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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Auf dem Weg in die volle Kontrolle?

    Auf dem Weg in die volle Kontrolle?

     „Ich möchte mitteilen, dass ich am Freitagabend, dem Tag, an dem die Zerschlagung von Radio Svaboda stattfand, Belarus verlassen habe.“ Dies teilte Waleri Karbalewitsch am gestrigen Sonntag auf Facebook mit. Der Politologe und Historiker schreibt für den belarussischsprachigen Dienst von Radio Liberty regelmäßig politische Analysen. Karbalewitsch befürchtete wohl, selbst festgenommen zu werden. Denn am Freitag hatten Silowiki die Wohnungen von Leuten durchsucht, die mit dem in Prag ansässigen Sender zusammenarbeiten, und zahlreiche freie Mitarbeiter festgenommen. Drei befinden sich aktuell immer noch in Haft. Die Razzien betrafen auch Mitarbeiter des Auslandsenders Belsat und zahlreiche bekannte NGOs im ganzen Land. Bereits seit dem 8. Juli lassen die belarussischen Machthaber die Büros von Medien, Journalisten, Menschenrechtsorganisationen, Parteien und Initiativen durchsuchen, Dokumente und Gerätschaften konfiszieren und Mitarbeiter festnehmen. Gegen vier Mitarbeiter des Online-Mediums Nasha Niva, das aus der ältesten belarussischen Zeitung hervorgegangen ist, wurde bereits ein Strafprozess eingeleitet. Der Vorwurf: „das Organisieren oder Vorbereiten von Aktionen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen, oder die Teilnahme daran”. Nasha Niva hat daraufhin die Arbeit vorerst eingestellt. Auch wurden weiter Telegram-Kanäle wie beispielsweise Strana dlja shisni (dt. Ein Land zum Leben) – den die Initiative des inhaftierte Videobloggers Sergej Tichanowski betreibt – als „extremistisch“ eingestuft.

    Wie ist die neuerliche Repressionswelle zu deuten? Wollen die Machthaber jegliche Form von Zivilgesellschaft, freie Meinungsäußerung und Dissens in Belarus zerstören und Belarus in einen totalitären Staat verwandeln? Ist die Aktion gar eine Antwort auf die EU-Sanktionen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Journalist Pawljuk Bykowski in seiner Analyse für Naviny.by.

    „Gegenwärtig erfolgt eine breit angelegte Operation zur Säuberung von radikal eingestellten Personen“, erklärte der stellvertretende Leiter der Verwaltung Strafermittlung des belarussischen KGB, Konstantin Bytschek.
    Liest man das Interview dieses Vertreters des KGB aufmerksam durch, dann spricht er zwar von den bekannten „destruktiven Telegram-Kanälen“, doch beziehen sich Bytscheks Worte auch auf einen breiteren Kontext und sind bezeichnend für die Reaktion eines autoritären Regimes, das ins Wanken geraten, aber noch nicht gestürzt ist. Es geht um die Beseitigung jeglicher Protestherde und jeglicher zivilgesellschaftlicher Strukturen, die sich mit diesen solidarisieren könnten, wie auch aller Medien, die zu einem Sprachrohr des Protests werden oder einfach weiterhin mit Empathie für die Opfer der Willkür über die Lage in Politik und Gesellschaft berichten könnten.

    Der „Schwarze Donnerstag“

    Nach Angaben des unabhängigen Belarussischen Journalistenverbandes (BAJ) sind seit Jahresbeginn 87 Journalisten und Mitarbeiter von Medien festgenommen worden, von denen derzeit 29 hinter Gittern sitzen.

    Am 8. Juli wurden an nur einem Tag sieben Journalisten und die Buchhalterin von Nasha Niva festgenommen. Vier von ihnen sind feste Mitarbeiter der Zeitung. Sie werden in einem Strafverfahren der Organisation oder Vorbereitung von Handlungen verdächtigt, die die gesellschaftliche Ordnung grob verletzen. Zwei weitere Mitarbeiter der Redaktion blieben mit unklarem prozessualem Status in Freiheit, mussten aber eine Verschwiegenheitsverpflichtung unterschreiben.

    Am 8. und 9. Juli erfolgten auch in den Redaktionen und in den Wohnungen von Mitarbeitern der Brestskaja Gaseta, der Portale Orsha.eu, Media-Polessje, Intex-Press, Bobr.by sowie bei freischaffenden Journalisten, die mit dem aus Polen sendenden TV-Kanal Belsat zusammenarbeiten, Hausdurchsuchungen, bei denen Computer und Smartphones konfisziert wurden.

    Media-Polessje teilte mit, dass die Hausdurchsuchungen bei Redaktionsmitarbeitern in Luninzk und Pinsk von Ermittlergruppen des KGB im Rahmen eines Verfahrens wegen eines „terroristischen Aktes“ erfolgt seien.

    Darüber hinaus erging am 8. Juli „aufgrund einer Benachrichtigung durch die Generalstaatsanwaltschaft“ der Beschluss, den Zugang zum Portal nn.by (Nasha Niva) zu blockieren: Diese Domaine ist jetzt für belarussische wie auch für ausländische Nutzer gesperrt.

    Am gleichen Tag wurde der Nachrichtenredakteur des Portals Perschy rehijon, Oleg Suprunjuk, in einem Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen „der Verbreitung von Informationserzeugnissen, die im Republiksverzeichnis extremistischer Materialien geführt werden“, zu einer Geldstrafe von 590 Rubeln [knapp 200 Euro – dek] verurteilt.

    Durch die Unterdrückung unabhängiger Medien wird die Gesellschaft Beiträge lesen, ,die nicht einmal minimalen professionellen Standards genügen‘

    Der Belarussische Journalistenverband (BAJ) forderte, „die Vernichtung des freien Wortes [in Belarus] zu stoppen“. „Unter dem Vorwand des Kampfes gegen Extremismus versucht die Regierung, die unabhängigen belarussischen Medien zu vernichten“, heißt es in einer Erklärung des BAJ.

    In dem Papier wird prognostiziert, dass durch die flächendeckende Unterdrückung unabhängiger Medien „die Gesellschaft anstelle verifizierter und im Einklang mit der journalistischen Ethik vermittelter Informationen Beiträge lesen wird, die nicht einmal minimalen professionellen Standards genügen“.

    Reden mit Kriegsrhetorik

    Gleichzeitig erklärte Alexander Lukaschenko am 8. Juli bei einer Zeremonie zu Ehren der Absolventen der Militärhochschulen und des höheren Offizierskorps, dass ein Krieg heute in der Regel nicht mehr durch eine Aggression von außen begänne: 
    „Er beginnt von innen, damit, dass die Hirne unserer Leute zerstört werden. Er beginnt damit, dass in unserem Land Chaos erzeugt wird, und erst danach werden, wenn nötig, ausländische Truppen hierher entsandt. Davon haben wir gesprochen. Hierin besteht der Kern unserer nationalen Sicherheitskonzeption“.

