Debattenschau № 47: ESC-Kandidatin Julia Samoilowa

Wie politisch ist der Eurovision Song Contest (ESC)? Die Frage wurde schon mehrfach diskutiert, vor allem auch im vergangenen Jahr, als die Ukraine (ein Jahr nach der russischen Angliederung der Krim) die Krimtatarin Jamala ins Rennen schickte, diese prompt gewann und den russischen Kandidaten auf Platz 3 verwies.
 
Nun hat der Erste Kanal die russische Kandidatin für den ESC 2017 in Kiew bekannt gegeben. Dass keine Zuschauerwahl stattfand, ist nicht gegen ESC-Regeln, aber ungewöhnlich. Und leistet dem Vorwurf Vorschub, dass die russische Seite versuche, die Gewinnerin zu instrumentalisieren: Julia Samoilowa hat 2015 einen Auftritt auf der Krim absolviert. Weil sie bei ihrer Einreise gegen ukrainisches Recht verstieß – sie hatte keine Einreiseerlaubnis der ukrainischen Behörden – droht ihr in diesem Fall eigentlich ein Einreiseverbot oder eine Geldstrafe. Da die 27-jährige Sängerin aber seit ihrer Kindheit im Rollstuhl sitzt und noch dazu in einem Interview sagte, schon immer von der Teilnahme beim ESC geträumt zu haben, sehen vor allem viele Ukrainer ihr Land moralisch erpresst. Am 15. März wurden laut Medienberichten schließlich alle Verbote gegen die Sängerin von ukrainischer Seite aufgehoben – für die Zeit des ESC [Update vom 22. März: Wie Interfax berichtet, wurde Samoilowa ein offizielles Einreiseverbot erteilt. Der Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU hatte bereits am 20. März angegeben, dass ein Dokument für ein Einreiseverbot gegen Samoilowa vorbereitet worden sei].

In russischen wie ukrainischen Medien und Sozialen Netzwerken tobt seit Samoilowas Nominierung eine hitzige Debatte. Eine Debatte, die nicht nur das desolate Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine spiegelt, sondern auch positive wie negative Stereotype gegenüber Menschen mit Behinderung zum Vorschein bringt.

Facebook Uliana Pcholkina: Gleiche Regeln für alle

Die ukrainische TV-Moderatorin Uliana Pcholkina sitzt selbst im Rollstuhl. Auf ihrer Facebook-Seite wirbt sie für gleiche Regeln für alle – in jeder Hinsicht:

[bilingbox]Die Kandidatin Russlands, die eine Behinderung hat, soll unter Verletzung der Gesetze unseres Staates in die Ukraine reisen. Der SBU untersucht den Fall bereits und wird überprüfen, ob Julia tatsächlich die ukrainische Grenze überschritten und ein Konzert auf der annektierten Krim gegeben hat.

Aber hier gibt es noch eine andere Seite der Medaille. Im Internet schreiben einige, dass sie Favoritin würde, weil sie „ein armes Mädchen im Rollstuhl“ sei.

Leute, meint ihr das ernst? Das ist ein Songcontest, und bewertet werden sollten der Gesang, das artistische Vermögen und der Auftritt selbst! Was spielt denn hier die Behinderung für eine Rolle? Wie hilft ihr diese beim Singen?

[…]

Ich schlage vor, eine Aktion ins Leben zu rufen: „Ukrainische Menschen mit Behinderung gegen die Gesetzesbrecherin Samoilowa!“~~~Конкурсантка від росії, яка має інвалідність, має приїхати в Україну, порушуючи закони нашої держави. СБУ вже розглядає цей випадок і буде перевіряти, чи дійсно Юлія перетинала кордон України і давала концерти в анексованому Криму.

Але, тут є і інша сторона медалі. Користувачі мережі, пишуть, що вона має стати фавориткою, бо „бєдна дєвочка в каляскє“ …

Народ, ви серйозно? Це пісенний конкурс і оцінювати треба спів, артистичність і сам номер! При чому ту її інвалідність? Як вона допомагає їй співати?

