Die Nachricht, dass Alexej Nawalny für das Präsidentenamt kandidieren will, war vor allem in den unabhängigen Medien des Landes ein großes Thema; staatsnahe Medien meiden ihn gewöhnlich als aktiven Politiker. Den Mann, der sich vor allem mit investigativen Recherchen zu Korruption unter den Mächtigen einen Namen gemacht hat. Vor drei Jahren hat er außerdem bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen als Polit-Newcomer gezeigt, dass er Stimmen mobilisieren kann, wenn man ihn machen lässt. Damals erhielt er 27 Prozent. Um sich als unabhängiger Kandidat für das Amt des Präsidenten zu registrieren – die Wahl ist voraussichtlich im März 2018 – benötigt er jetzt 300.000 Unterstützerunterschriften aus mindestens 40 Regionen Russlands.
Er positioniert sich zu einem Zeitpunkt, den Beobachter als ganz bewusst gewählt sehen: Nawalny ist in den vergangenen Jahren in zwei umstrittenen Gerichtsverfahren zu Bewährungsstrafen verurteilt worden. Aktuell wird eines der beiden Strafverfahren gegen ihn – der Fall Kirowles – wieder aufgerollt. Vor drei Jahren war es genau dieser Prozess, der wie ein Damoklesschwert schon über der Kandidatur um das Bürgermeisteramt in Moskau schwebte.
Wie nun seine Ambitionen auf das Präsidentenamt bewertet werden, will die unabhängige Tageszeitung Novaya Gazeta wissen. Drei gefragte Kommentatoren des politischen Geschehens in Russland antworten.
Alexej Nawalny hat seine Absicht erklärt, bei den Präsidentschaftswahlen 2018 zu kandidieren. Obwohl die Wahlkampagnen der Kandidaten für gewöhnlich ein Jahr vor den Wahlen beginnen, haben Nawalnys Leute bereits ein Wahlkampfteam zusammengestellt. Das hat schon die Webseite Nawalny 2018 eingerichtet sowie mit Spendensammlungen und der Suche nach freiwilligen Helfern begonnen.
So ist Nawalny in diesem Augenblick ein möglicher Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen, er steht aber auch im Mittelpunkt eines neuen Strafverfahrens. Ziel der Wiederaufnahme des Verfahrens im Fall Kirowles vor dem zuständigen Gericht in Kirow, so hatte Nawalny zuvor geäußert, sei es, seine mögliche Kandidatur zu verhindern.
Im November dieses Jahres hatte der Oberste Gerichtshof in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Urteile gegen Nawalny und Pjotr Ofizerow aufgehoben. Die Akten werden nun erneut geprüft. Glaubt man ihren Anwälten, wird dieser Prozess haargenau wie der letzte ablaufen, sprich: mit einem Schuldspruch enden. Das sind aber bislang nur Prognosen.
Der Kreml reagierte auf Nawalnys Entscheidung, bei der Wahl anzutreten, ausgesprochen nüchtern. Auf die Frage eines Journalisten, welche Haltung man dazu habe, meinte Dimitri Peskow, Sprecher des Präsidenten, nur: „Gar keine.“
Was wird nun aus dem Prozess im Fall Kirowles?
Dimitri Oreschkin: Nawalny ist ein sehr vernünftiger Mensch. Deswegen hat er die Ankündigung genau abgewogen. Ich denke, dieser Zug wird seine Position nicht schwächen, sondern eher stärken. Wenn man einen potentiellen Präsidentschaftskandidaten fertigmacht, reagieren sowohl die internationale Gemeinschaft als auch die Menschen im Land anders. Und zwar auch in Bezug auf sein Gerichtsverfahren. Denn nun wird das bedeuten, dass ein potenzieller Präsidentschaftskandidat vor Gericht gestellt wird.
Ekaterina Schulmann: Nawalnys Ankündigung stellt das Gericht und diejenigen, die auf das Gericht Einfluss nehmen könnten, vor die Wahl: Entweder sie lassen seine Teilnahme bei den Präsidentschaftswahlen zu oder verbieten sie. Genau das ist proaktives Handeln: Wenn du weniger Ressourcen als deine Gegner hast, aber auf eine Art vorgehst, dass sie auf deine Schritte reagieren müssen und nicht andersherum. Eine Verurteilung würde sofort die Agenda des bevorstehenden Wahlkampfes vorgeben. Und zwar in einer Richtung, die Nawalny in die Karten spielt, und eben nicht den Plänen, die man im neuen innenpolitischen Block der Präsidialverwaltung hat.
Gleb Pawlowski: Diese Ankündigung ist ein selbständiger politischer Schritt. Es könnte allerdings durchaus sein, dass es gar nicht zu einer tatsächlichen Kandidatur kommt. Wichtig ist vielmehr, dass Nawalny sich damit die Führungsrolle in einer politischen Phase gesichert hat, die im kommenden Jahr beginnt und bis zur Präsidentschaftswahl andauern wird. Er ist führender Kopf in dieser Übergangsphase und Herr über die Agenda. Er hat seine Absicht verkündet, Präsident zu werden. Damit steht er als Erster da, denn Putin hat sich noch nicht erklärt und andere auch nicht. Nawalny gibt sozusagen das Tempo vor und bestimmt die Richtung. Und das bedeutet eine führende Position in der Politik.
Vor Gericht ist er jetzt eine wesentlich gewichtigere Figur als früher. Ich denke, das macht es äußerst unwahrscheinlich, dass es bei seinem Prozess zu einer zufälligen Entscheidung kommt. Nawalny steht jetzt zweifellos auf Putins persönlicher Liste. Ich nehme zwar an, dass er da auch schon vorher zu finden war, aber jetzt ist Putin de facto der einzige, der eine Entscheidung darüber treffen kann, wie man mit Nawalny umzugehen hat. Nawalnys Position wird dadurch gefestigt. Wir leben schließlich in Russland und mit Hilfe der Staatsmacht kann Nawalny durch tausenderlei Mittel aufgehalten werden, attackiert, überfallen, eingesperrt … Aber darum geht es nicht. Jeder Schlag gegen ihn würde alle Präsidentschaftskandidaturen treffen – das ist das Neue der politischen Situation.
Wie stehen denn überhaupt Nawalnys Chancen bei den Präsidentschaftswahlen?
Dimitri Oreschkin: Er ist aktiv und bestimmt gern selbst die Spielregeln. Er stellt die Präsidialverwaltung vor die Wahl, die nun entscheiden muss: ihn zuzulassen oder nicht (und wenn nicht, in welcher Phase) und ihn hinter Gitter zu bringen oder nicht. Voraussagen sind da zwecklos. Alles hängt, grob gesagt, davon ab, was für Gedanken in den Schädeln von ein paar Leuten kreisen. Vielleicht werden sie dasselbe versuchen wie bei den Wahlen 2013 in Moskau, als sie Nawalny bei der Kandidatur sogar geholfen haben. Er hatte einen guten Auftritt damals – trotzdem hat der gewonnen, der gewinnen sollte.
Auf föderaler Ebene wird Nawalny es viel schwieriger haben, und alle wissen das. Dort ist sein Bekanntheitsgrad sehr viel geringer: Er ist nicht im Fernsehen präsent und damit auch nicht in den Köpfen der Bevölkerung. Selbst diejenigen, die regelmäßig ins Internet gehen, interessieren sich nicht besonders für Politik oder Nawalny.
Ich denke – selbst wenn man ihn nicht allzu sehr behindert – wird es für ihn schwer, auch nur auf zehn Prozent zu kommen.
Andererseits ist er ein ausgesprochen begabter Politiker, wenn es um das Gespräch mit den Wählern geht. Er schafft Dinge, die kein anderer an seiner Stelle hinkriegen würde. Die Kreml-Strategen müssen jetzt eine Entscheidung treffen. Aber es wird keine drastischen Entscheidungen geben, denke ich. Äußerlich wird sich das kaum abzeichnen, aber im Innern denken sie schon jetzt darüber nach, wie sie vorgehen sollten.
Nawalny braucht vier Arten von Ressourcen: Die erste, die administrative, wird in seiner Lage kaum eine Rolle spielen. Bei der zweiten, dem Geld, ist es ebenfalls schwierig, weil er sich nicht verdeckt finanzieren kann und ihm kaum jemand offen Gelder geben wird, aus Angst. Bei der dritten, dem Organisatorischen, sieht es auch eher schlecht aus, weil er in den Regionen bisher kaum über ein ernstzunehmendes Netzwerk verfügt. Und bei den letzten, den medialen Ressourcen, bezweifle ich, dass man ihn ins Fernsehen lassen wird. Es wird ihm also wohl oder übel nur das Internet bleiben.
In Moskau konnte er mehrere Kundgebungen pro Tag abhalten und die Administrative Ressource hat ihn nicht daran gehindert. In den Regionen aber wird man das zweifellos tun: hier verhindern, dass er es zu einem Treffen mit den Wählern schafft, dort den Strom abschalten, Sachen dieser Art. Außerdem kann er gar nicht alles schaffen – bei 85 Föderationssubjekten.
Er ist also in einer schwierigen Situation. Und deswegen ist auch nicht ganz klar, wie der Kreml reagieren wird. Sie könnten dort denken: Soll sich der Kerl doch abstrampeln, damit er seine paar Prozent bekommt; anschließend sind alle Fragen erledigt.
Ekaterina Schulmann: Nawalny war bei den letzten Parlamentswahlen nicht dabei. Dadurch blieb er unberührt vom Schatten der Niederlage und des allgemeinen Versagens, der von Beginn an und bis zum Schluss über dem Wahlkampf [der außerparlamentarischen Opposition – dek.] lag. Aus polit-taktischer Sicht war das ein sehr kluger Schritt. Bekanntlich werden in der Präsidialverwaltung viele Varianten diskutiert, wie man die Menschen zum Wählen animieren und den Wahlen damit Legitimität verleihen kann. Eine dieser Varianten lautet: reale Konkurrenz mit starken Kandidaten, und nicht mit jenen, die schon seit zwanzig Jahren kandidieren. Ab jetzt gibt es nur noch zwei Szenarien – mit Nawalny oder ohne ihn.
Gleb Pawlowski: Aktuell ist Nawalny die stärkste politische Figur im Land. Wir müssen heute von einer neuen politischen Bühne sprechen, die bisher ein einziger betreten hat. Er hat einen Schlussstrich gezogen und verkündet: „Das vorige Zeitalter ist vorbei, wir beginnen ein neues. Das Zeitalter, in dem Putin abtritt.“ Nawalny hat dort seinen Platz eingenommen, andere werden ihm folgen müssen. Auf das Feld der realen Probleme des Landes, denn Putin wird so oder so tatsächlich abtreten. Und deswegen braucht es Klarheit darüber, was nach seinem Abgang passieren soll.
Nawalny hat gewissermaßen eine vorübergehende Gleichwertigkeit mit Putin erreicht. Als jemand, der ein Programm, eine Strategie für die Zukunft anbietet. Aber er wird sie nicht halten können, weil er sich verzetteln und wieder auf das Niveau eines Jawlinski herabrutschen wird, der ja auch einmal eine wichtige Figur gewesen ist.
Jede Ankündigung, Putin 2018 herausfordern zu wollen, ist oppositionell, selbst wenn es Medwedew wäre, der sie vorbringt. Vielleicht erweist es sich als Vorteil, dass einer den Zug verpasst hat. Nawalny hat an den letzten Wahlen nicht teilgenommen, deswegen bleibt ihm das Los der anderen oppositionellen Kräfte erspart, den Misserfolg verantworten zu müssen. Das wird jetzt zu einer Ressource für ihn.
Könnte Nawalny zum alleinigen Kandidaten der Opposition werden?
Dimitri Oreschkin: Grigori Jawlinski hat hier ein Problem, nämlich dass Nawalny zwei bis drei Mal mehr Stimmen holt als er. Einfach, weil er neu ist und Jawlinski alt; ich meine natürlich nicht sein biologisches Alter, sondern dass er im Bewusstsein der Wähler mit den Neunzigern assoziiert wird. Ob er damals Gutes oder Schlechtes getan hat, ob er sich richtig oder falsch verhalten hat, das ist mittlerweile egal. Es ist einfach Schnee von gestern. Und selbst wenn Nawalny dasselbe sagt – obwohl er es härter oder vielleicht konkreter formuliert –, dann steht es für ihn drei zu eins gegen Jawlinski, wie man es auch dreht und wendet. Sowohl Jawlinski als auch Kassjanow sind schon zu lange da und das Verhältnis der Wähler zu ihnen sieht in etwa so aus: „Euch Jungs haben wir schon seit 25 Jahren vor der Nase.“ Nawalny ist neu. Wie er aber diese Karte ausspielen kann, ist eine andere Frage.
Ekaterina Schulmann: Wichtig ist die Unterstützung derjenigen, die über Ressourcen verfügen. Die Opposition ist derzeit nicht in der Lage dazu. Parnas ist von der Bildfläche verschwunden, die Ressourcen von Jabloko liegen in den regionalen Parteiorganisationen, und die konnten bei der letzten Wahl nicht beweisen, dass sie irgendwie Wähler mobilisieren könnten.
Gleb Pawlowski: Natürlich könnte die Opposition ihn unterstützen, nur wird das 2018 niemanden interessieren. Tut es ja auch jetzt schon nicht. Es wäre ein Kampf im Bereich von einem Prozent. Auf die wird es möglicherweise ankommen, wenn die Regierung Nawalny von den Wahlen ausschließt. Doch auch in dem Fall wird die Regierung ihm seine Führungsrolle nicht nehmen können, solange er selbst keine Fehler macht.
Fünf Jahre sind vergangen, seit zehntausende Menschen im ganzen Land auf die Straße strömten, Unzufriedene, die vehement Wahlfälschung anprangerten. Massenproteste – einen ganzen Winter lang. Heute wirkt das wie aus einer anderen Welt. Viele Analysten sehen den Willen, sich politisch zu betätigen, in Russland inzwischen an einem Tiefpunkt angelangt. Einen etwas anderen Blick auf den Zustand des Landes hat Gleb Pawlowski.
Pawlowski galt einst als eine der grauen Eminenzen des Kreml und ist mit seiner früheren Nähe zur Macht eine gewichtige Stimme für die russische Medienlandschaft. Sowohl Jelzin als auch Putin half er als Polittechnologe jahrelang, hohe Zustimmungswerte zu bekommen, fiel später jedoch in Ungnade und wandelte sich zu einem zynisch-kritischen Kommentator seiner Zeit. Einer, der nie aufgehört hat, die Putinsche Politik als inszenierte Welt, als Theater zu sehen und in kühlen strategischen Kategorien zu denken.
Im Interview mit dem Webmagazin Colta.ru erklärt er nun, warum er ausgerechnet dem Jahr 2017 eine neue Politisierung der Gesellschaft prophezeit, was er darunter versteht und was das für ihn mit Putins jüngster Rede zur Lage der Nation zu tun hat.
Beginnen wir mit den jüngsten Ereignissen. Die Rede des Präsidenten vor der Föderalversammlung wird allgemein als „versöhnlich“ eingeschätzt. Worauf ist Ihrer Meinung nach diese demonstrative Neutralität seiner Ansprache zurückzuführen?
Die Programmrede enthielt nichts von dem, was man angstvoll erwartet hatte; sie wurde als versöhnlich und beruhigend empfunden. Es war aber auch keine Rede zur Lage der Nation. Wenn der Präsident die Situation nicht eskalieren lassen will, wendet er sich nicht an sein Land, sonst würde seine Rede extrem ausfallen. Putin möchte vorerst dem populistischen Expansionstrend, den er selbst vorgegeben hat, nicht mehr folgen. Also hören wir am Rednerpult eine „Botschaft seines Redenschreibers“.
Da erinnert er plötzlich an das Exportpotential der Landwirtschaft, obwohl dieses Thema schon zehn Jahre alt ist. Ich hatte früher schon, 2010 war das wohl, geraten, in der Propaganda auf Russland als neuen Agrarexporteur zu setzen, doch hatte der Kreml sich das damals nicht getraut. Oder er spricht ausführlich von der High-Tech-Branche. Das ist gut, wenn man nicht vergisst, dass die digitale Wirtschaft und Kommunikation schon seit fünf Jahren staatlicherseits bombardiert wird. Die hätte man einfach nur nicht stören dürfen. Jetzt braucht man wirklich viel Haushaltsmittel, um dem Verwundeten wieder auf die Beine zu helfen.
Putin sucht Themen, die niemandem wehtun, die nicht spalten – und dabei stellt sich heraus, dass er fast alles umschiffen muss. Denn in der Politik gibt es keine wichtigen Themen, die konfliktfrei wären, und das ist auch ganz normal: Das Land politisiert sich. Aber dann fragt man sich: „Worüber schweigen wir heute eigentlich?“
Mussten die Eliten beruhigt werden, angesichts der „Korruptions-Show“?
Ja, die Rede sollte den Grad ihrer Politisierung reduzieren. Es politisieren sich ja gerade die Eliten – über repressive Injektionen und das Gezeter bezahlter Aktivisten. Wem aber gibt Putin die Anweisung, sich zu beruhigen? Jenen, die provozieren, oder jenen, die schon provoziert wurden? Auf jeden Fall hat der Präsident keine einzige direkte politische Direktive ausgegeben, die einen Kurswechsel verlangen würde. Über die Rede verteilt gab es eine Menge Andeutungen, ohne dazugehörigen Adressaten. Im derzeit bestehenden Block-System des Regimes sind alle steuernden Zwischenelemente zerstört worden; für alles ist Putin zuständig. Wie soll er sich da verhalten? Also versucht er, die Politik Russlands diskursiv zu korrigieren, wobei er lediglich das Repertoire der Termini und Timbres seiner Phrasen ändert. Das ist eine sehr schwache Einflussnahme. Dafür wird die Zuständigkeit der höchsten Instanz auch dort gewahrt, wo es an der Zeit wäre, andere entscheiden zu lassen.
Der hellen Aufregung nach zu urteilen ist der Fall Uljukajew das wichtigste Ereignis der politischen Saison. Wie interpretieren Sie die Verhaftung?
Wir erörtern endlos nicht-politische Ereignisse als politische Zeichen. Noch trauriger ist, dass wir ausgerechnet jene Bilder diskutieren, die man uns auf dem monopolisierten Markt des Verkäufers aufschwatzen möchte. Wir trauen uns nicht, sie nicht zu kaufen, wir schlucken oder kauen sie, jeder was er kann. Worum geht es denn im Fall Uljukajew? Schauen Sie: Der Fall wurde von Anfang an wie eine Premiere im Theater vorbereitet, was der Präsident auch völlig unzweideutig über seinen Pressesprecher erklärt hat. Die Vorbereitung lief ganz nach den Regeln des Theaters: Bühnenbild, Inszenierung und Reaktionen der Kritiker wurden im Vorfeld genau durchdacht. Wenn wir über solche Sachen reden, reden wir in Wirklichkeit von nichts Politischem. Das sind sklavische Diskussionen. Inhaltsleerer Tratsch über das Leben der Herrschaften.
Putin sucht Themen, die nicht ins Fleisch schneiden, die nicht spalten – und dabei stellt sich heraus, dass er fast alles umschiffen muss
Wir hoffen wie immer, dass uns das etwas über den inneren Aufbau und Zustand des Kreml sagt.
Die erklären uns nur, was sie erklären wollen. Wenn Sie im Theater sitzen, erfahren Sie auch nichts über das Leben hinter den Kulissen. Die Dramaturgen des Kreml betreten nicht die Bühne. Es gibt hier auch kein gesellschaftliches Interesse, da es ja keine öffentliche Politik gibt. Die Sache ist nach dem gleichen Prinzip aufgebaut, wie die Politsendungen im Fernsehen: Da hat man ein Fenster, in das man zwar reinschauen, in dem man aber nichts ändern kann.
