Bringen Sie uns bloß die Wirtschaft in Ordnung!

Tiefer geht’s nicht mehr – über die Richtung der russischen Konjunktur sind sich die meisten Wirtschaftsexperten einig. Nach einer ernsthaften Wirtschaftskrise und Stagnation schwört die russische Politik schon Aufbruchstimmung herauf. Angeheizt wird diese – rund zehn Monate vor der Präsidentschaftswahl – vor allem durch zwei Wirtschaftsprogramme, die Wachstum verheißen: das Programm des sogenannten Stolypin-Klubs sowie eine Strategie, die ein Team rund um Ex-Finanzminister Kudrin erstellt. Erarbeitet in einer zur Schau gestellten Konkurrenz, sollen beide Programme im Mai dem Präsidenten vorgelegt werden. Der entscheidet dann darüber, welche Wirtschaftsstrategie das Land in den nächsten Jahren prägen wird.

Auf republic.ru fragt Wladimir Korowkin, Wirtschaftswissenschaftler der Moskauer Skolkovo School of Management, nach den Unterschieden dieser beiden Drehbücher. Auf welche Strategie soll Russland setzen – angesichts des weiterhin niedrigen Ölpreises, der Sanktionen und einer Staatsbeteiligung im Wirtschaftsprozess von bis zu 70 Prozent?

Unter Familien-Psychotherapeuten kursiert ein Insider-Spruch: „Bringen Sie bitte das Kind wieder in Ordnung.“ Er beschreibt den populären Anspruch der Kunden: „Es war ein gutes Kind, aber plötzlich ist es ‚kaputt gegangen‘, kam mit Fünfen nach Haus, wurde grob, fing an zu lügen, zu klauen, zu rauchen. Machen Sie wieder ein gutes Kind draus, bringen Sie es in Ordnung!“

Erfahrene Psychotherapeuten hassen diesen Anspruch. Denn Kinder gehen nicht von allein kaputt. Eine erhebliche Verhaltensänderung eines Kindes ist ein Anzeichen für ernste Probleme in der Familie, die allein mit einer systemisch greifenden Therapie behandelt werden können. Eltern scheuen für gewöhnlich davor zurück, das Systemische anzuerkennen: „Nicht die ganze Familie muss behandelt werden, es geht einfach nur darum, dass das Kind wieder gut wird.“

Keine Verbesserung ohne eine Änderung im System

Diese Situation erinnert einen auf frappierende Weise an die gegenwärtigen Diskussionen über die Wirtschaft in Russland. Die hat nach der Veröffentlichung  der Strategie des Stolypin-Klubs am 9. März dieses Jahres heftig an Fahrt gewonnen. „Bringt unsere Wirtschaft in Ordnung!“, so lautet die Forderung an die Fachleute. „Sie soll keine Fünfen mehr bekommen, freundlich sein und nicht mehr hinter der Turnhalle rauchen!“

In Wirklichkeit aber ist jede Wirtschaftsdiskussion ein tiefgreifender Streit über Staat und Gesellschaft. Über die Verteilung von Macht und Recht zwischen ihnen. Über die Art und Weise, in der Konflikte zwischen ihnen geregelt werden.

Ohne eine Bereitschaft zu diesbezüglichen Systemänderungen ist kaum zu erwarten, dass die Wirtschaft plötzlich eine drastisch bessere Entwicklung nimmt.

Eine echte Wirtschaftsdiskussion ist eine Seltenheit

Eine vollwertige Wirtschaftsdiskussion ist in Russland eine Seltenheit. Die letzte Diskussion entbrannte in jenem fernen Jahr 1999, während der heftigsten Parlamentswahlen, die es in der neuesten Geschichte Russlands gegeben hat. Seinerzeit bestand eine wichtige Kampflinie zwischen Jabloko und dem Block Vaterland – Ganz Russland (OWR) auf der einen Seite der Barrikaden sowie Einheit und Union der Rechten Kräfte auf der anderen Seite. Bei dem Streit ging es um die Entwicklung Moskaus unter Bürgermeister Juri Lushkow, einem der Führungsmänner von OWR.

Im Vergleich zum übrigen Russland erschien Moskau zu dieser Zeit mit seinen Megaprojekten wie dem Dritten Verkehrsring und seiner halbwegs handgesteuerten Wirtschaftsführung wie ein merkwürdiger Hort des Wohlstandes.

Michail Leontjew war ein politischer Gegner Lushkows und trat damals als wichtigster Wirtschaftsanalytiker von Einheit auf. Dem Moskauer Bürgermeister warf er regelmäßig „Keynesianismus“ vor, wobei er dieses Wort voller Verachtung aussprach. Laut Leontjew sei die richtige Wirtschaftspolitik nur dann gegeben, wenn die Rolle des Staates minimal ist: Der solle lediglich die nötigen Bedingungen für die Entwicklung des privaten Unternehmertums schaffen.

