Die Schule der inneren Emigration

In Deutschland ist das Phänomen bekannt aus NS- und DDR-Zeit: Statt auszuwandern oder in eine offene Opposition zu treten, ziehen sich Menschen unter unliebsamen äußeren Umständen oft zurück in eine innere Emigration. Wer in der Sowjetunion aufgewachsen ist, verfügt hier über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz, der zu einem gefragten Gut werden könnte, meint Maxim Trudoljubow auf Republic.

Unbeteiligt und abwesend sein, den lästigen Lärm der Außenwelt ausblenden, innerlich emigrieren, an verschiedenen Orten und zugleich nirgendwo sein können – diese Fähigkeiten sowie die damit verbundene Geistesschule sollten wir zum goldenen Erbe der Sowjetunion zählen. Es ist ein Gut, das sich mit anderen zu teilen lohnt.

Brodskys Strategie macht Schule in den USA

„[Joseph – dek] Brodskys Strategie des Abschaltens machte plötzlich auf abstruse Weise Sinn für mich“, schreibt eine Redakteurin des jungen amerikanischen Magazins The Point mit Blick auf die aktuelle politische Lage in den USA. Der ehemalige Top-Manager eines internationalen Konzerns setzt diese Strategie in die Praxis um – indem er seinen Alltag so gestaltet, dass er buchstäblich keine Nachrichten mehr bekommt, und die New York Times bringt darüber eine große Reportage. Außerdem gibt es mittlerweile zahlreiche praktische Ratgeber und Berichte über das Flüchten aus der US-amerikanischen Wirklichkeit nach Kanada.

Und das bereits nach anderthalb Jahren Trump. Was kommt nach vier oder nach – gar nicht so undenkbaren – acht Jahren? Genau hier können wir eine helfende Hand reichen. Die Russen haben sich von den Amerikanern so einiges an Technologie und Praxis abgeguckt. Es ist höchste Zeit, die Schuld zu begleichen.

Ein Leben im Kloster des eigenen Geistes

Doch die Sache ist ernst, und so schnell wird das nicht gehen. Dort, wo der US-Bürger vor der simplen Entscheidung des An- oder Abschaltens steht, verfügen wir über fünfzig Facetten der Teilnahmslosigkeit und inneren Emigration. In welcher Kultur sonst findet man so feine, ausgeklügelte Überlebenstechniken und Wege, den gesunden Menschenverstand unter Bedingungen zu bewahren, die dafür nicht geschaffen sind? Wo sonst hatten die Menschen so viel Gelegenheit zu lernen, wie man abwesend ist, während man anwesend zu sein vorgibt?

Brodsky hat ein völlig neues Verhaltensmuster vorgelegt. Er lebte nicht in einem proletarischen Staat, sondern im Kloster seines eigenen Geistes. Er kämpfte nicht gegen das Regime. Er nahm es nicht zur Kenntnis.

(Sergej Dowlatow, Das unsichtbare Buch)

„Die ewigen Fotos von Stahlgießereien in jeder Morgenzeitung und der ununterbrochene Tschaikowski im Radio – diese Dinge hätten einen in den Wahnsinn treiben können, hätte man nicht gelernt abzuschalten“, schreibt Brodsky selbst in [seinem autobiographischen Essay – dek] Weniger als man. Nicht nur Brodsky beherrschte das Abschalten, viele konnten das, vielleicht sogar alle, selbst die Parteifunktionäre. Man hat gelernt, die Außenwelt zu akzeptieren, aber diese Akzeptanz war eine rein oberflächliche, formelle. Die sowjetischen Gelehrten fügten Lenin-Zitate in ihre Schriften ein, ohne den abgetippten Buchstaben den geringsten Sinn beizumessen. Sowjetische Führungskräfte hielten Reden, ohne sich bewusst zu machen, was sie da eigentlich erzählen. Der sowjetische Mensch konnte anwesend sein, ohne wirklich da zu sein.

Das Außerhalbsein – ein sowjetisches Konzept

„Innerhalb des Systems, als Teil davon, existierte das Individuum im selben Moment auch außerhalb dessen, an einem anderen Ort“, schreibt der Anthropologe Alexei Yurchak in seinem Buch Everything Was Forever, Until It Was No More. Diesen Zustand, wenn man sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Systems befindet, bezeichnet Yurchak als wnenachodimost – das Außerhalbsein.