Andererseits lässt sich die Technik diskutieren, mit der das bewerkstelligt wurde. Wie der Präsident und Oberste Befehlshaber des Landes über ein halbes oder ganzes Jahr hinweg aus irgendeinem Grund die Abhörprotokolle der Telefongespräche seines Ministers gelesen, ihn aber nicht entlassen hat. Das allein vernichtet das Vertrauen in die Angelegenheit, ganz gleich, wieviel Schmiergelder Uljukajew genommen hat. Diese Falle, die nach allen Regeln des Theaters gebaut wurde, macht die ganze Geschichte rechtlich gesehen irrelevant. Wir diskutieren, was Uljukajew bei Rosneft gemacht hat, obwohl die Bedeutung dieses Konzerns bis ins Absurde hochgespielt wird. Rosneft heute, das ist einfach ein staatliches Super-YUKOS.
Auf welche Weise ändert die weltweite Wende zum Rechtspopulismus die Lage Putins auf der außenpolitischen Bühne? Schließlich hat er als einer der ersten diesen Trend aufgegriffen, als er nach den Ereignissen um die Krim begann, „im Namen des Volkes“ zu regieren.
Der Erste ist nicht unbedingt auch Herr der Entwicklung. Putin war gut, solange das liberale Establishment den Mainstream in der Welt bildete. Wenn Trump zum Mainstream wird, dann ist Putin überflüssig.
Es ist ja schön und gut, ein krasser Macher zu sein, wenn rundum nur Warmduscher zu finden sind. Aber was soll man tun, wenn auch alle anderen Machos sind – und du nicht mehr alle mit deinem Geld beeindrucken kannst. Das ist wie mit unserer Ukraine-Politik, wo nur raffgierige Gruppen geblieben sind, die alle dringend Geld haben wollen. Bezeichnend ist auch der Präsident der Philippinen, der sich mit Liebesgestöhn an uns schmiegt, wo doch klar ist, dass er einfach nur Kredite braucht.
Mit Trump öffnet sich ein Fenster der Möglichkeit, unsere Politik, die im Sumpf feststeckt, zügig wieder auf Kurs zu bringen. Populismus als Trend eröffnet die Gelegenheit, eine Sache schnell durch eine andere zu ersetzen. Aus der Ukraine-Geschichte sollten wir möglichst herauskommen, doch wird uns das nicht leicht gemacht. Es gibt nichts, womit wir ein Spiel zwischen den USA und der EU beginnen könnten, weil wir uns auch mit Europa zerstritten haben und Asien uns nur ausnutzt. Wenn wir mit Maria Sacharowa weiterhin das Universum verlachen und den Nationen ins Gesicht spucken, wird man wohl kaum mit uns verhandeln wollen. Das europäische Establishment wird nicht verschwinden – es wird von einer alten Kultur und einem System gut regulierter Volkswirtschaften getragen und sich weder Putin noch Trump beugen.
Der Präsident hat über ein halbes oder ganzes Jahr hinweg die Abhörprotokolle seines Ministers gelesen, ihn aber nicht entlassen. Das vernichtet Vertrauen in den Fall Uljukajew
Also ist der Sieg von Trump gar nicht so sehr ein Triumph für Putin?
Im Kreml war man lange nicht mehr so glücklich wie nach dem Sieg von Trump. Diesen armen Würstchen kommt der Sieg wie der ihre vor, doch beweist das nur, wie inadäquat sie sind. Denn wer Trump auch immer sein mag, er bleibt der Anführer der stärksten Volkswirtschaft und der Oberbefehlshaber der stärksten Armee der Welt. Er wird uns nicht folgen, nicht hinter uns hergehen, sondern über uns hinweg. Leute wie Trump wenden sich schnell ab, sobald jemand nicht mehr von Nutzen ist.
Trump hat Russland als Symbol gebraucht, um die Präsidentenwahlen zu gewinnen. Er hat sein Spiel gegen das gesamte Establishment in D.C. gespielt. Da brauchte es ein Symbol, das ihn als Feind Washingtons kenntlich machen würde und dabei den Wählern gleichgültig wäre, sie nicht spalten würde. Russland ist dem amerikanischen Wähler völlig egal. Trump wusste aber sehr wohl dass er die Demokraten in Washington mit Russland reizen würde wie eine klappernde Konservendose am Schwanz einer Katze – so hat er hat die Demokraten aufgeregt, zur Freude seiner Wähler.
Wenn der Kreml aber unvorsichtig wird und anfängt, andauernd die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wird er wieder zu einer bequemen Zielscheibe der Weltöffentlichkeit. Dann würde Russland wieder die gleiche Rolle zuteil, die es im amerikanischen Wahlkampf hatte, nur eben für alle – inklusive der Populisten. Das wäre eine sehr gefährliche Lage. Es würde uns selbst von jenen wenigen Freunden und Verbündeten isolieren, die noch geblieben sind.
Wenden wir uns wieder der Innenpolitik zu. Selbst wenn die Verhaftung Uljukajews ein vereinzeltes, gut inszeniertes Schauspiel ist, so haben wir doch in letzter Zeit eine ganze Reihe von Strafverfahren gegen Gouverneure, hochgestellte Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden und so weiter erlebt. Werden gerade die Spielregeln verschärft?
Beginnen wir damit, dass ein Vergleich mit der Zeit vor 2012 sinnlos ist. Die dritte Amtszeit Putins stellt eine Verletzung seiner eigenen, selbst auferlegten Regeln dar. Er hat jene Erwartungen enttäuscht, die er selbst formuliert hat. Das erfolgte ab Sommer 2012. Der Prozess gegen Pussy Riot begann, das Dima-Jakowlew-Gesetz wurde verabschiedet; so etwas wäre zuvor unmöglich gewesen. In der gleichen Zeit gab es auch den ersten Versuch, ein Antikorruptions-Theater aufzuführen, den Fall Serdjukow. Es wurde allerdings schnell klar, dass man nicht jeden X-beliebigen als Zielscheibe nehmen kann. Das Motiv der Gaunerei hätte die gesamte Führungsschicht mit hineingezogen; dazu war Putin aber noch nicht bereit.
Dann ging es weiter bergab. Eine grundlegende Veränderung gegenüber der Situation von 2012 bestand – insbesondere nach der Geschichte mit der abgeschossenen Boeing – in dem Aufkommen einer komplexen, nun schon auf ein weltweites Publikum ausgerichteten Medienmaschinerie. Plötzlich gab es das Ziel, mit den inneren Angelegenheiten auf eine internationale Bühne zu treten. Im Kreml begann man, weltweit um Publikum zu kämpfen. Sie spielten dafür auf sämtlichen verfügbaren Klaviaturen: Russia Today, Soziale Netzwerke, eine affilierte Klientel in westlichen Parteien von unterschiedlich starkem Gesindel. Das ist der Testlauf einer strategischen Maschine, die bereits nicht mehr „intern“ bleiben konnte. Die Wirtschaft wurde dem Aufbau eines globalen Mega-Einflusses geopfert.
Die Anti-Korruptions-Verfahren sind eines der Content-Programme jener Maschine, die um eine innere Mehrheit kämpft. Schnitt und Montage werden fortgeführt, mit dem Content wird es allerdings, soweit ich das absehen kann, Probleme geben.
Die Anti-Korruptions-Verfahren sind eines der Content-Programme jener Maschine, die um eine innere Mehrheit kämpft
Die politische Aufgabe besteht heute darin, eine Bevölkerungsgruppe zu erfassen und sie danach zur entscheidenden zu erklären. Bei uns redet man gern von „Mehrheit“, dabei haben doch die Wahlen im September gezeigt, dass die Krim-Mehrheit nicht einmal wirklich zu den Wahlen geht und umso weniger zu weiteren Schritten bereit ist. Die sind nicht willens, Krieg zu führen, ja nicht mal als Statisten wollen sie agieren. Die Mehrheit wird heute von Schauspielergruppen dargestellt, Bikern, Kosaken und Experten im Fernsehen. Das sind alles eindeutig Minderheiten. Es gibt überhaupt keine Mehrheit. Und je kleiner die Mehrheit, umso wichtiger sind diese Aktivisten, die vorgaukeln, dass es sie gebe.
Aktuelles politisches Moment ist, dass die Regierung versucht, den Grad der Aggression im Land zu reduzieren, weil es schwieriger geworden ist, es zu steuern. Und dann erscheint es dem Regime aber wichtiger, Uljukajew hinter Gitter zu bringen, als das Land mit Signalen zu beruhigen, dass man in Sicherheit sei. Dabei ist nicht einmal die Regierung in Sicherheit, und sie regiert auch nicht, sondern wartet einfach ab, wie das alles enden wird.
Und inzwischen wird das Land kollektiv von Rosneft, dem FSB und dem Sicherheitsrat regiert?
Nicht im Kollektiv. Jeder für sich, und nicht das ganze Land. Je nach Zuständigkeiten der Apparate hat jeder seinen Kontrollbereich. Insgesamt ist es ein kunterbuntes, fragmentiertes System. Sogar der Duma fällt etwas zu: Sie ist kein Parlament, kein Repräsentationsorgan, überhaupt keine Macht, und doch beschließt sie die Gesetze. Von denen einige mit der Konstruktion einer Maschinerie zu tun haben werden, die der Bevölkerung Geldstrafen abpressen soll, um dem Staatshaushalt die Erdöleinnahmen zu ersetzen.
Das besagte neue Wirtschaftsmodell.
Eher ein neues Fiskalmodell. Die Speisung dieses Modells funktioniert auf dieselbe Weise wie früher. Einen unfertigen Staat, in dem den Bürgern unternehmerisches Engagement und Sicherheit genommen und das Privateigentum in den Untergrund abgedrängt wurde, können Sie nicht auf Steuereinnahmen umstellen. Die Bürger können Ihnen keine Haushaltsgrundlage über Steuern verschaffen, das sind einfach Mittel um Haushaltslöcher zu stopfen. In reichen Regionen wie Moskau ist das Prinzip einfach: Sie haben eine gewisse Summe vor uns verheimlicht? Macht nichts – dann nehmen wir halt 200 Rubel [etwa 3 Euro – dek] fürs Parken. Das geht, solange es massenhaft verborgene Einkünfte gibt, die die Bürger nicht deklarieren.
Was kann das System tun, um den Druck zu verringern und die Steuerbarkeit zu erhöhen?
Der Druck im System steigt, es wird zunehmend schwächer. Man kann sich verschiedene Entwicklungsszenarien vorstellen. Eine erste Variante wäre, den Druck mit Mitteln des Systems selbst zu senken, und zwar über die formal verfassungskonformen halbautoritären Strukturen.
Zum Beispiel bei den Wahlen – könnte man nicht wenigstens auf Gemeindeebene die Ventile öffnen? Nein, nicht mal das, dem kommt die irrationale Angst vor Wahlen in die Quere. Eine Regierung, die aus einer Fügung bestimmter Umstände hervorgeht, behält diese für immer in Erinnerung und fürchtet sich vor deren Wiederholung. Die Sowjetmacht hat nie das bekämpft, woran sie zugrunde ging, sondern die ohnehin zahlenmäßig irrelevanten antisowjetischen Untergrundorganisationen – weil sie selbst aus dem Untergrund kam. Die heutige Regierung ist aus Wahlen hervorgegangen – zwar aus populistisch moderierten, aber öffentlichen. Also hat sie Angst vor Wahlen und agiert mit Verboten, Filtern und Sperren ohne Ende. Aber es gibt Wahlen – und Möglichkeiten, die Interessen bestimmter Gruppen in Szene zu setzen, gibt es ebenfalls.
Eine zweite Variante wäre, eine fieberhafte Wirtschaftsaktivität in Gang zu bringen. In irgendwelchen Branchen einen Aufschwung mittelgroßer Betriebe zu erzeugen, mit Steuerbefreiungen und bereitgestellten Kreditsystemen. Hier stellt sich dann sofort die Frage: Und wer kontrolliert das? Und wenn etwas schiefgeht?
Als Versicherung scheint unserer Staatsmacht der durchschaubare Mensch zu dienen. Wenn kein durchschaubarer Mensch im Plan vorkommt, dann hält man den Plan für gefährlich. Wobei der durchschaubare Mensch selbst absolut nichts durchschauen muss.
Das jüngste Beispiel dafür ist die Ernennung von Jewgeni Sinitschew vom FSB zum Gouverneur von Kaliningrad. Dieser Mann erklärte aufrichtig, er habe von Amtsführung keine Ahnung, das sei ihm zuwider. Er plagte sich lange damit, scharenweise rannten sie ihm die Tür mit irgendwelchen Handelsprojekten ein, mit Schmiergeldern, und er bekam es mit der Angst zu tun, hielt alles für Provokation. Man erbarmte sich, er wurde abgelöst.
Dasselbe bei Nawalny: Einmal zum durchschaubaren Menschen erklärt, und der Kreml hält an ihm fest. Sollte das System ihn verlieren, befürchtet es, überhaupt nicht mehr zu durchschauen was passiert. Wobei ich überzeugt bin, dass Nawalny keine geheimen Abmachungen mit dem Kreml hat.
Wir befinden uns in so einer Übergangszeit, wo eine Möglichkeit zu politischem Handeln entsteht. Wer als erstes auf diese öffentliche Fläche hinaustritt, riskiert zwar viel, kann dafür aber einen Platz darauf einnehmen. Der Kreml beeilt sich, der erste zu sein. Stellt sich die Frage: Wessen Interessen kann er vertreten? Nach 20 Jahren gibt es nach wie vor keine Antwort darauf. Über Fürst Wladimir den Heiligen kann man endlos philosophieren, aber wessen Interessen sind das bitte? Wenn das System auf diese Frage keine Antwort findet, wird es nach Putins Abgang einfach fortgeblasen. Bis zu einem gewissen Grad ist ihnen das klar.
Es braucht eine Koalition von Interessen, keine erschlagende Fernseh-Mehrheit. Das wird ein schwieriger und gefährlicher Übergang, und er hat schon begonnen.
Für die Beantwortung dieser Frage muss man verstehen, welche Interessen man im Spezialoperations-Modus überhaupt vertreten kann, wie im Fall von Rosneft.
Ja, die Technik der Spezialoperationen sind ein Störfaktor. Eine Spezialoperation darf von den anderen nicht durchschaut werden – sobald jemand dahinterkommt, ist es vorbei. Unverständliches kann keine breite Koalition um sich versammeln. Uljukajew wurde verhaftet, und die Beliebtheitswerte stiegen um drei Prozent, hurra. Und weiter? Wo wollt ihr euch diese drei Prozent hinstecken? Wächst dadurch das BIP um drei Prozent oder gehen drei Prozent als Freiwillige nach Syrien? Nein, das ist einfach eine Selbstbeweihräucherung der Staatsspitze. Ich sah, frohlockte und wies mit dem Zeigefinger durch den Bildschirm: „Pass bloß auf, Alter – ich hab 90 %!“ Dieses alte Schema des Mythos hat bis auf einen kurzfristigen Kitzel keine Wirkung mehr.
Das russische Regime ähnelt in gewisser Weise der Antike: Es ist eine Welt der Mythen. Wie konnten erwachsene Menschen, die Griechen, die mathematische Überlegungen anstellten, an Zeus glauben? Genauso wie wir jetzt an Putins Beliebtheitswerte glauben. Es gibt ein mythisches Band: Umfragen und Wahlen. Auf keines von beiden kann man verzichten.
Die Wahlen demonstrieren, dass es keine Alternative gibt, und zwischen den Wahlen gibt es Umfragen, das sind ja mythische Wahlen, und die zeigen, dass es auch keine Alternative geben wird. Vom Volk ist das völlig losgelöst, so ist die Struktur des Mythos. In die kann man reingezogen werden, aber irgendwann funktioniert sie nicht mehr.
Es würde reichen, Fragen zu stellen, die den Mythos durchkreuzen. Nur ein Geisteskranker kann behaupten, es gäbe keine Kandidaten auf die Präsidentschaft. Gibt es etwa keine Minister im Land, keine Gouverneure, keine Führungspersönlichkeiten auf nationaler Ebene? Sogar Setschin, Belych oder Kirijenko könnten genauso gut wie Putin regieren. Selbst auf der kürzesten Liste ließen sich auf Anhieb fünfzig Kandidaten finden. Dass es keine Alternative zu Putin gibt, ist ein Märchen aus der entpolitisierten Welt.
Angeblich gibt es das Bedürfnis nach einer starken Hand, deren Rolle Putin übernommen hat.
Das ist kein Mythos mehr, sondern Propaganda. Was ist das für eine starke Hand, und was kratzt sie? Hat sie etwas importsubstituiert? Hat sie das gespaltene Volk der Ukraine irgendwohin geführt? Sehen Sie sich den unglückseligen Donbass an – da sehen Sie die Taten der starken Hand. Schluss mit den Luftschlössern. Putin ist tatsächlich kein untalentierter Leader, aber er hat ein Problem: Er hat sein Programm, den ihm möglichen Teil erfüllt, komplett. Er hat gemacht, was er konnte, und jetzt denkt er sich aus, was er noch tun könnte. Und wenn er noch 20 Jahre an der Macht bleibt, denkt er sich weiter irgendwas aus, solange es noch materielle Ressourcen gibt.
Worin bestand denn das Programm, mit dessen Umsetzung er die ganze Zeit beschäftigt war?
Ein Minimum an fiskaler und polizeilicher Ordnung im Land. Die Wiederherstellung des Vertrauens der Bevölkerung in den Staat, freilich auf sehr niedrigem Niveau. Der Kaukasus. Seine Macht fußt auf einer Entpolitisierung bei gleichzeitigem „bonapartistischen“ Manövrieren zwischen Eliten und Volk. Die Entpolitisierung war die Basis von allem, ein Konsens zwischen der Bevölkerung und allen Kräften, die im Jahr 2000 zur Mannschaft gehörten.
Entpolitisierung des Landes bedeutete die Entfernung von Konflikten aus der Öffentlichkeit. Sie haben einen Konflikt mit jemandem? Kommen Sie bitte in unseren Empfangsraum, zur Besprechung. Putin war Moderator unzähliger solcher Geschäfte, bis er genug davon hatte. Dieser Ansatz war für etliche Dinge bequem, stieß aber gegen eine Wand zunehmender Komplexität. Das Land war zu komplex geworden und die Konflikte zu kompliziert. Sollen wir denn bis in alle Ewigkeit damit beschäftigt sein, zu entscheiden, welche Interessen die richtigen sind und welche nicht? Die Antwort ist durch die Abschaffung unabhängiger Parteien und politischer Kräfte von der öffentlichen Bühne bereits gegeben. Dann zog sich alles in die Länge. Zerstört hat diesen Konsens Putin selbst – durch die Rochade und dann durch die Krim, indem er im Land eine Atmosphäre des Kampfes für eine mobilisierte Mehrheit und der Suche nach virtuellen Feinden schuf.
Dieses Jahr wird, glaube ich, die Frage nach den Aufgaben des politischen Moments aufwerfen. Das bisherige Spiel Staat jenseits der Politik haben wir eindeutig hinter uns gelassen. Insofern befinden wir uns wieder in einer politischen Zeit. Es läuft ein Prozess des Auftauens, der Politisierung einer Welt nicht anerkannter Interessen. Dazu gehören neue Subjekte, die wir einfach nicht kennen. Als politisches Subjekt kennen wir nicht mal Setschin: Bisher ist er ein latenter Player, ein Gesicht, das auf einen Sack Dollar gemalt ist. Aber sie alle werden unweigerlich an die Oberfläche gelangen.
Und die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, lautet: Wo ist das Programm der nächsten Präsidentschaft? Damit sollten wir uns das ganze nächste Jahr auseinandersetzen, nicht mit Putin. Es sind keine Debatten in Sicht, obwohl sie nicht verboten sind. Die Frage geht also an die Gesellschaft. Die Politiker können sich nicht durchringen, auf die Bühne einer Übergangszeit zu treten. Die denken: Wenn Putin geht – dann beginnt die Übergangszeit. Aber das ist eindeutig ein Fehler. Der Zug ist schon losgefahren, wir müssen herausbekommen, wohin die Reise geht.