    Die Äußerungen fügen sich in ein propagandistisches Schema, in dem die Proteste keine tieferen Gründe im Land selber haben können

    Angesichts des Ortes und der Adressaten lag der Akzent des Auftrittes auf militärischen Aspekten, mit der Rhetorik eines Informationskriegs, der von außen geführt werde. Allerdings fügen sich die Äußerungen sehr wohl in ein propagandistisches Schema, in dem sowohl die Proteste als auch negative Informationen in den Medien keine tieferen Gründe im Land selber haben können, sondern allein als Umsetzung eines Auftrags aus dem Ausland gesehen werden. 

    In Russland war die Regierung in dieser Hinsicht offener, aber auch raffinierter. Dort wurden die Medien vor allem dadurch unter Kontrolle gebracht, dass die Zeitungen per Kauf übernommen wurden.

    Igor Nikolajtschuk, Mitarbeiter des Zentrums für Rüstungsforschung des Russischen Instituts für strategische Studien (RISI), bekannte in einem Interview für die Literaturnaja Gaseta: „Bevor die Krim angeschlossen wurde, erfolgte eine riesige, penible, schmerzliche und nahezu unsichtbare Arbeit, um im medialen Raum in Russland jene Medien auszuschalten, die dem Regime in den Rücken schießen könnten. Der Informationskrieg erfordert eine Übermacht von Medien, die für eine Umsetzung der staatlichen Idee arbeiten. Die propagandistische Katastrophe des ersten Tschetschenienkrieges, als die eigenen Leute [von den Medien] angegangen wurden, ist nicht vergessen und soll sich nicht wiederholen.“

    Es geht darum, den nicht loyalen Medien die unternehmerische Basis zu zerstören

    Etwas ähnliches versucht man auch in Belarus zu unternehmen, doch geht es hier nicht um die Übernahme von Medien, sondern darum, den nicht loyalen Medien die unternehmerische Basis institutionell zu zerstören, um deren Ausschluss aus dem monopolisierten System, über das Periodika vertrieben werden, und um ein Druckverbot in belarussischen Druckereien.

    Die verbleibenden Internet-Medien erhalten Besuch vom KGB oder der GUBOPiK, die Geräte werden konfisziert und die Mitarbeiter der Redaktionen zum Verhör vorgeladen oder in Untersuchungshaft gesteckt. Dadurch werden unabhängige Journalisten gedrängt, ins Ausland zu gehen.

    Wird jetzt das Urteil vollzogen, das Makei im April verkündete?

    Angesichts der Zerschlagung unabhängiger Medien sind Meldungen über Repressionen gegen Aktivisten und die Zerstörung zivilgesellschaftlicher Strukturen in den Hintergrund getreten. Allerdings wird auch hier das Versprechen von Außenminister Wladimir Makei eingelöst. Der hatte am 10. April erklärt, eine Verhängung von Sanktionen gegen das herrschende Regime werde „zweifellos dazu führen“, dass es „jene Zivilgesellschaft, um die sich unsere europäischen Partner so sehr kümmern, nicht mehr geben wird“.

    Jetzt überprüft das Justizministerium auf nationaler Ebene eine Reihe von NGOs, während man sich jetzt schon einige von ihnen auf lokaler Ebene vorknüpft.

    So teilte die Staatsanwaltschaft am 8. Juli mit, dass auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft Brest die Einrichtungen Sa swoj gorod und Dsedsitsch durch die Verwaltung des Leninski-Stadtbezirks aufgelöst wurden.

    Allem Anschein nach werden sie vernichtet, „damit sie niemandem in den Rücken schießen“. Insbesondere in Bezug auf Dsedsitsch wurde festgehalten, dass diese Einrichtung „Wettbewerbe für Kunstwerke und Clips in sozialen Medien organisiert [hat], die die Herausbildung einer Haltung der Bürger propagieren, die rechtswidrige Handlungen gutheißt“.

    Eine „Normalisierung der Lage“ – wie sie vom herrschenden Regime verstanden wird – macht es erforderlich, dass aus dem öffentlichen Raum jede Kritik am Regime und jede abweichende Meinung verschwindet. Uniformierte führen die Befehle aus und werden für Pogrome gegen Andersdenkende belohnt.

    Es ist zwar von vornherein klar, dass man auf diese Weise die Belarussen nicht dazu bringen kann, Lukaschenko wieder lieb zu gewinnen. Doch ein taktisches Ziel ist durchaus erreichbar, nämlich bestimmte politische Veränderungen vorzunehmen, ohne dass der Unmut der Bevölkerung sichtbar wird. 

    Wir können nur mutmaßen, wann sie sich auf eine harte Landung werden vorbereiten müssen – im Vorfeld der für den Herbst angekündigten vertieften Integration mit Russland oder vor dem für Anfang 2022 angesetzten Verfassungsreferendum.

  • Jüdisches Leben in Belarus bis 1917

    Jüdisches Leben in Belarus bis 1917

    Bereits seit dem Mittelalter war das Gebiet der heutigen Republik Belarus Zuflucht und Heimat zahlreicher Juden, vor der Shoa lebte hier sogar ein großer Teil der weltweiten jüdischen Diaspora. Dennoch werden Interessierte, die explizit nach der Geschichte belarussischer Juden suchen, kaum fündig. Das liegt vor allem daran, dass das historische Gebiet von Belarus über viele Jahrhunderte zu verschiedenen Herrschaftsgebieten gehörte und Juden in der nationalen belarussischen Geschichtsschreibung häufig nur eine Statistenrolle einnehmen. 

    Seit dem späten 11. Jahrhundert nahmen in den deutschen Gebieten antijüdische Verfolgungen zu, unter anderem im Zusammenhang mit dem ersten Kreuzzug (1096). Jüd*innen aus Aschkenas, wie Deutschland in der rabbinischen Literatur des Mittelalters genannt wurde, flohen in großer Zahl nach Polen und nach Litauen. Vor allem die polnischen Herrscher erkannten das wirtschaftliche Potenzial der Zuwanderung und warben mit einer Reihe von Weisungen und Erlassen um jüdische Migrant*innen. Kasimir der Große (1333–1370) gewährte schließlich allen Jüd*innen in ganz Polen Niederlassungsrecht, Freizügigkeit und Handelsfreiheit.1

    Goldenes Zeitalter

    1386 wurde das Königreich Polen in Personalunion mit dem Großfürstentum Litauen vereinigt, welches auch die Gebiete der heutigen Belarus und große Teile der heutigen Ukraine umfasste. Von nun an galten die toleranten Gesetze Kasimirs auch dort. Diese wurden allerdings in den folgenden Jahren immer wieder eingeschränkt, bevor im 16. Jahrhundert unter Sigismund I. (1506–1548) das sogenannte „Goldene Zeitalter“ der polnischen Juden begann. In dieser Zeit entstanden in Polen-Litauen weitreichende Institutionen jüdischer Autonomie: Die Gemeinde (kahal), die Länder als regionale Selbstverwaltungsinstanzen und im Jahr 1596 dann der jüdische Reichstag als „Rat der vier Länder“. Dabei spielten auch die Gemeinden der heutigen belarusischen Städte Pinsk, Brest und Grodno (belarus. Hrodna) eine wichtige Rolle.2

