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Alles Käse

Die russische Wirtschaft ist stark von Importen abhängig. Das soll sich durch die Politik der Importsubstitution ändern, die u. a. als Antwort auf die westlichen Sanktionen eingeführt wurde. Dabei sollen nicht nur importierte Industriegüter durch solche einheimischer Produktion ersetzt werden, sondern auch viele Nahrungsmittel. Das ist gerade für den Käse folgenreich.

Wenn früher die Sowjetbürger von einem Paket aus dem Ausland träumten, schwärmten sie von Jeans und Kaugummi, während der einheimische Fetisch die Wurst war. Heute träumen die Russen nicht mehr von Jeans, Kaugummi und Wurst, sondern von Käse. Westlicher Käse ist vielen Russen lieb und teuer geworden, sich in Käsefragen auszukennen, gilt gerade in den großen Städten als Zeichen von Kultiviertheit und gutem Geschmack. Viel mehr als Träumen bleibt derzeit aber nicht: Importware wird an den Grenzen beschlagnahmt und vernichtet, während der russische Käse in den Läden meistens entweder nicht russisch oder kein Käse ist.

Seit Anfang letzten Jahres seien 200 Tonnen sanktionierter Lebensmittel aus dem Handgepäck nach Russland einreisender Fluggäste und aus Paketen an Russen beschlagnahmt worden, meldete die russische Landwirtschaftsaufsichtsbehörde Rosselchosnadsor im November nicht ohne Stolz. In der Pressemitteilung hieß es, dass unsere Landsleute noch nie in der Geschichte der Russischen Föderation so viel Käse importiert hätten – erlaubt sind 5 Kilogramm, doch meistens wird diese Menge überschritten.

Seit August 2015 werden sanktionierte Lebensmittel vernichtet, wenn sie bei der Einfuhr auf russisches Territorium entdeckt werden. Im Herbst lernten die Russen das Wort „Incinerator“ – so heißen die Öfen, die bei der Verbrennung organischer Abfälle zum Einsatz kommen. Für den anfallenden Käse dachte man sich aber auch andere Vernichtungsmethoden aus. In Belgorod walzte man 9 Tonnen konfiszierten Käse mit einem Bulldozer platt, in Samara vergiftete man Edamer und Tilsiter mit dem Bleichmittel Belisna. Natürlich funktionierte es nicht überall: In Pulkowo wurden 20 Tonnen Käse zwecks Vernichtung beschlagnahmt, doch die Verantwortlichen kamen mit dem Auftrag nicht zurande, und der Käse wurde nicht vernichtet.

Am bedauernswertesten aber ist gar nicht das Schicksal des importierten, sondern das des russischen Käses. Das Produkt, das beim World Cheese Award schon vorher nicht für Medaillenklimpern sorgte, hat seit dem Beginn der Gegensanktionen hoffnungslos an Qualität eingebüßt, und statt Büffel-, Kuh- oder Schafmilch ist nun Palmöl der meistverwendete Rohstoff.

Bürgermeisterkäse

Auf der Straße beim finnischen Konsulat in St. Petersburg tauchte ein Werbeplakat in finnischer Sprache auf. Ein grauhaariges Großmütterchen mit einem Stück Butter auf einem Teller lächelt verschmitzt unter einer Aufschrift, die übersetzt lautet: „Wir können das genau so gut wie ihr.“ Die gleiche Reklame tauchte jeweils auf Deutsch, Englisch, Französisch und anderen Sprachen auch bei Dutzenden anderer Botschaften und Konsulate in St. Petersburg und Moskau auf. Damit wollten die Besitzer der neuen Marke Baba Valja die Konkurrenz auf den Arm nehmen. Der nächste Schritt der Troll-Marke war eine virale Reklame darüber, dass die Oma von den Plakaten, Valentina Konstantinowna, als Qualitätschefin der Firma eingestellt worden sei.

Der finnische Milchfabrikant Valio findet die Witze dieses Produzenten nicht amüsant: Dem Betrieb zufolge kopiere Baba Valja sein Markenzeichen, die Qualität von Butter, Mayonnaise und Käse sei aber ungleich schlechter. In der russischen Firma erklärt man, dass man es humorvoll möge und nicht vorhabe, mit den Witzen aufzuhören. „Wir werden mit Valentina Konstantinowna auf jeden Fall weitere lustige Aktionen auf die Beine stellen“, kündigt der Vertreter der Firma Stanislaw Alexejew an.

