„Wir sind in dem finsteren Märchen gelandet, von dem wir singen“

Verbotene Musik?! In den letzten Wochen wurden zahlreiche Konzerte von russischen Rapmusikern und anderen Bands von den Behörden verboten oder abgebrochen. Das Thema beschäftigte inzwischen nicht nur die Duma, auch der prominente Moderator Dimitri Kisseljow griff es in seiner Sendung auf. 
Vom Konzertverbot betroffen waren auch IC3PEAK. Ihr Konzert Anfang Dezember in Woronesh etwa wurde nach wenigen Minuten von den Behörden abgebrochen.

Bereits mit einem ihrer ersten Videos Go With The Flow betrieben sie einen selbsterklärten „audiovisuellen Terrorismus“, der sich gegen die in Russland verbreitete Homophobie wandte. Zu den Zielen von Nastya und Nick gehört es, „die Hörer aus der Komfortzone herauszubekommen“.

In einem Interview mit Fontanka äußert sich die Band aus Tula zu den Konzertverboten und erklärt, warum sie weiter gegen das System ansingt, und immer nur das macht, worauf sie Bock hat.

 

Selbsterklärter „audiovisueller Terrorismus“ – „Go With The Flow“ von IC3PEAK

Fontanka: Wie geht es euch denn, nachdem mehrere eurer Konzerte abgeblasen wurden?

Nick: Surreal. Wir sind genau in dem finsteren, grimmigen Märchen gelandet, von dem wir singen. Es ist eine völlig irreale Geschichte: Der FSB ist hinter uns her, sie filzen uns, sagen unsere Konzerte ab. Und alles nur, weil wir Musik machen und unsere Videos drehen. Die wirklichen Gründe kennen wir nicht. Niemand hat uns was gesagt. 

Nastya: Das ist so eine Schizophrenie, im Grunde ganz typisch für Russland. Aber wenn du selbst im Mittelpunkt des Geschehens bist, ist es manchmal sogar ganz lustig. Wenn dich ständig ein Auto mit durchtrainierten Typen verfolgt, fühlst du dich wie der Held in einem bescheuerten russischen Film. 

 

„Wir sind genau in dem finsteren, grimmigen Märchen gelandet, von dem wir singen.“ – FAIRYTALE von IC3PEAK

Der Chef von AGORA, Pawel Tschikow, hat eine Schwarze Liste erwähnt, auf der Namen von Musikern stehen. Habt ihr die gesehen?

Nick: Es gibt zwei Informationsstränge – wenn man sie verbindet, kann man daraus schließen, dass ein solches „Dokument“ tatsächlich existiert. 
Einerseits hieß es von seiten der Veranstalter wiederholt, es gebe einen „Befehl vom FSB“. Das haben die Clubbesitzer erzählt. Andererseits haben nicht nur wir solche Probleme, sondern auch andere Musiker. Das Muster ist ziemlich ähnlich. Und alles begann wie eine Welle. Innerhalb einer Woche kamen alle diese Verbote.      

Nastya: Man hat den Eindruck, einem von denen da oben wurde die aktuelle russische Szene gezeigt – unsere Clips, und das ist jetzt die Reaktion: Da hat nun irgendjemand entschieden, was für unsere Jugend gut ist und was schlecht.    

Wenn in eurem Lied nicht ein „Bulle ein Kätzchen überfahren“ würde und ohne das Händeklatschspiel vor der Lubjanka, bei dem ihr auf den Schultern von OMON-Männern sitzt – hätten sie euch nicht belangt?

Nastya: Das ist der Punkt! Wir glauben auch, dass sie uns in Ruhe gelassen hätten.

Nick: Offenbar haben wir „den Ort besudelt“. Und dann haben sie beschlossen, dass das nicht geht, das „werden wir verbieten“.   