    Mitte des 17. Jahrhunderts lebten etwa 80.000 bis 90.000 Jüd*innen in den Gebieten der heutigen Belarus. In dieser Zeit war das „goldene Zeitalter“ allerdings längst zu Ende. Als Zäsur gilt vor allem der Kosakenaufstand unter Bogdan Chmelnizki, in dessen Verlauf es zur ersten umfassenden Judenverfolgung im östlichen Europa kam. Während der Hetman bis heute vor allem in der Ukraine als eine Art Nationalheld gilt, symbolisiert er in der jüdischen kollektiven Erinnerung den Beginn der Leidensgeschichte der osteuropäischen Diaspora.3

    Der Kosakenaufstand verschlechterte auch die wirtschaftliche Situation der Jüd*innen, die vor allem im lokalen und transnationalen Holz- und Getreidehandel, aber auch etwa als Steuerpächter tätig waren. Doch ungeachtet dieser massiven Krise entwickelten sich die Gebiete der heutigen Belarus zu einem Zentrum jüdischer Geistlichkeit. Die ersten höheren Talmudschulen (Jeschiwot) wurden in Brest und Grodno gegründet. Seit dem späten 17. Jahrhundert wurde auch Minsk ein bedeutender Standort jüdischen Lebens. Während im 18. Jahrhundert im Süden des belarusischen Gebiets Zentren des mystischen Chassidismus entstanden, blieben im Norden ihre Gegner, die Misnagdim, einflussreich. So war das Gebiet der heutigen Belarus von den Spannungen zwischen den beiden Strömungen des osteuropäischen religiösen Judentums gekennzeichnet.4

    Untertanen des Zaren

    Die drei Teilungen der polnisch-litauischen Adelsrepublik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts markierten die nächste große Zäsur in der Geschichte der Jüd*innen in den Gebieten der heutigen Belarus. Von nun an waren sie Untertanen der russländischen Zar*innen. Diese neue Epoche fing recht verheißungsvoll an, besonders der Zeitraum von 1790 bis 1840 war von einem Wiederaufleben der jüdischen Schtetl gekennzeichnet.5 Jüdischen Marktflecken in den Teilungsgebieten eilte der Ruf voraus, wirtschaftlich blühende Handelsknotenpunkte zu sein. Zudem waren viele der jüdischen Einwohner*innen bereit, die russische Herrschaft anzuerkennen – im Gegensatz zu den meist polnischen Adligen in der Region. Vor allem während der napoleonischen Kriege erwiesen sich die neuen jüdischen Untertanen als loyal, sie unterstützten die russischen Armeen und sandten untertänige Adressen an den Zaren.

    Juden und französische Soldaten in der belarusischen Kleinstadt Ljosna. Zeichnung von Christian Wilhelm von Faber du Faur, 9. August 1812 © gemeinfrei
     

    Doch im Laufe des 19. Jahrhunderts entfremdeten sich die Jüd*innen zunehmend vom russländischen Staat. Dies hing wesentlich mit Einschränkungen der Bildungschancen und der sozialen Mobilität zusammen, denen sie unterlagen und die zu Verarmung und Perspektivlosigkeit führten. Denn ähnlich wie andere Gruppen – etwa die Bäuer*innen – genossen Jüd*innen im Russischen Reich keine Freizügigkeit. Sie durften nur im sogenannten Ansiedlungsrayon siedeln – und dort auch nur in den Städten – und unterlagen Beschränkungen was ihre Berufswahl und Bildungsmöglichkeiten betraf.

    Der Ansiedlungsrayon mit den Prozentsätzen an jüdischer Bevölkerung in den jeweiligen Gouvernements (1905) / © Furfur/wikimedia unter CC BY-SA 4.0

    Simon Dubnow

    Ein Beispiel dafür ist die Biographie des berühmten jüdischen Historikers Simon Dubnow, der 1860 im belarusischen Schtetl Mstislawl geboren wurde. Er besuchte eine jüdische Grundschule und anschließend die Jeschiwa, seine Alltagssprache war das Jiddische. Mit 13 Jahren veröffentlichte er einen ersten Text auf Hebräisch, erst danach lernte er Russisch.

    Das Belarusische galt zu diesem Zeitpunkt, ebenso wie das Jiddische, noch nicht als eigene Literatur- und Schriftsprache, sondern eher als Dialekt der ländlichen Bevölkerung. Für Jüd*innen in den belarusischen Gebieten, die nach säkularer Bildung strebten, bot es dementsprechend keine Aufstiegsmöglichkeiten. Deshalb orientierten sie sich meist sprachlich entweder am Deutschen oder am Russischen.

    Bereits früh bemühte sich Dubnow um Aufnahme in verschiedene Bildungseinrichtungen, aufgrund von Zugangsbeschränkungen konnte er jedoch nie eine höhere Schule abschließen. Ab 1880 lebte er schließlich illegal in Sankt Petersburg. Dort bildete er sich als Autodidakt fort und wurde regelmäßiger Beiträger in russisch-jüdischen Zeitungen. Im Laufe der Jahre entwickelte sich Dubnow schließlich zum Nationalhistoriker der Jüd*innen im Russischen Reich.6 Als solcher – und als Zeitgenosse – beschrieb er die antijüdischen Pogrome im Ansiedlungsrayon, welche die jüdische, russländische und die internationale Öffentlichkeit in den Jahren 1881 bis 1884 erschütterten. Dabei blieben die belarusischen Gebiete jedoch noch weitgehend von antijüdischer Gewalt verschont, betroffen waren vor allem die Gemeinden in der Ukraine.7

    Jüdische Vielfalt

    In der Volkszählung von 1897 bekannten sich in Belarus etwa 920.000 Menschen zur Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, gut 14 Prozent der Gesamtbevölkerung.8 Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits sehr diverse Vorstellungen davon, was es bedeutete, jüdisch zu sein. Auch wenn Religion nicht mehr das gesamte jüdische Leben bestimmte, bezeichneten sich doch viele Jüd*innen noch als sehr streng religiös. Sie hingen entweder einem chassidischen Rebbe an oder vertraten die traditionell orthodoxe Lehre. In beiden Fällen lehnten sie ein säkulares Leben als gottlos ab und orientierten sich auch im Alltag an den Regeln der jüdischen religiösen Schriften, die durch die Rabbiner ausgelegt wurden. Weniger streng religiöse Jüd*innen, die sich aber dennoch hauptsächlich ihrer Religion wegen jüdisch fühlten, konnten sich durchaus auch als Russ*innen oder Pol*innen bezeichnen. Den politisch gesonnenen Jüd*innen galten diese verächtlich als „Assimilanten“.