Ich hatte erwartet, dass wir das früher herausbekommen würden, rund um die Wahlen im September. Hätten wir auch, wenn in der Duma ein oder zwei neue Fraktionen entstanden wären, aber das war nicht der Fall. Also schlägt der Prozess einen anderen Weg ein. Wer tatsächlich als erster die Bühne des Übergangs betreten und sich, ohne vernichtet zu werden, ihrer bemächtigen wird – ich weiß es nicht. Aber wir treten in eine Periode ein, in der wir nicht nur nicht umhinkommen, politisch rechts und links zu definieren, was bisher kaum etwas bedeutet, sondern auch die Sprache zu verfeinern, auf der wir sprechen.
Das politische Feld wurde all die Jahre niedergebrannt, und jetzt …
Jetzt rollt eine Menge mit Verbrennungen davongekommener politischer Krüppel heran, die wir inzwischen geworden sind. So, wie die Debatten geführt werden, ist es nicht möglich, eine Seite zu finden, der man sich anvertrauen kann.
Es gibt Bürgergemeinschaften – die konnten nicht völlig zerstört werden, weil sie nicht allzu eifrig in die Politik drängten, mal abgesehen von Menschenrechtsorganisationen. Aber ob die Zivilgesellschaft als Repräsentant der Nation auftreten kann, weiß ich nicht. Auf dem vergangenen Allrussischen Bürgerforum wurde erstmals anerkannt, dass die Zivilgesellschaft nicht nur eine Liste von NGOs ist und kein Ghetto für eine Handvoll Wohltäter und Umweltschützer. Jetzt ist klar, dass die Zivilgesellschaft gleichbedeutend mit der politischen Nation ist. Sie besteht aus lauter Gemeinschaften. Russland besteht aus lauter Minderheiten, die sich zu Interessensbündnissen zusammenschließen werden. Daher wird es Konflikte unterschiedlicher Intensität geben, nicht nur mit der Regierung.
Wird die Post-Putin Ära noch unter dem jetzigen Präsidenten beginnen?
Ja, sie läuft schon. Deswegen ist es ja so schwierig, derzeit politisch und historisch den eigenen Standpunkt zu bestimmen. Die Post-Putin-Ära zeichnet sich durch einen Zuwachs an Unbestimmtheit aus. Sogar Putin versucht, in ihr seinen Platz zu finden.
Mit Donald Trump als designiertem neuen US-Präsidenten betritt im Januar ein Mann die internationale Bühne, der schon vor der ersten Amtshandlung das Credo „Make America Great Again“ ausgab. Wie er die USA in den alltäglichen Regierungsgeschäften führen wird, ist bisher allerdings unklar. Ebenso, welche Rolle das Land innerhalb der Nato und im Verhältnis zu Europa einnehmen wird – und damit in Syrien-Krieg und Ukraine-Konflikt.
Von Russland aus betrachtet sehe diese neue Situation schon klarer aus, glaubt Andrej Kolesnikow, politischer Analyst beim Carnegie-Zentrum Moskau. Zumindest ein bisschen. Denn neuerdings befinde sich Russland gewissermaßen unter Gleichgesinnten, schreibt er in dem oppositionellen Wochenblatt The New Times. Aber was hieße das für ein Land, das sich bisher eher als geächteter Außenseiter positionierte? Und was wird dann aus alten Feindbildern? Skizze eines komplizierten Ausblicks.
Brexit, Sieg von Donald Trump, Erfolg des Putin-Freunds Francois Fillon bei den Vorwahlen (und höchstwahrscheinlich auch bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich 2017) – nach all diesen Ereignissen fühlen sich Putin und seine Eliten beinahe wie Trendsetter der neuesten Innen- und Außenpolitik: „Wir haben’s euch ja gesagt! Und ihr wolltet nicht auf uns hören! Also, bitte sehr, da habt ihrs!“
Festung plötzlich ohne Feinde
Einerseits hat sich das äußere Umfeld für Russland tatsächlich verändert. Andererseits lassen all diese Veränderungen völlig unerwartet eine grundlegende, ungeschriebene Doktrin erodieren. Eine, auf der die Post-Krim-Konsolidierung der Putinschen Eliten beruht: die Doktrin der belagerten Festung. Der Westen übt Druck auf Russland aus, führt einen Informationskrieg, die NATO nähert sich Russlands Grenzen, und wir verteidigen uns, sichern die belagerte Festung, erweitern ihre Grenzen, führen gerechte Kriege, ergreifen innerhalb der Festung Nationalverräter und rücken um den Kommandanten dieser Festung eng zusammen, sprich um den Anführer der Nation.
Ein solches Modell, das noch zusätzlich mit geistigen Klammern und Mythen wie den 28 Panfilow-Helden umrankt ist, hat nicht nur für die Konsolidierung der Eliten, sondern auch für die Bereitschaft von 70 Prozent der Bevölkerung gesorgt, eine selbstzerfleischende Politik von Gegensanktionen zu unterstützen (laut Angaben des Lewada-Zentrums eine der stabilsten Zahlen in soziologischen Erhebungen).
Doch wenn wir unterdessen selbst die Trends in der Weltpolitik setzen – vor wem soll man sich dann noch schützen? Die belagerte Festung wird von Moos bewachsen und der Festungsgraben wird zum Sumpf mit Seerosen.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bemühte sich Putin, in einer Reihe mit George Bush junior und Tony Blair zu stehen und nach ihren Regeln zu spielen. Aber weltpolitischer Anführer nach westlicher Art zu werden, klappte nicht. Mittlerweile ist er weltpolitischer Anführer auf seine Art. Und diese Art hat der Westen gekauft. Dort, im Westen, verkauft Putin erfolgreich Ängste – und im Inland Drohungen. Jetzt ist ausgerechnet er der Hügelkönig.
Das für alle hässliche (aber für uns hübsche) Entlein Donald (Trump) passt perfekt zu den Bestrebungen von Russlands oberstem Politiker: #DonaldTrumpNasch, #FillonNasch, alle rechten (na, und die linken) Populisten gehören uns. Putin ist weltpolitischer Anführer. Was will man mehr? Mit wem soll man noch kämpfen?
Trump kann Erwartungen auch verfehlen
Nun ja, erstens hat sich die Post-Krim-Mehrheit nicht nur durch äußere Kriege konsolidiert. Innere Kriege mit der Fünften Kolonne, mit der Opposition, mit korrupten Liberalen (und Generälen ebenso – der Silowiki-Teil des Systems reinigt sich selbst) können genauso effektiv das eigene Ansehen heben. Zumindest bis zur Wahl 2018.
Zweitens ist noch nicht völlig ersichtlich, ob sich die breit verkündete Trumpisierung der demokratischen Welt als stabiler Trend erweist, der das Putinsche Russland vom Geächteten zum Trendsetter macht.
Sollte Trump dann mit einem Mal doch nicht die Erwartungen der russischen Führung erfüllen und Europa in seiner politischen Ausrichtung und in der Frage der Sanktionen solidarisch bleiben, sollte die Haltung der NATO für die westliche Welt weiterhin Konsens bleiben, dann wird die Frustration im Putinschen Russland äußerst heftig ausfallen. Es gibt nichts Schlimmeres als zu hohe Erwartungen. Trumps Amerika gegen Putins Russland – das wäre eine abenteuerliche Unternehmung mit offenem Ergebnis.
Wenn wir nun über wirklich langfristige Trends sprechen, darf man außerdem nicht vergessen, dass alle Schlüsselländer der westlichen Welt Demokratien sind. Der Rechtspopulismus muss nicht von Dauer sein. Immerhin gehen Wahlen im Westen bisher noch nicht nach russischem Schema vor sich: Das Pendel des Wählervotums kann komplett in die andere Richtung ausschlagen. Wer weiß schon, wie lange sich dieser neue Politikertyp erfolgreich und stabil an der Macht hält.
Muss Putin sich neu erfinden?
Begehen wir nicht einen Fehler, wenn wir die aktuelle Tendenz der Trumpisierung auf die Zukunft hochrechnen? Selbst wenn man außer Acht lässt, dass die Faktoren, die diese Tendenz bedingt haben (das Verlangen nach Politikern neuen Typs, Migrationsströme, Terrorbedrohung), keineswegs verschwunden sind. Es ist ohne Zweifel ein Test für die Demokratie westlichen Typs, wobei ihre institutionellen Grundlagen stark genug sind, daher ist anzunehmen: Sie wird diese Regierenden al là Trump mittel- und langfristig verdauen.
Kurzum, die Konturen der Außenwelt, in der sich die Putinsche Regierung fortan bewegt, beginnen gerade erst, sich abzuzeichnen. Bisher gibt es keine Klarheit darüber, worauf die Akzente des bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampfes für 2018 gesetzt werden und wie es mit der Suche nach neuen und alten Feinden aussieht, mit denen gekämpft werden muss, damit sich die Massen stabil um ihren Anführer scharen. Klar ist nur, dass Putin den Eliten mögliche Antworten auf die neuen außenpolitischen Herausforderungen aufzeigen muss, um sie davon zu überzeugen, dass er die Situation unter Kontrolle hat. Sonst könnte man ihn aus innen- wie außenpolitischen Gründen nach 2018 als „lahme Ente“ wahrnehmen. Und dann jemanden suchen, der eine klare und deutliche Antwort auf die neuen Herausforderungen formulieren kann.
Er füllt Clubs und Konzerthallen zuverlässig: Musiker und Rüpel Sergej Schnurow mit seiner Ska-Punk-Band Leningrad. Er ist das Aushängeschild des russischen Undergrounds. So sehr, dass Schnurow eigentlich schon wieder kein Underground ist: Weil er zu den beliebtesten Musikern in Russland zählt. Jedenfalls für die Menschen, bei denen er mit seinem exzessiven Schimpfwortgebrauch – in Russland ist so etwas ein absolutes Tabu – den Ton für ein Lebensgefühl trifft. Und das seit knapp 20 Jahren. Wie schafft er das, fragt sich Jan Schenkman in der Novaya Gazeta? Ein Porträt.
Angst, blöd rüberzukommen, kennt Schnurow nicht, das ist ihm schon lange scheißegal. Seit vielen Jahren sagt er immer dasselbe, verändert nur die Form, aber mit ihm zu reden, ist immer wieder interessant. Der Bandleader von Leningrad versteht es wie sonst niemand, die kompliziertesten Dinge auf das Wesentliche zu reduzieren. Jede Antwort ein Aphorismus, wie der Refrain: „Nüchtern bin ich ein Leningrader, betrunken ein Petersburger.“
– Wovor haben Sie am meisten Angst?
– Ich habe manchmal Anfälle absoluter Furchtlosigkeit. Das macht mir Angst.
Eine blitzschnelle Reaktion, aber man sieht sofort, wie müde er ist. 2017 feiert Leningrad Jubiläum – 20 Jahre. Nach wie vor macht es Schnurow Spaß, Lieder zu schreiben und zu spielen, das gelingt ihm immer noch gut. Aber was er echt nicht versteht: Wieso soll er für das gesamte Gefüge der Welt geradestehen und Fragen zum Thema „Wie gestalten wir Russland“ diskutieren? Warum wählt ihn das Männermagazin GQ mit beneidenswerter Regelmäßigkeit zum Mann des Jahres, und das ganze Land freut sich? Warum ändert sich so lange nichts?
Ganz einfach. Man kann gut und gerne sagen, Russland sei hoffnungslos in den 2000er Jahren stecken geblieben und könne sich nicht davon lösen – und der wichtigste Gestalter der 2000er ist nun mal Sergej Schnurow. Er hat die Tür nach den 1990-ern eigenhändig geschlossen und sich dabei als letzter unter unseren Rockstars eingereiht, obwohl er sich gar nicht als Rocker sieht. Von daher haben viele das Gefühl: Es hatte doch alles so gut begonnen – Grebenschtschikow, Zoi, Schewtschuk – und am Ende dann: Schnur. Haben wir etwa davon geträumt? Sind das nicht Anzeichen von Verfall?
Die Kritik trifft den Falschen. Jede Zeit hat ihre Lieder, und für die Zeit, in der wir leben, hat er ein sehr genaues und feines Gespür. Die 2000er Jahre haben, ganz ihrem Namen entsprechend, alle Werte annulliert und uns von der Pflicht befreit, klug, ehrlich und gut zu sein. Genau das hat auch Schnur getan, noch dazu auf geistig und künstlerisch hohem Niveau. Seine zentrale Botschaft: Ja, so missraten sind wir, aber drauf geschissen, entspannt euch, besaufen wir uns, und komme, was da wolle.
Einen anderen, der es schafft, unsere entzweigerissene, hasserfüllte Gesellschaft zu vereinen, haben wir schlichtweg nicht
Oh, wie euphorisch wir in den Clubs abgetanzt haben! Zu Ljudi ne letajut (dt. Menschen fliegen nicht) und Po kakoj-to gluposti nam wsem moshet powesti (dt. Aus Dummheit kann jeder mal Glück haben).Das war der nächste Schritt nach Mamonows Ja gadost, ja dran, sato ja umeju letat (dt. Ich bin widerlich und dreckig, aber dafür kann ich fliegen!). Nicht mal fliegen war also unbedingt nötig. Ja, so sind wir, na und? Wir können nichts, wir wollen nichts, Hauptsache der Ölrubel rollt, bei Auchan ist Ausverkauf, und ein Türkeiurlaub kostet sowieso nichts.
Er sang: Nikowo ne shalko, nikowo, ni tebja, ni menja, ni ewo (dt. Leid tut einem niemand, nicht du, nicht ich, nicht er). Und wenn einem niemand leid tut, kann man sich alles erlauben. Lügen und Betrügen, Diebstahl und Besäufnis, dumme Weiber und debiles Gerede über Handys und Kohle. Ja, so sind wir.
Klingt fürchterlich, aber man kann es auch anders sagen: Schnurow hat uns erlaubt, wir selbst zu sein und uns darüber keinen Kopf zu machen. Die PR-Agenten von Pelewin, falls sich noch jemand erinnert, haben Unruhe verkauft, Schnur hingegen wirkt trotz seiner Exzentrik tröstlich. „Du kannst damit leben, es als Teil von dir annehmen“, sagte er bei Posner, „und es damit auch ein klein wenig überwinden. Die Energie der russischen Selbstzerfleischung verwandeln wir in eschatologische Begeisterung.“
https://youtu.be/Lq7gJqXobcE?t=14m
Sergej Schnurow bei Wladimir Posner: „Du kannst damit leben, es als Teil von dir annehmen.“
Sein liebster Trick – die Latte so tief zu hängen, dass man gar nicht tief fallen kann. Er identifiziert sich weder mit Großmachtstreben noch mit Antitotalitarismus, weder mit Avantgardekunst noch mit den Klassikern der russischen Literatur, so etwas nervt ihn ernsthaft. Es widerspricht seinem inneren Grundprinzip, sich selbst als schwarzes Schaf zu lieben. Sein Credo: Was auch immer der Mensch aus sich gemacht hat, von seinen Höhlen bewohnenden Vorfahren hat er sich nicht weit entfernt. Egal ob im Beamtensessel, unter der Brücke, auf dem Bolotnaja-Platz oder auf der Baustelle – alle sind gleich und ebenbürtig, wie nackt in der Banja. Niemand ist besser.
Wegen seiner landesweiten Popularität, seiner Ausgelassenheit und seines zwielichtigen Anstrichs wird Schnur oft mit Jessenin und Wyssozki verglichen. Hört man allerdings genau hin, dann ist die Analogie eine andere, nämlich Dowlatow:
„Tolja“, sage ich zu Naiman. „Lass uns doch Lew Ryskin besuchen.“ – „Nein, will ich nicht. Der ist so sowjetisch.“ – „Wie, sowjetisch? Sie irren sich!“ – „Na, dann eben antisowjetisch. Ist doch egal.“
In diesem Sinne ist Schnurow natürlich eine Klammer. Einen anderen, der es schafft, unsere entzweigerissene, hasserfüllte Gesellschaft zu vereinen, haben wir schlichtweg nicht. Dass in seinem Lied37 nicht das Jahr ist, in dem die stalinistischen Repressionen ihren Höhepunkt fanden, sondern lediglich eine Schuhgröße, ist ja kein Zufall. Und es ist auch kein Zufall, dass im Clip zu V Pitere – pit (dt. Piter – das heißt Trinken) ein Verkehrspolizist zuerst in die Newa geworfen wird, und später säuft man dann gemütlich miteinander. Denn eine Uniform lässt sich ausziehen und zu 1937 kann man so oder so stehen, aber Frauen wollen Kleider und Männer wollen Wodka – das wird keine Ideologie der Welt jemals ändern.
Mir gegenüber hat er diesen Gedanken mal anders ausgeführt: Die Band Leningrad stehe für Party und Liebe. Selbst wenn man eins hinter die Löffel bekommt, am Schluss müssen sich alle umarmen. Seine Lieblingsplatte sind die Bremer Stadtmusikanten, und das erklärt einiges: „Wir bringen den Menschen Lachen und Freude.“
Man findet bei ihm massenhaft vulgäres Mat, auch Brutalität und Grobheiten, aber nie Bosheit und Aggressionen. Wissenschaftlich sind schwere Schlägereien bei Leningrad-Konzerten jedenfalls keine belegt. Und selbst wenn etwas passiert, liegen sich am Ende tatsächlich alle in den Armen. Es gibt keinen Grund, einander ernsthaft böse zu sein.
Nur wenige bemerken, dass diese Musik eigentlich sehr warmherzig ist. Die Lippen formen sich von selbst zu einem Lächeln, alle sind glücklich. Das Geheimnis ist einfach: „Ich verspüre keinen Hass auf mein Volk“, sagt Schnurow. „Ich lebe hier, ich bin genau so, und ich bin auch nicht von mir begeistert. Man braucht sich nur nicht über andere zu stellen, dann ist niemand sauer.“
Aber gerade das ist es, was sie sauer macht – die einen wie die anderen: Liberale genauso wie Patrioten. Dass der im Großen und Ganzen harmlose und apolitische Schnur auf einmal so viele aufregt, ist ein zuverlässiges Zeichen für tektonische Verschiebungen in der Gesellschaft.
Folgendes ist passiert: Als er jegliche moralische Ansprüche auf null herunterschraubte und den Leuten ihr wahres Wesen zurückgab, war Schnur sich sicher, dass dieses Ass nicht übertrumpft würde. Für die 2000er Jahre stimmte das auch. In den 2010er-Jahren zeigte sich aber, dass es auch unter null geht. Schnur hat sich nicht geändert, er hat im Grunde getan, was er immer getan hat: Freude verbreitet, den Skomoroch, den Possenreißer gespielt. Ich weiß noch gut, wie bei einer Feier in seinem Betrieb Männer im Smoking und Frauen im Abendkleid einträchtig das Drei-Buchstaben-Wort schrien, das die Aufsichtsbehörde Roskomnadsor verboten hat. Genau das gleiche taten die einfach gekleideten Besucher auf seinen Stadionkonzerten. Und alle waren happy.
Doch dann kam es irgendwie unbemerkt zu einem Aufwallen von Wut. Schnur ist allerdings bis dato überzeugt, dass sich der Shitstorm hauptsächlich auf das Internet beschränkt, während im echten Leben eigentlich alle ganz normal sind. Dass alle, wie Babel schrieb, nach wie vor nur daran denken, ein gutes Gläschen Wodka zu trinken, irgendwem eins auf die Schnauze zu geben, und an die eigenen Pferde – sonst nichts.