[…] Пропоную, запустити акцію „Люди з інвалідністю України, проти порушниці закону Самойлової![/bilingbox]

 
erschienen am 13.03.2017

Republic: Revanche und Testballon

Oleg Kaschin kommentiert auf dem unabhängigen russischen Portal Republic, dass die ESC-Teilnahme Julia Samoilowas für die Verantwortlichen Revanche und Testballon zugleich bedeute:

[bilingbox]Nun wird niemand mehr glauben, dass der Skandal in der Show Minute des Ruhms unabhängig war von der geplanten Kandidatur der russischen Sängerin beim Kiewer ESC. Auf der Seite des Ersten Kanals finden sich die Clips nebeneinander in der Rubrik „Spezialprojekte“: Renata Litwinowa und Wladimir Posner entschuldigen sich bei dem einbeinigen Tänzer Jewgeni Smirnow für die Äußerungen zum „unerlaubten Kniff“, daneben das Mädchen im Rollstuhl, die Sängerin Julia Samoilowa mit ihrem Song Flame is burning, quasi als Fortsetzung des Themas „Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen im kulturellen und medialen Leben Russlands“.

[…]

Die Sängerin Samoilowa befindet sich an einem Punkt, an dem gleich drei Probleme sich kreuzen, mit denen sie nichts zu tun hat. Die Revanche des Ersten Kanals nach der ESC-Niederlage im vergangenen Jahr, und jetzt, im Vorfeld der Wahl, das Austesten der Möglichkeiten des Fernsehens sowie der russisch-ukrainischen Beziehungen – das sind die drei Räder, auf denen der Rollstuhl der Sängerin ins Finale des Wettbewerbs gefahren ist.~~~Никто уже не поверит, что скандал на шоу «Минута славы» не был связан с запланированным выдвижением российской певицы на киевское «Евровидение». На сайте Первого канала эти два ролика висят рядом в разделе спецпроектов – Рената Литвинова и Владимир Познер извиняются («извиняются») перед безногим танцором Евгением Смирновым за слова о «запрещенном приеме», а рядом девушка в инвалидной коляске, певица Юлия Самойлова со своей песней «Flame is burning» как бы продолжает тему участия людей с ограниченными физическими возможностями в культурной и медийной жизни России. [….]

Певица Самойлова находится в точке, в которой сошлись сразу три проблемы, не имеющие к ней никакого отношения. Реванш Первого канала после прошлогоднего отставания, предвыборные проверки возможностей телевидения и российско-украинские отношения – вот три колеса, на которых коляска певицы доехала до финала песенного конкурса.[/bilingbox]

 

erschienen am 13.03.2017

Komsomolskaja Prawda: Die Flamme brennt

Das Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda mutmaßt, weshalb Julia Samoilowas ESC-Teilnahme in Russland nicht unumstritten ist:

[bilingbox]Von der Seite sieht das so aus: Nach Kiew kommt endlich der Armata T-14, fährt auf die Bühne des ESC und beginnt zu feuern. Flame is burning – die Flamme brennt. Und mit ihr die „europäischen Werte“, die gleichgeschlechtliche Liebe, die Transgender, Transvestiten, Transsexuellen und anderes profiliertes Publikum der Show.

Das wäre ein zu konfrontatives Vorgehen. So scheint es vielen (bei einer Umfrage des KP-Radios sprachen sich 64 Prozent gegen die Kandidatur von Julia aus). Das wäre zu gemein, zu konjunkturell, zu spekulativ.

Mit anderen Worten: ein „unerlaubter Kniff“.~~~Со стороны это выглядит так. В Киев наконец-то входит «Армата Т-14», заезжает на сцену «Евровидения» и начинает палить. Горит пламя. А вместе с ним — «европейские ценности», однополая любовь, трансгендеры, трансвеститы, транссексуалы и другая профильная аудитория шоу.
То есть слишком лобовой ход. Так кажется многим (опрос на радио «КП» выявил 64% несогласных с кандидатурой Юли). Слишком пошло, слишком конъюнктурно, слишком спекулятивно.

Другими словами, запрещенный прием.[/bilingbox]

 

erschienen am 13.03.2017

Apostrophe.ua: ESC als Plattform für hybriden Krieg

Das ukrainische Onlinemagazin Apostrophe.ua empfindet die Kandidatur Samoilowas ebenfalls als eine Art „unerlaubten Kniff“: 

[bilingbox]Die Russische Föderation nutzt den ESC nicht als Songcontest, sondern als ideologische Plattform für ihren hybriden Krieg.

So haben sie ohne jegliche Vorauswahl Julia Samoilowa zur Kandidatin gekürt, zynisch eine Interpretin im Rollstuhl ausgewählt, um später zu zeigen, wie brutal die Ukrainer sind, weil die sie nicht reinlassen. Das ist der völlige moralische Verfall des putinschen Russlands sowohl in humanitärer als auch in politischer Hinsicht. Die Auswahl eines Mädchens, das sich im Rollstuhl fortbewegt – das ist für die ein völlig normaler propagandistischer Zug. ~~~РФ использует Евровидение не как песенный конкурс, а как идеологическую площадку в своей гибридной войне.