    Denn zum Ende des 19. Jahrhunderts gab es immer mehr Jüd*innen, die sich im säkularen Sinne zum jüdischen Volk bekannten und eine kulturelle Assimilation ablehnten. Das waren im bürgerlichen Spektrum etwa die Diaspora-Nationalist*innen (wie Simon Dubnow einer war). Sie sahen die Juden als eine eigene Nation an, die historisch gesehen in der Diaspora beheimatet war, und die deshalb – ausgestattet mit kulturellen und bürgerlichen Rechten sowie einer politischen Vertretung – auch weiterhin dort leben sollte. Ihnen gegenüber standen die ebenfalls (meist) säkularen Zionist*innen, die einen modernen Nationalstaat in Erez Israel gründen wollten. Zudem gab es in Belarus viele jüdische Arbeiter*innen, weshalb die Region zu einer Hochburg der jüdischen Arbeiterbewegung wurde.9 Im Verlauf der Revolution von 1905 beteiligten sich zahlreiche Jüd*innen an den revolutionären Ereignissen. Dabei führte nicht nur die Hoffnung auf Gleichberechtigung zu diesem Engagement, sondern auch die gemeinsamen Kämpfe der polnischen und jüdischen Arbeiterklasse gegen die sozialen Missstände an der Peripherie des Imperiums.10

    Juden auf dem Marktplatz von Bobruisk, 1916 © Lebrecht Music & Arts/Alamy Stock Photo

    Sowohl die Pogrome als auch die zunehmend schwierige ökonomische und politische Lage motivierten zahlreiche Jüd*innen zur Flucht aus dem Ansiedlungsrayon. Fast drei Millionen Jüd*innen suchten zwischen den 1870er und den 1920er Jahren eine neue Heimat im westlichen Europa oder in den Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch in Südafrika, Argentinien und Palästina – darunter auch viele aus den belarusischen Gebieten.

    Antijüdische Gewalt

    Seit Jahrhunderten lebte die jüdische Bevölkerung in den belarusischen Städten und Schtetln in engem wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Austausch mit ihren Nachbar*innen. Doch als zwischen 1903 und 1907 eine zweite Pogromwelle über den Ansiedlungsrayon rollte, waren dieses Mal auch die belarusischen Gebiete betroffen. In Gomel (belarus. Homel), Retschyza, Orscha, Polozk (belarus. Polazk) und Minsk fielen zahlreiche jüdische Menschen der antijüdischen Gewalt zum Opfer.11Dass nicht noch mehr Pogrome ausbrachen, lag auch an organisierter jüdischer Gegenwehr, die vor allem von zionistischen und jüdisch-sozialistischen Organisationen geleistet wurde.12 So berichtete Simon Dubnow am Beispiel Gomels: „In der lebhaften weißrussischen Handelsstadt Gomel, in der die Juden die Mehrheit der Bevölkerung bildeten, hatten die Zionisten und ‚Bundisten‘ zur Abwendung der Pogromgefahr Selbstwehren ausgerüstet. Als es am 29. August 1903 auf dem Marktplatz zu einem Zusammenstoß zwischen Bauern und Juden kam, der sich in einen Pogrom auszuwachsen drohte, gelang es denn auch den Mitgliedern des jüdischen Selbstschutzes, den Krawallen rasch ein Ende zu machen.“13

    Während des Ersten Weltkriegs wurde vor allem der westliche Teil der heutigen Belarus zum Kriegsschauplatz. Bei den Eliten des Russischen Reichs führte die nationale Kriegsbegeisterung zu Misstrauen gegenüber allen, die nicht als Teil der russischen Nation galten. Auch die Jüd*innen im Ansiedlungsrayon wurden dabei zunehmend als illoyal wahrgenommen, auch wenn viele Juden in der russischen Armee kämpften. Denn aufgrund der jahrhundertealten Ansiedlungsbeschränkungen lebten sie in einem Gebiet, wo sie Kontakt zum Feind aufnehmen konnten. Zahlreiche Russ*innen verdächtigten sie auch aufgrund der dem Deutschen verwandten jiddischen Sprache, für den Kriegsgegner zu spionieren. Deshalb wurden etwa eine Million Jüd*innen gewaltsam und abermals pogromartig aus den zum Russischen Reich gehörigen Frontgebieten vertrieben, darunter auch viele aus den belarusischen Gebieten. Sie lebten nun in bitterer Not als Flüchtlinge in Städten im Inneren des Russischen Reiches, in denen ihnen neue Formen antijüdischer Ressentiments und damit einhergehende Gewalt entgegenschlug.14

    Nach dem Ersten Weltkrieg sollten auch der Bürgerkrieg, der Polnisch-Sowjetische Krieg, die neue sowjetische Macht und vor allem der Zweite Weltkrieg das jüdische Leben in Belarus nachhaltig verändern.


    ANMERKUNG DER REDAKTION:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


    1. vgl. Dubnow, Simon (1928): Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Band 5: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa: Vom XIII. bis zum XV. Jahrhundert, Berlin, S. 454-455 ↩︎
    2. vgl. Nesemann, Frank (2004): Versunkene Welten – Geschichte und Kultur der Juden Weißrusslands, in: Ost-West: Europäische Perspektiven 2/2004 ↩︎
    3. Golczewski, Frank (2011): Chmielnicki-Pogrome (1648-1649), in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus: Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 4: Ereignisse, Dekrete, Kontroversen, Berlin, S. 73-74 ↩︎
    4. Zeltser, Arkadi: Belarus, in: The YIVO encyclopedia of Jews in Eastern Europe ↩︎
    5. Petrovsky-Shtern, Yohanan (2014): The Golden Age Shtetl: A New History of Jewish Life in East Europe, Princeton. Petrovsky-Shterns empirische Forschungen beziehen sich zwar auf die ukrainischen Gebiete, aber es spricht vieles dafür, diese Beobachtungen auf Belarus zu übertragen. ↩︎
    6. Hilbrenner, Anke (2007): Diaspora-Nationalismus: Zur Geschichtskonstruktion Simon Dubnows, Göttingen ↩︎
    7. vgl. z.B. Klier, John D. (2011): Russians, Jews, and the Pogroms of 1881-1882, Cambridge ↩︎
    8. Zeltser, Arkadi: Belarus, in: The YIVO encyclopedia of Jews in Eastern Europe ↩︎
    9. Hilbrenner, Anke: Jüdische Geschichte, in: Digitales Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas, Bd. 20 ↩︎
    10. vgl. dazu auch Hilbrenner, Anke (2016): Hirš Lekerts Rache: Gewalteskalation an der Peripherie des Zarenreiches um 1900, in: Osteuropa, 66 (2016), Heft 4, S. 7-18 ↩︎
    11. Zeltser, Arkadi: Belarus, in: The YIVO encyclopedia of Jews in Eastern Europe ↩︎
    12. Stefan Wiese stellt im Gegensatz dazu – am Beispiel des Pogroms vom Žitomir – die These auf, dass die Selbstwehrorganisationen eher zu einer größeren Gewalteskalation geführt, als dass sie Gewalt verhindert hätten: Wiese, Stefan (2016): Pogrome im Zarenreich: Dynamiken kollektiver Gewalt, Hamburg ↩︎
    13. Dubnow, Simon (1928): Weltgeschichte des Jüdischen Volkes, Bd. 10, S. 376 ↩︎
    14. Kalischer, Salomon (1915): Die Lage des jüdischen Volkes in Russland: Reden, gehalten in der Duma, Berlin, hier S. 15. Zu den Zahlen vgl. Lohr, Eric (2001): The Russian Army and the Jews: Mass Deportaion, Hostages, and Violence During World War I, in: The Russian Review, 60 (2001/3), S. 404-419, S. 404, Fn. 1. Vgl. dazu auch Hilbrenner, Anke (2014): Center and Periphery in Russian Jewish Culture, in: Frame, Murray u. a. (Hrsg.): Russian Culture in War and Revolution, 1914-22, Book 1: Popular Culture, the Arts, and Institutions, Bloomington, Ind., S. 189-208, hier S. 198 ↩︎

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  • Wird Lukaschenko nervös?

