Die verlorenen Siege

Olympische Spiele in Rio mit oder ohne Russland – darüber entscheidet das Internationale Olympische Komitee (IOC) noch in diesen Tagen. Erst am Montag hatte die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) eine ausführliche Untersuchung über die russischen Doping-Verstöße vorgelegt. Chefermittler McLaren weist darin unter anderem nach, dass bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 auf staatliche Anordnung hin manipuliert wurde. Russland hatte damals den Medaillenspiegel angeführt.

Bereits Ende Juni waren die russischen Leichtathleten wegen Dopings für Rio gesperrt worden. Das IOC hatte die Sperre zunächst für nachweislich saubere Sportler gelockert. Schon damals gab es kritische Stimmen, die Vorwürfe gegen die russischen Sportler seien politisch motiviert, Russland würde stärker bestraft als andere Länder, wie etwa China (dekoder bildete die Debatte darüber ab).

Präsident Wladimir Putin jedoch kündigte noch am Montag die Kooperation Russlands an. Er hat inzwischen zahlreiche Verantwortliche, die im McLaren-Report namentlich genannt sind, entlassen. Sportminister Mutko ist allerdings weiterhin im Amt.

Viele Stimmen in Russland sehen die Schuld bei Funktionären und ehrliche Sportler als die eigentlich Leidtragenden des Skandals.

Sport und Medaillen sind oft eng mit dem Selbstverständnis des Staates und dem Selbstbild der Gesellschaft verknüpft: Deswegen betrachtet der Schriftsteller Dmitry Glukhovsky in seinem vielbeachteten Artikel auf dem unabhängigen Portal snob.ru zwar ebenfalls die Funktionäre als die Hauptschuldigen – möchte aber auch weder Fans noch Sportler so leicht aus ihrer Verantwortung entlassen:

Ich erinnere mich an die allgemeine Stimmung kurz vor den Olympischen Spielen in Sotschi: Niemand glaubte an den Sieg unseres Teams. Diskutiert wurden nur die massiven Veruntreuungen bei den olympischen Bauprojekten, die explodierenden Kosten und verpassten Fristen. Es schien, als wäre diese Klauerei überhaupt der einzige Grund, die Spiele in Russland zu veranstalten – wie auch alles andere, wie schon immer.

Der Sieg des russischen Teams, der erste Platz im Gesamt-Medaillenspiegel – das war ein wirkliches Wunder. Nach einer Reihe von Niederlagen hatten wir uns schon auf eine erneute Schande eingestellt, das ganze Volk. Wir hatten uns darauf eingestellt, beschämt Witze zu erzählen, uns vor aller Öffentlichkeit selbst zu kasteien. Dennoch hofften wir – ganz leise, jeder für sich, damit man nicht ausgelacht wird.

Wir wollten unglaublich gerne stolz sein auf unsere Heimat

Und erst als unsere Jungs und Mädels den ersten Platz belegten, brach das durch. Schließlich war das der erste Sieg des neuen Russlands, der erste große Sieg seit Jahrzehnten.

Und wir – erinnert ihr euch? – verspürten damals einen heftigen, aufrichtigen Stolz auf unser Land. Niemand blieb außen vor, sogar die nörgelnde liberale Intelligenzija. Wir wollten eben alle unglaublich gern stolz sein auf unsere Heimat, aber die Staatsmacht zwang uns jahrzehntelang dazu, nur Verlegenheit und Scham zu empfinden.

Das war ein Glücksgefühl: Während wir die Abschluss-Zeremonie der Olympischen Spiele schauten, fühlten wir Russländer uns – unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit – als eine geeinte große Nation, die diesen Triumph verdient hatte. Und wir waren glücklich darüber, dass wir uns wieder auf das Welt-Podest erheben, dass wir friedlich hierher zurückkommen, von allen als Sieger anerkannt, ganz ohne Zwang.

Diesen Sieg haben wir uns nicht verdient

Wir mussten damals keine Panzer durch die Ukraine rollen lassen, mussten den Westen nicht mit Jagdbombern ängstigen, erinnert Ihr euch? Uns genügte der Sieg im Sport, uns genügte das Symbol. Wir sehnten uns so sehr nach Anerkennung, und so leidenschaftlich wollten wir uns daran erinnern, wie groß wir einmal waren! Das war ein Rausch.

Und jetzt stellt sich plötzlich raus: Diesen Sieg haben wir uns nicht verdient. Unsere Sportler haben gewonnen, weil man sie mit Doping vollgepumpt hatte. Das war Mauschelei, Trickserei, eine weitere Lüge. Unser Staat – ganze Ministerien und Geheimdienste – haben geschummelt und gefälscht, geblendet und gelogen, um die ganze Welt und uns alle zu betrügen. Sie haben diesen Sieg erschlichen, haben wie die Gauner sowohl den anderen Länder als auch uns allen einen Bären aufgebunden – und wofür? Für wen? Uns zuliebe?

Eine Fälschung, ein Potemkinsches Dorf wie unsere Demokratie

Der Triumph von Sotschi ist offensichtlich genau so eine erniedrigende Fälschung, genau so eine KGB-Spezialoperation wie die Medwedewsche Modernisierung, wie unser Silicon Valley in Skolkowo, wie unsere Demokratie, wie unsere Wiedergeburt aus der Asche. Er hat sich als ein eindimensionales Potemkinsches Dorf entpuppt, als das Sobjaninsche europäische Moskau. Als eine gemalte Feuerstelle, die weder leuchtet noch wärmt; und mitten in die hat man uns mit unserer langen Lügennase hineingestoßen.

Wir wollten uns einfach nur daran erinnern, wie sich das anfühlt – stolz zu sein auf das eigene Land. Aber sie haben uns mit diesem ergaunerten Sieg für dumm verkauft und dazu gezwungen, an eine Weltverschwörung gegen uns zu glauben. Sie verdrehten unsere Gefühle und beschmierten sie mit Teer und Scheiße, entstellten sie – und hetzten uns auf unsere Brüder. Wir wollten ja gar nicht gegen die Ukrainer kämpfen, wir wollten sie nicht hassen, wir wollten den Westen nicht ständig verdächtigen und ihn fürchten, erinnert Ihr euch? Wir wollten einfach nur, dass man uns endlich als gleichwertig betrachtet. Wir wollten keine Angst, sondern Anerkennung.

Wir glauben die Lügen, weil das einfacher ist

Jetzt verlieren wir alles. Der Betrüger wurde in flagranti ertappt. Die Medaillen reißen sie uns vom Hals runter. Man zeigt mit dem Finger auf uns und lacht. Wir träumten von Anerkennung und bekommen Schande.

Um die Lüge zu verdecken, werden sie uns noch mehr belügen. Auf allen Kanälen werden sie uns wieder sagen, dass das eine Verschwörung sei, Geopolitik, dass versucht werde die Großmacht, die sich von den Knien erhebt, auszurotten, zu zermürben, sie bluten zu lassen. Und wir glauben diese Lügen, weil das einfacher ist und wir anders nicht können.

Und eben unser störrischer, kompromissloser Unwille die Wahrheit zu hören erlaubt uns keinen Neuanfang. Wir können nicht aus der Asche wiederauferstehen, wir sind ja auch nicht verbrannt, und ein verrotteter Phönix wird nicht wiedergeboren.

Bis das geschieht, bleiben unsere Siege erschlichen und ergaunert. Aber wir werden laut herausbrüllen, dass wir an sie glauben, denn ein solches Russland braucht keine Liebe, sondern das laute Herausbrüllen, dass man es liebt.

Das sind die Spiele, die wir alle verdient haben.

 

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