Nicht alle. Sonst hätte sein Song mit dem Refrain Ty wse Rossiju proslawljajesch, a lutsche b musor wynosil (dt. Dauernd lobst und preist du Russland, bring doch lieber Müll runter) nicht so viele negative Gefühle hervorgerufen. Ja, sogar die völlig harmlosen Louboutins, die ein Publikum der Bevölkerungszahl Finnlands begeisterten, kamen auf einmal irgendwem sexistisch vor. Die Liberalen motzen: Im Land herrscht Totalitarismus, und er singt von Titten. Nichts anderes als ein Handlanger des Regimes. Und so weiter … Man braucht ja nur Nachrichten zu lesen, um sich ein Bild vom Ausmaß des Unheils zu machen, von der Zerrüttung in den Köpfen.
Nun gut, Schnur hatte ernsthaft gedacht, es sei unmöglich, die Latte niedriger zu hängen als er, aber die Gesellschaft hat sich ordentlich ins Zeug gelegt und das fertiggebracht. Und es ist erstaunlich: der Einzige, der dem entgegensteht, ist er. Er behält seine Position bei, aufseiten der Normalität, und verteidigt diese Normalität nach Leibeskräften. Denn Punk sein bedeutet heute nicht, auf facebook über Russland zu schimpfen und Fotoausstellungen zu demolieren, sondern man selbst zu bleiben und sich nicht dem Irrsinn hinzugeben.
Vier Jahre lang hatte Denis Karagodin gesucht, Schlagzeilen gemacht, viel Unmut erregt. Nun gab er öffentlich bekannt, die Menschen identifiziert zu haben, die seinen Urgroßvater 1938 im Auftrag des Staates ermordet haben sollen. Was er sich wünscht? Dem Töten Namen und Gesichter zu geben, verbunden mit juristischen Konsequenzen, einem Strafverfahren. Etwas, das in Russland im Umgang mit Stalins Großem Terror der 1930er Jahre bisher nicht geschehen ist. Nun ging ein Einzelner los, um das öffentlichkeitswirksam zu ändern, zu versuchen, einem der mehr als eine Million Opfer von damals Täter gegenüberzustellen. Mit der Nennung von Namen – woran sich eine breite öffentliche Debatte entzündet hat.
Historiker und Journalist Sergej Medwedew fragt sich für das liberale Webmagazin Republic: Wieso erfährt der Enkel mit seinen Recherche-Ergebnissen dabei so viel Gegenwind?
„In der Gorochowaja-Straße herrscht Panik …“ Die regierungsfreundlichen Medien in Russland sind in Wallung. Ein Kommando ging durch ihre Reihen: Anzuprangern sei die Studie von Denis Karagodin über die Erschießung seines Urgroßvaters 1938 durch die Tschekisten.
„Die liberal-nationalistische Clique hat seit einigen Tagen einen neuen Helden“, giftet die Föderale Nachrichtenagentur. „Dieser Herr hat eine wahrlich antisowjetische Heldentat vollbracht: Er hat die Namen aller ermittelt, die an der Repression seines Urgroßvaters beteiligt waren.“ Zu den Anklägern gehörten außerdem die Izvestia und die Komsomolskaja Prawda, am weitesten ging jedoch Konstantin Sjomin, Moderator der Sendung Agitprop auf Rossija 24, der geradeheraus sagte, jede Rede von einem Geschichtstrauma sei ein Versuch, den Staat zu zerrütten, und dass der Zerfall der UdSSR mit dem Abriss des Dserschinski-Denkmals begonnen habe.
Was erscheint so besonders an Karagodins Veröffentlichung der Namen jener, die an der Ermordung seines Urgroßvaters beteiligt waren, wo doch allesamt längst tot und die Fälle verjährt sind? Und welche Gefahr soll für das Regime von der jüngst von Memorial publizierten Andrej-Shukow-Liste ausgehen? Hier wurden detaillierte Informationen zu über 40.000 Mitarbeitern des NKWD aus den Jahren 1935 bis 1939 zusammengetragen. Es ist eine Art Wikipedia des NKWD von vor 75 Jahren.
Das Besondere an unserer Situation ist, dass die Gewalt anonym ist, Regime-immanent, in der Gesellschaft aufgelöst wie eine Konstante des russischen Lebens
Im Grunde können diese Informationen nur von akademischem und archivarischem Interesse sein und dürften wohl kaum juristische Folgen haben. Die Eile jedoch, mit der sich die Propagandisten des Regimes daran gemacht haben, die Arbeit von Karagodin und die Shukow-Liste in Misskredit zu bringen, zeugt davon, dass diese Akte des Gedenkens einen wunden Punkt getroffen haben, jene Nadel, mit der im Tod des unsterblichen Koschtschei auch der staatliche Terror seinen Abschluss finden kann.
Das Besondere an unserer Situation ist, dass die Gewalt anonym ist, Regime-immanent, in der Gesellschaft aufgelöst wie eine Konstante des russischen Lebens, so wie das unentrinnbare kalte Klima. Anonym waren die Urteile der Troikas und die Kämpfer der Erschießungskommandos; die Namen der Ermittler und Denunzianten liegen verborgen in den Archiven des KGB.
Nach 1956 galt in der UdSSR ein unausgesprochener Pakt, durch den es zu einem Abtausch kam: Rehabilitierung der Opfer des Stalinismus gegen Entpersonifizierung der Ausführenden des Terrors. Jede Information über die Repressionen hat der KGB sorgsam zensiert. In den persönlichen Akten der Opfer wurden die Namen der Ermittler und Denunzianten geschwärzt, den Angehörigen wurden Akten mit zugeklebten oder herausgerissenen Seiten vorgelegt. Man dachte, der Akt einer Rehabilitierung reiche aus, damit jemand Satisfaktion empfindet: Er hat ja überlebt (alternativ: er wurde zwar erschossen, aber der gute Ruf ist wiederhergestellt), Gott sei Dank. In einer Situation, in der man sich ständig auf der Grenze zwischen Leben und Tod befand, galt ein Staat, der nicht erschießt, schon als großer Segen.
„Gern hätt’ ich sie alle mit Namen genannt“, schrieb Anna Achmatowa in ihrem Requiem. Allerdings wurde nur von einer Nennung der Opfer geträumt, von den Tätern war gar nicht erst die Rede. In der Ära Chruschtschow wurden die Ermittler des NKWD von den Stellen der Staatsanwaltschaft zur Rechenschaft gezogen, die auch mit den Rehabilitierungen befasst waren. Zu tatsächlichen Strafen wurden nur einige wenige verurteilt – überwiegend folgten verwaltungsrechtliche Strafen, Entlassungen, Entzug der Rente, Aberkennung von Rang oder Titel. Nach Angaben des Historikers Nikita Petrow sind bei den Prozessen, die unter Chruschtschow offen gegen Stalins leitende Tschekisten geführt wurden, über Berija hinaus nicht mehr als 100 Menschen zur Verantwortung gezogen worden. Unter Breshnew und Gorbatschow ist dieser Prozess ganz zum Erliegen gekommen. Es wurden zwar einzelne entlarvende Materialien veröffentlicht, etwa über den Ermittler Alexander Chwat, der Nikolaj Wawilow gefoltert hat; oder über Generalleutnant Wassili Blochin, Kommandantur-Chef des OGPU-NKWD-MGB, der persönlich zwischen zehn- und fünfzehntausend Menschen erschossen hat. Doch waren das nur einzelne Fälle, die ohne juristische Folgen blieben.
Täter und Opfer lebten weiter Seite an Seite, begegneten einander auf der Straße oder in der Schlange vorm Geschäft, bisweilen saßen sie sogar beisammen und tranken miteinander (bekannt wurde eine solche Begebenheit mit Juri Dombrowski). Das alles geschah in dem anonymen Raum namens Sowjetvolk. In dessen Mitte klaffte ein riesiges schwarzes Loch namens „Repressionen“ – doch dieser Abgrund wurde von allen penibel gemieden, vom offiziellen staatlichen Bereich bis in die persönlichen Familiengeschichten, wo das Thema sorgsam beschwiegen wurde.
Unterdessen bot dieser Schweigepakt die Gewähr für eine Fortführung des Terrors. Genau wie das Räderwerk der Stalinschen Repressionen anonym arbeitete, so lief auch die Verfolgung der Dissidenten unter Breshnew anonym: Hier war die Maschine der Strafpsychiatrie am Werk.
Heute haben wir es mit der anonymen Gewalt des Systems von Polizei- und Sicherheitsbehörden zu tun, in dem Folter die Regel ist und nur einzelne Fälle an die Öffentlichkeit gelangen, etwa die Folter im Polizeiabschnitt Dalny in Kasan, der Fall Magnitski, der Fall Ildar Dadin. Hunderte anderer Polizeiabschnitte, Untersuchungsgefängnisse und Strafkolonien jedoch bleiben Gebiete der totalen, entpersonifizierten Gewalt.
Täter und Opfer lebten weiter Seite an Seite, begegneten einander auf der Straße, saßen sogar beisammen und tranken miteinander
Wie auch tausende Haushalte in Russland, in denen alltäglich, allstündlich Frauen Opfer häuslicher Gewalt werden (in Russland sterben offiziell bis zu 40 Frauen täglich durch Schläge, und wie viele weitere Todesfälle die Ärzte und Polizisten unter anderen Ursachen einordnen, weiß nur Gott). Häusliche Gewalt gilt in Russland als Regelfall; sie bleibt unerwähnt und anonym, gewöhnlich wird sie nicht angesprochen, nicht der Polizei gemeldet. Und jetzt wird einem neuen Gesetzentwurf zufolge beabsichtigt, sie zu entkriminalisieren, indem sie aus dem Bereich des Strafrechts in den der Ordnungswidrigkeiten überführt wird. Bekannt werden nur Fälle, die in die Sozialen Netzwerke gelangen, wie jüngst in Orjol, als die Polizei sich weigerte, einer jungen Frau zu helfen. Die Beamten versprachen, sollte sie getötet werden, ihre Leiche zu Protokoll zu nehmen – und tatsächlich prügelte ihr Lebensgefährte sie eine halbe Stunde später tot.
Das Problem ist, dass Gewalt in Russland eine sozial anerkannte Norm ist, ein Weg, um Probleme zu lösen und Beziehungen zu klären, ein Mittel der Interaktion zwischen Regime und Bevölkerung, Mann und Frau, Eltern und Kind, Lehrer und Schüler. Genau deshalb brauchen wir eine Entautomatisierung und Entanonymisierung von Gewalt; sie muss beim Namen genannt, genau beschrieben und verurteilt werden.
Unsere Gesellschaft wird erwachsener und beginnt, über Gewalt zu reden. Allein über das Jahr 2016 kam es zu dem Flashmob Ich habe keine Angst zu reden, in dem Frauen erstmals von ihrer als standardmäßig erlebten Erfahrung sexueller Gewalt und Erniedrigung sprachen; zum Offenlegen des Skandals an der Schule Nr. 57 in Moskau, wo erstmals die Namen jener Lehrer genannt wurden, die eine Beziehung mit Schülern eingegangen waren. Zum Abschluss dieses Jahres übergibt der geheimnisvolle Sammler Andrej Shukow, der 15 Jahre lang Dossiers und persönliche Akten von Mitarbeitern des NKWD aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre gekauft hat, noch eine Liste zur Veröffentlichung an Memorial; und dann kommt der furchtlose Philosoph Denis Karagodin aus Tomsk, der vier Jahre lang hartnäckig in den Archiven des KGB die Namen jener Mitarbeiter gesucht hat, die seinen Urgroßvater verurteilt und erschossen haben, bringt alle Namen in Erfahrung und rekonstruiert das gesamte Verbrecherteam, das an dem Mord beteiligt war: Vom Fahrer des Schwarzen Raben und der Schreibkraft beim NKWD bis hin zu Jeshow und Stalin. Wenn Namen genannt werden, dann löst sich die Kette des Schweigens, die Gesellschaft wird von der mafiösen Omertà befreit.
Das ist wichtig, weil die Gewaltkultur in Russland auf zwei Säulen ruht: auf dem Recht des Stärkeren und dem Schweigen des Schwächeren, wobei Letzteres nicht weniger wichtig ist als das Erste. Erinnern Sie sich, wie alle die Frauen angingen, die endlich von den Vergewaltigungen und den Belästigungen sprachen: Die sind doch selbst schuld! Was provozieren die denn so! Ganz genauso spann sich der Pakt des Schweigens um die prestigeträchtige Moskauer Schule, aus der Furcht heraus, das Image der hauptstädtischen Intelligenzija könnte Schaden nehmen.
Noch wichtiger für das Verständnis, welche Komplexe und Ängste in der modernen Gesellschaft Russlands bestehen, ist das „Schweigen der Lämmer“ angesichts ihrer Henker, der Unwille, das Thema Stalins Terror aufzugreifen und durchzusprechen. Nachdem die Shukow-Liste und Karagodins Posts mit den Namen der Mörder im Netz verfügbar waren, folgten umgehend Stellungnahmen, dass man die Vergangenheit nicht schwarzmalen und nicht das Boot zum Wanken bringen dürfe.
Alexander Chinschtein, ehemaliger Duma-Abgeordneter mit Verbindungen zu den Sicherheitsorganen und stellvertretender Leiter von Rosgwardija, erinnerte im Moskowski Komsomolez mit gütigen Worten an die Streitkräfte des NKWD und überschüttet jene mit Kritik, die „unsere jüngere Vergangenheit in Schwarz und Weiß trennen wollen“. Die Journalistin Natalja Ossipowa fürchtet in einer Kolumne in der Izvestia mit dem bezeichnenden Titel Ich fürchte die Gerechtigkeit ebenfalls Enthüllungen und wiederholt dabei die Lieblingsthese russischer Propagandisten der Postmoderne: Jeder hat seine eigene Wahrheit, seine Version der Wirklichkeit, seine Liste der Schuldigen und sein Märtyrologium – und kommt zu dem Schluss, dass „ein schlechter Frieden besser ist als ein guter Bürgerkrieg. Einen Krieg für Gerechtigkeit kann man nicht ohne Barmherzigkeit und Vergebung führen“.
Es kommt die Zeit, da man dem Gesetz folgt und dem Stalinschen Terror und seinen Henkern eine klare juristische Bewertung gibt
Der Aufruf zur Vergebung und Versöhnung zwischen den Nachkommen der Henker und Opfer ist ein typisch russischer Ansatz, die Probleme nicht qua Gesetz zu lösen, sondern über ungeschriebene Normen und Regeln – es ist die Verlagerung der Verantwortung weg von juristischen Formulierungen und Folgen hinein in die nebulöse Welt der Ethik und politischen Zweckmäßigkeit. Der Terror ist in Russland wie eine klebrige Schicht über die Gesellschaft und die Geschichte geschmiert worden, und so scheint es, als wären alle und jeder daran beteiligt, alle und jeder schuldig und unschuldig. Als Heilmittel wird die süße Illusion einer allgemeinen Reue und Vergebung angeboten, eine postapokalyptische Nihilierung der Erinnerung, in der Wolf und Lamm friedlich beieinander weiden, die Nachkommen der Henker und der Opfer sich umarmen, und die russische Geschichte auf einem leeren Blatt neu beginnt.
Karagodin verlagert die Frage nicht auf die ethische, sondern auf die juristische Ebene: Wenn das Regime – seiner teuflischen, quasi-legalen Kasuistik folgend – Menschen umbringt, dann soll es das jetzt qua Gesetz verantworten. Aus der Ungegliedertheit und Subjektlosigkeit des Lebens in Russland hebt er die Namen der Exekutanten und Mittäter des Terrors hervor – und damit ist er gefährlich für ein System, das auf der Anonymität des Terrors und dem Schweigen der Opfer beruht – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart.
Die Wächter des Systems verstehen sehr wohl, dass angefangen mit der Entlarvung toter Täter ein Prozess der Entanonymisierung auch auf lebende Beteiligte am Terror übergreifen könnte – im öffentlichen Bewusstsein taucht sofort die Magnitski-Liste auf und setzt die herrschende Elite schmerzhaft unter Druck (es ist kein Zufall, dass deren Abschaffung als eine der ersten Forderungen Putins gegenüber der neuen US-Führung genannt wurde, hervorgebracht im Oktober 2016).
Zudem ruft das Europäische Parlament zur Verabschiedung einer Dadin-Liste auf, inklusive konkreter Nennung jener, die an den mutmaßlichen Misshandlungen des Aktivisten Ildar Dadin in der Strafkolonie IK-7 im karelischen Segesha beteiligt waren. Einen ähnlichen Weg schlägt Alexej Nawalny ein, der beabsichtigt, gegen Sergej Blinow Klage einzureichen, den Richter am Amtsgericht des Leninski-Rayons im Gebiet Kirow, der den Schuldspruch im Fall Kirowles gefällt hat.
Ganz wie bei Stalins Henkern wäre eine einfache Rehabilitierung der Betroffenen nicht ausreichend. Notwendig wäre eine qualifizierte Bewertung des kriminellen Handelns jeder konkreten Person, die an den Repressionen beteiligt war, und womöglich deren Bestrafung. Doch zeichnen sich nach dieser Logik am Horizont Risiken für das Regime in Russland ab – wegen der Krim, wegen des Fluges MH-17 und wegen des Kriegs im Osten der Ukraine und wegen vieler interessanter Momente der jüngsten russischen Geschichte, die allesamt für sehr viele Bürokraten – bis hin zu höchsten Amtsträgern des Staates – mit juristischen Konsequenzen verknüpft sein könnten. Ganz wie Karagodin Josef Stalin zum Mittäter bei der Ermordung seines Urgroßvaters erklärt.
Genau so, indem man an dem Faden einer einzigen Geschichte über einen 1938 von den Tschekisten ermordeten Getreidebauern zieht, lässt sich allmählich das ganze Spinnennetz aus Anonymität und Lüge auftrennen – und gerade deshalb fürchtet das Regime einen „Karagodin-Effekt“ und lässt seine Propaganda-Hunde auf ihn los.
Für Russland gibt es keinen anderen Weg in die Zukunft als einen juristischen. Zu lange hat das Land sich einer illusorischen Hoffnung von Errettung anvertraut und nach ungeschrieben kriminellen Regeln gelebt (hinter denen meist höchst persönliche Interessen des Regimes stehen und die Sorge um das eigene Fell).
Es kommt die Zeit, da man dem Gesetz folgt und dem Stalinschen Terror und seinen Henkern eine klare juristische Bewertung gibt und in der man deren Rechtfertigung oder Leugnung unter Strafe stellt, genau wie jetzt in den meisten Ländern des Westens die Leugnung des Holocaust unter Strafe steht. Ohne echte juristische Klarheit in Bezug auf den historischen Stalinismus und den politischen Terror wird in Russland kein gesellschaftlicher Frieden möglich sein – weder im gegenwärtigen Regime, noch in nachfolgenden.
Der russische Staatspräsident Wladimir Putin hält im Dezember traditionell eine Jahresrede vor den wichtigsten Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien des Landes, sehr feierlich im prunkvollen Georgssaal des Kreml. Viel hat er in diesem Jahr über die wirtschaftliche Lage des Landes gesagt, aber auch über den Kampf gegen Korruption und Terrorismus. Auf ein Thema, das in den vergangenen Jahren dominierte – die Außenpolitik – setzte er wenige Akzente, kam vor allem auf Syrien zu sprechen, am Rande noch auf die USA, sprach von Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem neuen Präsidenten Trump.
Viel Wert wird gewöhnlich auf das in dieser Rede skizzierte Programm gelegt, es gilt oft als eine zumindest rhetorische Richtschnur für das bevorstehende Jahr. Wie hat die russische Presse diesmal Putins Worte interpretiert? Und müssen es immer die Worte selbst sein, die bei diesem Auftritt wichtig sind? Was wurde nicht gesagt und warum? Sowohl unabhängige als auch staatsnahe Medien haben da ihre Lesarten. Eine Presseschau.