И вот они без всякого отбора назначили кандидата Юлию Самойлову, цинично выбрав исполнительницу на инвалидной коляске, чтобы потом показать жестокость украинцев, которые не будут ее принимать. Это полное моральное падение путинской России как в гуманитарном, так и в политическом смысле. Выбор девушки, которая передвигается на инвалидном кресле, – для них нормальный пропагандистский ход.[/bilingbox]

 
erschienen am 13.03.2017

Blog Echo Moskwy: Verhängnisvolles Symbol

Dimitri Bykow sieht in seinem Blog auf Echo Moskwy ein „gefährliches Symbol“ in einer Rollstuhlfahrerin, die Russland ausgerechnet in der Ukraine vertreten soll:

[bilingbox]Russland und die Ukraine befinden sich vielleicht nicht im Kriegszustand, aber Frieden kann man das auch nicht nennen. In dieser Situation ein Mädchen im Rollstuhl auf die ukrainische Bühne zu schicken, bedeutet – besonders wenn man bedenkt, dass der ESC in Russland aus irgendeinem Grund als unglaublich wichtig und prestigeträchtig gilt, obwohl er das schon längst nicht mehr ist – einen gefährlichen symbolischen Schritt zu machen. Schließlich interpretieren wir jetzt jeden Wettbewerb, ob kulturell oder sportlich, im symbolischen Sinne. Und bei diesem Wettbewerb einen Invaliden vorzuschlagen, bedeutet ein gewisses doppeldeutiges Bild seines Landes zu schaffen. Nach der Art: Uns darf man nicht den Sieg verwehren, weil wir krank sind. Das wurde offenbar nicht so erdacht, aber aussehen tut es genau danach. Ist Russland heute daran interessiert, als Invalider zu erscheinen? (Besonders wenn man bedenkt, dass die Situation von Menschen mit Behinderung in Russland schwierig ist.)

Ich persönlich will nicht, dass mein Land im Kontext höchst musikalischer Wettkämpfe als Paralympionike wahrgenommen wird. Auch wenn das heute der schnellste Weg zum Sieg ist. Aber vielleicht wissen wir einfach nicht alles über die wahre Sachlage?~~~Россия сейчас находится с Украиной не то чтобы в состоянии войны, но и миром это тоже не назовешь. В этой обстановке выпускать на украинскую сцену девушку в коляске — особенно если учесть, что Евровидение почему-то считается в России ужасно важным и престижным, давно не являясь таковым — значит совершать опасный символический шаг. Ведь мы теперь любое соревнование, культурное или спортивное, интерпретируем в символическом плане. И предлагать к участию в таком конкурсе инвалида — значит создавать какой-то двусмысленный образ своей страны. Типа нам нельзя не отдать победу, потому что мы больные. Это явно задумывалось не так, но выглядит это именно так. Заинтересована ли сегодня Россия в том, чтобы представать в образе инвалида? (Особенно если учесть, что положение инвалидов в России сложное.)

Лично я не хотел бы, чтобы моя страна воспринималась в контексте сугубо музыкальных соревнований как паралимпиец. Даже если это сегодня кратчайший путь к победе. Но, может, мы просто не всё знаем об истинном положении дел?[/bilingbox]

 

erschienen am 15.03.2017

Nowoje Wremja: Nichts zu befürchten

Bogdan Jaremenko ist ukrainischer Diplomat und Vorsitzender der Bewegung Maidan sakordonnich spraw. Was er am 14. März auf dem populären ukrainischen Onlineportal Nowoje Wremja vorschlägt, wurde schließlich umgesetzt: Für die Zeit des ESC darf Samoilowa in die Ukraine reisen [Update vom 22. März: Wie Interfax berichtet, wurde Samoilowa nun ein offizielles Einreiseverbot erteilt. Der Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU hatte bereits am 20. März angegeben, dass ein Dokument für ein Einreiseverbot gegen Samoilowa vorbereitet worden sei]:

[bilingbox]Ich würde Samoilowa zum ESC in der Ukraine zulassen.
Erstens haben wir gewisse Verpflichtungen gegenüber den Organisatoren und Zuschauern des Wettbewerbs. […] Und Verpflichtungen muss man erfüllen – einerlei, ob es für dich nutzbringend oder schwierig ist.
[…]

Ja, wir haben das Hoheitsrecht, zu definieren, wen wir auf unserem Staatsgebiet sehen wollen oder nicht. Und selbstverständlich wird die Entscheidung, Samoilowa nicht zum ESC zu lassen, aus offensichtlichen Gründen unter vielen Ukrainern Anklang finden.

