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Stalins Follower

Angeblich „immer mehr Russen befürworten die stalinistischen Repressionen“, so lautete die erstaunliche Botschaft im Kommentarverlauf zur jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum. Allerdings war das, offen gestanden, gar nicht direkt gefragt worden. Es würde ja wohl auch kaum einem Menschen klaren Verstandes und mit nur einem Fünkchen Gewissen in den Sinn kommen, sich mit jemand wie Pol Pot auf freundschaftlichen Fuß zu stellen, in Anbetracht der Zahl seiner Opfer. Dennoch ist und bleibt es eine Tatsache, dass immer mehr Russen dem geschichtsträchtigen Generalsekretär gegenüber positiv eingestellt sind.

Sie sind bereit, ihm Denkmäler zu errichten, nach ihm benannte Museen zu gründen und seine strategischen Leistungen im Krieg zu preisen. Bisher sind diese seine Neu-Anhänger oder „Follower“ (das Wort fiel mir ein, nachdem ich den blutrünstigen Thriller The Following gesehen hatte, den ich nicht empfehle, der aber daran erinnert) Gott sei Dank noch nicht die Mehrheit. Sondern die Minderheit. Sie treten jedoch als eine gut organisierte und äußerst aktive, um nicht zu sagen erboste Gruppe auf. Was zumindest an der enormen Anzahl von Kommentaren zu sehen ist, die sie unter jedem Themen-Artikel hinterlassen.

Mal schlagen sie dem Autor vor, er soll sich seine „Bürne anne Wand einhaun“, weil er sich gegen jegliche Diktatur ausspricht. Mal soll er sich in ohnmächtigem Zorn lieber gleich aufhängen, denn, so heißt es da, „bald benennen wir Wolgograd wieder in Stalingrad um“. Und dem mythischen Drachen namens Stalin raten sie, endlich aufzuräumen mit all den Betrügern und Bürokraten. Mit der Fünften Kolonne. Mit der Ukraine. Und auch gleich noch mit der jüdischen Mafia, das ist ja bei uns schon Tradition. Das darf nicht fehlen.

Aber machen wir uns nichts vor: Gewiss hätte keiner der Follower seine eigenen Töchter und Söhne den treuen Mitstreitern Stalins – Jagoda, Jeshow und Berija – zum Fraß vorgeworfen. Ebenso unvorstellbar wäre für sie, dass die oben erwähnten Genossen, wenn sie sich, wie von den Followern unmissverständlichen erwünscht, materialisierten, nachts bei ihnen in der Wohnung auftauchen und klären würden, was da so läuft, wie es in den unvergesslichen 1930ern geschah. Nicht den realen Stalin beten sie an – den kleingewachsenen, nicht akzentfrei russischsprechenden Georgier mit der verkümmerten Hand –, sondern den anderen, den aus dem Kino, den klugen, im weißen Dienstrock, der wortgewandt jeden beliebigen Intelligenzling am Telefon zu Tode erschrecken konnte: „Auf der Sssscchhtelle wird Genosse Stalin mit Ihnen sprechen.“ Ich gebe zu, auch ich liebe dieses Motiv, von dem sich unsere Generation garantiert niemals befreien können wird.

Nehmen wir zum Beispiel den berühmten antisowjetischen englischsprachigen Film Der rote Monarch (Red Monarch, 1983). Ach, was war das für ein toller Stalin, ein rechter Schelm in einer echten Schelmenposse. Wie er da ärgerlich die Porträtbüste Lenins anschaut, der ihm selbst nach dem Tod noch die Liebe des Volkes wegfrisst.

Sieht ihm das ähnlich? Klar. Ist das lustig? Klar.

Oder der Stalin in Wassili Aksjonows Roman Moskwa-kwa-kwa, seinem besten, wie ich finde. Folgende Szene: Winter, Schneegestöber, der protzige Schriftsteller Smeltschakow, der in dem berühmten Hochhaus an der Kotelnitscheskaja-Uferstraße in Moskau wohnt, trinkt armenischen Kognak der Marke Ararat und stößt übers Telefon mit Genossen Stalin persönlich an. „Ararat ist Scheiße“, sagt ihm sein nächtlicher Trinkgenosse Stalin. „In einer halben Stunde bekommst du eine Kiste Gremi. Trink meinetwegen solange noch deinen scheiß Ararat, dann machst du weiter mit Gremi.“ Und dann plaudern sie über den „Bluthund Tito“.

Auch hier naive Malerei: der Traum der sowjetischen Elite vom intimen Verhältnis zur Macht. Und Aksjonow kann man nun wahrlich nicht als Stalinisten bezeichnen, sein Vater und seine Mutter wurden 1937 verhaftet, er verbrachte seine Kindheit im Heim. Nach 18 Jahren Lagerhaft (!) schreibt seine Mutter, Jewgenija Ginsburg, ihre Memoiren Krutoj marschrut (deutsch: Marschroute eines Lebens und Gratwanderung). Doch Stalin hatte sich ins Hirn eingebrannt, einerseits als Alptraum, andererseits als Märchenfigur. Und falls es einen gegeben hätte, so hätte er sehr gut einen wunderbaren Prototyp für Voland abgeben.