Vedomosti: Putin 1981
Die unabhängige Tageszeitung Vedomosti betont zunächst, dass der Sinn derartiger Botschaften darin bestehe, einen jeweils für notwendig erachteten Ton anzugeben. Nachdem die Kommentatoren eine Reihe von Unstimmigkeiten in der Rede Wladimir Putins aufgezeigt haben – etwa die, dass zwar das Wachsen des Bausektors erwähnt wurde, nicht aber die Tatsache, dass gleichzeitig die Kaufkraft der Wohnungssuchenden sinkt – ziehen sie eine Parallele zum Jahr 1981:
[bilingbox]Solche Reden sind aber – neben allem anderen – auch immer Texte, in denen zwischen all den überzogenen Rechenschaftsberichten, patriotischen Losungen und den schwer realisierbaren Handlungsanweisungen auch ein Moment der Wahrheit steckt. […]
,Eine Stabilisierung, das bedeutet nicht automatisch einen Übergang zu einer dauerhaften Aufwärtsentwicklung. Wenn wir nicht grundlegende Probleme der russischen Wirtschaft lösen, nicht mit voller Kraft neue Wachstumsfaktoren schaffen, dann können wir für Jahre in einem Nullwachstum steckenbleiben. Und das hieße, wir müssten uns ständig einschränken, immer sparen und alle Entwicklung auf ein Später verschieben‘, nahm der Präsident das zur Kenntnis, was vor sich ging. Und korrigierte sich pflichtgemäß: ,So etwas können wir uns nicht erlauben.‘
Die Stagnation wird noch 20 Jahre andauern, das prophezeite vor etwa einem Monat das Wirtschaftsministerium, das bald darauf auf dramatische Weise seiner Führung verlustig ging. An so etwas müssen wir uns nicht neu gewöhnen, denn wir erinnern uns ja: ‚Die Bilanz der Entwicklung der Volkswirtschaft bestätigt auf überzeugende Art und Weise die Richtigkeit der ökonomischen Strategie der Partei. […] Die Intensivierung der Landwirtschaft ermöglichte es, unentwegt den Umfang der Produktion zu steigern. […] Jetzt geht es darum, an der gewonnenen Erfahrung anknüpfend, Hindernisse beiseite zu schaffen, die das Wirtschaftswachstum bremsen.‘ Leonid Breshnew, XXVI. Parteitag der KPdSU, 1981.~~~Послания, ко всему прочему, это текст, в котором среди подтянутых отчетов, патриотических лозунгов и трудноисполнимых поручений всегда есть момент истины. ‚Стабилизация не означает автоматического перехода к устойчивому подъему. Если мы не решим базовые проблемы российской экономики, не запустим в полную силу новые факторы роста, то на годы можем зависнуть возле нулевой отметки и, значит, нам придется постоянно ужиматься, экономить, откладывать на потом свое развитие‘, – признал то, что уже происходит, президент. Но тут же дежурно поправился: ‘Такого мы себе позволить не можем‘.
Стагнация продлится еще 20 лет, предсказывало месяц назад Минэкономразвития, вскоре драматично лишившееся руководителя. Нам не привыкать, мы помним: ‚Итоги развития народного хозяйства убедительно подтверждают правильность экономической стратегии партии […] Интенсификация сельского хозяйства позволила неуклонно увеличивать объем продукции. […] Теперь дело за тем, чтобы, опираясь на накопленный опыт, устранять препятствия, мешающие росту экономики‘. Леонид Брежнев, XXVI съезд КПСС, 1981 г.”[/bilingbox]
Novaya Gazeta: Wahlkampfauftakt
Die Novaya Gazeta sieht in der Rede von Wladimir Putin bereits eine Art frühen Wahlkampfauftakt – im März 2018 soll in Russland ein neuer Präsident gewählt werden. Das sei der Grund für den inhaltlichen Schwenk zur Innenpolitik.
[bilingbox]Zum Glück ist es [in der Rede – dek] dieses Jahr ganz ohne Anspielungen auf die ,schwierige geopolitische Lage‘ abgegangen und ohne Kritik ,an unseren westlichen Partnern‘.
Zum einen reagiert der Präsident darauf, dass die Gesellschaft offensichtlich der außenpolitischen Diskussionen müde ist – gerade wurde eine Umfrage des Lewada-Zentrums veröffentlicht, in der sich 75 Prozent der Russen für eine Normalisierung der Beziehungen zum Westen aussprechen. Es deutet sich aber auch die Suche nach einem neuen Bild Putins an, für den Start der Kampagne im Präsidentschaftswahlkampf, die allem Anschein nach recht bald beginnen dürfte – und um die zu gewinnen, reicht die Krim allein schon nicht mehr aus.~~~К счастью, в этом году совсем обошлось без отсылок к ‚сложной геополитической ситуации‘ и без критики ‚наших западных партнеров‘.
Президент, с одной стороны, реагирует на очевидную усталость общества от внешнеполитических дискуссий — накануне был опубликован опрос Левады, согласно которому 75 % россиян выступают за нормализацию отношений с Западом. Но также здесь намечен поиск нового образа Путина для старта президентской кампании, которая, судя по всему, начнется по историческим меркам совсем скоро — и выиграть ее одним Крымом уже не получится.[/bilingbox]
Rossijskaja Gazeta: Innere Probleme größer als durch die Sanktionen
Im Amtsblatt der russischen Regierung, der Rossijskaja Gazeta, wird dieser innenpolitische Fokus der Rede besonders betont – auch im Kontext der gegen und von Russland selbst verhängten Sanktionen. Die Zeitung hebt zudem hervor, dass der Präsident eine Steuerreform angekündigt hat.
[bilingbox]Mehrere Male sprach das Staatsoberhaupt über die Sanktionen, ‚mit denen man uns dazu bringen wollte, nach einer fremden Pfeife zu tanzen‘. Aber die Hauptursachen für die Verlangsamung der Wirtschaft liegen Putins Ansicht nach vor allem in unseren innenpolitischen Problemen. Es gibt daneben jedoch auch viele positive Momente, in einer Reihe von Branchen ist ein Wachstum spürbar.
In der Wirtschaft braucht es keine abstrakten Szenarien, sondern professionelle Prognosen für die Entwicklung, schloss das Staatsoberhaupt und wies das Kabinett an, gemeinsam mit den Unternehmerverbänden bis Mai einen Plan auszuarbeiten mit einem Zeithorizont bis 2025, dessen Umsetzung es erlaubt, zum Anbruch des neuen Jahrzehnts 2019 bis 2020 ein schnelleres Wachstum als der Weltmarkt zu erreichen.
Außerdem schlug der Präsident vor, im Laufe des kommenden Jahres Vorschläge zum Umbau des Steuersystems zu prüfen, bis 2018 die Korrekturen vorzunehmen, und sie ab 2019 umzusetzen.~~~Несколько раз глава государства говорил о санкциях, ‚которыми нас пытались заставить плясать под чужую дудку‘. Но главные причины торможения экономики кроются прежде всего в наших внутренних проблемах, считает он. Впрочем, много и положительных моментов, в ряде отраслей заметен рост.
В экономике нужны не абстрактные сценарии, а профессиональный прогноз развития, заключил глава государства и поручил кабмину с участием деловых объединений до мая разработать план до 2025 года, реализация которого позволит на рубеже 2019-2020 годов выйти на темпы экономического роста выше мировых.
Также он предложил в течение следующего года рассмотреть предложения по настройке налоговой системы, в 2018 году принять поправки, а с 2019 года ввести их в действие.[/bilingbox]
Tatjana Stanowaja bei Carnegie: Eine Rede aus dem Schwebezustand heraus
Tatjana Stanowaja, Leiterin der Analyse-Abteilung des Zentrums für Politische Technologien,ist überzeugt, Wladimir Putin habe gerade einfach nichts zu sagen, wolle Konkretes bewusst offen lassen. In einem Kommentar für das Portal des Thinktanks Carnegie Moskaumeint sie, er brauche von der Gesellschaft ohnehin nur Vertrauensbekundungen, für programmatische Entscheidungen sei jetzt nicht die richtige Zeit.
[bilingbox]Die konzeptionelle Gehaltlosigkeit der Agenda rührt von zwei Ursachen her. Erstens bleibt der Rahmen von Dialog und Austausch zwischen der Staatsmacht und der Gesellschaft darauf beschränkt, dass der Macht das Vertrauen ausgesprochen wird. Danach wird die inhaltliche Diskussion geschlossen, und der Dialog verengt sich auf die Themen Patriotismus und nationale Würde.
Die zweite Ursache ist die Ruhe der Zwischenzeit. Es steht die Ausformulierung der Wahlkampagne Putins bevor, der sich auf massive Umstrukturierungen innerhalb des Regimes (die werden 2017 bis 2018 unumgänglich sein) und auf eine neue geopolitische Wirklichkeit vorbereitet. Programmatische Entscheidungen zur Entwicklung des Landes sind stets zweitrangig im Vergleich zur Arbeit an Institutionen und Kadern, die noch lange nicht abgeschlossen ist.
Die Programmrede kam zu einer Zeit, als Putin sich eine strategische Pause für die Ausformulierung der weiteren Entwicklungsrichtung des Landes nahm, wobei diese Richtung in vielerlei Hinsicht nicht von ihm abhängen wird.~~~
Концептуальная пустота повестки стала следствием двух причин. Во-первых, узким оставлен предмет диалога между властью и обществом. Взаимодействие между властью и обществом по-прежнему сводится к получению первой мандата доверия, после чего содержательная дискуссия закрывается, а диалог сужается до тем патриотизма и национального достоинства.
Вторая причина – затишье промежуточного периода. Предстоит сформулировать предвыборную программу Путина, готовящегося к крупным перенастройкам внутри режима (а они будут неизбежны на рубеже 2017–2018 годов) и к новой геополитической реальности. Концептуальные решения по развитию страны всегда вторичны по отношению к институциональной и кадровой настройке, которая пока далека от завершения.
Послание пришлось на период, когда Путин взял стратегическую паузу в формулировании дальнейшего вектора движения страны, направление которого во многом будет зависеть не от него.[/bilingbox]
Rosbalt: Zivilgesellschaft an den Tropf holen
Der Kolumnist Sergej Schelin analysiert auf dem Portal der unabhängigen Nachrichtenagentur Rosbalt das Nichtgesagte. Zwischen den Zeilen liest er von einer Verstaatlichung der Zivilgesellschaft und einer Rückkehr zum sowjetischen Staatsmodell.
[bilingbox]Wer dem breiten Publikum berufsmäßig die Präsidentenreden erklären muss, der hat es derzeit nicht leicht. Im 68-minütigen Auftritt Wladimir Putins vor den wichtigsten Menschen des Landes ist so wenig Konkretes, dass den Deutern nichts anderes übrig bleibt, als sich auf die Analyse des Tonfalls zu konzentrieren und sich über den versöhnlichen, beizeiten gar liberalen Ton zu freuen. […]
Wenn man [hinsichtlich eines politischen Tauwetters] alles Gesagte und Nichtgesagte in knappe Worte zusammenfasst, dann lauten diese: Es gibt kein Tauwetter und keinen politischen Aktivismus, nirgends.
Die weitschweifigen Ausführungen über die Förderung von Ehrenamt und Nichtregierungsorganisationen [NGOs] laufen auf eine einzige konkrete Empfehlung hinaus: Die Bürokraten sollen den NGOs für die Durchführungen ihrer Maßnahmen ruhig großzügiger Staatsgelder zuteilen, für die sie (die Bürokraten) sich dann vor ihren Vorgesetzten zu verantworten haben. Mit anderen Worten: Sollen sich die NGOs doch von den Staatsbediensteten aushalten lassen. Über den Kampf mit den ausländischen Agenten wurde dabei nichts gesagt. Also: In dieser Hinsicht bleibt alles beim Alten. […]
In Putins Augen gibt es keine selbständige politische Kraft im Land, und es kann auch keine geben. Es gibt nur den Apparat der Staatsbediensteten, und dem wurde angeraten, sich delikater mit den Untertanen zu gebärden. Diese Ratschläge haben die Generalsekretäre der KPdSU ihrer Nomenklatur Tausende Male erteilt.~~~Тем, кто по роду занятий обязан разъяснять для широкой публики президентские речи, сейчас несладко. В 68-минутном выступлении Владимира Путина перед главными людьми страны настолько мало конкретики, что толкователям приходится концентрироваться на анализе интонаций и радоваться миролюбивому, а местами и либеральному тону. […]
Если резюмировать все сказанное и несказанное на этот [политические послабления] счет в нескольких словах, то они будут такими: никаких послаблений и никакого политического активизма ни на одном участке.
Пространные рассуждения о поощрении волонтерства и НКО подводят к одной единственной конкретной рекомендации: пусть бюрократы щедрее дают НКО казенные деньги на выполнение мероприятий, за которые они (бюрократы) отчитываются перед своим начальством. То есть пусть НКО будут у чиновников на жаловании. О борьбе с иноагентами не упомянуто. Следовательно, на этом участке все будет как было. […]
В глазах Путина какого-либо самостоятельного политического актива в стране нет и быть не может. Есть только чиновничество, которому рекомендовано тактичнее вести себя с подданными. Генеральные секретари КПСС давали своей номенклатуре точно такие же советы тысячи раз.[/bilingbox]
Kommersant: Das Persönliche zählt
Andrej I. Kolesnikow geht in der Tageszeitung Kommersant auf die Form der Erarbeitung dieser Programmrede Putins ein und meint: Hier war klar, es spricht der Präsident – und sein Wort solle allen ein Befehl sein.
[bilingbox]Unseren Informationen zufolge war diese Rede des Präsidenten im Großen und Ganzen etwa vor einem Monat fertig. Danach ging sie direkt an mehrere Adressaten für interne Abstimmungen und Korrekturen. Die Besonderheit dieser Rede besteht darin, dass sie sich nach allen Korrekturen – darunter auch den letzten des Präsidenten selbst – fast nicht verändert hat. Darin besteht, kann man sagen, auch ihre Einzigartigkeit: Normalerweise beginnt jeder, der sich dazu berufen fühlt (und das tun alle), fieberhaft an dem Text zu arbeiten, Änderungen, Korrekturen und Ergänzungen vorzuschlagen, und am Ende bleibt vom Text, der eigentlich allen schon von Anfang an gefallen hatte, fast nichts mehr übrig.
Diesmal erwies sich die Rede frei von diesem ganzen Ballast, nur Wladimir Putin hat im letzten Moment noch einige Korrekturen eingefügt: Er hat, nach unseren Informationen, vor allem noch etwas ergänzt, nicht gekürzt. […]
Dann nahm dieser ganze, recht widersprüchliche Haufen, diese wimmelnde, brummende Masse [im Saal – dek] Platz in ihren Sesseln, und er trat vor ihnen auf, pünktlich, um 12 Uhr, und begann seinen Vortrag. Übrigens: Warum hätte man den Text nicht einfach [ausgedruckt – dek] verteilen können, anstatt eine Stunde auf sein Verlesen zu verwenden? Nein, das wäre unter keinen Umständen möglich gewesen. Allen musste eines klar werden: Das alles sagt er. Das sind seine Worte, und fortan kann man ihm, der sie ausgesprochen hat, keine anderen mehr unterschieben, selbst wenn man das sehr wünscht. Für diese Worte muss Verantwortung übernommen werden, und das muss nicht Putin tun, sondern die, die im Saal sitzen – aber vor ihm, Putin, selbst. […]~~~
Послание президента было в общих чертах готово, по данным “Ъ”, примерно месяц назад. После этого его проект поступил сразу по нескольким адресам для внутреннего обсуждения и корректировок. Особенность этого послания состоит в том, что оно после всех правок, в том числе и окончательных президентских, почти не изменилось. В этом, можно сказать, даже его уникальность: обычно все, кто способен (а способными оказываются все), начинают лихорадочно работать над текстом, предлагать изменения, поправки, дополнения, и в конце концов от окончательного текста, который на самом деле нравился всем с самого начала, почти ничего не остается.
Это послание оказалось избавлено от всех этих хлопот, и только Владимир Путин внес в последний момент еще несколько правок: в основном, по данным “Ъ”, дописывал, а не сокращал. […]
Вся эта противоречивая, кипучая, бурчащая масса устроилась в конце концов в своих креслах в ожидании президента, и он появился перед ними вовремя, в полдень, и зачитал. Почему нельзя было просто раздать, кстати, текст и не тратить на зачитывание час? Нет, ни в коем случае. Надо, чтоб всем было ясно: это сказал именно он. Это его слова, и отныне его, произносящего их, ни с кем не спутаешь, даже если очень захочешь. За эти слова придется отвечать, и не ему, а им, сидящим в зале, причем перед ним же. […][/bilingbox]
Komsomolskaja Prawda: Vor allem Zählen zählt
Beim regierungsfreundlichen Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda wurde während der Rede vor allem eines getan: gezählt. Und zwar wie häufig es Applaus für Wladimir Putin gab – zudem dokumentiert, nach welchen Wörtern das Applaudieren einsetzte.
[bilingbox]Die Komsomolka [Komsomolskaja Prawda – dek] zählte während der 69-minütigen Rede des Präsidenten, dass im Saal zwölf Mal applaudiert wurde. Das hier sind die Themen, auf die im Georgssaal mit Applaus reagiert wurde:
Einigkeit des Volkes
Hilfe für junge Spezialisten
Gründung eines Notfall-Sanitärdienstes
Zentrum zur Unterstützung begabter Kinder
Der Erfolg Russlands – das ist die Entdeckung von Talenten
Arbeit von Nichtregierungsorganisationen
Im Bau sind 85 Millionen Quadratmeter Wohnraum
Erfolg in der Landwirtschaft
Internationale Konkurrenz der russischen Unternehmen
Mächtiger Schlag gegen die Terroristen in Syrien
Dankbarkeit für die Diensttuenden in der Armee, die Russland damit ihre Ehre erweisen
Wir erreichen alle von uns gesteckten Ziele
Den lautesten Beifall gab es, nachdem die Dankbarkeit gegenüber den Soldaten in Syrien ausgedrückt worden war. […]~~~‚Комсомолка‘ подсчитала, что за 69 минут, пока длилось Послание президента, зал аплодировал 12 раз. Вот на какие темы собравшиеся в Георгиевском зале Кремля реагировали апплодисментами:
Единство народа.
Помощь молодым специалистам.
Создание службы санитарной авиации.
Центры поддержки одарённых детей.
Успех России – в раскрытии талантов.
Работа некоммерческих организаций.
В строй введено 85 миллионов квадратных метров жилья.
Успехи в сельском хозяйстве.
Международная конкуренция российских компаний.
Мощный удар по террористам в Сирии.
Благодарность военнослужащим, дорожащим честью России.
Достигнем и решим все стоящие перед нами цели.
Причем, самые громкие апплодисменты звучали после слов благодарности нашим военным в Сирии. […][/bilingbox]
Dies ist eine der eigentümlichsten Episoden aus der Geschichte der russischen Fotografie, und sie ist bis heute noch nicht vollständig erforscht.
Ein junger Mann aus einer St. Petersburger Adelsfamilie begeistert sich für das damals noch junge Fach Chemie. Er studiert bei Dimitri Mendelejew, dem russischen Entwickler des Periodensystems der Elemente. 1889 geht Sergej Prokudin-Gorski („so der Name unseres Helden“, müsste man schreiben, wäre man sein Zeitgenosse) nach Berlin, wo er für zwei Jahre an der Technischen Universität unterrichtet. Zugleich forscht er zur Darstellung der Spektralfarben in der Fotografie und schließt Bekanntschaft mit Adolf Miethe, ebenfalls Chemiker. Miethe hatte eine Technik entwickelt, um mittels dreier übereinander projizierter Schwarzweiß-Diapositive (die Farbfotografie im eigentlichen Sinne wurde erst 1935 von Kodak praxistauglich gemacht) eine vollfarbige Abbildung eines fotografierten Objektes zu erhalten.
