Der Wendepunkt

Unmittelbar nach dem GAU von Tschernobyl marschierten am 1. Mai 1986 – wie jedes Jahr – Tausende von Menschen fähnchenschwenkend durch Kiew. Als wäre nichts gewesen. Für Andrej Archangelski ist dieses Bild symptomatisch für den Umgang mit der Katastrophe, von der häufig als Heldengeschichte erzählt wird. Die verheerenden Folgen dagegen werden im offiziellen Diskurs oft ausgeblendet, heruntergespielt oder die Schuld wird anderen zugeschrieben – wie auch unsere Presseschau zum Thema zeigt.

Archangelski diagnostiziert der russischen Gesellschaft auf slon.ru eine Unfähigkeit zu trauern – und warnt vor einem „mentalen Tschernobyl“, dem moralischen Kollaps.

Parade zum 1. Mai 1986 in Kiew, fünf Tage nach dem GAU von Tschernobyl. Foto © Ukrinform

Vom sowjetischen Staatsbürger im Poststalinismus wurde – sofern er nicht Parteifunktionär war oder auf verantwortungsvollem Posten saß – nur eines verlangt: An bestimmten Tagen in Massen Loyalität zu demonstrieren, nämlich am 1. Mai und am 7. November.

Der 1. Mai 1986 war einer dieser Tage. Kiew war eine unter tausend Städten, in denen der Feiertag von den Massen begangen wurde; hätte es dort keinen Aufmarsch gegeben – niemand hätte etwas bemerkt. Details und Folgen der jüngsten Katastrophe (am 26. April) [in Tschernobyl – dek] waren der lokalen Parteiführung wahrscheinlich noch nicht bekannt. Zweifellos wusste sie aber, dass in 100 km Entfernung etwas Furchtbares passiert war. Die Frage, ob angesichts dessen die Festivitäten überhaupt stattfinden sollten, wurde auf höchster sowjetischer Ebene verhandelt. Und man beschloss trotz allem zu feiern – um „dem Westen keinen Vorwand zu liefern“ und „keine Panik zu verbreiten“.      

Der Anfang vom Ende

Die Millionenstadt wurde tödlicher Gefahr ausgesetzt – um den Schein zu wahren und für die Berichterstattung.

Heute heißt es oft, die UdSSR sei „zugrunde gerichtet“ worden – von innen durch „Liberale“ und natürlich von äußeren Feinden, dem Westen. Tatsächlich aber wurde das Land unter anderem von jenem Maiaufmarsch in Kiew „zugrunde gerichtet“.

In der UdSSR gab es zwischen Volk und Staatsmacht lange Zeit eine stillschweigende Abmachung: „Wir tun so, als würden wir der Staatsmacht vertrauen, und sie tut so, als würde sie uns vertrauen.“

Nach dem 1. Mai 1986 hörten binnen einer Stunde Millionen Staatsbürger auf, der Staatsmacht zu vertrauen, sie hörten auf, dieses Land mitsamt seiner Regierung als „das ihre“ zu betrachten. Wahrscheinlich war dieser Maiaufmarsch – und nicht Tschernobyl selbst – der Grund dafür, dass der bisherige Gesellschaftsvertrag zerbrach.

Ein „mentales Tschernobyl“

In jenen Jahren tauchte der Begriff „mentales Tschernobyl“ auf, der leider rasch zum Klischee wurde. Tschernobyl wurde zum Symbol einer nicht nur technischen, sondern vor allem auch moralischen Katastrophe. Die totale Lüge, Scheinheiligkeit und das Fehlen natürlicher menschlicher Instinkte, das alles war schon längst zur Norm geworden. Nun verglich man sie mit der Strahlung, deren Wirkung ebenso unbemerkt, aber lebensgefährlich war. Die zivilisatorische Katastrophe ereignete sich am 26. April, die moralische jedoch schon wesentlich früher; und am 1. Mai 1986 wurde das vielen endgültig klar.       

„In Moskau hat man feierlich die Teilnehmer des ‘Fünften Internationalen heroisch-patriotischen Kreativ-Festivals für Kinder und Jugendliche Star von Tschernobyl 2016‘ geehrt. Es ist den Heldentaten der Liquidatoren gewidmet“, erfahren wir heute auf der Website des Katastrophenschutzministeriums.

„Heroisch-patriotisch“, „Heldentaten“, „Star“. Einem 15-Jährigen, der das liest oder sogar daran teilnimmt, fällt nicht im Traum ein, dass der Anlass für dieses Festival ein tragisches Unglück ist. Das wird alles sorgfältig in die unpersönliche, altgewohnte Form der „Heldentat“ verpackt; man könnte fast schon meinen, alle Katastrophen geschähen eigens dafür, dass jemand „Heldentaten“ vollbringen kann.

Sportturniere zum Gedenken an die Helden

Und wenn uns Tschernobyl überhaupt eine Lektion erteilt, dann allenfalls die der „Tapferkeit“. Der Verfasser des Beitrags mit dem Titel „Junge Stars von Tschernobyl“ beendet seinen Veranstaltungsbericht mit der Feststellung: „Wichtig ist, dass die Kinder – unsere Zukunft – mehr von der schwierigen, aber interessanten Arbeit der Experten des Katastrophenschutzministeriums erfahren.“ Das ist also das Wichtigste.