    Wird Lukaschenko nervös?

    Das Goethe-Institut in Minsk und der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) müssen auf Druck der belarussischen Machthaber ihre Arbeit im Land einstellen. Ein Schritt, der international vielfach kritisiert und als Reaktion auf das vierte Sanktionspaket der EU gedeutet wurde. Am 16. Juni 2021 hatten die EU-Außenminister beschlossen, massiv die Sanktionen gegen die belarussische Führung auszuweiten. In der vergangenen Woche sagte Alexander Lukaschenko auch, dass die Sicherheitsbehörden „terroristische Schläferzellen“ enttarnt und zerschlagen hätten. Diese stünden in Verbindung mit Deutschland, der Ukraine, den USA, Polen und Litauen. Daraufhin verfügte der Staat die Schließung der Landesgrenze zur Ukraine. Im Fokus der „antiterroristischen“ Operation stehen dabei Mitglieder des ehemaligen Telegram-Kanals Einheiten der zivilen Selbstverteidigung (blr. Atrady hramadsjanskai samaabarony), der von den Behörden als extremistisch verboten wurde. Dutzende Mitglieder des Kanals wurden festgenommen, einige stehen bereits vor Gericht.

    Zudem erschien am 3. Juli im staatlichen TV-Sender ONT ein Beitrag, der angeblich „terroristische Aktivitäten“ in Belarus beweist. Dies sorgte im Land für hitzige Diskussionen. In dem Beitrag wird ein offenbar inszeniertes Attentat auf Grigori Asarjonok gezeigt, einen der berüchtigsten Fernsehmoderatoren der Staatspropaganda, der für den Staatssender CTV arbeitet und regelmäßig gegen die Opposition hetzt. In dieser Atmosphäre beging die Staatsführung am 3. Juli den „Tag der Unabhängigkeit“ mit zahlreichen Veranstaltungen im ganzen Land.

    Wird Lukaschenko angesichts einer schwächelnden Wirtschaft nun doch nervös oder ist es bloß Säbelrasseln? Der politische Analyst Waleri Karbalewitsch erörtert in seinem Beitrag für das Medium SN Plus mögliche Folgen der Sanktionen und diskutiert verschiedene Szenarien, mit der die belarussische Führung auf die Strafmaßnahmen reagieren könnte. 

    Sei vorsichtig mit deinen Wünschen – sie könnten in Erfüllung gehen.
     

    Englisches Sprichwort

    Mögliche Folgen der Sanktionen

    Nach eingehender Betrachtung des von der EU erlassenen Papiers ist klar, dass die sektoralen Sanktionen, sagen wir mal, nicht in der radikalsten Form ergangen sind. Das wird zum Beispiel daran deutlich, dass das wichtigste Kaliprodukt, das nach Europa exportiert wird, nicht auf der schwarzen Liste steht. Und Belaruskali hat nicht darunter zu leiden, sondern unter dem blockierten Zugang zum litauischen Hafen Klaipėda, über den 97 Prozent der belarussischen Exporte von Kalidüngern abgewickelt werden. So muss eine neue Route über einen russischen Hafen im Leningrader Gebiet erschlossen werden.

    Außerdem treten die Sanktionen teilweise erst mit Beginn des kommenden Jahres oder sogar noch später in Kraft. Wenn es also um die Auswirkungen der Sanktionen geht, so sind die in den nächsten Monaten nicht zu erwarten.

    Nichtsdestotrotz beginnt das Land, mit den sektoralen Sanktionen zu leben. Diese unterscheiden sich von zielgerichteten (gegen einzelne Unternehmen oder Oligarchen gerichtete) Sanktionen dadurch, dass sie schwieriger zu umgehen sind. Ein Unternehmen kann man verkaufen, der Name oder Eigentümer kann sich ändern, mit ganzen Branchen lässt sich das jedoch nicht machen.

    Die Verluste für die belarussische Wirtschaft lassen sich nur schwer beziffern. Es gibt Schätzungen, nach denen Belarus 15 Prozent seines Exports verliert. Immerhin geht ein Viertel der belarussischen Exporte von Erdölprodukten in Mitgliedsstaaten der EU, im Jahr 2020 waren das rund 600 Millionen US-Dollar. Darüber hinaus wurden 10 Prozent der Kaliexporte, für rund 200 Millionen US-Dollar in die EU geliefert.

    Premierminister Roman Golowtschenko erklärte, die Verluste durch die Sanktionen würden nicht mehr als 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Unabhängige Wirtschaftswissenschaftler nennen Werte von 7 bis 14 Prozent. Diese große Schere ergibt sich durch unterschiedliche Berechnungsmethoden. Die einen zählen nur den unmittelbaren Schaden, andere berücksichtigen auch mittelbare Verluste (Kosten durch die Suche nach Wegen zur Umgehung der Sanktionen, ausbleibende neue Vertragsabschlüsse, den Umstand, dass ausländische Geschäftspartner Unternehmen meiden, die auf der Sanktionsliste stehen und so weiter).

    Die Sanktionspolitik des Westens ist jedoch ein Prozess – der wurde nun in Gang gesetzt, und es ist unklar, wo und wann er zum Halten kommt. So erklärte jüngst Victoria Nuland, Mitarbeiterin für politische Angelegenheiten im US-Außenministerium: „Die EU ist einen Schritt voraus, indem sie sektorale Sanktionen gegen die belarussische Wirtschaft und jene Bereiche verhängt hat, von denen Lukaschenko abhängig ist. Wir werden versuchen nachzuziehen“. 

    Die Sanktionen des Westens verstärken die Abhängigkeit des Landes von Russland. Allerdings könnte der Umstand, dass der russische Oligarch Michail Guzerijew auf der Sanktionsliste landete, Unternehmen aus Russland von Belarus abschrecken. Man könnte leicht auf der schwarzen Liste der EU und von den USA landen.

    Das gefährliche Thema Krieg

    Die Regierung in Belarus hat auf die Sanktionen mit aggressiver Rhetorik, Drohungen gegen den Westen und Erpressungsversuchen reagiert: So hat sich beispielsweise der Strom illegal einreisender Migranten aus Belarus nach Litauen drastisch verstärkt.

    Doch unsere Aufmerksamkeit weckt Folgendes: Seit dem 9. August 2020 schürt Lukaschenko in der Bevölkerung Angst vor einem möglichen Krieg mit dem Westen. Angesichts der sektoralen Sanktionen der EU und der USA erlangt diese Rhetorik einen neuen Sinn. 

    Bei einer Rede am 22. Juni 2021 in der Festung von Brest setzte Lukaschenko einen starken Akzent auf die Frage nach einem möglichen neuen Krieg. Er erklärte: „Im vergangenen Jahr haben wir die modernsten Technologien eines hybriden Krieges erfahren müssen. Die Belarussen fragen immer öfter: Was ist los, werden wir in den Krieg ziehen? Wie denn, Belarussen. Wir sind schon lange im Krieg. Der Krieg hat einfach andere Formen angenommen … 80 Jahre sind vergangen, und …? Ein neuer heißer Krieg … Und weiter? Eine Intervention?“

    Indem er in der Bevölkerung Angst vor einem Krieg schürt, versucht Lukaschenko, künstlich das Modell einer „belagerten Festung“ zu konstruieren, die politischen Repressionen zu rechtfertigen sowie die Nomenklatura und die eigenen Anhänger zur Verteidigung des Regimes zu mobilisieren.

