Debattenschau № 72: Rücktritt Nasarbajews – Blaupause für Putin?

Am Mittwoch hat der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew seinen Rücktritt angekündigt. Er war schon 1989 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik, 1990 übernahm er nahtlos die Präsidentschaft des flächengrößten Landes Zentralasiens. 

Mit Kasachstan verbindet Russland nicht nur die längste Landgrenze (rund 7600 Kilometer), sondern auch eine Nachbarschaft in den Ranglisten der Pressefreiheit oder Bürger- und Freiheitsrechte. Beide Länder gelten in der Politikwissenschaft als autoritäre, personalisierte Regime.

Doch der Präsident Kasachstans tritt nur der Form halber ab, sind Beobachter sicher: als sogenannter Nationaler Leader (kas. Elbassy), Chef des Sicherheitsrats und Vorsitzender der Regierungspartei bleibe er tatsächlich an der Macht. Sein Interimsnachfolger Kassym-Jomart Tokajew soll ihm treu ergeben sein, in einer seiner ersten Amtshandlungen hat er vorgeschlagen, die Hauptstadt Kasachstans Astana in Nursultan umzubenennen. Beide Parlamentskammern votierten einen Tag später einstimmig für den Vorschlag. 

In russischen Medien wird vor allem eine Frage debattiert: Kann das kasachische Modell des Machttransfers Blaupause für Russland sein? dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte.

Facebook/Maxim Trudoljubow: Das schwere Los eines Diktators

Der Wissenschaftler und Journalist Maxim Trudoljubow zieht auf Facebook eine Parallele zwischen dem kasachischen und dem russischen Herrschaftssystem:

[bilingbox]Lebendig, aus eigenen Stücken und mit Würde abzutreten, wenn auch nicht allzu weit weg – ist wahrscheinlich die größte Kunst des Leaders eines Landes wie Kasachstan. Und eines Landes wie Russland. Richtig umfassend abzutreten ist wahrscheinlich gar nicht möglich. Es ist schwierig, ein Diktator zu sein – entweder kehrst du siegreich oder tot zurück: Zwei Drittel der Leader personalisierter Regime sind Opfer von Umstürzen.~~~Уйти живым, самостоятельно и с достоинством, пусть и недалеко – наверное самое большое искусство лидера страны похожей на Казахстан. И на Россию. Уйди далеко вообще наверное нельзя. Трудно быть диктатором – ты или со щитом или на щите: две третьих лидеров персоналистских режимов жертвы переворотов.[/bilingbox]

erschienen am 19.03.2019, Original

Facebook/Konstantin Sonin: Als Sieger gegangen

Auch Konstantin Sonin, Wirtschaftsprofessor an der Moskauer HSE und an der University of Chicago, sieht Parallelen. Auf Facebook macht er aber auch auf wesentliche Unterschiede aufmerksam.

[bilingbox]Klar, die „Erfolgsgeschichte“ Kasachstans ist die Geschichte eines Landes mit kleiner Bevölkerung und großen Ölvorkommen. Doch das Bruttoinlandsprodukt Kasachstans pro Kopf zeigt eine weit geringere Abhängigkeit von Weltmarktpreisen als das der diversifizierteren russischen Wirtschaft. Also wurden in Kasachstan bessere politische Entscheidungen getroffen.
Ungeachtet wirtschaftlicher Erfolge, treten autoritäre Leader – und Nasarbajew war ein typischer autoritärer Leader – fast nie freiwillig zurück. Sie lassen ihr Volk hungern, nur um sich an der Macht zu halten (wie Ceaușescu und Maduro), sie zetteln Bürgerkriege an (wie Pol Pot oder Milošević) oder warten zumindest, bis die Massen zum Palast kommen und in ihrem Arbeitszimmer das Licht ausschalten. Im besten Fall sterben sie im Amt nach einigen Jahren der Stagnation. Nasarbajew ist erstaunlicherweise als Sieger gegangen. Und zwar, weil er aus freien Stücken gegangen ist.~~~Конечно, „история успеха“ Казахстана – это история страны с маленьким населением и большими запасами нефти. Но ВВП Казахстана на душу населения показывает куда меньшую зависимость от мировых цен, чем у более, казалось бы, диверсифицированной российской экономики. Значит, решения принимались более качественно.

