„Die Tschechoslowaken waren selbst schuld“

Im August 1968 haben die Truppen des Warschauer Pakts dem sogenannten Prager Frühling, Reformbestrebungen in der Tschechoslowakei, ein jähes Ende bereitet. Wie das russische Staatsfernsehen Rossija 1 zum 50. Jahrestag am 21. August 2018 darüber berichtete, das analysiert Alexander Morosow auf The Insider.

Zu [Prag] 1968 ist viel publiziert worden: Die Dokumente des Politbüro und des KGB, Erinnerungen, Foto- und Videosammlungen, jeder kann die Mitschriften der langen Telefonate zwischen Breshnew und Dubček nachlesen, auch sie wurden veröffentlicht. 
Womöglich ist die Geschichte dieses Einmarsches das für die breite Leserschaft am besten dokumentierte und offen einsehbare politische Ereignis des 20. Jahrhunderts, jedenfalls auf russischer Seite. Und voilà, es kann sich nun jeder, der sich den neunminütigen Beitrag des wichtigsten russischen Fernsehsenders zum „Jubiläum“ anschaut, selbst davon überzeugen, wie einfach es ist, das Puzzle der einzelnen Episoden derart zu verschieben, dass ein völlig neues Bild entsteht.

Die Tschechoslowaken sind selbst schuld

Dabei kann man sehr grob vorgehen, wie das Autoren kleinerer Veröffentlichungen tun, oder dezenter, wie der Chef des Europa-Büros von Rossija. Aber das Ergebnis geht in dieselbe Richtung: Die Tschechen [Tschechoslowaken – dek] sind „selbst an allem schuld“. 
Sei es Dubček, der die Kontrolle verloren hatte, seien es die Dissidenten, die ja auf Weisung des CIA gehandelt haben, seien es die Tschechen insgesamt, die zu große Veränderungen gefordert haben – der Reformprozess hätte langsamer eingeleitet werden müssen (dazu wird in dem Beitrag ein kurzes Interview mit der tschechischen Journalistin Procházková gebracht), sei es die Atmosphäre 1968 in Europa – auch die habe sich negativ ausgegewirkt.
Schiebt man beim Legen dieses Puzzles bestimmte Teile weit weg, etwa den Entscheidungsprozess in Moskau, die Reformideen, die in der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei erörtert wurden, die gleiche militärische Einmischung in Budapest im Jahr 1956 und lässt – last but not least – die historische Perspektive (sprich, die Samtene Revolution des Jahres 1989) völlig außer Acht, dann ergibt sich ungefähr jenes Bild, das der Kreml und seine Medien heute präsentieren:
Schauen Sie: eine tragische Episode in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Tschechen haben das selbst zu verantworten, wollen das aber nicht zugeben, ja mehr noch, sie „verhöhnen die Erinnerung“: Seht nur, sie haben einen Panzer der Befreier rosa angemalt! Ihr Verhältnis zur Geschichte ist ein postmodernistisches, unseres ein trauerndes, heldisches, und wir bedauern, dass das Brudervolk so auf dem Holzweg ist.

Jeder weiß, selbst bei einer Unterhaltung in der Elektritschka wird der Gesprächspartner gerne zugeben, dass in dieser Interpretation einige historische Fakten nicht ganz korrekt dargestellt sind. Gleichzeitig wird er jedoch abwinken und sagen: „Wenn wir nicht eingegriffen hätten, dann wären Soldaten der NATO gekommen.“ Dieses Argument hat sich mittlerweile auf die Geschichte insgesamt ausgebreitet, es dient als schlussendliche Rechtfertigung jeglicher Handlungen jeglicher russischer Herrscher.

Um eine Aggression zu rechtfertigen, muss man Grenzen als bedingt denken

Hier sind vier Positionen zu differenzieren: das Bewusstsein der breiten Bevölkerung, revisionistische Historiker, die Medienmacher des Kreml, und der derzeitige Kreml selbst. 
Für den normalen unpolitischen Menschen sind solche Beiträge eine große Versuchung. Nach der Krim ist das Leben in der Geschichte unbequem geworden. Eine militärische Intervention in das Leben eines anderen Volkes zu heroisieren, fiel der Bevölkerung sogar in der Sowjetzeit schwer – das galt für die Zeit des Finnischen-Sowjetischen Kriegs und für Afghanistan. Es musste eine Erklärung gefunden werden, die einen mit der Realität versöhnt.
Heroismus zum Schutz der eigenen Grenzen wird nicht in Frage gestellt. Ein Truppeneinmarsch, um andere zu erobern oder Unerwünschtes zu unterdrücken, stößt hingegen auf inneren Widerstand. Um eine Aggression zu rechtfertigen, muss man Grenzen als bedingt denken, und erklären, dass sie nicht mit denen auf der Landkarte übereinstimmen. 
Genau das geschieht derzeit: Die imaginierte Grenze verläuft wieder nicht so wie auf der realen Karte, und überall, wo die imaginierte Russki Mir (dt. „Russische Welt“) liegt, stößt sie mit der imaginierten NATO zusammen.