    Eine solche Rhetorik könnte jedoch das Gegenteil bewirken. Das Volk will keinen Krieg und hat Angst davor. Die Gefahr, dass ein bewaffneter Konflikt entfesselt wird, weckt im historischen Gedächtnis des Massenbewusstseins traumatische Archetypen. Die Belarussen, sogar die Anhänger Lukaschenkos sind wohl kaum gewillt, für Lukaschenko in den Krieg zu ziehen. Dessen Figur wird zunehmend mit Kriegsgefahr assoziiert. Auch der Effekt einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung sollte nicht vernachlässigt werden.

    Der Normalbürger sieht, dass das Ausmaß der Probleme – und zwar nicht nur der wirtschaftlichen –, die Lukaschenko zu verantworten hat, größer und größer wird. Der Preis für Lukaschenkos Verbleib an der Macht wird mit jedem Tag höher. Auch für seine nähere Umgebung, einschließlich seiner Hof-Oligarchen.

    Aus der Geschichte sind diverse Beispiele bekannt, dass Wirtschaftssanktionen und äußere Konflikte Auswirkungen auf die Stabilität eines politischen Regimes hatten. Mitunter wird ein Regime dadurch gefestigt. Manchmal ist das Gegenteil der Fall.

    Es gibt einige Beispiele, dass autoritäre Regime sich in einem bewaffneten Konflikt mit einem äußeren Feind befinden, ihn verlieren und dann zusammenbrechen. So stürzte die Diktatur der Obristen in Griechenland 1974 nach der Niederlage im Zypern-Konflikt mit der Türkei. Die Militärdiktatur in Argentinien brach 1983 nach dem verlorenen Falklandkrieg gegen Großbritannien zusammen. Das Regime von Slobodan Milošević trat wegen des Kosovo einen Krieg gegen die gesamte Welt los, verlor ihn und wurde im Jahr 2000 nach Protesten der Bevölkerung gestürzt.

    Dies einfach als Anregung zum Nachdenken.

    Das Spiel mit Roman Protassewitsch

    Der Umstand, dass Roman Protassewitsch und Sofija Sapega in Hausarrest überführt wurden, ist ein Hinweis, dass das Regime eine Vielzahl von Schachzügen unternimmt und den oppositionellen Journalisten als wichtige Figur einsetzt.

    Die Regierung hat sich entschieden, angesichts der dramatischen Folgen von Protassewitschs Festnahme (Schließung des Luftraums und sektorale Sanktionen durch die EU) den Gefangenen vollends auszunutzen und aus der Affäre eine möglichst große politische Dividende herauszupressen. Romans Einwilligung „mit den Ermittlungsbehörden zusammenzuarbeiten“ eröffnete der Regierung die Möglichkeit, – an unterschiedliche Adressaten gerichtet – gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

    Aufgabe Nummer eins ist natürlich die Diskreditierung der Opposition. Die „entlarvenden“ Erklärungen von Protassewitsch sollten all das Negative über die politischen Opponenten unterfüttern, das ein ganzes Jahr schon wie ein Wasserfall aus den Kanälen des belarussischen Staatsfernsehens strömt. Hinzu kommt die Diskreditierung der westlichen Länder. Roman soll „Beweise“ geliefert haben, dass die Proteste von westlichen Geheimdiensten gesteuert worden seien. Das alles richtet sich an das inländische Publikum.

    Um den Skandal mit der erzwungenen Landung Russland gegenüber zu „verkaufen“, hat die belarussische Regierung betont, dass Roman im Donbass gekämpft habe. Das hat intensives Interesse bei den russischen Medien gefunden. Zur Lösung dieses Problems wurde die „Volksrepublik Luhansk“ ins Spiel gebracht – erfolglos, wie sich später herausstellte.

    Der Hausarrest für Sofija Sapega, die die russische Staatsangehörigkeit besitzt, ist ebenfalls eine Geste an Moskau, eine Demonstration des grenzenlosen „Humanismus“ der belarussischen Behörden.

    Eine andere aufdringliche Demonstration des Humanismus ist an das westliche Publikum gerichtet. In Europa wurde geschrieben, dass Protassewitsch möglicherweise gefoltert wurde. Und die Medien-Kampagne gegen Lukaschenkos Regime stützte sich unter anderem auf das Mitgefühl für ein Opfer des diktatorischen Regimes (und nicht nur auf die Verletzung der Flugsicherheit). Romans gesunde, muntere und lächelnde Auftritte vor der Öffentlichkeit sollten diese Thesen widerlegen. Auf gleiche Weise ist auch Romans Überführung in Hausarrest zu verstehen.

    Mit den öffentlichen Auftritten von Protassewitsch wollte das offizielle Minsk zudem versuchen, die Wirtschaftssanktionen des Westens, wenn nicht zu verhindern, so doch abzumildern.

    Ein weiterer Aspekt dieses endlosen belarussischen Dramas steht in Verbindung mit der Psychologie der einen Person: Das Phänomen eines reuigen, moralisch gebrochenen Feindes erklärt in der belarussischen Politik vieles. Unter Lukaschenko als Präsidenten wurden sämtliche politischen Häftlinge dazu gedrängt, Gnadengesuche zu schreiben. Das war für den Staatschef von grundsätzlicher Bedeutung.

    Nach den vom Regime inszenierten Auftritten Protassewitschs kann man nun auch Menschlichkeit walten lassen. Es gibt derzeit 515 politische Häftlinge in Belarus. Allerdings zeigt man sich nur gegenüber Juri Woskressenski und Roman Protassewitsch „menschlich“ (Sofija Sapega soll lediglich Protassewitsch Gesellschaft leisten). Diese politischen Gefangenen haben nicht nur öffentlich vor der Kamera Reue gezeigt, sondern stehen jetzt auf der anderen Seite der Barrikaden. Das ist das Handlungsmuster für alle politischen Häftlinge, die vorzeitig aus dem Gefängnis freikommen wollen.

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  • Ales Adamowitsch

    Ales Adamowitsch

    „Die Lektüre von Adamowitschs Büchern sollte von irgendeiner Art an Atemübungen, von Gartenarbeit, Musikpraxis oder Gebet begleitet werden. Sie bieten keine Katharsis. Sie bezeugen das Scheitern der Menschheit als Projekt der Menschlichkeit“ – schreibt die Lyrikerin Valzhyna Mort.1In der Tat gehören die Werke des belarusisch-sowjetischen Nachkriegsschriftstellers, Publizisten, Literaturwissenschaftlers, Drehbuchautors und Menschenrechtlers Ales Adamowitsch zu den erschütterndsten Werken über die Gräuel des Zweiten Weltkriegs auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Er schrieb über Verbrechen, menschliches Leid und Schuldfragen, aus denen es kein Entrinnen gibt. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit waren es auch sein Kampf um die Aufarbeitung der Tschernobyl-Katastrophe und sein Einsatz für Menschenrechte und Demokratie im unabhängigen Belarus, die seiner Stimme bis heute für viele Belarusen ein großes moralisches Gewicht verleihen.