Независимо от экономических успехов, авторитарные лидеры – а Назарбаев был типичным авторитарным лидером – практически никогда не уходят с поста добровольно. Они морят население голодом, лишь бы удержаться у власти (как Чаушеску или Мадуро), они устраивают гражданские войны (как Пол Пот или Милошевич) или, как минимум, ждут пока толпа не подойдёт к дворцу и у них в кабинете не отключат свет. В лучшем случае умирают на посту после нескольких лет стагнации. Назарбаев, удивительно, ушёл победителем. Как раз потому что ушёл сам.[/bilingbox]

erschienen am 19.03.2019, Original

Facebook/Arkadi Babtschenko: Reinster Kindergarten

Auf Facebook nimmt der Journalist Arkadi Babtschenko der aufkeimenden Hoffnung auf demokratische Veränderungen in Kasachstan den Wind aus den Segeln.

[bilingbox]Bitte schreiben Sie bloß nicht vom „demokratischen Kasachstan“. Das überfordert mein hochkochendes Herzblut. Nasarbajew ist nirgendwohin abgetreten. Und wird nicht abtreten. Kann nicht abtreten. Dass er seinen Teddybär auf seinen Posten setzt und selber zum Vorsitzenden des Sicherheitsrates wird oder zum Chef des Kurultai oder zu was auch immer – bedeutet nur das, was es bedeutet: Dass Nasarbajew genauso wie er das Land regiert hat, auch weiter regieren wird. Auf Lebenszeit. Bis zum Tod. Und seine Amtsbezeichnung wird keine Rolle spielen. Und auf dem Thron wird Dimon um Dimon sitzen. Um all diesen Jubel über den „freiwilligen Rücktritt“ zu lesen, fehlt mir einfach die Kraft. Der reinste Kindergarten, bei Gott!~~~Вот только про „демократический Казахстан“ не пишите, пожалуйста. Этого моя кровь из глаз уже не выдержит. Никуда Назарбаев не ушел. И не уйдет. И не может уйти. То, что он вместо себя посадит на трон своего Медвежонка, а сам будет главой Совбеза, или начальником Курултая, или чем угодно еще – означает только то, что означает. Что Назарбаев как правил страной, так и будет. Пожизненно. До смерти. И никакого значения название его должности иметь не будет. А на троне будет очередной айфончик. А то все эти восторги про „добровольную отставку“ читать совершенно нет сил. Детский сад, ей богу.[/bilingbox]

erschienen am 19.03.2019, Original

Kommersant: Machterhalt in Machtvertikalen

Kommersant zitiert eine regierungsnahe Quelle, die behauptet, dass der Kreml den kasachischen Machttransfer genau im Auge habe.

[bilingbox]Ein der russischen Führung nahestehender Gesprächspartner von Kommersant sagte, dass Moskau die Errichtung der kasachischen Machtvertikale unter Nursultan Nasarbajew immer mit Interesse verfolgt habe, denn „es ist wichtig zu sehen, wie dort der Machttransfer vonstatten geht“. Nun kann der Kreml den Testlauf des kasachischen Modells beobachten, deren Wesenskern darin besteht, nicht das Amt, sondern die Macht zu erhalten. Um so mehr, als dass in der russischen Verfassung der Posten des Vorsitzenden des Sicherheitsrats festgeschrieben ist (der traditionell vom Präsidenten ausgefüllt wird).~~~Собеседник “Ъ”, близкий к российскому руководству, отметил, что Москва всегда с интересом следила за выстраиванием властной вертикали в Казахстане под Нурсултана Назарбаева, поскольку «важно увидеть, как там произойдет транзит власти». Теперь Кремль сможет наблюдать за тестированием казахской модели, суть которой состоит в сохранении не должности, а власти. Тем более что в российской Конституции прописан пост председателя Совета безопасности (его по традиции замещает президент).
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erschienen am 20.03.2019, Original

Meduza: Kasachstan ahmt Russland nach, nicht umgekehrt

Wladimir Sharichin, stellvertretender Leiter des Instituts der GUS-Staaten, dagegen dreht im Exilmedium Meduza den Spieß um:

