„Wir zerstören, was wir erreicht haben”

Versöhnung ist Arbeit. Russland und Deutschland waren auf dem Weg schon ziemlich weit – und sind jetzt gerade dabei, das alles wieder aufs Spiel zu setzen, warnt der Historiker Alexej Miller. Während Russland heute dem Tag des Sieges gedenkt, spricht Miller im Interview auf Colta.ru eindringlich über Erinnerung als Raum des Streits und Dialogs.


In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

Haben sich die nationalen Narrative geändert? Sind sie früher menschlich gewesen, während sie jetzt ihre Zähne zeigen?

Der Ansatz der Erinnerungspolitik hat sich verändert. Die Erinnerungskultur hat sich verändert. In den 1990er Jahren und Anfang der 2000er Jahre dominierte in Europa jene alte europäische Erinnerungskultur, die, ganz einfach gesagt, folgenden Kern hat: Das Schlüsselereignis, an dem alles gemessen wird, ist der Holocaust. Daraus ergibt sich, dass die Opfer des Holocaust die wichtigsten Opfer sind. Das bedeutet wiederum, dass sich im Alten Europa niemand zum „Hauptopfer“ erklären kann. Diese Rolle ist schon besetzt. Stattdessen müssen alle schauen, wie und in welchem Maße das eigene Land, das eigene Volk am Holocaust beteiligt war – aktiv, passiv, wie auch immer.

Dieser Prozess hat lange, hat Jahrzehnte gedauert. Jacques Chirac hat erst 1995 offiziell zugegeben, dass die Franzosen am Holocaust beteiligt waren. Das ist das, was man im Grunde als kosmopolitische Erinnerungskultur beschreiben könnte. Und es muss gesagt werden, dass eine solche Erinnerungskultur nach dem Zerfall der Sowjetunion auch in Russland dominiert hat. Die Idee war folgende: Lasst uns mit den Polen über die „weißen Flecken“ reden – über die schwierigen Themen unserer Geschichte. Und weshalb reden wir mit ihnen darüber? Um die ganze Wahrheit zu sagen und uns dann zu versöhnen.

Gab es diesen Wunsch?

Es gab diesen Wunsch. Und generell eine Vorstellung davon, was Erinnerungspolitik ist, nämlich: die Wahrheit zu sagen und Buße zu tun.

War dieser Wunsch nicht zusätzlicher Ballast auf dem politischen Annäherungskurs? Oder war es und ist es ein eigenständiges Ziel?

Das ist gar nicht wichtig. Es gibt da nichts Eigenständiges. Es ist Politik. Wenn wir von Erinnerungspolitik sprechen, ist es wichtig, den Akzent darauf zu setzen, dass es eben Politik ist.

Schauen Sie: 2009 wurde wieder der Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges begangen. Wladimir Putin fuhr auf die Westerplatte und erklärte, dass die Rote Armee keine Freiheit bringen konnte, weil sie selbst nicht frei war. Er sagte, dass es dennoch eine Befreiung vom Nationalsozialismus gewesen sei und dass wir uns sehr für den Hitler-Stalin-Pakt schämen. Das war 2009. Und es war klar, dass er dabei davon ausging, dass auch die anderen Reue zeigen würden. Die anderen hatten [das Abkommen von – dek] München, wir den Hitler-Stalin-Pakt. Wir sind schuldig und ihr seid schuldig, jeder auf seine Art. Stattdessen bekam er zu hören: „Oh, ja! Du hast ganz richtig gesagt, dass ihr Schuld habt, zeigt also Reue. München hat damit nichts zu tun.“ Dann erfolgte eine weitere Verschlechterung der politischen Beziehungen. Und als Folge davon sagt Putin dann 2014: „Hitler-Stalin-Pakt? Das war zutiefst durchdachte, besonnene Politik. Welche Möglichkeiten hätten wir sonst gehabt?

Das heißt, die Bewertung solcher Schlüsselmomente hängt für ihn in sehr hohem Maße vom realen politischen Kontext ab.

Wenn wir von Erinnerungspolitik sprechen ist es wichtig, den Akzent darauf zu setzen, dass es eben Politik ist

Aus dem Dialogmodus, bei dem davon ausgegangen wurde, dass wir jetzt über Geschichte sprechen, um uns zu versöhnen, sind wir zu einem Modus agonistischer Erinnerung übergegangen.