In der Ukraine selbst geht es übrigens nicht weniger absurd zu – da wird etwa ein Turnier mit Schwerathleten veranstaltet zum Gedenken an die Helden von Tschernobyl.  

Die Umdeutung der Tragödie zur Heldentat, zur „sportlichen Massenveranstaltung“ ist typisch für den derzeitigen russischen Bewusstseinszustand. Dort, wo es angebracht wäre, „einfach niederzuknien“, wie Wertinski sang, wird man dazu aufgefordert, auf Sprungtüchern herumzuhüpfen oder Feuerleitern rauf- und runterzuklettern. Man kann vom Katastrophenschutzministerium kein „tiefschürfendes Begreifen der Tragödie“ erwarten; dafür wird es sicher andere Veranstaltungen geben – doch die Tendenz wird kaum eine andere sein.

Seit 2012 wird in Russland am 26. April der „Tag der Mitwirkenden an der Liquidation der Folgen nuklearer Unfälle und Katastrophen und des Gedenkens an die Opfer“ gefeiert, und dennoch vermeidet die derzeitige Regierung das Wort „Opfer“, wo sie nur kann.

Sie verdrängt den Schmerz und die Tragödie aus dem Bewusstsein und setzt den Akzent auf das Heldentum (obwohl man die Liquidatoren in erster Linie zu den Opfern zählen sollte – von Ausmaß und Konsequenzen des Unfalls hatten sie 1986 wohl kaum eine Vorstellung.)

Trauer ins Event-Format gepresst

Trauer kann überhaupt nur schwer in ein Eventformat pressen. Am besten ist es, wenn Menschen von sich aus, ohne sich miteinander abzusprechen oder jemanden zu fragen, Kerzen anzünden oder Blumen bringen. Trauer verlangt jedoch das, was man eine „gut trainierte Seele“ und entwickelte ethische Instinkte nennt. Bei uns richtet sich Trauer nach der offiziellen Haltung, die die Regierung einnimmt: Millionen Menschen  in Russland haben gelernt, nur mehr gemeinsam mit der Staatsspitze zu trauern, und verlernt eigenständig zu fühlen.

Vor fünf oder zehn Jahren lief an diesen Tagen normalerweise im Staatsfernsehen die Reportage „Das Leben in Prypjat heute“. Jetzt dagegen gibt es im russischen Fernsehen keine Reportage aus Kiew mehr, ohne dass die „Kiewer Machthaber“ abgeurteilt werden. Die heutige Ukraine – welch Ironie des Schicksals – ist in der Vorstellungswelt des offiziellen Moskau eine Art „politisches Tschernobyl“.

Darauf, dass wir wenigstens an diesem Unglückstag (des Unglücks, in dem Russland und die Ukraine zum letzten Mal wirklich vereint waren) ein Wort des Mitgefühls für das Nachbarland zu hören bekämen, brauchen wir nicht zu hoffen. Ein Untertitel wie „Von der Ukraine geht nach wie vor Gefahr aus“ – das ist alles, was wir über die heutige Haltung der Staatsspitze zur Katastrophe von Tschernobyl wissen müssen.

Schuld sind immer die anderen

Am 15. April hat die Staatsduma eine Erklärung abgegeben „Zum 30. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl und zur Gewährleistung nuklearer Sicherheit im heutigen Europa“. Laut Tatjana Moskalkowa, der damaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Komitees der Staatsduma für Angelegenheiten der GUS, „ist diese Erklärung einem einzigen Ziel verbunden:, der internationalen Gemeinschaft die Gefahr bewusst zu machen, die vom verantwortungslosen Umgang der ukrainischen Regierung mit Atomenergie ausgeht“.

„Wegen der verantwortungslosen Haltung Kiews hat die nukleare Sicherheit in dem an uns angrenzenden Land in den vergangenen Jahren gravierend abgenommen,“ sagt auch Leonid Sluzki, der Vorsitzende des Komitees der Staatsduma für GUS-Angelegenheiten.

Das Wort „verantwortungslos“ klingt milder als „Strafbrigaden“ oder „Junta“ – doch einziges Ziel ist es, einmal mehr die „Verantwortungslosigkeit der Ukraine“ zu betonen.      

Unfähigkeit zu Trauern

Angaben des russischen Vereins Tschernobyl zufolge starben nach dem Unglück rund 9.000 russische Liquidatoren, mehr als 55.000 trugen bleibende Schäden davon – das ist unser Leid, unser Unglück, nicht nur das der Ukraine oder von Belarus. Und genau so muss man davon sprechen. Jede Tragödie hat vor allem eine menschliche Dimension. Das ist der Kontext, in dem sie zu betrachten ist.

Das Leugnen der „tragischen Dimension“ von Tschernobyl in Russland 2016 zeugt vom Verlust elementarer menschlicher Instinkte: Mitgefühl, Mitleid, Trauer.

Vor 30 Jahren wurde eine technische Katastrophe zum Spiegel des moralischen Kollaps im Land. 30 Jahre später zeugt die Reaktion auf die Tragödie von Tschernobyl von einem ebenso katastrophalen Zustand der Gesellschaft heute – von genau demselben „mentalen Tschernobyl“.

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