    „Furchtlosigkeit war das Grundmerkmal seiner Persönlichkeit“2. So beschrieb der Moskauer Literaturkritiker Lasar Lasarew seinen Freund und Kollegen Adamowitsch. Dabei war dessen Leben alles andere als frei von Gelegenheiten, sich zu fürchten.

    Der 1927 als Sohn eines Arztes geborene Adamowitsch wuchs in der Arbeitersiedlung Gluscha auf, nahe der Stadt Bobruisk in der Region von Mogiljow (belarus. Mahiljou) im Osten des Landes – ehemals ein bedeutendes Zentrum jüdischer Kultur. Als der Ort ab 1941 unter deutsche Besatzung geriet, errichteten die Deutschen hier ein Ghetto für die jüdische Bevölkerung und verübten grausame Massaker an Tausenden von Juden und sowjetischen Kriegsgefangenen. Der junge Adamowitsch war Zeuge der Ereignisse und erinnert sich noch Jahre später an die Bilder der sterbenden und toten Menschen aus dem Lager – „wie mir schien, das Schrecklichste, was ich je im Krieg gesehen hatte (wohl, weil es meine erste Erschütterung war).“3 Der Krieg wütet weiter. Während der Vater an die Front geht, schließt sich die Mutter mit dem inzwischen 15-jährigen Ales und dessen Bruder den Partisanen an. Von 1943 bis Anfang 1944 kämpft der Jugendliche in einer Partisaneneinheit gegen die deutschen Besatzer. Das Kriegsende erlebt er schließlich im weit entfernten Altai als Student an der Leninogorsker Hochschule für Bergbau und Metallurgie.

    „Schestidesjatnik“

    Ales Adamowitsch/ Foto © Alamy Stock Foto
    Ales Adamowitsch/ Foto © Alamy Stock Foto

    Seine eigentliche Berufung aber waren die Literatur und der Film. Bereits 1945 kehrte er nach Minsk zurück, wo er an der Philologischen Fakultät der Belarusischen Staatlichen Universität studierte und promovierte. Anschließend arbeitete er bis 1987 am Janka-Kupala-Institut für Literatur an der Belarusischen Akademie der Wissenschaften, welches er ab 1976 leitete. Unterbrochen war seine Minsker Zeit nur durch einen Aufenthalt an der Moskauer Lomonossow-Universität, wo er von 1962 bis 1966 am Institut für Nationalliteraturen als Dozent tätig war. Parallel studierte der vielfach Begabte an der Moskauer Filmhochschule Drehbuch. Seine Zeit dort endete jedoch plötzlich und unfreiwillig, als er sich weigerte, einen Denunziationsbrief gegen die Schriftsteller Andrej Sinjwaski und Juli Daniel zu unterschreiben. Von seiner damaligen Position als Leiter der Abteilung für Belarusische Literatur wurde er postwendend suspendiert, desillusioniert kehrte er nach Minsk zurück. Adamowitschs integere Haltung gegenüber seinen Kollegen und der ideologisch motivierte Rauswurf wiesen ihn als Schestidesjatnik aus. In den Kreisen dieser freiheitlich orientierten Nachkriegsintellektuellen wurde er zu einer anerkannten Größe.

    Er war zudem einer der wenigen belarusischen Intellektuellen, der sich im Belarusischen und im Russischen gleichermaßen zu Hause fühlte und damit eine Brückenfunktion zwischen Moskau und Minsk einnahm. Seine ersten, meist noch auf Belarusisch verfassten literaturkritischen Publikationen der 1950er Jahre thematisierten das Verhältnis von literarischer Stimme, verantwortungsbewusstem individuellem Handeln und Zeitgeschichte. Damit eckte er im kaderdurchtränkten sowjetischen Literaturbetrieb an. Zugleich befeuerte er bis weit in die 1980er Jahre hinein den Diskurs über die Aufgaben und Funktionen von Literatur in Zeiten historischer und gesellschaftlicher Krisen. Der belarusischen Literatur(geschichte) sprach er stets einen eigenen Stellenwert innerhalb der Sowjetliteraturen zu.

    Das Zweigestirn Wassil Bykau und Ales Adamowitsch

    Es ist der humanistisch-ethische Blick auf den Krieg, der Adamowitsch neben Wassil Bykau zum wichtigsten belarusischen Nachkriegsautor machte – sie sind das Zweigestirn der belarusischen Erinnerungsliteratur. Während der wenig ältere Bykau über die eigenen verstörenden Fronterlebnisse schrieb, umkreiste Adamowitsch in seinen Prosatexten das Grauen des Krieges und „die Gewalt (insbesondere die Kriegsgewalt) als historisches und menschlich-psychologisches Problem“4 aus dem Blickwinkel der Generation jener, die im Krieg noch Kinder und Jugendliche gewesen waren. So legte er seinem 1948 erschienenen literarischen Debüt Partisany, das in zwei Bänden5 vom tragischen Überlebens- und Widerstandskampf unter deutscher Okkupation erzählt, seine eigenen Erfahrungen bei den Partisanen zugrunde. Auch wenn er darin den positiven sowjetischen Partisanenhelden im Blick hat, kommen dabei doch die existenziellen Erschütterungen der Kriegszeugen und moralische Verwerfungen wie Kollaboration und Verrat zur Sprache.

    Opfer- und Täterperspektiven

    Insbesondere mit seinen ab den 1970er Jahren entstandenen Werken begann Adamowitsch die Grenzen des Erzählbaren auszuloten und die persönlichen Zeugenerinnerungen der belarusischen Kriegsüberlebenden in die Literatur zurückzuholen. Immer an den Rändern der Zensur, gab er darin sowohl den Opfern als auch den Tätern eine Stimme und brach damit die stereotypen Freund-Feind-Bilder der ideologisierten sowjetischen Kriegsdarstellung auf. In Chatynskaja powest (1971, Chatyner Erzählung)6 tritt in der rückblickenden Perspektive eines ehemaligen Partisanen die Spannung zwischen offizieller und individueller Erinnerung in den Vordergrund. Er erzählt von den Massakern im Dorf Chatyn, das im März 1943 durch das berüchtigte „SS-Sonderkommando Dirlewanger“ mitsamt seinen Bewohnern niedergebrannt worden war. Die Gedenkstätte Chatyn ist bis heute offizielles belarusisches Mahnmal für die Opfer des verheerenden deutschen Vernichtungskriegs in Belarus und steht stellvertretend für Tausende verbrannter Dörfer. Die Bilder des Tötens und Szenerien alptraumhafter Todeslandschaften sind vom Buch in Elem Klimows Idi i smotri (1985, Komm und sieh) eingegangen, den erschütterndsten aller Anti-Kriegsfilme.