Da ist die Frage dann nicht mehr, wie wir jetzt Geschichte erörtern und auf welcher Seite es welchen Anteil an Wahrheit gibt (wobei davon ausgegangen wird, dass es auf jeder Seite ein gewisses Stück Wahrheit gibt). Das Ziel ist nun nicht mehr Versöhnung, sondern Konfrontation, die Figur des „Anderen“ wird benutzt.

Der agonistische Ansatz setzt allerdings eine gewisse gegenseitige Achtung der beteiligten Seiten voraus. In Osteuropa aber stürzen wir uns immer mehr in einen antagonistischen Modus, in dem das Gespräch ein anderes ist: Wir sind die Opfer, ihr seid die Täter, zeigt Reue! Das ist kein Dialog, das ist eine lange Geschichte, und eine recht schwierige.

‘Wir sind die Opfer, ihr seid die Täter, zeigt Reue!‘ Das ist kein Dialog, das ist eine lange Geschichte, und eine recht schwierige

Soweit ist es gekommen, und dazu, dass die neuen Mitgliedsstaaten der EU in der modernen europäischen Erinnerungspolitik versucht haben und bis heute versuchen – nicht ohne Erfolg –, das zentrale Thema Holocaust durch das Thema Totalitarismus zu verdrängen. Wobei beim Thema Totalitarismus alles klar ist – das geht an die Adresse von Russland. Und schon ist Russland dann jenes „Fremde“. Die Deutschen haben im Grunde Reue gezeigt, haben, so meint man, ihre Lektion gelernt, und das ist gut so, Gott sei Dank.

Obwohl es immer noch manchmal dazu kommt, dass Polen erneut Reparationen von Deutschland fordert. Doch heute geht es da nicht um die Frage des Dialogs über strittige, schwierige, schmerzliche Themen der Erinnerung, sondern lediglich darum, wie wir, in welcher mehr oder weniger gemeinen, mehr oder weniger groben Form wir die eigene Sichtweise bekräftigen und aus unseren politischen Opponenten Übeltäter machen.

Das heißt, die Konflikte werden zunehmen?

Zweifellos.

Und es gibt keine Alternative?

Nein.

Und die Konflikte werden sich zu einem gegenseitigen trolling entwickeln?

Ja. Die Frage ist nur die Dimension, wie viele Länder sich beteiligen und welche Ressourcen dabei eingesetzt werden. Weil es bis jetzt gleichwohl bestimmte Leistungsträger der „antitotalitären Front“ gab: die baltischen Staaten, Polen, die Ukraine … Und wir wurden unsererseits nicht müde, sie an den Holocaust zu erinnern und in welchem Dreck sie dabei stecken.

Jetzt nimmt das aber ganz andere Dimensionen an, in dem Sinne, dass in Westeuropa das Bild von Russland als Spinne oder Krake auf die Titelseiten der Magazine zurückgekehrt ist: So sei das Regime der Zaren bei uns gewesen, so sei das Stalinsche Regime gewesen, und so sei heute das Regime Putin. Das ist die Sicht der dortigen Karikaturisten.

Russland ist jetzt eindeutig zum „Anderen“ geworden, wieder zum im europäischen Kontext „konstituierenden Anderen“

Und es kommt wirklich zu sehr ernsten Verschiebungen, zu sehr ernsten Verlusten. Ein Beispiel: In der russischen Kultur der letzten Jahrzehnte (auch nach dem Krieg) gab es zwei Bilder – oder zwei Narrative – von den Deutschen. Es gab einerseits den Deutschen in Stiefeln und mit einer Schmeisser. Und andererseits den Deutschen in Apothekerschürze und mit Brille. Da waren sogar komische Rollenwechsel möglich. So oder so dominierte aber das Bild des Deutschen als Träger von Technik und Wissen, als Professor, Akademiemitglied, Apotheker, Arzt, als Partner zur Modernisierung – all diese Figuren. Und vor unseren Augen hat in den letzten drei, vier Jahren dieses Bild einem anderen Platz gemacht, dem Narrativ vom grausamen, dominanten usw. Deutschen.

Es verschlechtert sich an allen Ecken und Enden. Russland ist jetzt eindeutig zum „Anderen“ geworden, im europäischen Kontext wieder zum „konstituierenden Anderen“. Es ist wieder in diese Rolle zurückgekehrt, und die Klischees alter Zeiten sind wieder lebendig geworden.