„Effiziente“ versus „soziale“ Wirtschaft

Wenn es um langfristige Wirtschaftspläne geht, geht es immer auch um Wirtschaftszyklen, nämlich um die Frage, an welchem Punkt des Zyklus die Wirtschaft gerade steckt und mit welchen Bewegungen der Weltkonjunktur sie zu rechnen hat. Weit weniger Aufmerksamkeit wird jedoch den Zyklen des Wirtschaftsdenkens geschenkt.
Was schlecht ist. Gerade diese bestimmen in erheblichem Maße die Probleme, Instrumente und Ansätze, die in die Planung einfließen. Die wirtschaftlichen Denkzyklen bewegen sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zwischen zwei Polen, der „effizienten Wirtschaft“ und der „sozialen Wirtschaft“.
Die effiziente Wirtschaft ist seit Adam Smith ein Fetisch der Klassiker und Neoklassiker. Die soziale dagegen erfuhr ihre machtvolle theoretische Darstellung durch den britischen Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes – eben jenen Keynes, dem Michail Leontjew eine solche Abneigung entgegenbrachte.

 

Quelle: IWF

Die Diskussion in Russland läuft aktuell in einer einzigartigen historischen Situation, da die Kräfte hinter den beiden theoretischen Ansätzen ungefähr gleich stark sind. Wie schon in den 1930er Jahren, befand sich die Keynessche Lehre nach der weltweiten Wirtschaftskrise 2008 im Einklang mit den praktischen Maßnahmen, die Regierungen in aller Welt unternahmen. Die Krise wurde einem Scheitern des neoklassischen Ansatzes zugeschrieben und der Keynesianismus verlor seinen schlechten Ruf. Paul Krugman, ein prominenter Vertreter dieser Lehre, erhielt den Nobelpreis, und Michail Leontjew ist nun Topmanager bei einem Staatsunternehmen.

So arbeitet auch das im März vorgestellte Programm [des Stolypin-Klubsdek] unverkrampft mit dem ganzen Instrumentarium der Jünger Keynes’: Es verweist direkt auf die Notwendigkeit, Nachfrage zu schaffen, es erkennt an, dass zu diesem Zweck Staatsverschuldung möglich und nützlich ist, es erwähnt den „Multiplikator-Effekt“, bei dem jeder staatliche Rubel vier bis fünf Rubel privater Investitionen nach sich zieht.

Gegenprogramm: Staatliche Einmischung als Hauptfeind von Wachstum

Ein Gegengewicht hierzu bildet das Programm von Alexej Kudrin: Es konzentriert sich auf die „makroökonomische Stabilität“, also vor allem auf eine niedrige Inflation. In der Tradition der klassischen Wirtschaftstheorie ist eine hohe Inflation die Folge zu starker staatlicher Einmischung und der Hauptfeind von Wirtschaftswachstum, da sie Anreize für langfristige Investitionen untergräbt.

Die Programme gehen auch hinsichtlich des Rubelkurses ganz grundsätzlich auseinander: Die Vertreter des Stolypin-Klubs fordern die Stützung des Kurses durch den Staat – im Denkschema der Marktwirtschaft dagegen gilt das als eine der sinnlosesten Maßnahmen, als ein Versuch, sich den objektiven Kräften von Nachfrage und Angebot entgegenzustellen.

Entgegengesetzte Grundlogik

Insgesamt stehen die beiden Programme für entgegengesetzte Grundlogiken. Das Stolypin-Programm geht davon aus, dass die Ankurbelung der Mikroökonomie (indem die Arbeit der einzelnen Unternehmen fast handgesteuert organisiert wird) wie von selbst auch die allgemeine wirtschaftliche Situation in Ordnung bringen werde. Kudrin dagegen setzt bei der Makroökonomie an: Sind die Verhältnisse dort günstig, bedeutet das automatisch Anreize für die Unternehmen.

Allerdings lassen die beiden Programme auch überraschend viele Gemeinsamkeiten erkennen. Hier wie dort wird eine grundlegende Verbesserung des Rechtssystems in den Fokus gestellt. Hier wie dort wird von der Notwendigkeit gesprochen, das Unternehmertum stärker zu entwickeln und die Steuerlast sowie den bürokratischen Druck zu senken.

Beide Ansätze sind sich einig: Es ist nicht nur (oder dermaßen) wichtig, was getan wird, sondern wie es geschieht. Es wird dort zwar nicht explizit gesagt, aber: Diese Erkenntnis ist angesichts der gegenwärtigen Situation in Russland von höchster Bedeutung.

