Nikolaj Leskow

Maxim Gorki hielt seine Bücher für geschriebene Ikonen, Tolstoi sah in ihm den russischsten aller Autoren. Seine Geschichten hörte er dem Volk ab und verarbeitete sie in kühnen, mitunter schwer verständlichen Sprachexperimenten. Von vielen Zeitgenossen angefeindet, ist Nikolaj Leskow (1831–95) der vielleicht eigentümlichste Schriftsteller unter den großen russischen Realisten. Seine Biographie erschütterten literarische Skandale.

Serow-Portrait von 1894 © GemeinfreiLeskows Ahnentafel war bunt gemischt: die Mutter aus verarmtem Adel, der Vater Untersuchungsbeamter zu Gericht und der Großvater ein Priester. Nikolaj ging in Orjol zur Schule, 1849 folgte der Umzug nach Kiew. Jahre später nahm er einen Reisejob in der Handelsfirma seines Onkels an, der ihn in viele Regionen des Reiches führte. Leskows Biographen betonen, dass die Eindrücke dieser Fahrten auf ihn wie ethnographische Studien wirkten und er dort mit den Sitten des Volkes und den sozialen Realitäten vertraut wurde: Eine Erfahrung, die sein literarisches Werk entscheidend stimulieren sollte.

Leskow schrieb im verfänglichen intellektuellen Milieu der zweiten Jahrhunderthälfte, als erbitterte politische Konflikte mithilfe von Literatur ausgetragen wurden. Autoren und Kritik waren hier zu politischen Positionierungen gezwungen, und Leskow, der sich weder auf die Seite der radikalen Demokraten noch auf die der Konservativen schlagen mochte, fand sich in diesem radikalisierten Klima schnell isoliert.

Er begann 1860 als Journalist und veröffentlichte nach dem Umzug nach St. Petersburg auch literarische Texte. Im März 1862 kam es zu einem ersten Konflikt mit der politischen Linken: Nachdem auf zwei Märkten Feuer ausgebrochen waren, entstanden Gerüchte, dass radikale Studenten dafür verantwortlich seien. In einem Artikel wollte Leskow die Studenten gegen diesen Vorwurf verteidigen und forderte eine Aufklärung der Vorkommnisse. Die Linke interpretierte dies jedoch als Angriff gegen sich und brandmarkte ihn als Reaktionär. Leskow verarbeitete diese Anschuldigungen 1864 in seinem ersten Roman Nekuda (dt. Ohne Ausweg), einer Polemik auf die radikale Bewegung der 60er Jahre, doch galt er nun als Persona non grata unter den Radikalen.

Waren die frühen Erzähltexte stärker sozialkritisch, so rückten mit dem Roman Soborjane (dt. Die Klerisei) zu Beginn der 1870er Jahre religiöse und moralische Themen ins Zentrum. Leskow war jedoch kein Anhänger der orthodoxen Kirche, sondern vertrat ein moralisches Christentum und warb besonders in seinen späten Werken für religiöse Toleranz. Er verfasste Satiren auf die offizielle Kirche und nutzte religiöse Motive, um Themen der nationalen Identität und des Russischseins zu entfalten. Davon zeugt etwa die Erzählung um die Ikonen einer Gruppe Altgläubiger Zapetschatljonny angel (dt. Der versiegelte Engel) von 1873.

Eine wichtige Quelle war die Volksdichtung: Die legendenhafte Erzählung Otscharowanny strannik (dt. Der verzauberte Pilger) oder etwa Lewscha (dt. Der Linkshänder, 1881) imitieren mündliche Erzähltraditionen und wurden als folkloristische Loblieder auf die Stärke Russlands und die moralischen Tugenden des einfachen Volkes patriotisch interpretiert.

Leskows stilistische Experimente bestanden oft in virtuosen Imitationen von mündlichen Redestilen einzelner Sprechertypen, nicht selten Figuren aus dem einfachen Volk wie Bauern, Soldaten oder Geistliche: Er schuf in diesem skaz genannten Verfahren eine radikale Vielstimmigkeit, die er mitunter bis zur Künstlichkeit übersteigerte.

Im Spätwerk rückte der Aspekt der moralischen Erziehung durch Kunst in den Blick Leskows. Er näherte sich hier – wie auch in der Ablehnung von Staat und orthodoxer Kirche – den Positionen Lew Tolstois an, dem er 1887 begegnete und den er als Persönlichkeit verehrte. Zermürbt von Zensur und enttäuscht vom autoritären zaristischen Staatsregime am Jahrhundertende waren seine letzten Texte von Pessimismus und Verbitterung gekennzeichnet. Er starb vereinsamt in Moskau an den Folgen einer jahrelangen Herzerkrankung.

Wenngleich Leskow ein Opfer der politischen Grabenkämpfe seiner Zeit war, galt er doch bereits zu Lebzeiten als einer der wichtigsten Prosaautoren des 19. Jahrhunderts, der insbesondere auf moderne Autoren wie Tschechow oder Remissow großen Einfluss ausübte. In der Sowjetunion wegen der Vielzahl an religiösen Themen suspekt beäugt, erschienen dort seine Werkausgaben nur unvollständig und gekürzt. Erst seit Mitte der 1990er Jahre wird in Russland an einer vollständigen Gesamtausgabe gearbeitet.

Weitere Themen

Wissarion Belinski

Russisch-Orthodoxe Kirche

Nikolaj Nekrassow

Akademie der Künste in St. Petersburg

Konstantin Stanislawski

Nikolaj Berdjajew


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter: