Der Fall Iwan Golunow – offener Brief der dekoder-Redaktion

Update 11.06.2019 16:16 Uhr: siehe Ende des Textes

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An: Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundesminister des Auswärtigen Heiko Maas, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Russischen Föderation Rüdiger von Fritsch, Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland Dirk Wiese

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, 
sehr geehrter Herr Bundesminister des Auswärtigen, 
sehr geehrter Herr Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Russischen Föderation, 
sehr geehrter Herr Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland,

am vergangenen Donnerstag wurde im Zentrum Moskaus der renommierte russische Journalist Iwan Golunow festgenommen. Angeblich soll Golunow mit Drogen gehandelt oder solche hergestellt haben. Alles spricht für einen gezielten Versuch, Golunows journalistische Tätigkeit zu unterbinden, initiiert aus der Grauzone von Wirtschaftskorruption und Behördengewalt. Ihm droht eine Haftstrafe von bis zu 20 Jahren.

Die Methode, Rauschgiftdelikte unter Mitwirkung der Polizei zu inszenieren, um missliebige Personen aus dem Verkehr zu ziehen („podbros“​​), wird in Russland tatsächlich immer wieder angewandt. Die Initiative muss nicht unbedingt vom Staat ausgehen. Die staatlichen Stellen hätten aber die Möglichkeit, diese Machenschaften jeweils zu unterbinden.

Wir, das online-Portal dekoder.org, sammeln, übersetzen und verbreiten seit 2015 Texte aus russischen unabhängigen Medien in Deutschland. Wir arbeiten regelmäßig mit Materialien von meduza.io. Iwan Golunow ist daher auch Teil unseres unmittelbaren fachlichen Netzwerks.

Wir protestieren aufs Schärfste gegen die Festnahme Golunows aufgrund fabrizierter Vorwürfe und fordern die Adressaten dieses Briefes dazu auf, ihre Stimme in die Waagschale zu legen.


Iwan Golunow gehört zu den nicht eben zahlreichen Journalisten in Russland, die die Verflechtungen von halblegalen privaten Akteuren und Stellen aus dem Staatsapparat beleuchten. Er ist Korrespondent des Onlinemediums meduza.io, das als Nachfolger des 2014 zerschlagenen führenden Nachrichtenkanals lenta.ru in Riga neugegründet worden ist. Der 36-jährige Golunow wird in der russischen Medien-Community hoch geachtet. Seine Festnahme hat eine massive Protestwelle ausgelöst. Selbst staatsnahe Stimmen wie der TV-Journalismus-Veteran Wladimir Posner haben sie aufs Schärfste verurteilt: Mit dem Vorgehen gegen Golunow werde „allen Journalisten in Russland ins Gesicht gespuckt“.

Golunow hat Untersuchungen publiziert unter anderem zu Korruption und Bereicherung im Bestattungswesen, zur Moskauer Müllmafia und zur Verschleierung von Vermögensverhältnissen von Politikern. Golunow ist immer wieder aufgrund seiner Arbeit bedroht worden. Seine Reputation unter Kollegen ist tadellos, niemand hält eine Verstrickung in Rauschgiftgeschäfte auch nur im Entferntesten für denkbar, auch wurden nach Auskunft seines Anwalts keine Fingerabdrücke Golunows auf den untersuchten Drogenverpackungen gefunden. Golunows Rechte wurden während der Festnahme aufs Massivste missachtet: Er bekam zunächst keine Möglichkeit, durch Gewebeproben seinen Nichtgebrauch von Drogen nachzuweisen, er wurde körperlich misshandelt, ihm wurde medizinische Hilfe vorenthalten.