Diese gegenseitigen Salven Geschichtspolitik, die haben doch einen unmittelbaren Einfluss auf die innenpolitische Agenda und verleihen der staatlichen Erinnerungspolitik innerhalb Russlands einen bestimmten Sinn. Befördert dieser Einfluss die Geschlossenheit und die Eintracht in der Gesellschaft in Russland, oder verschärft er im Gegenteil die Spaltung?

Ich würde die Frage anders stellen. Erinnerung muss keineswegs unbedingt Eintracht fördern. Insbesondere bei sehr schwierigen Fragen. Das Problem bei uns besteht darin, dass ein quasiliberaler Diskurs einen Woodoo-Kult veranstaltet, indem gesagt wird, solange wir Stalin nicht aus seinem Grab holen, habe das Land keine Zukunft. Die Zukunft Russlands hängt in nur ganz geringem Maße davon ab, ob wir Stalin ausgraben oder nicht, ob wir Lenin begraben oder nicht. Das ist meiner Ansicht nach eine höchst mythische Sache. In manchen Fällen sind es einfach nur völlig idiotische Initiativen. Zum Beispiel die „Unsterbliche Baracke“. Die wurde als Antwort auf das „Unsterbliche Regiment“ ins Leben gerufen.

Doch wohl eher als Antwort auf die Verstaatlichung des „Unsterblichen Regiments“…

Wenn Sie gegen die Vereinnahmung des „Unsterblichen Regiments“ durch den Staat kämpfen wollen, dann müssen Sie nicht unbedingt eine „Unsterbliche Baracke“ gründen und die Bezeichnung „Unsterbliches Regiment“ verlachen, sie profanieren.

Es stimmt, dass die Vereinnahmung durch den Staat eine sehr ernste Sache ist. Die Regierung hat allmählich gelernt, wie es die verschiedenen gesellschaftlichen Initiativen unter ihre Kontrolle bringen kann.
Und ich denke, dass es die Regierung nicht groß schert, eine einheitliche Geschichtslinie zu vermitteln, weil sie selbst gar keine solche einheitliche Linie hat.

Und das Thema Großer Vaterländischer Krieg?

Auch da gibt es keine einheitliche Linie. Wir können sagen, dass wir den Hitler-Stalin-Pakt bedauern, und später dann wieder sagen, dass wir ihn nicht bedauern. Das, was der Große Vaterländische Krieg bedeutet und unser heldenhaftes Volk in diesem Krieg, da gibt es keine einheitliche Linie des Regimes, sondern eine der gesamten Gesellschaft – mit Ausnahme jener, die sich ihr entgegenzustellen versuchen.

Die Meinungsunterschiede beginnen dort, wo es um die Rolle Stalins im Krieg geht. Im Grunde ist die Regierung bestrebt, keine einheitliche Interpretationslinie aufzunötigen.

Die Vergangenheit ist keine Grundlage für Einigkeit. Grundlage für Einigkeit ist die Gegenwart und die Zukunft

Tatsächlich vereint die Vergangenheit die Menschen nicht, sondern spaltet sie. Die Vergangenheit kann keine Grundlage für Einigkeit sein. Grundlage der Einigkeit ist die Gegenwart, und die Zukunft. Wenn Sie Klarheit haben, wie die Zukunft aussehen wird, dann haben Sie auch Klarheit darüber, wie die Vergangenheit zu interpretieren ist. Wenn es keine Klarheit über die Zukunft gibt, von welcher Einigkeit bei der Geschichtsinterpretation kann dann die Rede sein? Die Folge ist nun, dass die Vergangenheit zu einem Raum für gegenseitigen Hass geworden ist.

Es gibt da die Studie der Freien Historischen Gesellschaft mit dem Titel „Welche Vergangenheit braucht das künftige Russland?“, die sehr intensiv erörtert wurde. Was wäre, wenn Alexey Miller eine solche Studie geschrieben hätte …?

Ich würde eine solche Studie nicht schreiben. Auf keinen Fall. Ich habe mich viele Jahre mit Fragen der Geschichtspolitik beschäftigt. Ich versuche nicht, der Gesellschaft zu erzählen, welche Erinnerung sie braucht; ich versuche zu verstehen und der Gesellschaft zu zeigen, wie diese Mechanismen funktionieren und wer daran beteiligt ist. Ich arbeite ja nicht für Medinski. Aber auch nicht gegen Medinski. Das heißt, er gefällt mir nicht. Wenn sie ihn in die Portiersloge versetzen würden, wäre ich nur dafür.