[bilingbox]Eine derartige Machtübergabe ist kein Beispiel für Russland. Russland war für Kasachstan ein Beispiel. Haben sie den 31. Dezember 1999 [Machttransfer von Jelzin auf Putin – dek] vergessen? Noch ähneln die Geschehnisse dem Jelzinschen Szenario, abgesehen von der Verfassungsänderung. […] Ein Spurwechsel ist dennoch möglich: Der Interimspräsident Kassym-Jomart Tokajew ist zwar ein herausragender, aber nur ein Diplomat, obgleich er rund drei Jahre auch Regierungschef war. Und ich schließe nicht aus, dass Nasarbajew für den Präsidentenposten einen Wirtschaftsfunktionär auswählen wird.~~~Такая передача власти — не пример для России, это для Казахстана Россия была примером. Вы забыли 31 декабря 1999 года? Пока происходящее похоже на ельцинский сценарий с поправкой на Конституцию. […]  хотя и возможна развилка: все-таки их исполняющий обязанности [Касым-Жомарт Токаев] — пусть и выдающийся, но дипломат, хотя он и был около трех лет председателем правительства. И я не исключаю, что он [Назарбаев] подберет на пост президента хозяйственника.[/bilingbox]

erschienen am 19.03.2019, Original

Vedomosti: Allrussischer Ältester

Das Wirtschaftsblatt Vedomosti entwirft sogleich ein Zukunftsszenario für Putin: 

[bilingbox]Präsident Putin kann durchaus sowohl die Leitung des Sicherheitsrats als auch einer wie auch immer gearteten Allrussischen Volksfront übernehmen. Er könnte den Staatsrat unter sich behalten; er könnte ein weiteres Amt gesetzlich verankern und besetzen – womöglich mit der Bezeichnung des Allrussischen Ältesten, mit umfassenden Kompetenzen und ohne ernste Pflichten.
Das heißt einfach symbolisch die Zügel aus der Hand geben und damit das Ende der putinschen Macht andeuten, eigentlich aber der einflussreichste Mensch im Land bleiben […] 
Und dann amüsiert beobachten, wie sich einerseits die Weggefährten – gleich Spinnen im Glas – um die nicht-existierenden Kompetenzen zanken, andererseits zusehen, wie sich das Volk in letzter Hoffnung auf Gerechtigkeit nach ihm sehnt. Und diese Gerechtigkeit zu verteilen, über dem Gezänk stehend und die gegenseitigen Bestrafungen der Weggefährten forcierend.~~~Президент Путин вполне может возглавить и Совет безопасности, и какой-нибудь Общероссийский народный фронт, оставить себе Госсовет; а еще ввести в законный оборот непоколебимую должность под названием, допустим, всероссийский староста с обширными возможностями и без серьезных обязанностей – и занять ее.

То есть символически передать бразды правления, обозначить будто бы конец путинского режима – а на самом деле остаться самым влиятельным человеком в стране, 

[…]
И потом с удовольствием наблюдать, как, с одной стороны, будто пауки в банке, соратники схватятся за несуществующие полномочия, которые, как им покажется, дают высокие должности, а с другой – как народ тянется к нему в последней надежде на справедливость. И раздавать эту справедливость, находясь над схваткой и заставляя соратников карать друг друга.[/bilingbox]

erschienen am 19.03.2019, Original

Facebook/Sergej Medwedew: Geiseln ihrer Systeme

Sergej Medwedew, Politikwissenschaftler und Professor an der Moskauer Higher School of Economics, dagegen glaubt nicht, dass das kasachische Modell als Blaupause für anderen Staaten taugt:

[bilingbox]Ich gebe diesen Challenge weiter an meine Freunde / W. W. Putin und A. G. LukaschenkoElbassy geht wie Deng Xiaoping oder eher noch wie Lee Kuan Yew – als Vater der Nation und Garant der Verfassung – und behält dabei gleichzeitig die Hebel in der Hand. Dieser traumhafte Rücktritt wird bei den jüngeren Kollegen Neid hervorrufen. Die können sich so etwas nicht leisten und bleiben Geiseln der von ihnen geschaffenen Systeme.~~~Елбасы уходит, как Дэн Сяопин или еще скорее как Ли Куан Ю — как отец нации и гарант конституции, оставив у себя при этом рычаги управления. Отставка мечты — на зависть младшим коллегам. Они себе такого позволить не могут, оставаясь заложниками созданных ими систем[/bilingbox]

erschienen am 19.03.2019, Original

dekoder-Redaktion

 

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