 

„Wir wollten schlicht und ergreifend selbst dieses Bild sehen – ein Klatschspiel, während wir auf den Schultern von OMON-Männern sitzen, im Hintergrund die Lubjanka.“ – „Smerti bolsche net“ von IC3PEAK

Offenbar haben wir den Ort besudelt

Das habt ihr doch aber mit Absicht gemacht. Ihr habt den Eisernen Felix doch absichtlich am Schnauzer gezupft?

Nick: Wir haben das nicht wegen der Reaktionen gemacht. Wir wollten schlicht und ergreifend selbst dieses Bild sehen – ein Klatschspiel, während wir auf den Schultern von OMON-Männern sitzen, im Hintergrund die Lubjanka. Wir nehmen grundsätzlich nur das auf, was wir selbst sehen wollen. 

Nastya: In erster Linie ist unser Video ein Statement. Wir finden, es ist ironisch, raffiniert und schön geworden. Mit Sinn für Humor.  

Gibt es in Russland eine Politisierung der Jugend?

Nastya: Wenn man bedenkt, dass es immer mehr politisierte Musikevents und Alben verschiedener, auch bekannter und beliebter Interpreten gibt, und dass Musiker einen großen Einfluss auf das Denken der Jugendlichen haben, dann vielleicht ja. Dann gibt es so eine Bewegung. 

Wer gibt hier das Tempo vor? Wer treibt die Politisierung an? Die Staatsmacht oder die Musiker selbst, die ja oft schick sein wollen?

Nastya: Die Zeit. Das ist kein konkreter Mensch, keine bestimmte Personengruppe. Die Zeit gibt das Tempo vor. Für die Politisierung der Jugend ist jetzt einfach die Zeit reif. 

Nick: Das ist ein historischer Prozess. Die jungen Leute haben endgültig aufgehört, Fernsehen zu gucken. Sie sehen diese höllenhafte Propaganda und leben im Internet. Und dort gibt es mehr als eine Meinung. Unterschiedliche Meinungen legen nahe, dass man kritisch denken kann. Das ist alles ganz einfach.     

Es gab ein spektakuläres Konzert für den verfolgten Husky, bei dem erfolgreiche Musiker wie Basta, Oxxxymiron und Noize MC auftraten. Hat’s euch gefallen?

Nick: In unserem System gibt es leider keine andere Möglichkeit, mit dem Druck fertig zu werden. Per Gericht lässt sich das nicht lösen. Das geht nur über Schlagzeilen. Ihr Konzert hat Reaktionen ausgelöst. Eine Masse von Meinungen. 

Nastya: Die Solidarität mit Husky war richtig. Er ist ein unabhängiger Künstler. 

Im Kulturministerium heißt es, dass „Verbote keine Methode“ seien, man müsse jedoch „besonnener an die Texte herangehen“. Werdet ihr eure Songs jetzt „besonnener“ schreiben?

Nastya: Ich glaube, ich gehe auch so besonnen genug an die Texte unserer Tracks heran. Ein Songtext ist vor allem ein Kunstwerk. Und es gibt Themen, über die man eigentlich nicht laut spricht, aber wenn man sie ausspricht, von mir aus auch metaphorisch oder bildhaft, fühlt man sich erleichtert. Daher der therapeutische Effekt der Musik: Menschen hören die Songs und spüren, dass sie mit ihrem Schmerz nicht allein sind, dass sie nicht einsam sind, denn Einsamkeit ist das Schlimmste, meiner Ansicht nach.     

Propaganda für Selbstmord, Gewalt, Extremismus und dergleichen gibt es in unseren Songs absolut nicht, gab es auch nie und wird es nie geben. Wir verwenden nicht mal Mat. Wir reflektieren eine der Facetten der Wirklichkeit, in der unsere Generation lebt, ihre emotionale Seite.      

 

„Menschen hören die Songs und spüren, dass sie mit ihrem Schmerz nicht allein sind“– „Sad Bitch“ von IC3PEAK

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