Ich versuche nicht, der Gesellschaft zu erzählen, welche Erinnerung sie braucht

Gleichzeitig stehe ich bei diesem Spiel nicht auf Seite irgendeiner Partei. Eben deshalb, weil ich mir das anschauen und sehen möchte, wer wie spielt. Und ich kann auch keine Partei erkennen, für die ich spielen wollen würde. Deswegen würde ich so etwas nicht schreiben.

Erinnerung, das ist ein Raum des Streits und des Dialogs. Dann ist sie auch lebendig. Andererseits darf es in dieser Erinnerung keinerlei falsche, „ultimative“ Themen geben, nach dem Motto: Wenn wir nicht morgen schon Stalin ausgraben, wird bei uns nichts Gutes herauskommen.

Sie glauben also nicht an Symbole? Ein ausgegrabener Stalin, wäre das nicht ein starkes Symbol?

Das ist ein starkes Symbol. Nur, dass es überhaupt keine Lösung ist. Denn Ihrer Brigade, die Stalin ausgräbt, wird eine weitere folgen, die diese dann vermöbelt und sie zusammen mit Stalin wieder eingräbt. In einem Heldengrab. Dann wird noch etwas Gold der Skythen dazugelegt, um das Bild zu vervollständigen. Wenn wir uns den Film Die Reue, aus dem dieses Bild [des Ausgrabens – dek] stammt, heute anschauen, dann sehen wir, wie aufgeblasen er ist – und wie unklug, im Großen und Ganzen.

Es ist doch normal, dass wir ihn jetzt so beurteilen.

Das ist ganz normal, aber dann kommen Sie mir um Gottes Willen nicht immer mit diesem Ausgraben von Stalin!

Bei uns gibt es in diesem Bereich sehr viele Mythen. Unter anderem diese: Nur bei uns allein klappt es nicht, und bei allen anderen geht alles gut.

Die Deutschen haben Reue gezeigt. Aber begonnen hat es damit, dass die Deutschen nach 1945 sich 15 Jahre lang geweigert haben, überhaupt davon zu sprechen. Mehr noch: Europa hat sich bis in die 1980er und 1990er Jahre geweigert, über seine Verwicklung in den Holocaust zu sprechen – dieses demokratische, schöne, gewaschene, gestriegelte Europa mit sauberen Nägeln, mit einer florierenden Wirtschaft und voller Selbstbewusstsein.

Europa hat sich lange geweigert, über seine Verwicklung in den Holocaust zu sprechen – dieses demokratische, schöne, gewaschene, gestriegelte Europa mit sauberen Nägeln, mit einer florierenden Wirtschaft und voller Selbstbewusstsein

Auf den Bildern waren irgendwelche Leute mit Mützen der französischen Gendarmerie zu sehen, die Juden irgendwohin abführten, aber die Franzosen waren keineswegs an etwas beteiligt! Es war möglich, jahrzehntelang diese Bilder zu sehen, zu sagen, dass man nichts damit zu tun hatte, und es dann 1995 einzugestehen.

Und bis heute wird darüber geredet, wie erfolgreich Europa ist, wie sehr es sich modernisiert, wie besonders und prächtig es ist – und gleichzeitig schafft man es darüber zu schweigen, dass zur Grundlage der Globalisierung, der Modernisierung und all dieser Dinge der Sklavenhandel und der Kolonialismus gehören.

Und die Deutschen, die ja angeblich alles sehr richtig gemacht haben, haben in Wirklichkeit bei weitem noch nicht die ganze Arbeit gemacht. Da reicht ein Blick auf das Rathaus in Bamberg. Es ist das schönste Gebäude der Stadt und steht auf einer Brücke. Dort hängen drei Gedenktafeln. Auf einer steht, dass sie dem Gedenken an den Antifaschisten Claus [Schenk Graf] von Stauffenberg gewidmet ist, der versucht hatte, Hitler umzubringen. Und das macht Stauffenberg zum Antifaschisten.
Eine zweite Tafel ist dem Gedenken an Tausende Einwohner der Stadt gewidmet, die den Bombenangriffen zum Opfer fielen – Frauen und Kinder, und an soundso viel tausend Bamberger (bis auf den letzten Mann genau gezählt), die auf den Schlachtfeldern des Krieges gefallen sind, also Soldaten der Wehrmacht, und an soundso viel tausend Vermisste.
Und daneben hängt eine weitere Tafel, zum Gedenken an die jüdischen Einwohner Bambergs, die nicht mehr da sind. Bei denen hatte sich niemand die Zeit genommen, sie auch nur zu zählen. Die eigenen Opfer wurden vom ersten bis zum letzten gezählt, die Juden aber, nun, wer zählt da schon nach, die gab es, und jetzt sind sie nicht mehr da. Schade natürlich. Umso mehr, als man uns [Russen – dek] die ganze Zeit vorwirft, dass wir an etwas schuld seien. Wenn man diese drei Tafeln sieht, wird einem einiges klar.