Iwan Golunow vor dem Nikulinski Bezirksgericht / Foto © Jewgeni Feldman/Meduza unter CC BY-SA 4.0

Am Samstag, den 8. Juni, wurde Golunow nach dramatischen Verhandlungen im Moskauer Nikulinski Bezirksgericht zunächst für zwei Monate unter Hausarrest gestellt. Weiterhin droht ihm eine Gefängnisstrafe von bis zu 20 Jahren. Vergleichbare Fälle zeigen, dass derartige Verhandlungen sich als Hinhaltetaktik über Jahre erstrecken können, in denen die betroffene Person nicht ihrer Tätigkeit nachgehen kann und oft schwere persönliche und psychische Konsequenzen erleidet.

dekoder.org versteht sich als Medium, das dem unabhängigen Qualitätsjournalismus aus Russland eine deutsche Stimme gibt. Wir stehen in ständigem engen Kontakt mit unseren russischen Kollegen, für die unsere Arbeit eine Möglichkeit bedeutet, über die Landesgrenzen hinaus gehört zu werden. Wir erfüllen außerdem den Auftrag, die deutschsprachige Öffentlichkeit über russische Aktualitäten und Hintergründe durch Originalstimmen zu informieren, zusätzlich zur etablierten Arbeit der Auslandskorrespondenten. 

Wir sind der Ansicht, dass nicht alle internen Vorgänge in der Russischen Föderation der Kommentierung von außen bedürfen. In diesem Fall allerdings erheben wir entschieden unsere Stimme. Die Festnahme Golunows ist nicht nur ein Affront gegen den Anstand im Umgang eines Staates mit seinen Bürgern, er ist auch eine Attacke auf die Möglichkeit der Grenzen übergreifenden, internationalen Berichterstattung, der wir uns als Medienprojekt verschrieben haben und auf die die Leserschaft in Deutschland einen Anspruch hat.

Wir bitten Sie, Frau Bundeskanzlerin Merkel, Herrn Außenminister Maas, Herrn Botschafter von Fritsch, Herrn Wiese, Russland-Beauftragter der Bundesregierung, die entsprechenden russischen staatlichen Stellen anzusprechen und entschieden darauf zu dringen, dass dieser offensichtliche Missbrauch von Polizeigewalt unterbunden wird. Die Gesetze müssen geachtet und befolgt werden und Golunow muss seiner Arbeit in einem sicheren Umfeld nachgehen können.


dekoder.org: 

Martin Krohs, Gründer
Tamina Kutscher, Chefredakteurin
Anton Himmelspach, Geschäftsführer und Politikredakteur
Leonid A. Klimov, Wissenschaftsredakteur
Daniel Marcus, Social Media-Redakteur, IT
Friederike Meltendorf, Übersetzungsredakteurin
Alena Schwarz, Controlling
Jakob Reuster, Studentischer Mitarbeiter
Peregrina Walter, Studentische Mitarbeiterin

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Update 16:16 Uhr: Wladimir Kolokolzew, Minister des Innern der Russischen Föderation, hat soeben die Einstellung des strafrechtlichen Verfahrens gegen Iwan Golunow verkündet. Als Begründung nennt er die Nichtnachweisbarkeit einer Straftat im Fall Golunow. Die an der Festnahme beteiligten Polizisten wurden nicht entlassen, jedoch vorübergehend von ihrem Dienst entbunden, wie es aus dem Innenministerium heißt. Das Ermittlungskomitee soll sich nun mit der Sache befassen.

Damit können Mediengemeinde und Zivilgesellschaft sicher einen klaren Erfolg für sich verbuchen, dennoch warten zahlreiche offene Fragen – etwa wie es überhaupt zu dieser Aktion kommen konnte und wie Derartiges in Zukunft verhindert werden soll – auf eine schnellstmögliche Klärung. Zudem ist interessant, welche Deutung der Kreml selbst dem Vorfall geben wird: Für den 20. Juni ist ein Direkter Draht mit Wladimir Putin angekündigt. Wir werden die Sache aufmerksam verfolgen und weiter berichten.

Wir unterstützen diesen Aufruf:

Daniel Schulz, Co-Leiter Reportage & Recherche, taz
Martin Aust, Lehrstuhlinhaber Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn
Svetlana Dyndykina, Projektleiterin, ROMB


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