Und es geht nicht nur um die Hausmeister und Nachtwächter, das heißt, um Menschen, die in Heizwerken und Kesselhäusern arbeitend Lieder dichteten, alte Sprachen lernten und philosophische Traktate verfassten. Auch Verkäufer und Kassierer waren oft gleichzeitig anwesend und woanders. Ganz zu schweigen von der praktischen Unmöglichkeit, einen zuständigen Beamten physisch an seinem Arbeitsplatz anzutreffen. Die Menschen konnten Positionen bekleiden und, ob sie nun da waren oder nicht, anstatt zu arbeiten, ihre gesamte Zeit mit Gesprächen zubringen. Eine gängige Praxis war das Abfeiern – man verdiente sich Urlaubstage, indem man an (den ausschließlich offiziellen) Demonstrationen teilnahm oder zur Kartoffelernte aufs Land fuhr.

Das Regime war etwas, das man am besten einfach nicht bemerkte

Aktives Dissidententum konnte dabei genauso zu Ausgrenzung führen wie aktive Unterstützung des Regimes. Politische Themen galten in der spätsowjetischen Kultur als nicht der Rede wert. So war es – das ist wichtig – bis zum Beginn der Perestroika. Gegen das Regime zu kämpfen hätte bedeutet, es anzuerkennen, doch das Regime war etwas, das man am besten einfach nicht bemerkte.

Verbotene Literatur wurde gelesen – von denen, die an sie herankamen, aber gelesen wurde auch sonst alles, was unter den Bedingungen des Informationsdefizits nur entfernt Beachtung verdiente. Was zählte, war das Gespräch.

Diskussion als lebendige Reaktion der Gesellschaft auf Zensur und Kontrolle

Der Raum der Diskussion und des – persönlichen – Austauschs war eine lebendige Reaktion der Gesellschaft auf Zensur und Kontrolle. Aber weil solcher Austausch Vertrauen voraussetzt, bildeten sich bald Erkennungsmethoden nach dem Prinzip „Freund oder Feind“: Man konnte in den engeren Kreis aufgenommen, aber auch plötzlich ausgestoßen werden, was in einer Kultur, die sehr sensibel mit der Würdigung per Handschlag umging, eine empfindliche Strafe sein konnte. Formelle Anerkennung war so gut wie nie deckungsgleich mit informeller Anerkennung, inoffizielle Autorität wog schwerer als die offizielle.

Übrigens, wir sollten die Prinzipien der Realitätsflucht auch heute an uns selbst überprüfen. Die Praktiken liegen uns im Blut und lassen sich sicher leicht abrufen. Es würde mich zum Beispiel nicht wundern, wenn Angestellte im öffentlichen Dienst für die Teilnahme an offiziellen Demonstrationen einen Ausgleichstag bekämen. Genauso wenig würde mich wundern, wenn Führungskräfte ihre Reden heute wieder hielten, ohne groß über deren Inhalt nachzudenken. Und genügend Arbeitsplätze, wo sich die Angestellten den ganzen Tag nur unterhalten, gibt es sowieso.

Die russische Lebensweise als unvollständig anwesende Existenz

Sich entziehen, sich um etwas herumdrücken, anwesend sein und im selben Moment nicht – diese Dinge sind in den unterschiedlichsten Formen weit verbreitet. Die russische Lebensweise – mit ihren ständigen Abstechern auf die Datscha oder, wenn man in der Provinz lebt, Ausflügen in die Großstadt – hat an und für sich etwas von einer unvollständigen Anwesenheit.

Und doch hindert uns irgendetwas daran, die Glückseligkeit des totalen Abschaltens zuzulassen. Die Ähnlichkeiten mit der späten UdSSR sind augenfällig, sollten uns jedoch nicht täuschen. Im heutigen Russland ist es ohnehin schwer, sich eine allgemeingültige Praktik auszumalen.

Heutzutage gibt es ungleich mehr Möglichkeiten, sein Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, sich seinen eigenen Raum und seine eigene Zeit zu schaffen, als zu Sowjetzeiten.

Aber das sollte uns natürlich nicht davon abhalten, jene Praktiken des Abschaltens zu erforschen, die so tief in unserer Kultur verwurzelt sind – und diese Kunst der jungen und noch unerfahrenen US-amerikanischen Intelligenzija beizubringen.

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