Revisionistische Historiker konstruieren bekanntermaßen häufig jahrelang alternative Beschreibungen der Realität, einfach in dem Bestreben, dem Mainstream etwas entgegenzusetzen.
Solange das nicht von Propagandamachern aufgegriffen wird, bleibt diese alternative Geschichte eine Randerscheinung. Jetzt aber fallen die Interessen des Kreml und der Alternativler zusammen. „Reptiloide verüben einen Anschlag auf den Code der russischen Zivilisation.“ So lautet das wichtigste Thema der aktuellen geopolitischen Forschung.

Alternative Geschichtssschreibung

Der Bruch des so genannten „zivilisatorischen Codes“ ist keine Metapher. Diesen Begriff verwenden sowohl Wladimir Putin als auch Patriarch Kirill. Dadurch entsteht ein stabiles Schema, in das sich jedes Ereignis einfügt, eben auch die Operation Donau: Die Tschechen und Slowaken werden schlicht zu Geiseln in der großen Schlacht zwischen den „Russen“ und den „Reptiloiden“: 1968 haben Soldaten der NATO in Tschechien die Russische Welt angegriffen, und mit ihnen haben auch Kräfte angegriffen, deren Ziel es ist, unseren „zivilisatorischen Code“ zu zerstören.

Das Problem ist, dass im Rahmen des zweiten „Aufstands der Massen“, nämlich während des explosionsartigen Wachstums der Internetkommunikation, jeder, der Inhalte produziert – und seien sie auch noch so irrsinnig – ohne Weiteres seine eigene Sekte bilden kann. Gleichzeitig werden die klassischen Institutionen zur Wissenserzeugung geschwächt und verlieren in der Gesellschaft insgesamt an Autorität. Die Schüler werden nicht bei den Positionen der Lehrbücher verharren – sie werden leicht in Sekten hineingezogen, die alternative Interpretationen verbreiten. Und ein junger Putinscher Karrierist wird gern bereit sein, ein neues Geschichtsschema zu vertreten, in dem überall auf der Welt „undankbare Völker“ den imaginierten Umfang eines „unendlichen Russland“ säumen. 

Der Chef des Europastudios von Rossija wie auch Russia Today verfügen heute über riesige Möglichkeiten, nach Belieben und vollkommen ungestraft die Figuren auf dem Schachbrett der Geschichte umzustellen und anstelle der Konstellation, die sich aus jahrelanger Forschungsarbeit qualifizierter Historiker ergibt, eine neue herzustellen. Können die Historiker heute – als akademische Institution – dem zweiten „Aufstand der Massen“ und der Revolution der Internetmeinungen etwas entgegensetzen?

Was können Historiker den Internetmeinungen entgegensetzen?

Der Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 ist in der politischen Geschichtsbetrachtung der Russen und Tschechen längst abgehakt und wird von der Samtenen Revolution von 1989 überdeckt. Bis zur Krim, die alle Sinnkonstruktionen des Innenlebens der Russischen Föderation deformiert hat, ist jedwede Revision der sowjetischen Epoche sinnlos gewesen: In postsowjetischer Zeit wurden die Beziehungen der Völker auf der Basis derjenigen Wege wiederhergestellt, die die jeweiligen Länder des ehemaligen Ostblocks und die ehemaligen Republiken der UdSSR selbstständig einschlugen. 

Nun aber, nach der Annexion, gedenkt der Kreml in dieser [revisionistischen – dek] Weise nicht nur des Einmarsches in die Tschechoslowakei, er wird 2019 auch die Samtene Revolution in diesem Sinne interpretieren. Sie muss – wie jeder andere Protest – als „Orangismus“ und „äußere Einmischung“ verstanden werden.
Die Hauptlinie dieses Gedankenschemas lautet: Soldaten der NATO greifen von allen Seiten an, und mit ihnen Reptiloide, die unsere Identität zerstören. Diese Linie ist unendlich. Auf ihr kann man keinen Punkt setzen. Und nicht – jedenfalls nicht allein Kraft des Verstandes – zu einem gesünderen Geschichtsverständnis zurückkehren.

Die Angliederung der Krim hat einen fürchterlichen Dienst geleistet

Wenn du im Kopf erst einmal ein „Veteran“ dieses Krieges bist, wirst du ihn auch mit 80 Jahren noch führen. Die Krim hat einen fürchterlichen Dienst geleistet: Seine Strahlung wird noch lange Zeit junge Leute zu Veteranen eines imaginierten globalen Krieges machen. 

Sämtliche Puzzles der Geschichte werden neu angeordnet, alle realen Kontexte zerstört, alle Fragen von Schuld und Verantwortung durcheinander gebracht – und alle Völker werden dastehen als feige Verräter oder naive Dummköpfe, die den eigenen Vorteil nicht begreifen, den ihnen die brüderliche Hilfe des Kreml bringt. Das ist das Fazit des Jubiläums der Operation Donau, wenn man sich den Beitrag des staatlichen russischen Senders anschaut.

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