Ja, diese Sichtweise gibt es. Ich unterstütze sie selbstverständlich nicht, denn ich empfinde diese Deutung als sehr platt. Aber wenn man sich Stalin als das personifizierte Schicksal der russischen Geschichte vorstellt, das das Gute nicht kennt, aber manchmal gerechten Einfluss ausübt (mit der Erschießung der großen Mehrheit von Dämonen der Revolution, der Mitläufer und Speichellecker), dann passt das Bild von Voland!

Mit anderen Worten, Stalin ist mit uns. Er ist unser ein und alles. Und soll auch gefälligst mit uns verschwinden. Aber ihn in die Zukunft mitzuziehen, zu unseren Kindern, in Form von Denkmälern und einer Zurschaustellung irrationaler Liebe zur Gewalt – was könnte sinnloser und schlimmer sein? Was wollen sie denn damit sagen? Dass sie ihm furchtbar dankbar sind? Wofür? Wer durch die Hölle gegangen ist, der ist nicht dankbar. Die Opfer des Holodomor sind nicht dankbar. Nicht dankbar sind auch die „Millionen Opfer der Willkür des totalitären Staates“ – das ist nicht meine Formulierung, sondern ein Zitat aus dem Gesetz Nr. 1761 der Russischen Föderation vom 18. Oktober 1991. Die verbannten Kulaken (heute würden wir sie Landwirte nennen) sind nicht dankbar. Auch nicht die Bauern, die ihr gesamtes Leben in äußerster Armut und ohne Pässe verbrachten. Und wer nicht durch die Hölle gegangen ist, der wird wohl kaum was verstehen. Für ihn ist es ein historischer Holzschnitt.

Oder gefällt ihnen die Gegenwart so sehr, dass sie bereit sind, sich vor den längst verwesenen Führern zu verbeugen, die sie hierher gebracht haben? Das kann ich nicht glauben. Denn sonst würden sie dem Autor nicht vorschlagen, sich seine „Bürne anne Wand einzuhaun“. Nicht gegen die Ukraine kämpfen, einen der wichtigsten Teile der UdSSR. Und würden nicht das Beil gegen die Oligarchen schwingen. Unsere Gegenwart ist auch für Stalins Follower kein Zuckerschlecken.

Wesentlich ist etwas anderes. Worin genau sind sie sich einig, wenn sie über Stalin diskutieren? Darin, dass es Ideen gibt, für die es sich lohnt, Millionen umzubringen, damit andere Millionen überleben und sich freuen? Oder darin, dass es eine „Gerechtigkeit“ eines Herrschers gibt, die höher steht als die Wahrheit, höher als die Humanität, höher als Gesetze und höher als jedes Gericht? Dass das Bespitzeln von Mitmenschen bis hin zur Denunziation und zum Abtransport in die Folterkammer normale Praxis ist und eine normale Moral?

Ich weiß es nicht. Da setzt sich dieser durchgeknallte Enkel Jewgeni Dschugaschwili hin und schreibt Klagen. Auf formaler Grundlage: Schau mal, in Nürnberg wurde die Erschießung von Zehntausenden polnischer Offiziere in Katyn nicht [als sowjetisches Verbrechen] verurteilt. Folglich sind alle, die dies als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachten und als persönliches Verbrechen Stalins, ohne dessen Sanktionen so etwas nicht möglich gewesen wäre, selbst Verbrecher laut Artikel 354.1 (Rehabilitierung des Nazifaschismus), Strafgesetzbuch der Russischen Föderation. Und haben so zwei, drei Jährchen verdient …

Er schwärzte den Historiker Feldman an. Dann den Historiker Zharkow. Er tippt und tippt. Die Verbrecher sind seiner Meinung nach nicht diejenigen, die Zehntausende ohne Gerichtsverhandlung und ohne Untersuchung erschossen. Auch nicht unsere Zeitgenossen, die dies für richtig halten, für gerechtfertigt oder als nie dagewesen, nie passiert abtun usw. Sondern die Historiker, die Publizisten, die gelegentlich daran erinnern … Erstaunlich!

Obwohl, eigentlich sollten wir Dschugaschwili dem Jüngeren dankbar sein. Dafür, dass er, selbst ein Follower, ja geradezu die Quintessenz der Followerschaft, den anderen Followern eine klare Perspektive für ihren Neostalinismus aufgezeigt hat. Und sie auch uns anderen gezeigt hat. Ohne eine deutliche juristische und moralische Bewertung („Jetzt entscheidet euch doch endlich, habt euch nicht so, dann seid ihr mich auch wieder los!“) unserer politischen Vergangenheit haben wir keine Chance, in die Zukunft zu gehen.

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