Form eines Zehnrubelscheins in der Kitteltasche der Krankenschwester verschwindet. Die Geheimsprache, in der sich die Mitarbeiterinnen der Physikinstitute in Moskau und Minsk austauschen. Und die sie perfekt beherrschen, wie jeder Sowjetbürger, weil sie wissen, dass die Telefone abgehört werden können.  

Und natürlich die Symbolik. Alles, was jahrzehntelang vorbereitet und angehäuft wurde, um den Westen, Amerika zu besiegen, ihm Paroli zu bieten, es einzuholen und zu überholen; Heerscharen von Autos und Panzern, sogar Mondautos, müssen im Endeffekt herhalten, den eigenen Brand zu löschen. Chernobyl erzählt davon, wie die Sowjetunion konstruiert war – und warum sie zerfallen ist. 

Die Antwort auf die wichtigste Frage zur Serie (warum wurde sie nicht bei uns gedreht?) ist leider sehr einfach: Angesichts des aktuell verfügbaren Maßes an Wahrheit und künstlerischer Freiheit ist das Erscheinen eines derart kritischen und ernsthaften Werks in Russland einfach nicht möglich. Daher bleibt uns nichts anderes übrig, als in einen fremden Spiegel zu schauen.

 

Die Serie „Chernobyl“ läuft derzeit auch auf Deutsch auf Sky HD

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