Auch der neue Käsefabrikant Oleg Sirota – der Schwiegersohn von German Sterligow, einem der ersten russischen Multimillionäre – mag es humorvoll. Er hat die Käserei Russischer Parmesan eröffnet und darauf eine Flagge Neurusslands gehisst und erzählt nun Journalisten, dass er für seine Ziege Merkel auf der Suche sei nach einem Bock Obama. Sirota verhehlt nicht, dass er ohne Embargo nicht in dieses Business eingestiegen wäre, und ist voll des Lobes über die Gegensanktionen. Die Eröffnung der Fabrik war sogar auf den Jahrestag der Sanktionen abgestimmt. „Mein größter Alptraum ist, dass die Sanktionen aufgehoben werden könnten“, hat Sirota in Medieninterviews mehrmals gesagt.

Der leidenschaftliche Imker und ehemalige Bürgermeister Moskaus Juri Lushkow hat ebenfalls bekanntgegeben, dass er auf seinem Bauernhof in der Oblast Kaliningrad mit der Herstellung von Pendants europäischer Spitzenkäse beginnen will. Und dass die erste Sorte zu Ehren seiner Gattin Elena Baturina vielleicht Elena heißen wird. Wobei auch eine zweite, für die Käufer verständlichere Namensvariante in Erwägung gezogen werde – Lushkowski.

Die in der Käseproduktion führende Region Altai meldet ein so starkes Produktionswachstum, dass es dort unterdessen an Rohmilch fehlt. Letztes Jahr wurden in diesem Gebiet 72.000 Tonnen Käse erzeugt – 16 Prozent der gesamten russischen Produktion. Dieses Jahr ist das Käsevolumen um ein Drittel gewachsen. Übrigens hat der Ankauf von Rohmilch und der dann erfolgende Weiterverkauf an verarbeitende Betriebe letztes Jahr einige Bewohner der Gegend zu Milliardären gemacht. In der Region Altai gibt es davon jetzt fünf, früher war es nur einer.

Insgesamt wuchs die Käseproduktion im ganzen Land im vergangenen Jahr um mehr als 21,6 Prozent. Auch wenn es sich in Wirklichkeit nicht bei allen 500.000 Tonnen russischen Käses tatsächlich um Käse handelt.

Ein spezielles Rezept

Der Importkäse verschwand nach der Bekanntgabe der Gegensanktionsmaßnahmen vom 7. August 2014 nicht sofort aus den russischen Theken – es waren Vorräte für einige Monate vorhanden, die dann allmählich zur Neige gingen. Eine Zeitlang lief der Verkauf durch das Thema „laktosefrei“ weiter. Zur Erinnerung: Laktosefreie Milchprodukte fallen nicht unter das Embargo, und bei den meisten Hartkäsesorten muss nicht einmal groß getrickst werden, weil sie aufgrund ihrer besonderen Herstellung laktosefrei sind. Doch dieses Schlupfloch wurde im Juni 2015 bei der Verlängerung des Embargos gestopft. Daraufhin versuchten die Einzelhändler zu beweisen, dass das Antisanktionsgesetz nur die Einfuhr von Käse nach Russland verbietet, nicht aber den Verkauf – und dem Petersburger Supermarkt Magnit gelang es sogar, eine Buße von 30.000 RUB [360 EUR] wegen des Verkaufs von französischem Schafskäse anzufechten. Dennoch beschlagnahmte der föderale Verbraucherschutz weiterhin Waren in den Läden, und Pawel Sytschew, erster stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaftlichen Kammer zur Unterstützung von Familie, Kindern und Mutterschaft, regte sogar an, das Verkaufen sanktionierter Ware mit Gefängnis zu bestrafen. Der Vorschlag wurde bislang nicht umgesetzt, aber im Herbst gelangte deutlich weniger „verbotenes Gut“ in die Supermarktketten. Importierter Käse kommt zum größten Teil (81 Prozent) aus Weißrussland, den Rest machen teure Käse aus der Schweiz, Argentinien und einigen anderen Ländern aus.