1901 kehrt Prokudin-Gorski nach St. Petersburg zurück. Er entwickelt die fotochemischen Methoden weiter, die er in Berlin erlernt hat, und in ihm reift ein Plan heran: Er will die Menschen, Landschaften und Bauwerke Russlands fotografisch dokumentieren – in Farbe. Etwas ähnliches hatten vor ihm nur die Peredwishniki versucht, aber sie waren Maler gewesen, ihre Ausrüstung beschränkte sich auf Palette und Staffelei. Prokudin-Gorski würde mehr benötigen: Die modernste Fotoausrüstung seiner Zeit, zerbrechlich, schwer und voluminös – und eine Menge Geld. Er musste den Zaren für sein Vorhaben begeistern. Dies gelang ihm nicht zuletzt durch ein Portrait des Schriftstellers Lew Tolstoi, das er bei einer Audienz an die Wand projizierte.
Nikolaus II finanzierte ihm ein mobiles Labor, das in einer Pferdekutsche untergebracht wurde und sogar einen Eisenbahnwaggon mit einem zweiten Labor. Und er stellte ihm Dokumente aus, die es ihm ermöglichten, sich auf den geplanten Routen frei zu bewegen – keine Selbstverständlichkeit im damaligen Russland. 1909 machte Prokudin-Gorski sich auf den Weg. Bis 1915 bereiste er das Zarenreich: den Westen Russlands, die Wolga-Gebiete, den Kaukasus, Mittelasien, Teile von Sibirien. Er fotografierte seine Sujets, wie er sie vorfand: Es mischen sich Arbeitsszenen, Ansichten industrieller Anlagen, Stadtpanoramen, Portraits. Insgesamt entstanden so über 3.000 Aufnahmen.
Zur geplanten großen Wanderausstellung seiner Bilder kam es in Russland nicht mehr, bald nach Beginn des ersten Weltkriegs versiegte die Finanzierung. 1917, nach der Oktoberrevolution, musste Prokudin-Gorski das Land verlassen, ging erst nach Norwegen, dann nach London und schließlich nach Paris, wo er 1944 starb. Sein Archiv wurde von der Library of Congress (Washington DC) erworben und ist heute in digitaler Form öffentlich zugänglich.
Die von Adolf Miethe entwickelte Technik, die Prokudin-Gorski verwandte, beruhte auf dem Prinzip dreier verschiedenfarbiger Filterscheiben (rot, grün und blau), die vor drei vertikal übereinander angeordneten Glasplatten-Negativen angebracht waren. Auf diese Weise konnte nur jeweils das entsprechende Teilspektrum des Lichts auf die einzelne Glasplatte einwirken. Während der Aufnahme wurden die Platten eine nach der anderen belichtet.
Zum Betrachten der Bilder existierte ein spezieller Dreifarben-Projektor, der die drei nacheinander entstandenen Einzelbilder, wiederum durch entsprechende Farbfilter, an die gleiche Stelle projizierte, so dass sich ein vollfarbiges Bild ergab.
Diese additive Dreifarben-Fotografie bringt einige Besonderheiten mit sich, so scheint etwa ein bewegtes Objekt in verschiedenen Farben zu schillern – unten in der Fotoserie zu sehen beim Wasser auf dem Bild des Schleusenwärters Karlinski oder auch beim Gesicht eines der Besatzungsmitglieder des Dampfschiffs Scheksna. Hier finden sich weitere technische Details zu dieser längst vergessenen Fotografier-Methode.
Prokudin-Gorski wurde 1863 auf dem Familiengut Funikowa Gora im Gouvernement Wladimir geboren. Mit ihm und seinem Werk befassen sich verschiedene Buchveröffentlichungen, auf Deutsch unter anderem beim Gestalten-Verlag. Ein russisches Internet-Projekt widmet sich der Erforschung seiner Reisen und seines Werks, ein anderes rekonstruiert die Aufnahmeorte und dokumentiert ihren heutigen Zustand im Vergleich zum historischen. Einen Dokumentarfilm auf Prokudin-Gorskis Spuren drehte 2013 der Moskauer Journalist Leonid Parfjonow. Wohl keine andere visuelle Quelle erschließt die Realitäten des späten russischen Zarenreichs mit solcher Unmittelbarkeit wie die Aufnahmen dieses wissenschaftsbegeisterten Forschers und Fotografen.
Oben: Selbstbildnis Sergej Michailowitsch Prokudin-Gorski am Flüsschen Skuritskhali, bei Batumi, Georgien, 1912
Links: Wundertätige Ikone der Gottesmutter Hodegetria in der Mariä-Entschlafens-Kathedrale, Smolensk, 1912.
Rechts: Phelonion aus Seidenbrokat, zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, an der Schulterpartie perlenbestickter karminroter Samt. Im Museum von Rostow Weliki, 1911
Links: L. N. Tolstoi in Jasnaja Poljana, 23. Mai 1908 (der Verbleib des originalen Negatives ist unbekannt, hier handelt es sich um die Reproduktion eines durch Prokudin-Gorski selbst angefertigten dreifarbigen fotolithografischen Abzugs)
Rechts: Arbeitszimmer von L. N. Tolstoi in Jasnaja Poljana, 1908
Links: Im Museum von Borodino. Kugeln und Geschosse aus der Schlacht bei Borodino (1812), 1911
Mitte: Befestigungsanlagen auf dem Schlachtfeld von Borodino, wo ein Denkmal errichtet werden soll, 1911
Rechts: Gemälde von Napoleon, zwischen 1905 und 1915
Dampfschiff Tjumen des Verkehrsministeriums, auf dem Prokudin-Gorski den Fluss Tobol befuhr. Prokudin-Gorski ist auf dem Deck des Schiffes zu sehen, an einem Tisch sitzend, 1912
Links: Bambus-Hain. Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
Rechts: Knurrhahn. Batumi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
Bildredaktion: Nastya Golovenchenko Text: Martin Krohs Veröffentlicht am 01.12.2016
Die Kritik kam schnell nach der Dumawahl im Herbst. Ella Pamfilowa, erst wenige Monate als neue Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission im Amt, solle zurücktreten. Oppositionelle Schwergewichtstimmen wie die von Alexej Nawalny forderten das. Der Grund: Es gab erneut massive Fälschungsvorwürfe. Pamfilowa war angetreten, gerade dem Einhalt zu gebieten. In ihrem ersten großen Interview seit der Wahl vom 18. September verteidigt sie ihre Arbeit nun vehement.
In dem Gespräch mit der unabhängigen Tageszeitung Vedomosti spricht sie über den Umgang mit Beschwerden und Anfechtungen einzelner Ergebnisse in den Regionen, warum sie der Opposition eine Mitschuld an ihrer Lage gibt und über ihre eigene Rolle zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Vedomosti: Was halten Sie für den größten Erfolg Ihres Teams bei den letzten Wahlen, und, andersrum was war der größte Reinfall, die größte Enttäuschung?
Ella Pamfilowa: Über einen Reinfall werde ich gewiss nicht sprechen, denn es war keiner. Der größte Erfolg war, dass es uns in kurzer Zeit gelungen ist, nicht nur die wichtigsten Makel und Mängel des gegenwärtigen Wahlsystems an die Oberfläche zu zerren, sondern auch, einen erheblichen Teil davon bis zum Wahltag zu beheben.
Wenn man die Situation ehrlich und nüchtern analysiert und sie, wie es üblich ist, mit der gesamten Datenlage von 2011 vergleicht, so hat es erheblich weniger Unregelmäßigkeiten gegeben, während die Zentrale Wahlkommission (ZIK) ihnen gleichzeitig erheblich mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat als je zuvor. In mehr als 50 Regionen hat es praktisch keine Beanstandungen gegeben, in den übrigen in unterschiedlichem Maß: In rund 20 Regionen waren sie mittelschwer; in 10 bis 15 Regionen hat es allerdings eine Reihe schwerer Verstöße in den verschiedenen Stadien des Wahlprozesses gegeben.
Ich bin aber zutiefst davon überzeugt und weiß anhand der Datenlage, dass die Zahl an festgestellten Unregelmäßigkeiten das Bild der Wahlen insgesamt in keiner Weise auslöschen konnten.
Niemand hat das mit echten Fakten belegt – die gibt es einfach nicht.
Was wissenschaftliche und alle möglichen anderen Schlussfolgerungen betrifft, so bleiben es unbewiesene Annahmen, die nicht aktentauglich sind; ein Strafverfahren lässt sich daraus nicht stricken. Das heißt jedoch nicht, dass die ZIK sie ignoriert. Die angeführten „Anomalien“ – auch die von Schpilkin – zwingen uns, die betroffenen Regionen schärfer unter die Lupe zu nehmen und die Arbeit der lokalen Wahlkommissionen auf allen Ebenen sachlich eingehender zu analysieren.
Ich habe Schpilkin eingeladen, wir hatten im Vorfeld ein Treffen mit seinen Kollegen vereinbart. Seine Ergebnisse sollten jedoch besser erst dann diskutiert werden, sobald er zum Vergleich auch eine Analyse der gerade abgelaufenen Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten vornimmt.
Was war denn die größte Enttäuschung?
Dass nicht alle meine Kollegen in den Regionen die Botschaft gehört haben, dass anrufen kann, wer will, um zu versuchen, ihnen etwas vorzuschreiben und irgendwelche Prozentzahlen einzufordern, dass aber sie selbst die Verantwortung tragen. Leider haben nicht alle darauf gehört und dem administrativen Druck nachgegeben, so dass es zu Verstößen kam. Leider haben sie nicht in Richtung Zentraler Wahlkommission geschaut und darauf, was der Präsident und die Präsidialadministration erklärt haben: Dass Rechtmäßigkeit und Vertrauen zählen, nicht Prozentzahlen.
Nun, für sie erwiesen sich nun einmal die Spitzen der Regional- und Lokalregierungen als die großen Chefs, die – ausgehend von Firmen-, Lokal- oder anderen Interessen – keinen Versuch ausließen, durch die Wahlen ein mächtiges Parallelsystem zu schaffen, und diese armen Frauen und Lehrerinnen zu zusätzlichem Wahlzetteleinwurf oder anderen Manipulationen zerrten.
Ich spreche hier von den Fällen, die wir aufklären konnten (die meisten dank der Anstrengungen der Zentralen Wahlkommission, die unter anderem auf Kameraüberwachung bestanden hatte).
Meinen Sie nicht, dass klarere Richtlinien der Staatsführung geholfen hätten, dass die Leute sich anders verhalten hätten, die per Anruf Anweisungen erteilten, darunter sogar Gouverneure?
Die Richtlinien haben nur diejenigen nicht gehört, die sie nicht hören wollten. Ich beispielsweise wäre nicht zur ZIK gegangen, wenn ich Zweifel an dem gehabt hätte, was der Präsident öffentlich erklärt hat. Ich habe alle Leiter der regionalen Wahlkommissionen zusammengerufen, und sowohl der Erste stellvertretende Leiter der Präsidialadministration als auch ich haben mehrfach wiederholt: Parallele Anweisungen hinter dem Rücken wird es nicht geben. Aber leider gibt es bei Wahlen oft Interessenkonflikte zwischen dem föderalen Zentrum in Moskau und den Eliten vor Ort.
„Wir haben unglaublichen Widerstand zu spüren bekommen, aufgrund der Kollision der Interessen von Zentrum und Provinzeliten.“
Wie ist die Geschichte mit dem baschkirischen Wahllokal in der Nähe von Ufa ausgegangen? Dort waren Journalisten von Reuters präsent, die Wahlbeteiligung lag im Endeffekt bei 23 Prozent; Jabloko erzielte 8 Prozent und Einiges Russland 34 Prozent?
Für Baschkortostan wurden sehr strikte Maßnahmen beschlossen, nachdem die eingegangenen Beschwerden geprüft waren. Wir haben uns alles vorgenommen: Medienberichte, Meldungen aus dem Internet und sämtliche Beschwerden von Bürgern. Vertreter der ZIK sind dort hingefahren, um alles auf den Tisch zu legen. Insbesondere wurde das untersucht, was Reuters geschrieben hatte.
So wurde in dem Wahllokal Nr. 284 – auf dieses hatten die Journalisten der Nachrichtenagentur aufmerksam gemacht – der Vorsitzende der örtlichen Wahlkommission suspendiert, und zwar wegen Handlungen, durch die die Präsenz von Wahlbeobachtern im Wahllokal eingeschränkt wurde, und wegen Verzögerungen der Stimmauszählung. Das ist aber nur ein Einzelaspekt. Darüber hinaus wurden in Baschkortostan weitere sechs Vorsitzende von Wahlkommissionen entlassen und vier abgemahnt. Kein Verstoß bleibt ohne Reaktion von uns. In nächster Zeit wird ein weiterer Besuch des ZIK in Ufa vorbereitet.
Die Vielzahl von Fällen, in denen Oppositionsparteien für die Regionalwahlen nicht zugelassen wurden, speziell da, wo sie Chancen auf eine beträchtliche Stimmanzahl gehabt hätten – lassen die sich allein mit technischen Gründen erklären?
Ja, es hat bei den Wahlen zu den regionalen Gesetzgebungsorganen solche Fälle gegeben, aber Sie übertreiben eindeutig, wenn Sie hier von einer „Vielzahl“ reden. Wo es eine Grundlage gab, sind wir dagegen vorgegangen. Jabloko in Weliki Nowgorod, Parnas und die Kommunisten Russlands in St. Petersburg, Rodina im Leningrader Gebiet, die Rentnerpartei im Gebiet Murmansk und [der Sekretär des ZK der KPRF Sergej] Obuchow in der Region Krasnodar sind wieder zugelassen worden. Wegen der Ruzkoi-Liste hat die Zentrale Wahlkommission dem Sekretär der Wahlkommission des Gebietes Kursk offiziell das Vertrauen entzogen; die Unterlagen über die von ihm begangenen Gesetzesverstöße wurden der Generalstaatsanwaltschaft übergeben.
Anders gelagert sind Fälle, in denen einige regionale Wahlkommissionen mit Hilfe lokaler Gerichte gegen uns vorgegangen sind, etwa im Leningrader Gebiet und in St. Petersburg. Wir haben einen unglaublichen Widerstand zu spüren bekommen, eben aufgrund jener Kollision der Interessen von Zentrum und Provinzeliten. Das ist ein schwerwiegendes politisches Problem, das die Möglichkeiten der Zentralen Wahlkommission bei weitem sprengt. Alles, was wir herausgefunden haben, wird jetzt systematisiert, damit sich so etwas in Zukunft nicht wiederholt.
Wie lässt sich eine Wiederholung verhindern?
Meine Aufgabe ist es, dem Präsidenten ein objektives Gesamtbild zu vermitteln, wie es sich uns dargestellt hat. An ihm ist es dann, Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen zu treffen. Mir ist klar, dass nicht allein ich meine Analyse vorlege, sondern auch andere. Also wird es darauf ankommen, wer überzeugender ist.
Hätten Sie sich gewünscht, dass mehr Parteien ins Parlament einziehen? Hatten Sie damit gerechnet?
Eindeutig! Je breiter das politische Spektrum, desto besser. Die Zentrale Wahlkommission hat alles denkbar Mögliche unternommen, damit die Parteien maximal vertreten sind. Es ist schade, dass weder rechtsliberale, noch linkspatriotische Parteien in die neue Duma eingezogen sind, aber das heißt nicht, dass man die Hände in den Schoß legen und auf die nächsten Wahlen warten sollte. Auch für die Partei der Macht gibt es keinen Grund, sich zurückzulehnen; sie hat nur dank dem Präsidenten einen solch eindeutigen Sieg eingefahren.
Andererseits kann und will ich das inhaltsleere Gejammer der Verlierer nicht ernst nehmen. Man kann seine Misserfolge ja ewig auf das böse Regime oder die Wahlkommission schieben.
Es würde an ausgesprochene politische Infantilität grenzen, würde man von Pamfilowa unglaubliche Wunder erwarten: dass sich plötzlich all die potentiellen Manipulanten in Reih und Glied aufstellen, salutieren und in einem Anfall von Uneigennützigkeit faire Wahlen durchführen, und die Oppositionsparteien automatisch in die Duma gelangen. Wissen Sie, jeder trägt seinen Teil an Verantwortung. Und da stelle ich die Gegenfrage: Was haben wir nicht getan, was hat die Zentrale Wahlkommission nicht getan? Was hätte ich tun können und habe es nicht getan?
Wir haben Unregelmäßigkeiten aufgedeckt, haben Wahlen annulliert, die Schuldigen bestraft, dreihundert Fälle den Justizbehörden übergeben und für maximale Transparenz des gesamten Wahlprozesses gesorgt. Wir haben die Presse, alle politischen Parteien, einschließlich der Opposition, und auch die Wahlbeobachter angemessen unterstützt; haben denjenigen, die missbräuchlich die Administrative Ressource eingesetzt haben, mit unvermeidlicher Strafe gedroht (Hoffnung hierauf besteht immer noch), die Bearbeitung der restlichen Beschwerden wird mit aller Sorgfalt fortgeführt …
Man sollte nicht nur der Regierung Vorwürfe machen, sondern auch an den eigenen Fehlern arbeiten. Und da gibt es, ehrlich gesagt, noch einiges zu tun. Außerdem muss man lernen, aus einer Niederlage heraus die Grundlage für künftige Siege zu schaffen.
„Ich kann und will das Gejammer der Verlierer nicht ernst nehmen. Man kann Misserfolge ewig auf das böse Regime oder die Wahlkommission schieben.“
So hatte etwa Parnas in Petersburg keine schlechten Chancen, in die Gesetzgebende Versammlung einzuziehen, wenn die Partei insgesamt ihre Ressourcen nicht über die Regionen verstreut, sondern sich auf die Unterstützung ihrer Petersburger Parteigenossen konzentriert hätte.
Und was ist das für eine Opposition, die nur im Gewächshaus gedeiht?
Hatten Administrative RessourcenEinfluss? Das hatten sie. Ein Gouverneur schneidet bei einer Einweihung das Band durch – ist das indirekte Wahlwerbung? Ja – in derartigen Fällen ist die Vagheit der Rechtsvorschriften in vollem Maße ausgenutzt worden.
Nichts ist einfacher, als alles auf die Administrative Ressource zu schieben. Stellen wir uns einmal vor, es gäbe sie nicht. Wären viele Parteien in der Lage, diesen Raum zu füllen? Und womit? Welche personelle Ressourcen hat denn eine Partei, wenn sie aus ihren Reihen nicht einmal genug Wahlbeobachter rekrutieren kann?
Warum brauchte die Regierung eigentlich plötzlich ehrliche Wahlen?
Seit März 2014, nach dem Anschluss der Krim, hat sich die Befindlichkeit der Bevölkerung, das gesellschaftliche Bewusstsein grundlegend verändert, die Beziehungen innerhalb des Landes sind jetzt andere. Als Antwort auf all die drängenden Probleme erlangte bei einem Großteil der Bevölkerung die Frage nach der Sicherheit des Landes größte Priorität; auch Russlands Beziehungen zum Ausland haben sich geändert. Da kam die Staatsführung zu der Überzeugung, dass man diese Wahlen auch ehrlich, ohne Manipulationen gewinnen könne. Außerdem hatte man Lehren aus 2011 gezogen – viele wollen keinen Massenaufruhr.
Wäre denn eine Situation wie 2011 im Jahr 2016 überhaupt möglich gewesen? Bolotnaja, Krise – das wollen die Menschen nicht mehr.
Aber darauf kann man nicht bauen. Wenn die Staatsführung klug ist, dann nutzt sie diese Stimmung nicht aus. Wenn die grundlegenden Interessen der Menschen und ihr gesamtes Problemspektrum, mit dem sie konfrontiert sind, nicht berücksichtigt werden, dann kann das traurig enden. Eine Ressource ist versiegt, und eine neue tut sich womöglich nicht auf, wenn man sich nicht darum kümmert.