Auch sollte man wissen, dass die Münchener Stadtverwaltung zehn Jahre lang eine Genehmigung für Stolpersteine verweigerte, weil man der Ansicht war, sie würden bei Regen eine Rutschgefahr bedeuten. Daher sollte man nicht erzählen, dass es bei allen erfolgreich läuft.

2012 hab ich den Deutschen und Polen gesagt: Jetzt kommt Kaczyński, und dann ist Ihre ganze Versöhnung für die Katz. Und ich hatte Recht.

Es gab einmal eine Veranstaltung in Moskau, die der deutsche und der polnische Botschafter organisiert hatten, zur Erinnerungspolitik. Die hatten mich aus irgendeinem Grund eingeladen, um als Vertreter aus Russland zu sprechen. Und sie sprachen lange davon, wie die Deutschen und die Polen an einer Versöhnung gearbeitet haben, und boten an, uns beizubringen, wie man sich versöhnen könnte. Das war, wenn ich mich recht entsinne, 2012.
Ich sagte daraufhin, dass wir keine Lehren bräuchten, weil wir auch ohne Bischofsbriefe den Deutschen verziehen hätten; dass es mit den Polen allerdings einen Bischofsbrief gegeben habe, der aber nichts genützt hätte. Und dass ich es so formulieren würde: Jetzt kommt Kaczyński, und dann ist Ihre ganze Versöhnung für die Katz.
Und ich hatte Recht. Weil ich die Geschichtspolitiken studiere und weiß, wie so etwas strukturiert ist. Dass man an der Versöhnung arbeiten muss. Dass es immer zwei Narrative gibt. Womit wir wieder am Anfang unseres Gesprächs waren.

Jetzt haben wir den Schlamassel

Jetzt zerstören wir – vor aller Augen, gemeinsam mit den Deutschen, mit vereinten Kräften, das, was wir erreicht haben, und verfallen in gegenseitigen Hass. So sieht’s aus. Jetzt wird uns [Russen – dek] schon wieder erzählt, wie ein deutscher [Wehrmachts-] Soldat in eine Hütte kommt, ein Kind weint, der Soldat zertrümmert ihm den Kopf am Türrahmen und er legt sich schlafen. Solche Geschichten sind uns die letzten 25 Jahre nicht erzählt worden. Hat es solche Dinge gegeben? Es hat sie gegeben. Wurden sie die letzten 25 Jahre erzählt? Nein. Nun aber werden sie wieder erzählt. Andererseits ist es auch so, dass sowjetische Soldaten 2,5 Millionen deutsche Frauen vergewaltigt haben …

Mir ist da mal folgende Geschichte passiert: Die BBC rief mich an, das ukrainische Programm, kurz vor dem 9. Mai, und sie sagten: „Wir wollen uns mit Ihnen über den 9. Mai unterhalten.“ Mir war schon klar, worauf das hinauslaufen würde. Sie kamen sogleich auf die Vergewaltigungen als Schlüsselbefund des 9. Mai. Ich sagte ihnen: „Leute, ihr sendet in die Ukraine. Die heldenhafte Rote Armee, die Deutschland befreit hat, bestand zu ungefähr einem Viertel aus Ukrainern. Also besteht die Annahme, dass rund ein Viertel jener deutschen Frauen von Ukrainern vergewaltigt wurden – über eine halbe Million. Bittet eure Hörer, dass sie Reue zeigen, und berichtet dann vom Ergebnis, dann gehen wir dieses Thema auch hier in Russland an.“

Die Sendung wurde nicht ausgestrahlt. Da können wir sehen, wie dieser Raum zerfällt. Niemand will mit dem Anderen reden. Das Gespräch gerät zur Provokation, oder zum Trolling. Jetzt haben wir den Schlamassel.

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