Viele regierungsfinanzierte Jugendorganisationen in Russland verstehen sich als „Bewegung“ und bezeichnen sich als „antifaschistisch“. Beide Begriffe sind gesellschaftlich positiv besetzt. Die Regierung interpretiert sie im Sinne eines russischen (nicht sowjetischen) kulturellen Erbes, und versucht, sie in ihrem Sinne zu monopolisieren. Die Bedeutung dieser Begriffe ist nicht absolut: sie werden in Russland anders gebraucht als in Westeuropa.
Der Begriff „Bewegung“ wird in Russland vornehmlich als etwas Positives verstanden – auch bei Konservativen und in Regierungskreisen. Dies hängt mit der sowjetischen Geschichte des Landes zusammen. Anders als in liberaldemokratischen kapitalistischen Staaten1 waren Selbstorganisation und politische Mobilisierungen im Rahmen des sowjetischen politischen Konsenses offiziell erwünscht. Eine sogenannte „aktive Einstellung zum Leben“ erschien als Gegenteil von Gleichgültigkeit gegenüber Staat und Gesellschaft. Solch eine „Gleichgültigkeit“ meinte man unter anderem an Alkohol- und Nikotinkonsum, unkonventionellem Verhalten sowie dem Kleidungsstil ablesen zu können. Milizen und Patrouillen der sowjetischen Jugendorganisation Komsomol wandten, ideologisch im Sinne der Kommunistischen Partei, Formen der Selbstjustiz gegen Nonkonformisten an.2
Seit der ersten Amtszeit Putins Anfang der 2000er Jahre wurden sogenannte moralisch-geistige Werte aus Sowjetzeiten von offizieller Seite russifiziert — also als kulturelles Erbe einer spezifisch russischen Geschichte gedeutet. Damit ging einher, dass sowohl die Regierung als auch manch bürgerschaftliches Engagement vermehrt darauf zielte, all solche Verhaltensweisen, die jenen Werten nicht entsprechen, einzudämmen.3
Auch die Selbstbezeichnung „antifaschistisch“ ist in Bezug auf die sowjetische Vergangenheit zu verstehen. Über die weltpolitische Bedeutung des Sieges der Roten Armee über Nazideutschland ist sich die Mehrheit der Bevölkerung einig. Dieses symbolische Kapital versucht die Regierung für sich zu monopolisieren. Entsprechend bezeichnen sich regierungsfinanzierte Jugendorganisationen (RFJ) als „antifaschistisch“ und als Verteidiger des historischen Gedenkens an den Großen Vaterländischen Krieg. Beispielsweise initiierte die Organisation Studentische Gemeinschaft (Studentscheskaja obschtschina) im Jahr 2005 die Verbreitung von Georgsbändern anlässlich des Tages des Sieges am 9. Mai. Die Jahreszahl ist bedeutsam: Ein Jahr zuvor hatte in der Ukraine die Orange Revolution stattgefunden. Sie sollte in Russland von offizieller Seite delegitimiert werden – unter anderem durch den Vorwurf, der Regierungswechsel werde von faschistischen Organisationen unterstützt. Der Begriff des Faschismus wird in Russland häufig gleichbedeutend mit „feindlich“ oder „bösartig“ verwendet – unabhängig von der Benennung faschistischer Ideologie. Beispielsweise bezeichneten einige (regierungskritische) Protestierende den geplanten Bau des Gazprom-Towers im Zentrum von Petersburg als faschistische Invasion, gegen die man sich wie damals gegen die Leningrader Blockade wehren müsse.4
Die meisten RFJ berufen sich auf staatspatriotische Werte. Dies ist jedoch nicht mit rassistischen oder neonazistischen Orientierungen gleichzusetzen. Im Sinne des offiziellen Regierungsdiskurses verstehen RFJ die Russische Föderation als einen Vielvölkerstaat, in dem eine Vielzahl von Ethnien – im offiziellen Sprachgebrauch „Nationalitäten“ – Bürgerrechte besitzen und diese auch behalten sollen. Dennoch dominieren in Regierungskreisen und unter RFJ-Aktivisten völkische Ansichten, und Arbeitsmigranten aus Zentralasien werden nicht gerade als Bereicherung der russischen Kultur begrüßt. Die ökologische RFJ Mestnye, aber auch die Junge Garde der Regierungspartei betrieben beispielsweise wiederholt Kampagnen gegen Arbeitsmigranten ohne Aufenthaltspapiere.5 Zugleich aber versuchen Mitglieder von Mestnye und der Jungen Garde gemeinsam mit anderen RFJ unter dem Leitspruch „Alle für Russland – Russland für alle“, nazistischen Organisationen beim Russischen Marsch die Deutungsmacht zu entziehen.
Forderungen nach einem ethnisch organisierten russischen Nationalstaat sind charakteristisch für nazistische Organisationen, die sich meist in Opposition zur russischen Regierung befinden. Letztere lehnt de jure rassistische Politik ab.6 De facto sind die Übergänge jedoch fließend. BORN, die „Kampforganisation russischer Nationalisten“, deren Mitglieder 2015 für neun Morde (unter anderem an dem Bürgerrechtler und Rechtsanwalt Stanislaw Markelow und der Umweltaktivistin und Journalistin der Novaya Gazeta Anastasia Baburowa) vor russischen Gerichten für schuldig befunden wurden,7 pflegte direkte Verbindungen zu Regierungsmitgliedern und auch zur Organisation Mestnye.8
Viele RFJ vertreten also völkische Positionen und orientieren ihr Programm an dem von der Regierung offiziell vertretenen Anspruch des Vielvölkerstaates. Was für antirassistische Nichtregierungsorganisationen einen krassen Widerspruch darstellt, nehmen die Aktivisten der RFJ also nicht als solchen wahr.