Nach einer Analyse der in den Regalen verbliebenen Käsesorten erklärte die russische Landwirtschaftsaufsichtsbehörde in einer offiziellen Pressemeldung unerwartet, dass 78,3 Prozent der Produkte Imitate seien. Später präzisierte die Behörde, die Untersuchung sei noch nicht allzu aussagekräftig: Spezialisten hätten 23 Käseproben überprüft und in 18 von ihnen Pflanzenfette gefunden.

Das Ministerium für Landwirtschaft vertritt seinerseits die Meinung, der russische Käse sei durchaus von guter Qualität, nur 10 bis 15 Prozent seien Imitate; nach Angaben des nationalen Milchindustrieverbands Sojusmoloko wiederum sollen es 15 bis 20 Prozent sein.

Das Grundproblem ist das Fehlen der nötigen Milchmengen. „Es hat sich gezeigt, dass die Produzenten nicht in der Lage sind, den Import von Käse zu kompensieren, dessen Marktanteil sich vor dem Embargo auf rund 50 Prozent belief, weil sie nicht genug Rohmilch guter Qualität bekommen, aus dem man diesen Käse herstellen könnte“, lautet das Fazit des Geschäftsführers von Sojusmoloko, Artjom Below. Im Jahr 2015 seien in Russland insgesamt 30,5 Millionen Tonnen Milch produziert worden, der Markt hätte aber 8,5 Millionen Tonnen mehr benötigt, stellte man im Fachverband fest.

Anstelle von Milch setzen die russischen Käsefabrikanten daher nun munter Pflanzenfette ein, sprich Palmöl. Der Import nahm 2015 im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel zu, im November überstieg er die 700.000-Tonnen-Marke.

Palmöl ist zwar nicht schädlich (in Malaysia zum Beispiel hält man es sogar für gesund), aber nach der Fülle an echten Milchprodukten vor dem Embargo hat man irgendwie keine große Lust auf milchfreien Käse. Deshalb essen die Russen nun einfach ein bisschen weniger Käse. „Die Nachfrage nach Käse ist leicht gesunken, um 1 bis 1,5 Prozent, es gibt aber noch keine genauen Zahlen“, sagt der Milchmarkt-Analyst des Moskauer Forschungsinstituts für Agrarmarktkonjunktur IKAR, Wadim Semikin.

Es fehlt indessen nicht nur am Rohstoff, sondern auch an Erfahrung in der Produktion von Hartkäse. Für Milchverarbeiter ist der ein anspruchsvolles Produkt: Er muss monate- und manchmal jahrelang reifen, und für 1 Kilogramm Hartkäse braucht es 8 bis 10 Kilogramm Milch von guter Qualität (ganz zu schweigen von den nötigen Fertigkeiten, die man sich nicht in ein paar Monaten aneignet). Das bedeutet, es braucht viel Zeit, bis die teure Herstellung sich rentiert – eine kleine, gute Produktionsstätte kostet gut und gern 50 Millionen RUB [600.000 EUR]. Kein Wunder, dass die Leute nicht Schlange stehen, um im großen Stil in die Herstellung von Qualitätskäse einzusteigen – die Einrichtung und viele Zutaten stammen aus dem Ausland und müssen für immer teurer werdende Euro und Dollar importiert werden, und die Zinssätze für Kredite bewegen sich im Bereich der 20-Prozent-Marke.

Kurz und gut, von den einheimischen Käsefabrikanten erwartet man besser keinen russischen Parmigiano Reggiano, bei dem für die Herstellung eines Laibs eine halbe Tonne Rohmilch sehr guter Qualität benötigt wird. Zumal die Milch dazu nicht pasteurisiert werden darf, was die russischen Aufsichtsorgane nie und nimmer zulassen würden. Da ist es einfacher, Palmöl zuzusetzen oder die gewohnten russischen Sorten herzustellen – Altaiski, Kostromskoi oder Rossiski. Dabei behaupten die Käseproduzenten selbst allesamt, gerade ihr Käse sei wirklich gut, und der größte Troll der Käseindustrie Valentina Konstantinowna zeigt sich durchaus angriffslustig: „Es sind doch die Schweizer, die das mit dem Palmöl machen – unser russischer Käse ist der beste. Das spüre ich am Geschmack.“

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