Eine theoretische Grundlage für die Beachtung des Wie bietet die stetig stärker werdende Schule des Institutionalismus. Die lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: Wenn die Qualität der wirtschaftspolitischen Instrumente im Land zu schlecht ist, wird keine Steuerungsmaßnahme die erwarteten Ergebnisse bringen.

Katastrophales Ungleichgewicht

Ein Institutionalist würde wahrscheinlich darauf verweisen, dass das Wirtschaftswachstum in Russland jetzt weniger durch die schwache internationale Konjunktur oder die Sanktionen und Gegensanktionen unterminiert wird. Ursache sei vielmehr das katastrophale Macht- und Rechts-Ungleichgewicht der Schlüsselakteure im Wirtschaftssystem: Gesellschaft, Unternehmen und Staat.

Letzterer hat sich von einem Instrument zur zielgerichteten Umverteilung und zum Ausgleich von Marktversagen in einen vollauf eigenständigen Akteur verwandelt, der der Gesellschaft de facto seine wirtschaftlichen Ziele diktiert. Eine solche Position entbehrt einer stabilen Grundlage und bedeutet erwiesenermaßen eine geringe Effizienz.

Privatwirtschaft als effektives Zugpferd

Beide Programme, Kudrins Programm und das des Stolypin-Klubs, versuchen den Staat dezent auf seinen rechtmäßigen Platz zu verweisen, indem sie daran erinnern, dass nur die Privatwirtschaft zu einem effektiven Zugpferd für Wachstum werden kann.
In den Kommentaren zu beiden Programmen wird explizit festgestellt, dass der Anteil der mittelbaren oder unmittelbaren Staatsbeteiligung im Wirtschaftsprozess mit bis zu 70 Prozent unglaublich hoch ist. In den Korridoren des Staates allerdings, vor allem in jenen der Staatsunternehmen, weht derzeit eher ein Wind der Nostalgie mit Sehnsucht nach den Zeiten des Gosplan.

Die gegenwärtigen Probleme mit der „kaputtgegangenen“ Wirtschaft Russlands sind das Ergebnis eines systemimmanenten Ungleichgewichts: Wie verstehen Gesellschaft und Staat die wechselseitigen Rechte und Pflichten? Die Gesellschaft hat dem Ideal der „Stabilität“ den Zuschlag gegeben und ist größtenteils froh darüber, dass der Staat sich um sie kümmert und sie versorgt, selbst wenn das Niveau allmählich sinkt.

Vater Staat soll’s richten

„Wir nehmen es erstmal hin, der Staat wird es dann schon richten.“ Mit Phrasen dieser Art lässt sich ungefähr die gegenwärtige wirtschaftliche Passivität umreißen. Es ist die gleiche Gesellschaft, die mittels Richtern und Verwaltungen wirkungsvoll wirtschaftliche Unabhängigkeit missbilligt und bestraft.
Das russische Wort „bisnes“ [von engl. business, gemeint ist privates Unternehmertum – dek] ist im Massenbewusstsein stabil mit illegaler Vorgehensweise assoziiert, einzig und allein Unternehmen mit dem Zusatz „staatlich“ haben eine Existenzberechtigung.

Der Staat befindet sich jetzt in einer fast uneingeschränkten Komfortzone und hat kaum Anreize, diese wieder zu verlassen.

Es wird weitergehen wie bisher

Man kann sich durchaus vorstellen, wie der Staat mit den beiden Programmen umgehen wird: Er wird wohlklingende Deklarationen – Wachstum, Innovationen, Einkommenssteigerungen – aufgreifen. Alle schwer umzusetzenden, dabei jedoch unbedingt notwendigen Punkte, dagegen wird er rausschmeißen, etwa die Frage nach einer wirksamen Justiz- und Gesetzgebungsreform. Im Endeffekt wird er so weitermachen wie bisher und instinktiv seine Präsenz in der Wirtschaft ausbauen.

Gegenwärtig ist weder ein wirksamer Imperativ des Staates für die Modernisierung der Gesellschaft zu erkennen, noch eine gesellschaftliche Nachfrage nach Veränderung. Man könnte sagen, es hat sich eine ideale „konterrevolutionäre Situation“ ergeben, die der Leninschen revolutionären Situation entgegengesetzt ist: Die da oben können nicht auf neue Art leben, und die unten wollen es nicht. Daher erwarten uns aller Wahrscheinlichkeit nach – unabhängig von der formalen Entscheidung für ein wirtschaftliches Aktionsprogramm – Jahre sozialer Bequemlichkeit und zunehmender wirtschaftlicher Rückständigkeit.

Das „kaputtgegangene Kind“ (die Wirtschaft) kann nicht ohne wesentliche Verschiebungen im Verhältnis von Staat und Gesellschaft repariert werden. Wobei derzeit weder die eine noch die andere Seite überhaupt bereit ist, ernsthaft an sich zu arbeiten.

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