Eine neue könnte ein Bürgersinn sein, die Haltung, dass einem nicht alles egal ist. Die Einstellung von Bürgern, die nicht auswandern wollen, die hier leben und Selbstachtung empfinden wollen. Dazu braucht es normale Gerichte, Rechtsorgane, die die Menschen schützen; es braucht gesellschaftliche Institutionen, die sich entwickeln, Feedback und vertikale soziale Mobilität. Ich hoffe, dass es hierfür eine Einsicht, ein Bewusstsein gibt.
Ist die niedrige Wahlbeteiligung ein Zeichen von Gleichgültigkeit?
Ich würde gar nicht sagen, dass sie sehr niedrig war; es war einfach die niedrigste bei Wahlen dieser Tragweite, die es in unserer Geschichte gegeben hat. Und das sollte schon ein wenig beunruhigen. Natürlich wäre die Wahlbeteiligung bei einem Termin Ende September ein klein wenig höher gewesen. Aber war das der entscheidende Faktor?
Wenn im September bei uns Präsidentschaftswahlen stattfinden würden, wäre die Beteiligung, da bin ich mir sicher, auf jeden Fall hoch. Der Wahltermin kann zwar einen Einfluss haben, doch das Entscheidende ist das Interesse für die Wahlen. Und worin besteht das? Es ist Sache der Politologen zu analysieren, ob der Wahlkampf interessant war oder nicht. Laut einigen Wissenschaftlern ist das Vertrauen in Wahlen eindeutig gestiegen. Aber hat es etwas gegeben, was den Nerv der Leute getroffen hat, was sie mitgerissen hat – haben die Leute gefühlt, dass der Ausgang dieser Wahlen ihr Leben bestimmen wird? Waren die Debatten der Parteien spannend? Keineswegs.
Spekulationen über möglicherweise vorgezogene Präsidentschaftswahlen entstehen unter anderem, weil die Ausgaben für die Wahlen [2018 – dek] bereits im Haushalt 2017 berücksichtigt seien. Stimmt das?
Ich wiederhole noch einmal, was ich bereits im September erklärt habe: Wenn die Gelder nicht im Haushalt 2017 veranschlagt worden wären, würden wir nicht schaffen, die Präsidentschaftswahlen zu organisieren; sie sollen ja am 11. März 2018 stattfinden.
Kennen Sie das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen schon?
Nein, ich weiß nicht einmal, wer kandidieren wird. Wissen Sie es?
Alle kennen den Hauptkandidaten. Deshalb interessiert uns Ihre Meinung dazu. Alle sind überzeugt, dass Putin gewinnen wird.
Wenn alle so überzeugt sind, warum fragen Sie dann? Mir persönlich hat Wladimir Wladimirowitsch Putin nicht gesagt, dass er kandidieren wird. Wenn aber alle überzeugt sind – umso besser! Mir persönlich hat niemand etwas gesagt. Merkwürdige Frage. Ich denke eher darüber nach, wie man das hier alles umorganisieren kann, wie man ein System schaffen kann, das in jedweder Situation funktioniert.
„In Bezug auf Ungerechtigkeit und Rechtsverstöße verstehe ich mich stets als Oppositionelle und versuche, Menschen zu verteidigen.“
In Ihrer politischen Karriere fanden Sie sich oft in Opposition zur Regierung wieder, ja sogar als Teil der Opposition. Wie fühlen Sie sich in der Rolle einer staatlichen Amtsträgerin? Warum haben Sie sich bereiterklärt, den Posten an der Spitze der Zentralen Wahlkommission zu übernehmen?
In Bezug auf Ungerechtigkeit und Rechtsverstöße verstehe ich mich stets als Oppositionelle und versuche in jeder möglichen Eigenschaft, Menschen zu verteidigen. Deshalb bin ich immer in Opposition zu denjenigen, die Verstöße begehen. Wenn es seitens der Regierung zu Verstößen kommt, dann spreche ich das an. Das habe ich immer getan. Jetzt bin ich zum ersten Mal seit 1994 im Staatsdienst, seit ich damals zweieinhalb Jahre lang Ministerin war … Seither habe ich keine staatlichen Ämter innegehabt und keinerlei Gehälter vom Staat bezogen, bis 2014, als ich Menschenrechtsbeauftragte wurde.
Warum ich in einen Wechsel in die Zentralen Wahlkommission eingewilligt habe? Weil der Wille des Präsidenten deutlich zum Ausdruck gekommen war, dass die Wahlen fair und transparent sein sollten. Das entsprach meinen Vorstellungen. Ich bin nicht in der Lage, Kompromisse mit meinem Gewissen einzugehen und etwas zu tun, wofür man sich schämen müsste. Deswegen tue ich aufrichtig das, was ich tun muss, wenn auch vielleicht mit Fehlern – ich bin ja auch nur ein Mensch. Ich spüre einen gewissen Optimismus, weil ich inzwischen besser informiert bin, besser die positiven und negativen Seiten des Systems verstehe; mir ist klargeworden, dass man mit ihnen fertig werden kann.
Und Sie glauben nicht, dass man Sie benutzt hat?
Und Sie glauben nicht, dass Sie benutzt werden? Etwa, um behaupten zu können, dass es im Land freie Medien gibt? Wenn man so argumentiert, läuft es darauf hinaus, dass in diesem System alle ohne Ausnahme ihre routinemäßige Rolle ausfüllen und alle, auch die Oppositionellsten aller Oppositionellen, ganz genauso benutzt werden. Wir können das Thema gern noch weiter diskutieren und die Situation ins Absurde treiben.
Wir müssen von der Realität ausgehen und das tun, was zu tun ist. Wenn du glaubst, dass du deinen Beitrag dazu leisten kannst, dass sich die Leute als Bürger wahrnehmen, damit sie verstehen, dass auch von ihnen viel abhängt, dann sollte man das auch tun. Es geht dabei um Rechtsaufklärung und um Erziehung zu bürgerlicher Würde.
Als ich vor vielen Jahren die Bewegung Zivilgesellschaft – für die Kinder Russlands begründet habe, da dachte man nicht an die Kinder und schaute auf uns wie auf Verrückte. Es sind nun viele Jahre vergangen, das System verändert sich langsam. Manchmal weißt du nicht einmal, wann das Korn aufgeht, das du einst gesät hast.
Sie setzen sich weiterhin für Familien ein?
Soweit das möglich ist. Seinerzeit hatte ich zwei Stipendiaten, Waisen aus der Provinz, die an der Schtschukin studierten. Vielen habe ich geholfen, auf ganz unterschiedliche Art … Einmal habe ich sogar einer kinderreichen Familie geholfen, eine Kuh zu kaufen.
Es gab eine Zeit, da musste ich aufgrund meiner Tätigkeit allen helfen. Dann kam der Augenblick, wo ich jenen helfen konnte, denen ich helfen will, die nämlich versuchen, sich selbst zu helfen.
Das Wichtigste ist, dass man von niemandem einen Dank erwartet – und wenn dann jemand doch einmal Danke sagt, darüber ungeheure Freude zu empfinden.
Dicke breitmaulige Katzen, graubetuchte Großmütter oder grienende rosa Schweine nebst verdutzt blickenden Bären – was Wassja Loshkin zeichnet, ist meist das Gegenteil von süß. Wie Kritiker darüber denken, so sagt er, ist ihm herzlich egal, und es bringt ihm eine Menge Geld ein. Seine Bilder werden seit Jahren zigfach im russischsprachigen Internet geteilt, weiterverwendet oder animiert. Eines der ihm ebenfalls zugeschriebenen Motive (ausnahmsweise keine Katze oder anderes Getier, sondern eine Karte, auf der quer über das in Rot getünchte Land geschrieben steht: „Großes wunderschönes Russland“) ist gar mal auf der Liste extremistischer Materialien gelandet.
Dabei scheint Loshkin alles andere als politisch zu sein, wie der Besuch des Kommersant-Dengi in seinem Atelier zeigt. Der Journalist, offenbar ein Fan, zeichnet das Porträt eines Mannes, der zumindest schwer zu greifen ist: ein äußerst ironischer Zeitgenosse, der sich selbst nicht allzu ernst nimmt und doch oft ernst genommen wird. Für seinen Geschmack vielleicht zu oft.
Wenn man Wassja Loshkin anschaut, denkt man eher an einen coolen Hipster als an einen Künstler: sorgfältig getrimmter Bart, trendige Brille. Aber im Atelier ist alles wie es sich gehört – ein kreativer Saustall. Von den Wänden blicken einen finstre Kerle mit Axt in der Hand oder menschenähnliche Hasen und Bären an. Mitten im Raum steht eine riesige Statue aus Plastik: ein Fettwanst mit Flügelchen. Und unter dem Tisch schaut Putin von einem Portrait verurteilend hervor. Loshkin ist fleißig, bald hat er eine Ausstellung in der Neuen Tretjakow-Galerie. Etwa 70 Bilder sollen es sein, aber im Atelier sind nur noch ein paar – es wird ordentlich gekauft: „Ich versuche, ein Bild pro Tag zu malen.“
Manchmal erwachsen die Ideen aus irgendwelchen Wortspielen: Einfach ein Wort ausgedacht, „Schworsche“, sich hingesetzt und ein schweineartigen Sportwagen gemalt. Manchmal ist es genau umgekehrt: Er zeichnet eine Komposition, malt sie aus und klatscht irgendein Wort drauf, fast wie früher die sowjetischen Plakatkünstler: „Arbeit“ – und fertig ist das Meisterwerk!
Gleich an der Tür erfreue ich ihn mit einer Nachricht: „Ich kenne das Geheimnis Ihres Erfolgs!“ Vor drei- bis vierhundert Jahren gab es doch diese Lubok-Bilder, da malten Künstler etwa die Hexe Baba Jaga hoch zu Ross auf einem Krokodil oder Mäuse, die einen gefesselten Kater aufs Schafott schleppen. Die These, er habe die freigewordene Nische des Lubok besetzt, gefällt ihm: „Ja, stimmt, das waren witzige Bilder mit lustigen Sprüchen, die auf dem Markt verkauft wurden: Hatte der Bauer seine Produkte an den Mann gebracht, wurde für das Geld ein Bild erstanden und das Haus damit geschmückt.“
Das Schlimmste für ihn: seine Bilder erklären zu müssen. Als er begann, in Galerien auszustellen, kam er plötzlich mit einer ganz neuen Kategorie von Fan in Kontakt: „Im Internet gibt’s keine Rentnerinnen, und hier kommen sie in Scharen, inspizieren, loben und dann martern sie einen mit Fragen: ‚Was wollen Sie damit ausdrücken? Woher nehmen Sie Ihre Inspiration?‘ Keinen Schimmer, was weiß ich denn woher.“
Als andere Kinder Kosmonaut werden wollten, träumte Wassja Loshkin davon, Schauspieler zu werden. Später in den 90ern, als die Klassenkameraden einen auf Gangster machten, spielte Wassja Punk-Rock: „In den Liedern ging es um Tod und Teufel – kein düsterer russischer Rock, sondern Klamauk mit leichtem Hang zum Wahnsinn. Und das ist irgendwann in Malerei übergegangen.“
Er nahm mehrere Anläufe zum Malen. 1996 fand er auf der Müllhalde eine Rolle Zeichenpapier und machte sich daran, krankes Zeug zu malen – Folter, Mord, ausgeweidete Leichen. Seine Bekannten beeindruckte das nicht. Also machte er einen Abschluss in Jura, um dann keinen einzigen Tag als Jurist zu arbeiten. Er saß ohne Geld da. Anfang der 2000er Jahre versuchte er sich dann in sujethafter Ölmalerei. Und schließlich „verwirklichte er sich in Katzen“. Er hatte ein Bild auf LiveJournal hochgeladen und jemand kaufte es für 3000 Rubel [100 Euro – dek]. Von da an pinselte er Kater wie am Fließband.
Der Preis hängt vom Schwierigkeitsgrad ab: Ein kleines Bild mit zwei Figuren kostet 40.000 Rubel [knapp 600 Euro – dek]; ist das Bild größer und sind mehr Figuren drauf, verdoppelt oder verdreifacht sich der Preis. Gekauft wird in ganz Russland: „Ins Ausland verkaufe ich nicht. Unsere ehemaligen Landsleute wollen zwar gern etwas kaufen, aber die haben da oft ziemlich wenig Geld. Außerdem muss man Bescheinigungen besorgen, dass es sich bei dem Bild nicht um ein Kulturgut handelt …“
Das ist eine ernste Sache: Kunsthistorikerinnen fortgeschrittenen Alters versammeln sich, begutachten das Bild, wiegen den Kopf: wertvolles Kulturgut oder nicht? Meistens fällt das Ergebnis unerfreulich für den Künstler aus. Aber Wassja braucht die Wertschätzung der Kritiker nicht:
„Von den Malern mag ich Schischkin. Wald, irgendwelche Flüsschen – einfach schön. Außerdem mag ich Sawrassow und Aiwasowski. Also alles, was in einer sowjetischen Kindheit in den Wohnungen hing. Meine Bilder sind genauso – in erster Linie was fürs Auge. Hier zum Beispiel: Bären telefonieren mit einem Clown, der oben auf einem Baum hockt. Die Bären lächeln, der Clown hat Angst. Natürlich hat das auch einen Sinn, aber darüber denke ich nicht nach. Mir ist wichtiger, das Auge zu erfreuen.“
Ziel seiner Kunst, so der Maler, sei, dass einer das Bild sieht und „Woah!“ sagt. Dass ihm die Sicherungen durchbrennen und er vor Lachen weinen muss. Er sagt, der beste Ort für seine Bilder seien Büros, zu schade, dass nicht alle Unternehmen das so sähen.
Alle seine Figuren haben denselben Prototyp – als Vorlage dient immer er selbst: „Wenn ich irgendeine Fratze malen muss, dann ziehe ich sie und male sie ab. Mittlerweile schaue ich nicht mehr in den Spiegel. Die sind doch alle gleich bei mir und wandern von einem Bild aufs nächste. Ich kann ja gar nicht malen.“ In Zeiten, wo sich jeder, der eine Vase zeichnen kann, Künstler nennt, besticht Wassja mit Bescheidenheit: Kann ich nicht, weiß ich nicht, darüber denke ich nicht nach. „Ich kämpfe ständig gegen meinen Hochmut, damit ich von der Seite nicht wie ein Idiot aussehe.“
Mit seinem Leben ist er außergewöhnlich zufrieden, mit der Epoche eigentlich auch: „Ich habe noch nie so gut gelebt wie jetzt, auch finanziell gesehen.“ Nennt ihn jemand Kämpfer gegen das Regime, ist er sichtlich überrascht, macht aber keine Anstalten, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. „Kaum postest du etwas im Internet, geht’s auch schon los: Krim, Putin, Ukraine, Misulina – jeder schreibt, was ihn bewegt. Die Leute sind gerade verrückt nach Politik, das ist das Pop-Thema schlechthin. Wir können nicht über Neurochirurgie reden. Aber wie man Russland retten soll, das weiß jeder.“
Dass jeder in seinen Bildern etwas Eigenes sieht, hat einen großen Vorteil: Jeder kann etwas mit ihnen anfangen. Aber es hat auch Nachteile: Ständig werden ihm fremde Ideen angedichtet, manchmal sogar fremde Bilder. Seine Bilder haben sich längst in ein „Do it yourself“-Bastelset verwandelt: Man macht in Photoshop Collagen aus ihnen und alle glauben, Wassja Loshkin hätte das gemalt. Auch beim Bild „Großes wunderschönes Russland“, das auf der Liste extremistischer Materialien gelandet ist, herrscht Unklarheit über den Urheber. Man findet im Internet verschiedene Versionen. Das lässt ihn ruhig schlafen.
Auch ohne Politik findet er das Leben interessant genug. Er hat nicht einmal feste politische Überzeugungen: „Ästhetische habe ich: Ich bin orthodoxer Stalinist. Mir gefällt die Antithese ,Wir und die‘. Wir sind die Lichten, Guten, Wunderschönen, und die haben da Schwule, Lesben, Ausländer.”Bei dem Einwand, unter Stalin hätte er wohl kaum solche Bilder malen können, lacht er: „Ich hätte das gleiche gemalt! Ich bin doch Opportunist. Dann wären es eben Bourgeois, Faschisten und Kapitalisten mit solchen Gesichtern gewesen. Den Bourgeois male ich ja jetzt auch.“ Seine Bilder sind zeitlos, denn er malt nie zur Tagespolitik: „Merinow und andere Karikaturisten machen das, was hier und jetzt ist. Bei mir ist alles ewig. Mystik, ein Appell an den innersten Zustand der Seele. Hier zum Beispiel…“, Loshkin bleibt neben einem Bild stehen, es trägt die Aufschrift: Nur durch Glauben, Liebe, Arbeit und Medizin können wir die schlimme Krankheit Homosexualität besiegen. „Dieses Bild ist neulich bei Facebook aufgetaucht:
Zwischen dem Künstler und seinen Fans klafft ein tiefer Graben des Missverstehens: „Meine Bilder sind in Wirklichkeit gar nicht böse. Und die stopfen sie auf Teufel komm raus mit Politik voll – malen die ukrainische oder die DNR-Fahne rein und geben diese tollen Meisterwerke der Kunst als meine Arbeit aus. Es gab mal diese Talkshow NTWschniki, die haben eine fürchterliche Collage aus meinen Bildern zusammengeschnippelt, um das Studio zu dekorieren. Darin haben sich dann zwei Gruppen – sogenannte Russophobe und Patrioten – versammelt und angefangen zu streiten. Plötzlich zeigt Anton Krassowski auf diesen Schund aus Äxten und schreit: ‚Sogar Wassja Loshkin hasst Russland!‘ Mir blieb fast die Luft weg, als ich das sah: Ey, du mieses Schwein! Oder dieser Trickfilm, der gerade im Netz kursiert. Der Macher ist auf meine Webseite gegangen, hat 400 Figuren ausgeschnitten, das Ganze animiert und einen 40-minütigen Trickfilm unter dem Motto ‚Das finstere Russland‘ daraus gemacht. Stellen Sie sich mal vor, was für eine Arbeit das gewesen sein muss. Der Typ hat sie doch nicht alle. Ich hab mal reingeschaut – du meine Güte! Und überall steht ‚Wassja Loshkin‘ drunter.“
Der Künstler wird nicht müde zu betonen, dass sich seine Bilder an das Herz richten, nicht an den Verstand: „Die Bilder berühren eine Saite der Seele. Eine gute! Heutzutage sind die Menschen in Liberale und Patrioten gespalten. Sie hassen einander, und dann sehen sie mein Bild und allen gefällt es. Mag sein, dass sie durch mich keine Freunde werden, aber ich spinne einen dünnen Faden zwischen ihnen. Eine gottgefällige Tat.“
Höhenflüge in Traum und Wirklichkeit
Wassja Loshkin ist ein Pseudonym. Irgendwann hat sich Alexej Kudelin mal unter diesem Namen im Internetforum von Solnetschnogorsk registriert und ihn später zu LiveJournal mitgenommen. Mittlerweile hat er sich daran gewöhnt, dass man ihn damit anspricht: „Ein Kumpel von mir, der Petersburger Künstler Kopeikin nennt mich Wassja und ich ihn Kolja. Obwohl er eigentlich Oleg heißt und ich Alexej.“ Berühmt fühlt er sich seit etwa fünf Jahren: Sogar seine Mutter hat sich einen Facebook-Account zugelegt und liked die Kunst ihres Sohnes.
