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Fall Golunow – hinter den Kulissen

Die Nachricht kam Dienstagnachmittag für viele völlig überraschend – umso größer war die Freude: Iwan Golunow ist frei!
Der Investigativjournalist von Meduza stand seit Samstag unter Hausarrest, ihm war versuchter Drogenverkauf vorgeworfen worden. Sein Fall schlug hohe Wellen: So solidarisierten sich russische liberale wie staatsnahe Medien mit Golunow, außerdem Künstler wie der Regisseur Andrej Swjaginzew und die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, und auch die Zivilgesellschaft reagierte sofort, für den heutigen 12. Juni war ein Protestmarsch geplant. Die dekoder-Redaktion hatte noch am Dienstag einen offenen Brief veröffentlicht.

Seine plötzliche Freilassung und das Fallenlassen der Anschuldigungen gegen ihn sorgten für großen Jubel. Hatten die Behörden dem Druck der Öffentlichkeit nachgegeben? 
Auf The Bell erschien nun ein Text, der informiert, was seit dem Tag der Festnahme Golunows, dem 6. Juni, hinter den Kulissen geschah. Darin erzählt Dmitri Muratow, ehemaliger Chefredakteur der unabhängigen Novaya Gazeta, der an den Verhandlungen beteiligt war. Seine Schilderungen zeigen einmal mehr, dass es in Russland nicht unbedingt die Gerichte sind, die über eine Freilassung oder Verurteilung entscheiden.

Im Fall Golunow hat es am Samstag ein Treffen in der Moskauer Stadtverwaltung gegeben – noch vor der eigentlichen Gerichtsverhandlung. Das berichtet Dmitri Muratow, Aufsichtsratschef der Novaya Gazeta.   

Muratow zufolge waren [neben Muratow und Alexej Wenediktow, Chefredakteur des kritischen Radiosenders Echo Moskwydek] auch Natalja Sergunina (Leiterin des politischen Bereichs) und Alexander Gorbenko (Verantwortlicher für  Informationspolitik und Sicherheit) dabei, die beiden Stellvertreter von Bürgermeister Sergej Sobjanin.

„Auf unsere Bitte hin war zu dem Treffen [der Moskauer Polizeichef] Generalleutnant Oleg Baranow eingeladen. 
Wir haben lange Zeit Fragen gestellt, danach wurde den verschiedenen Seiten klar, dass die Argumente der Anklage völlig unhaltbar sind“, so Dmitri Muratow. „Genau dort in der Stadtverwaltung begann dann auch der Dialog, und es entstand die Idee, das Wanja freigelassen, ja zumindest in Hausarrest überführt werden muss. Die Anwälte stellten entsprechende Anträge und händigten unsere Bürgschaften aus. 
Das Gericht hörte ihre Argumente an und bezog selbstverständlich in seine Überlegungen mit ein, dass die Öffentlichkeit nicht einfach nur kochte, sondern immer neue Unstimmigkeiten in der offiziellen Version aufgedeckt wurden. So traf das Gericht schließlich die erste richtige Entscheidung: Unter Berücksichtigung seines Gesundheitszustands und der Situation insgesamt wurde Golunow nicht inhaftiert.“ 
Was mit ihm geschehen wäre, wenn er inhaftiert worden wäre, sei völlig unklar – denn niemand wisse, ob die Auftraggeber dieses Falls Kontrolle über die Untersuchungsgefängnisse hätten, fügt er noch hinzu. 

Die politische Führung des Landes hat die richtige Entscheidung getroffen

Den nächsten Schritt, fährt Muratow fort, habe man ab Montag besprochen. An der Entscheidung sei Wladimir Putin beteiligt gewesen. Die Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa habe Putin die Situation „ausführlichst“ dargelegt. Beim Rausgehen habe sie die Vermutung geäußert, dass womöglich mehrere zehntausend Urteile in Drogendelikten fingiert seien. 
„Die politische Führung des Landes hat die richtige Entscheidung getroffen; sie hat richtig eingeschätzt, dass die Geheimdienste, so meine Vermutung, ihren Vertrauensbonus ausgenutzt haben, um bei der Führung Moskaus und der Staatsführung eine für sie [die Geheimdienste – dek] nützliche Sichtweise zu etablieren“, so Muratow.

Im Grunde sei die Entscheidung schon am Vorabend getroffen worden, doch alles sollte auf gesetzlicher Grundlage vonstatten gehen, also habe man auf die Auswertungen der DNA-Proben gewartet. Diese seien am 11. Juni tagsüber gekommen, an dem beschlagnahmten Gut habe es keinerlei Spuren von Golunow gegeben. 
„Es blieb nur eine Möglichkeit: Golunow in seinen Beruf zurückzulassen und den Journalisten und der Öffentlichkeit zu danken für ihre beispielhafte Solidarität“, sagt Muratow. Er glaubt, der Brief mit der Aufforderung, Golunow freizulassen, sowie die Bereitschaft tausender Menschen, am 12. Juni am Solidaritätsmarsch teilzunehmen, hätten die Situation entscheidend beeinflusst.

Feiern statt Protestieren – ein Deal mit der Stadtverwaltung?

Am Dienstag veröffentlichten Muratow, Meduza-Gründerin Galina Timtschenko, Meduza-Chefredakteur Iwan Kolpakow und The Bell-Gründerin Jelisaweta Ossetinskaja eine gemeinsame Erklärung, in der sie schrieben, dass die Verhandlungen mit der Stadtverwaltung über den Marsch am 12. Juni in eine Sackgasse geraten sei. „Unser Vorschlag: morgen ein bisschen was trinken, und dann in den nächsten Tagen die Genehmigung für eine Aktion im Zentrum von Moskau erreichen“, heißt es in der Erklärung. Jedoch zählen diese Vier nicht zu den Organisatoren des Marsches.  

Wir [The Bell] haben Muratow und Timtschenko gefragt, ob ihre Gesprächspartner in der Moskauer Stadtverwaltung den Wunsch geäußert hätten, den Marsch nach der Freilassung Golunows abzusagen. Muratow hat bislang noch nicht darauf geantwortet. Timtschenko sagte, sie habe überhaupt nicht mit der Stadtverwaltung gesprochen, sondern lediglich mit dem Anwalt Golunows, Sergej Badamschin, der sie gebeten habe, sich in den nächsten Tagen Gedanken um die Sicherheit und Gesundheit Golunows zu machen.  
„Ich bin weder Initiatorin noch Organisatorin. Ich hatte eine andere Aufgabe: Wanja mit Hilfe von Anwälten rauszuholen. Aber ich danke allen zum hundertsten Mal für die Unterstützung und wünsche mir sehr, dass wir nicht vergessen, wie viel heller, besser und wirksamer Solidarität ist als Streitigkeiten und Skandale“, sagte Timtschenko The Bell.

Erlaubnis, solidarisch zu sein

Das Online-Journal Projekt hatte am Montag mit Verweis auf zwei Kremlbeamte berichtet, dass die Präsidialadministration bestrebt sei, das Strafverfahren gegen Golunow bis zum 20. Juni zu schließen – wenn Putins Direkter Draht stattfindet. Den Quellen von Projekt zufolge war es der Vorsitzende der Präsidialadministration Anton Waino, der am 8. Juni die Entscheidung getroffen hatte, Golunow unter Hausarrest zu stellen. Und Wainos Stellvertreter Alexej Gromow habe schließlich den Fernsehsendern erlaubt, den Journalisten öffentlich zu unterstützen.

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