Vorwahlen

Der russische Begriff praimеris ist ein Lehnwort aus dem amerikanischen Englisch (primaries) und bezeichnet in Russland von Parteien durchgeführte Vorwahlen. Sie werden auch als Volks- oder vorläufige Abstimmung bezeichnet und dienen zur Ermittlung von Kandidaten auf lokaler, regionaler oder föderaler Ebene. Die Vorwahlen sind ein Import aus westlichen politischen Systemen, sie haben auch regimestabilisierende Funktionen: Die Vorwahlen von Einiges Russland tragen zur Legitimierung nach außen und innen bei und dienen für Kandidaten und Regionaladministrationen als Testlauf für die Dumawahlen im September 2016. Um Proteste zu vermeiden soll der Wahlsieg der Regierungspartei sichergestellt werden, und zwar so, dass dafür, wenn überhaupt, nicht mehr als ein Mindestmaß an Wahl-Manipulation durchgeführt werden muss.

In Russland traten die Vorwahlen zum ersten Mal 2006 in Erscheinung, als die Junge Garde, die Jugendorganisation von Einiges Russland, das Projekt „Politfabrik“ ausrief, um Nachwuchs für die große Politik zu rekrutieren. Auf föderaler politischer Ebene führte Einiges Russland schließlich vor den Dumawahlen 2007 erstmals Vorwahlen durch. Im November 2009 verankerte der Parteitag verpflichtende Vorwahlen auf allen Ebenen im Statut der Partei. Umgesetzt wurde diese Regelung allerdings nur halbherzig, und der Weg in die politische Praxis war mit Unregelmäßigkeiten und Skandalen gepflastert.1

Erst die Talfahrt der Zustimmungswerte von Einiges Russland (s. Grafik 1) verlieh den Vorwahlen im Parlamentswahlkampf 2011 erneut Aufschwung. Allerdings erwiesen sich die Vorwahlen damals als nicht verbindlich2: Ein Fünftel aller Sieger fand sich nicht in der finalen Parteiliste wieder. Lediglich in acht von 80 Fällen stimmten die regionalen Dumawahllisten mit den Ergebnissen der Vorwahlen überein. 

Die Ausgangslage für Einiges Russland vor den Dumawahlen 2016 dagegen ist dank höherer Zustimmungswerte (Grafik 1) und sorgfältiger polittechnologischer Vorbereitung durch Wjatscheslaw Wolodins Abteilung für Innenpolitik in der Präsidialadministration deutlich günstiger. So wurden etwa die Parlamentswahlen in das Sommerloch vorverlegt, Wahlkreiszuschnitte wurden verändert und die Bedingungen für unabhängige Wahlbeobachtungen erschwert.3

Grafik 1: Einiges Russland in Meinungsumfragen 2008 – 2016. Quelle: FOM

Vorwahlen mit neuem Zuschnitt

Die Vorwahlen wurden als eine „vorläufige Abstimmung“ über Einiges Russland-Kandidaten unter dem Motto „Offenheit, Konkurrenz, Legitimität“ auf den 22. Mai 2016 angesetzt. Zum ersten Mal waren alle wahlberechtigten Russen aufgerufen (offene primaries), über die knapp 2780 Kandidaten abzustimmen, die sich auf dem eigens dafür eingerichteten Webportal registrierеn konnten.

Nach offiziellen Angaben belief sich die Beteiligung bei den Vorwahlen auf 10 Millionen bzw. 9,5% der Wahlberechtigten. Der Prozess war von zahlreichen Manipulationsvorwürfen begleitet, wobei sich bemerkenswerterweise Kremlsympathisanten gegenseitig beschuldigten4: Bei den Wahlbeobachtern von Golos gingen 99 Beschwerden ein, der Generalsekretär der Partei Sergej Newerow verzeichnete gar über 400 Klagen.

Dennoch lassen sich einige regimestabilisierende Funktionen ausmachen: Zum einen dienen Vorwahlen der externen und internen Legitimierung. So waren laut dem Politikberater Jewgeni Mintschenko Wahlbeteiligung und Konkurrenz in den Wahlbezirken höher als beispielsweise in Frankreich und Kanada.5 Zudem verzichtete die systemische Opposition auf Vorwahlen, die primaries der nicht-systemischen Demokratischen Koalition um Kassjanow und Nawalny am 28. und 29. Mai waren im Ausmaß bedeutend geringer. Somit hat Einiges Russland zumindest ein diskursives Monopol auf Wählernähe.6

Protesten die Grundlage entziehen

Zum anderen bieten sich  für die Präsidialadministration trotz des ressourcenintensiven Ablaufs Vorteile: Vorwahlen dienen im Hinblick auf die Parlamentswahlen als Testlauf, durch den wählbare Kandidaten herausgesiebt und Loyalität von Regionaladministrationen (v.a. der Gouverneure und Bürgermeister), sowie ihre Fähigkeiten zur Wählermobilisierung auf die Probe gestellt werden können. Denn allzu grobe Wahlmanipulationen sollen bei den Dumawahlen verhindert werden, um Protesten – wie nach den Parlamentswahlenswahlen 2011 – präventiv die Grundlage zu entziehen.  

Der kremlnahe Polittechnologe Dimitri Badowski geht davon aus, dass die Einiges Russland-Fraktion in der kommenden Legislaturperiode um bis zu 60 % erneuert wird.7 Die Vorwahlen führen somit zu mehr Wettbewerb in der Partei und zwischen Kandidaten. Sie rütteln jedoch nicht am Grundprinzip elektoraler Autokratien, wonach der Prozess intransparent und das Ergebnis vorhersehbar ist.

Regionen gewinnen an Bedeutung

Die Vorwahlen zeigen8 aber, dass auch aufgrund des neuen Wahlgesetzes9 die Regionen wieder stärker an Bedeutung gewinnen: Regionaladministrationen waren bei den praimeris bemüht, ihre Kandidaten gegenüber föderalen Schwergewichten ohne lokalen Bezug zu stützen. Zwar bieten die Einerwahlkreise auch Chancen für einige Oppositionskandidaten. In der neuen Duma wird sich aber vor allem das Lobbypotential der Regionen – auch dank der Vorwahlen – deutlich verstärken.


1. Slider, D. (2010): How united is United Russia? Regional sources of intra-party conflict. In: Journal of Communist Studies and Transition Politics, 26(2), S. 257-275
2. Panov, P., & Ross, C. (2016): Levels of Centralisation and Autonomy in Russia’s ‘Party of Power’: Cross-Regional Variations. In: Europe-Asia Studies, 68 (2), S. 232-252
3. Kynev, A. (2016): Instituzionalno-polititscheskie osobennosti rossijskich wyborow 2016 goda. Komtitet graschdanskich iniziatiw: https://komitetgi.ru/analytics/2802/.
4. Kommersant.ru: Edinorossy žalujutsja sami na sebja
5. Minchenko.ru: Institut provedenija predvaritel’nykh vyborov – mirovoj opyt
6. Carnegie.ru: Kak, začem i počemu: pričiny i uroki prajmeriz «Edinoj Rossii» – 2016
7. Rbc.ru: Prajmeriz «Edinoy Rossii» proigrali okolo 50 deputatov Gosdumy
8. Znak.com: Predvaritel’naja očistka: «Edinaja Rossija» snimet s prajmeriz rjad kandidatov: spisok familij
9. Es gilt wie schon bis 2003 das Grabenwahlsystem: Die eine Hälfte der 450 Parlamentsmandate wird über Parteilisten, die andere in Einerwahlkreisen vergeben.

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