Vor drei Jahren ist er mit seiner Familie nach Jaroslawl gezogen. Hier gefällt es ihm sehr: alte Häuschen, ruhige Uferstraßen, alles ist langsamer und sicherer als im Großraum Moskau. Wenn politisierte Fans ihm etwas von Emigration ins ferne Ausland erzählen wollen, wird er fuchsig: „Wohin soll ich bitteschön? Mir haben schon die 300 Kilometer nach Jaroslawl gereicht! Alle hatten versucht, mich davon abzuhalten: Bist du verrückt geworden? Da gibt’s Junkies und ‘ne Farbenfabrik. Und überhaupt: Ich bin Russe und muss hier leben. Auch wenn es pathetisch klingt.“ Russland liebt er, weil es groß und schön ist und Seele hat. Die Natur mag er – die Wälder, Flüsse und Felder. Würde er irgendwo unter Palmen leben, würde er sofort anfangen zu trinken.
Zugegebenermaßen hat er auch hier mal gesoffen. Da gab es so eine Phase in seiner künstlerischen Laufbahn. „Ich hab gesoffen wie ein echter Alki, nicht wie so’n Amerikaner.“
Aber es gibt Dinge, die um einiges interessanter sind als der Suff: Er träumt davon, ein Panorama im Stil der Schlacht von Borodino zu machen, nur mit mystischem Sujet, dass zum Beispiel Engel und Dämonen miteinander kämpfen. Die Leute sollen da reingehen und völlig durchdrehen. Außerdem spielt er in der Band Ebonitowy kolotun [dt. Ebonit-Schlotterei]. Zu den Konzerten kommen rund 50 Leute. Kann ja nicht jeder ein Rockstar sein. Dafür mag sein Kind die Musik vom Papa immer mehr, will ständig, dass er sie beim Autofahren anschaltet. Ist das etwa nix?
Kurzum, nun lebt er das ruhige Leben eines rechtschaffenen Mannes und nicht einmal die Frage, was sein wird, falls seine Kater beginnen sollten, die Leute zu langweilen, kann ihn beunruhigen: „Ich denke mir ja selbst, dass die Kunden bald die Nase voll haben werden davon. Dann werde ich Schauspieler. Ich hatte letztens mein Debut im Gogol-Center in einem Stück mit dem Titel Achtung, F. Das sind mehrere Novellen über Frauen: Mutter und Tochter, Ehefrau und Geliebte, Arzt und Patientin, irgendwelche Leidensgeschichten. Und ich war die männliche Figur, die verbindet – Vater, Ehemann, Geliebter, und sogar ein Kater. Die Rolle war eher klein, aber ich hab gut gespielt und man wird mich wieder fragen. Ach, wär ich doch jünger, es ist ziemlich anstrengend, für die Proben zwischen Moskau und Jaroslawl zu pendeln.“
Außerdem hat Wassja noch ein UFO gesehen – ein riesiges Dreieck aus Licht, das direkt über den Dächern schwebte und dann – zisch! – davongerauscht ist in den Himmel: „Der Kosmos ist ja riesig, der passt gar nicht in unseren Kopf. Da kann es alles geben. Aber noch interessanter ist der Gedanke, dass da gar keiner ist, in diesem wahnsinnig großen Kosmos; dass wir die Einzigen sind und der Kosmos selbst uns erschaffen hat, um rauszufinden: Was bin ich denn nun?“
Den Moskauer Ökonomen und Publizisten Wladislaw Inosemzew treibt die Frage um, wie Putin sein Machtsystem in Russland habe aufbauen können. War es wirklich ein Bruch mit der laufenden Demokratisierung des Landes? In einem meinungsstarken Essay für das unabhängige Webmagazin snob stellt er die Schuldfrage und schaut genauer auf die 1990er Jahre.
Immer, wenn sich in Russland oder jenseits seiner Grenzen Verfechter demokratischer und liberaler Ansichten versammeln, drehen sich die Diskussionen um eine der ewigen russischen Fragen: „Was tun?“. Viele Jahre schon findet sich darauf leider keine Antwort. Es gelingt nicht, den „Nerv“ der Sorgen in der Gesellschaft zu treffen, attraktive Losungen zu formulieren und in den eigenen Reihen die Anstrengungen zu koordinieren.
Eine der Folgen ist, dass das Land mit jedem Jahr tiefer in Selbstisolation und Ignoranz abgeleitet und von Militarismus und imperialem Denken durchdrungen wird. Gleichzeitig richtet sich die Aufmerksamkeit demokratischer Politiker nur ganz selten auf die in Russland nicht weniger traditionelle Frage „Wer ist schuld?“ Der Grund hierfür ist meiner Ansicht nach offensichtlich: Die Antwort gilt seit langem als bekannt. Schuld ist natürlich Wladimir Putin und die „verbrecherische Clique“, die sich das Land unter den Nagel gerissen und die Bevölkerung zu fernsehenden Zombies gemacht haben und alles und jeden mit schmutzigen Öldollars kaufen.
Diese Erklärung lässt jedoch einen wichtigen Umstand außer Acht: Das Russland, das sich Putin mittlerweile praktisch zu seinem persönlichen Eigentum gemacht hat, wurde keiner demokratischen Regierung „abgerungen“. Der jetzige Präsident wurde seinerzeit von Boris Jelzin, dem Vater des neuen Russland, „an der Hand“ in den Kreml geführt. Mitstreiter der neuen Regierung waren die Oligarchen, die durch das Marktchaos und die geschickt organisierte Privatisierung der 1990er Jahre am meisten Geld gemacht hatten. Ideologe dieser Politik war damals der Chefliberale Anatoli Tschubais.
Die unbeschränkte Macht, die Putin über den Staat gewann, wurde durch die von Sergej Schachraj und Viktor Scheinis ausgearbeitete „demokratischste Verfassung“ gestützt. Der „nationale Anführer“ selbst wurde als leitender Verwaltungsmitarbeiter im Team des unbestechlichen Volkstribuns Anatoli Sobtschak geprägt, einer der anerkannten Führungspersönlichkeiten der demokratischen Bewegung in der UdSSR. Insofern haben die sich heutzutage über das Leben beklagenden Veteranen des „freien Russland“ Wladimir Putin nicht nur einfach „übersehen“ – sie haben ihn großgezogen und ihm das volle Instrumentarium uneingeschränkter Macht in die Hand gegeben.
Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Demokraten in Russland in den 1990er Jahren eine Lage geschaffen hatten, die ihren Verbleib an der Macht wahrlich unmöglich machte: Zunächst hatten sie Wirtschaftsreformen auf eine Art gestartet, dass die Wirtschaft fast um ein Drittel einbrach und die Hälfte der Bevölkerung sich unterhalb der Armutsgrenze wiederfand. Dann hatten sie beschlossen, die Beziehung zum rechtmäßig gewählten Parlament mit militärischen Mitteln zu regeln. Der nächste Markstein war die himmelschreiend ungeschickte Verwaltung der Staatsfinanzen, die zum Crash und der Rubelentwertung von 1998 führte. Der letzte Tropfen schließlich war die unmotivierte Ablösung der Regierung Primakow, der kompetentesten Regierung, die das postsowjetische Russland hatte – diktiert allein von der Logik eines Kampfes um Macht und Finanzströme.
Mit anderen Worten: Ich glaube, dass der Machtantritt von Wladimir Putin und die nachfolgende Errichtung eines korporativen, autoritären Regimes im Land keineswegs Zufall ist. Die Ursprünge des Putinismus liegen in der Wirtschafts-, Innen- und Außenpolitik des neuen Russland, und zwar von seiner Gründung an – und die Demokraten von heute können allein sich selbst die Schuld für ihre Lage geben.
Auf dem Gebiet der Wirtschaft sollte die Aufmerksamkeit zunächst dem zukommen, was als wichtigstes Verdienst des Regimes der 1990er Jahre gilt: der Privatisierung. Indem sie Großunternehmen praktisch für Groschenbeträge in private Hände gab, festigte die Regierung auf Jahre hinaus ein System im Land, in dem die hausgemachten Oligarchen einen Vorrang gegenüber allen neuen Akteuren erhielten.
Schicksalhafte Ereignisse im Jahr 1993
In der Folge waren im Land nach dem Zusammenbruch der UdSSR eine Erdölraffinerie und eine Zementfabrik gebaut worden; in Metallurgie und Maschinenbau war kein einziges neues Unternehmen entstanden. Selbst die Öl- und Gasförderung war auf dem früheren Niveau stehengeblieben. In China, wo der Staat die großen Unternehmen nicht privatisiert, sondern die Kontrolle über sie behalten hat und dabei eigenen und ausländischen Investoren erlaubte, neue Kapazitäten aufzubauen, arbeiten vier der hundert finanzstärksten Unternehmen überwiegend mit Infrastruktur von vor 1989. In Russland sind es 74. Das begründet auch die fehlende Nachfrage nach neuen Technologien und die „Rohstoffabhängigkeit“.
Im Grunde haben die Demokraten der 1990er Jahren die Initiative russischer und westlicher Investoren nicht dazu genutzt, die Entwicklung voranzubringen: Das Privatunternehmertum wurde zum Instrument einer sozialen, nicht einer volkswirtschaftlichen Transformation. So wurde der gesellschaftliche Reichtum neu verteilt, für dessen Vermehrung aber nicht gesorgt (Letzteres geschah erst in den 2000er Jahren aufgrund der gestiegenen Ölpreise). Im Unterschied zu Russland ist China durch die Reformen, deren zentrales Element in Anreizen zur Schaffung neuer Kapazitäten bestand, zu einer weltweit führenden Volkswirtschaft aufgestiegen. Russland blieb hingegen ein Land, in dem Reichtum vor allem aus einer Umverteilung der Aktiva entsteht (und da der wichtigste Hebel hierfür die Macht ist, war der Einzug des Putinschen Herrschaftsstils somit vorbestimmt).
Zweitens haben sich die russischen Demokraten der 1990er Jahre als gar nicht ganz so demokratisch erwiesen. Nachdem sie bei den ersten freien Wahlen – noch zu sowjetischen Zeiten – gesiegt hatten, taten sie alles Mögliche, um ihre Machtpositionen zu sichern. Einer der kritischen Punkte in diesem Zusammenhang waren die Ereignisse des Jahres 1993. Hier sei einerseits an den lokalen Bürgerkrieg erinnert, ebenso an den Beginn unumkehrbarer Veränderungen im System der Sicherheitsbehörden, die durch die Entlassung von Walentin Stepankow eingeläutet wurden, des einzigen unabhängigen Generalstaatsanwalts der neuesten russischen Geschichte. Andererseits sei auf die Wahlen von 1996 verwiesen: Nur durch eine totale Konsolidierung der politischen und Finanzeliten gelang es, Jelzin im zweiten Wahlgang zu einem Sieg zu verhelfen. Und zwar vor dem Hintergrund einer Reihe deklarativer Schritte – sei es der Vertrag mit den Separatisten in Tschetschenien, der Bildung des Unionsstaates aus Russland und Belarus oder die Palast-Intrige, bei der General Alexander Lebed ins Spiel kam.
Meiner Ansicht nach waren es gerade die Jahre 1993 bis 1996, in denen das „Wüten der Demokratie“ in Russland seinen Abschluss fand: Zum einen wurde eine „superpräsidentielle“ Verfassung angenommen, die dem Staatsoberhaupt praktisch außerordentliche Vollmachten verlieh; die Unabhängigkeit von Staatsanwaltschaft und Verfassungsgericht wurde beseitigt, und es bildete sich eine geschlossene Bürokratie- und Finanzoligarchie heraus, die für den Erhalt des bestehenden Regimes arbeitete. Zum anderen wurde der Akzent der politischen und ideologischen Rhetorik verschoben, von Freiheitswerten in Richtung einer „fehlenden Alternative“ (praktisch analog zur heutigen „Stabilität“), mit Betonung von Souveränität und der Macht des Staates und der Suche nach einer „nationalen Idee“.
Russland hat das Imperiale nicht abgeschüttelt
In jenen Jahren hörte Russland auf, als eine der Zukunft zugewandte Nation wahrgenommen zu werden und ließ die Symbole des vorrevolutionären Imperiums wieder aufleben (Christ-Erlöser-Kathedrale, Bestattung der sterblichen Überreste der Familie des letzten Herrschers im Zarenreich). Es zahlte sogar einen Teil der Schulden der zarischen Regierung zurück. Nach dieser ersten Erfahrung war der Übergang zu einer Apologie des Sowjetischen für Wladimir Putin nicht mehr schwer – schließlich wurde das Ideal da schon nicht mehr in der Zukunft gesucht.
Ich betone noch einmal: Die Alternativlosigkeit der Staatsmacht, die Bereitschaft, mit Gewalt gegen Opponenten vorzugehen, das Verschmelzen von Geld und Bürokratie sowie eine Apologie der Vergangenheit – all diese äußerst wichtigen Grundlagen des Putinschen Regierungsstils waren bereits in den „demokratischsten“ Jahren der neuesten Geschichte Russlands wenn nicht ausgefeilt, so doch angelegt.
Drittens war es durch die „Demokratisierung“ Russlands mit dessen „imperialem“ Anfang keineswegs vorbei. Obwohl die UdSSR zerfallen ist, hat die Russische Föderation de facto nur die Unabhängigkeit der baltischen Staaten anerkannt. Die „gelenkte Instabilität“, die jetzt gegenüber der Ukraine angewandt wird, wurde in Bezug auf viele postsowjetische Länder getestet. Russland war direkt an dem Konflikt in Moldau beteiligt, bei dem „Transnistrien“ entstand; es hat offen den Separatismus in Georgien – auch den adscharischen – gefördert und hat Abchasien und Südossetien direkt unterstützt. Der berühmte Anruf Boris Jelzins bei Eduard Schewardnadse nach dem Attentat vom 9. Februar wies unzweideutig darauf hin, dass Russland auf alle geopolitisch bedeutsamen Entscheidungen im postsowjetischen Raum Einfluss nehmen wollte. Die Annexion der Krim wäre nicht möglich gewesen, wenn die politische Elite in Russland der Bevölkerung nicht schon seit 1994 das Gefühl vermittelt hätte, die Halbinsel sei durch falsche und rechtswidrige Entscheidungen ein Teil der Ukraine geworden.
Einen besonderen Platz auf der Tagesordnung jener Zeit nahm natürlich Tschetschenien ein. Der Krieg dort wurde getreu der Losung von der Einheit des Landes geführt und ließ in vielfacher Hinsicht das Bedürfnis nach einer „harten Hand“ entstehen (während doch zugleich eine Gewährung der Unabhängigkeit Tschetscheniens sicherlich die Kräfte gestärkt hätte, die den Aufbau einer neuen Gesellschaft in Russland anstrebten und nicht einen starken Staat; erinnern wir uns, dass Boris Nemzow zu den wichtigsten Befürwortern einer Beendigung des Krieges zählte; formal war die Unabhängigkeit ja schon zu Sowjetzeiten verkündet worden).
Der Kern der Sache steht fest: Russland hat während der demokratischen Regierungsjahre das Imperiale der Vergangenheit nicht abgeschüttelt und kaum etwas für den Aufbau einer Gesellschaft europäischen Typs geschafft.
Viertens, und auch das ist zu betonen, ist in Russland die Idee von einer Integration mit dem Westen (die Schaffung des berühmten „Europa von Lissabon bis Wladiwostok“) recht schnell „verwelkt“, die in den letzten Jahren der Regierungszeit von Michail Gorbatschow praktisch in den Rang einer Staatsideologie erhoben worden war. Die Regierung hat nicht versucht, einen Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union (die formal seit Januar 1992 besteht) oder zur NATO zu stellen. Das 1994 abgeschlossene Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen Russland und den Europäischen Gemeinschaften hatte grundsätzlich keinen Hinweis enthalten, dass der Wandel in Russland zu dessen Integration in die EU führen könnte. Analysiert man aufmerksam die Auftritte der russischen Führung in den 1990er Jahren, so zeigt sich, dass von 1993 bis 1996 die Ideen von „Zusammenarbeit“ und „Partnerschaft“ an die Stelle eines Konzepts der „Einbeziehung“ in die westliche Welt trat. Das entsprach dem Verständnis der Elite, die den Wert der Souveränität Russlands als äußerst wichtige Grundlage für ihre politische und wirtschaftliche Dominanz über das Land betrachtete.
Wer bringt die Zukunft des Landes?
Ohne den Leser überfrachten zu wollen, möchte ich nun einige Schlussfolgerungen ziehen: Ich gehe davon aus, dass die Russische Föderation nur über einen sehr kurzen Zeitraum die Chance hatte, im Land eine verantwortungsbewusste politische Klasse zu schaffen – ab dem Moment, als (noch im Rahmen der Sowjetunion) eine demokratische russische Regierung agierte, bis Ende 1993. Eine Klasse, die sich an europäischen Werten und europäischer Praxis orientiert, sei es an der Gewaltenteilung oder der Trennung von Bürokratie und Oligarchie. Von 1993 bis 1997 wurde der Regierung bewusst, dass sie sich von überzeugten Demokraten befreien und praktisch um jeden Preis Bedingungen für einen Machterhalt schaffen müsse (es ist bezeichnend, dass sich dieses Bewusstsein am schärfsten, ja fast schmerzhaftesten bei jenen entwickelte, die einen der äußerst wenigen Fälle miterlebten, bei denen ein Lokalfürst die Macht auf demokratische Weise verlor: mit der Niederlage Anatoli Sobtschaks bei den Gouverneurswahlen 1996).
1997 bis 1998 entstanden dann die Grundelemente einer neuen Staatsideologie: Man begann, die Bevölkerung als Stimmvieh wahrzunehmen, das beim Wählen alles Mögliche nutzt, nur nicht den Verstand; das Oligarchat verwuchs mit der Bürokratie; das Bestreben, Elemente eines Ideals in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft zu suchen, und danach, dass sich „Russland von den Knien erhebt“, und sei es nur in der eigenen Phantasie. In der Grundanlage war schon alles da, einer neuen Führungsgeneration blieb es vorbehalten, diese Ideologie ein- und umzusetzen.
Was sie dann auch getan hat. Und genau das ist der Grund, warum ich – so sehr ich Putin und seine Politik in manchen Augenblicken kritisieren möchte – eine große Abneigung gegenüber den Versuchen vieler russischer Analytiker hege, die ihn als Verbrecher bezeichnen oder behaupten, er habe den Bruch in der Entwicklungsrichtung des modernen Russland zu verantworten. Wladimir Putin hat vielmehr jene Tendenzen aufgegriffen und verstärkt, die eifrig und gekonnt von den gleichen Leuten geschaffen wurden, denen dann Ende 1999 bewusst wurde, dass zur Umsetzung ihres Modells „einer wie Putin“ gebraucht werde.
Im gleichen Maße, wie in der sowjetischen Geschichte die Ära Stalin und die Ära Lenin durch Tausende historischer, ideologischer und praktischer Fäden miteinander verbunden sind, besteht in der Geschichte Russlands eine unüberwindbare Verknüpfung der Jelzin-Ära mit der Ära Putin.
Und das führt mich zum letzten Gedanken, mit dem ich schließen möchte, und der, da bin ich mir sicher, geteilte Reaktionen hervorrufen wird: Politiker und Aktivisten, die in den 1990er Jahren auf russländischer Erde „heilig erstrahlten“ und heute versuchen, sich als Oppositionelle in Szene zu setzen, verdienen wohl kaum die wie auch immer geartete Unterstützung derjenigen, die Russland in Zukunft als freien europäischen Rechtsstaat zu sehen hoffen. Die Art, in der sie in den 1990er Jahren „gewütet“ haben und dabei die organisatorischen und mentalen Grundlagen des Putinismus schufen, wie auch die Art, wie sie das Land der heutigen Führung in die Hand gaben, nimmt ihnen jede ethische Berechtigung zu einer Rückkehr an die Macht.
Das neue Russland wird man ohne jene bauen, die es in den 1990er oder 2000er Jahren regiert haben. Das wird allerdings, so belegen es Beispiele, bei denen autoritäre Regime demontiert wurden, Jahrzehnte dauern – aber es bedeutet auch, dass die in den 1990er Jahren entwickelten und in den 2000er Jahren erprobten Herrschaftsprinzipien nicht auf ewig Bestand haben werden.