Aber falls wir die Einreise verweigern, und zwar einer Sängerin, die noch dazu „ein Mädchen im Rollstuhl“ ist (Julia Samoilowa ist körperlich beeinträchtigt), schadet dieser von Russland provozierte Skandal der nationalen Sicherheit der Ukraine meines Erachtens mehr als wenn wir Julia Samoilowa für die ESC-Teilnahme in unser Staatsgebiet lassen.

[…]

Und noch eine Sache: Ich habe mir Samoilowa angeguckt, ihr Lied angehört … Eine abgeleierte Melodie (würde mich wirklich wundern, wenn die nicht geklaut ist), ein einfach gestricktes Mädchen (und ihren Facebook-Posts nach – einfach ungebildet), irgendeine scheußlich-gelispelte englische Aussprache. In etwa so ist auch Russland. Da gibt’s nichts zu befürchten.~~~Я бы допустил Самойлову в Украину на Евровидение.

Во-первых, мы имеем определенные обязательства перед организаторами и зрителями конкурса. […] Обязательства следует выполнять несмотря на то, выгодно, сложно это для тебя или нет.
[…] 
Да, мы имеем суверенное право определять, кого хотим или не хотим видеть на территории своего государства. И, конечно, решение не допустить на Евровидение Самойлову по очевидным причинам найдет положительные отзывы среди многих украинцев.

Но спровоцированный россиянами скандал вокруг нашего отказа допустить в Украину певицу, да еще и „девушку в инвалидной коляске“ (Юлия Самойлова имеет физические ограничения), с моей точки зрения, нанесет больше вреда национальной безопасности Украины, чем допуск на нашу территорию для участия в конкурсе Евровидение Юлии Самойловой.
[…]
И еще одно. Посмотрел я на Самойлову, послушал ее песню… Банальный мотив (буду искренне удивлен, если не ворованный), простенькая девочка (а из постов в ФБ – то элементарно безграмотная), какое-то ужасно-шепелявое английское произношение. Где-то такой Россия и есть. Нечего бояться. [/bilingbox]

 

erschienen am 14.03.2017

InLiberty: Amputation des Gewissens

Der Politikwissenschaftler und Historiker Sergej Medwedew ist eine der profiliertesten Stimmen des liberalen Lagers. Auf der unabhängigen Diskussionsplattform InLiberty geißelt er den Zynismus der Show-Produzenten:  

[bilingbox]Samoilowas Problem besteht auf zwei Ebenen – auf der menschlichen und auf der politischen. Auf der menschlichen kann man ihr nichts anderes für den Wettbewerb wünschen als den Sieg, von dem sie schon jahrelang träumt. […] Möglicherweise wird ihr Auftritt allen helfen, die mit eigenen Verletzungen und Gebrechen kämpfen; die diese nicht verstecken, den Schmerz überwinden, die Isolation und die Anonymität. Vielleicht wird er ihnen helfen, sich vollwertig in die Gesellschaft zu integrieren. 

Auf der politischen Ebene ist es unmöglich, sich nicht über den Zynismus dieser Show-Produzenten zu wundern, die Samoilowa nach Kiew schicken – lösen sie doch ihre propagandistischen Aufgaben mithilfe verwundbarer, abhängiger Körper. Im Übrigen, das Gewissen wurde ihnen schon vor Langem amputiert – wie auch unsere Fähigkeit verkümmerte, uns noch über irgendetwas zu wundern.~~~Проблема Самойловой существует на двух уровнях — человеческом и политическом. По-человечески нельзя не желать ей победы в конкурсе, о котором она мечтала долгие годы: Возможно, ее выступление поддержит всех, кто борется со своими травмами и недугами, не скрывает их, преодолевает боль, изоляцию и анонимность, поможет им полноценнее интегрироваться в общество. Но на политическом уровне нельзя не удивиться цинизму продюсеров этого шоу с отправкой Самойловой в Киев: они решают свои пропагандистские задачи при помощи уязвимых, зависимых тел. Впрочем, у них уже давно случилась ампутация совести — как и у нас атрофировалась способность чему-либо удивляться.[/bilingbox]

 

erschienen am 14.03.2017

dekoder-Redaktion

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