    Auch zahlreiche Szenen aus dem Roman Karateli (1980, Henkersknechte)7 finden sich in dem von Adamowitsch mitverfassten Drehbuch wieder. In einer dichten Mischung aus dokumentarischem Material, Zeugenaussagen und fiktiven Passagen entwirft dieser Roman eine Chronologie des Tötens und entfaltet dabei die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsperspektiven der Täter und ihrer Henkersknechte.8

    Von diesem Moment an hingen Leben und Tod der Siedlung Proletarski, dreihundertsechs Menschen, die den Namen Dirlewanger nie gehört hatten und nie hören würden, davon ab, wie schnell er ans Ziel gelangte, mit seinen langen dünnen Insektenbeinen dem Fahrzeug entstieg und, nachdem er die Instruktionen des Offiziers für die Neulinge in der Strafabteilung abgewartet, den Befehl zum Beginn erteilte.9

    Aus den Psychogrammen der Protagonisten entstehen so „Bilder von Menschen, die nur noch als belebter Teil ihrer Tötungsinstrumente zu verstehen sind.“10 Mit der radikalen Fokussierung auf die Täterperspektive war Adamowitsch seiner Zeit weit voraus.11

    Chorisches Schreiben

    Swetlana Alexijewitsch wurde weltberühmt durch ihre Literatur der „chorischen Zeugenschaft“. Vorbild dafür war Ales Adamowitsch, der auch während der gemeinsamen Arbeit in der Redaktion der Zeitschrift Njoman ihr Mentor gewesen war. Seine Form der vielstimmigen Dokumentarprosa hatte er zwischen 1970 und 1973 entwickelt, als er mit seinen Schriftstellerkollegen Janka Bryl und Wladimir Kolesnik durch die versengten Landschaften der belarusischen Provinz reiste und über 300 Gespräche mit Überlebenden der Kriegsereignisse protokollierte. Behutsam in einen kommentierenden Erzählrahmen gegossen, entstand so in dem Buch Ja z vohnennaj vëski… (1975, Ich bin aus einem Feuerdorf)12 eine verdichtete Erzählung der Zeugenerinnerungen in chorischer Vielstimmigkeit, die auch Vorbild für das weitaus berühmtere Blokadnaja kniga (1977–1981, Blockadebuch) sein sollte. Dafür suchte Adamowitsch mit seinem russischen Kollegen Daniil Granin über einen mehrjährigen Zeitraum Überlebende der Blockade Leningrads auf. In vorsichtiger Annäherung brachte er sie dazu, über ihre persönlichen, teils lang verschwiegenen Erinnerungen zu sprechen und zu erzählen, was sie noch nie erzählt hatten. Beide Bücher sind Meilensteine der literarisch-dokumentarischen Erinnerungsliteratur: Es gelang ihnen wie keinen anderen Werken, kollektive Kriegstraumata in lebendig erzählten Einzelschicksalen sichtbar zu machen.
     


     Ales Adamowitsch (Mitte) am Set des Films „Idi i smotri“, Oktober 1985 / Foto © Jеwgeni Koktysch/sputnikimages/Alamy Stock Foto

    Politisches und humanistisches Engagement

    Adamowitsch tat sich auch in der Endphase der Sowjetunion und in den ersten Jahren der unabhängigen Republik Belarus durch sein politisches und humanistisches Engagement hervor. Ein Initialereignis war das Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 und die Verhinderung einer transparenten Aufklärung seitens der sowjetischen Regierung. Dabei hatte er schon Jahre zuvor vehement vor der atomaren Gefahr gewarnt. „Auf keiner Tür der Welt steht die Inschrift: ‚Notausgang‘. Im Falle einer nuklearen Feuersbrunst kann man nirgendwohin fliehen“ – schrieb er bereits 1981.13 Adamowitsch gehörte damit zu jenem kleinen Kreis an Intellektuellen und Wissenschaftlern, die vorausahnend einer nuklearen Katastrophe und ihren dramatischen Folgen entgegenzuwirken versuchten. Für die Aufklärung der Katastrophe von Tschernobyl forderte er schließlich einen „ökologischen Nürnberger Prozess“.14

    Es war wohl sein Glück, dass er den Machtantritt Alexander Lukaschenkos nicht mehr erleben musste. Denn in seinen letzten Lebensjahren war Adamowitschs ganze Kraft in die Menschenrechtsarbeit und den Einsatz für die Unabhängigkeit von Belarus geflossen: 1988 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Menschenrechtsorganisation Memorial und der Partei Belaruski Narodny Front „Adradshenne“, die sich für die demokratische Unabhängigkeit des Landes, für die belarusische Sprache und Kultur und für die Aufarbeitung der Stalinschen Verbrechen stark machte. Adamowitsch starb am 26. Januar 1994 an einem Herzinfarkt, kurz nachdem er vor Gericht eine Rede zur Verteidigung der Rechtelage der Schriftsteller der ehemaligen UdSSR gehalten hatte. Seine pazifistisch-humanistische Stimme gilt es über sein umfangreiches Werk, das sich über die Aufarbeitung der traumatischen Kriegserfahrungen des Zweiten Weltkriegs hinaus den universellen Fragen der Verantwortung individuellen Handelns widmet, noch weiter zu entdecken.


     Anmerkung der Redaktion:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

    Zum Weiterlesen:

     


    Isakava, Volha (2017): Between the public and the private: Svetlana Aleksievich interviews Ales’ Adamovich. Translator’s preface, in: Canadian Slavonic Papers 59, Nr. 3–4, S. 355–75
    Astrouskaya, Tatsiana (2019): Cultural Dissent in Soviet Belarus. Wiesbaden
    Weller, Nina (2018): Vielstimmige Gegengeschichten Kriegserfahrung und Kriegsdarstellung bei Adamovič, Daniil Granin und Svetlana Aleksievič, in: Osteuropa, Nr. 1-2/68 (2018), S. 165–82
    Eine Schuld, die nicht erlischt. Dokumente über deutsche Kriegsverbrechen in der Sowjetunion. Mit einem Geleitwort von Ales Adamowitsch, Köln, 1987

    1. Mort, Valzhnya (2020): Read and See: Ales Adamovich and Literature out of Fire, in: criterion ↩︎
    2. Lazarev, Lazar’ (2005): Zapiski požilogo čeloveka: kniga vospominanij, Moskva ↩︎
    3. Adamowitsch, Ales (1987): Am Anfang waren Worte, in: Eine Schuld, die nicht erlischt: Dokumente über deutsche Kriegsverbrechen in der Sowjetunion, Köln, S. 9-20 ↩︎
    4. So Adamovič zu den Schwerpunkten seines literarischen und wissenschaftlichen Schaffens in einem Fragebogen der Agentur „Publizist!“, in: Adamovič, Ales’ (2001): Prožito, Moskva, S. 6 ↩︎
    5. Zur Dilogie zählen „Vojna pod kryšam“ (1960, „Der Krieg unter den Dächern“) und „Synov’ja uchodjat v boj“ (1963, „Die Söhne ziehen in den Krieg“). Viktor Turov verfilmte beide Teile (1967 und 1969) in prominenter Besetzung mit Nina Urgant und musikalischen Einlagen von Vladimir Vyssozkij. ↩︎
    6. Die belarusische Version „Chatynskaja apovec’“ erschien 1976. Die deutsche Übersetzung (aus dem Russischen von Heinz Kübart) 1974 unter dem Titel „Stätten des Schweigens“ im Aufbau-Verlag, eine Wiederauflage 1985 im Verlag Pahl-Rugenstein. ↩︎
    7. Der volle Titel lautet: „Karateli: Radost’ noža ili žizneopisanie giperboreev“, Moskva, Izdat. Chudožestv. Literatura, 1980. Die deutsche Übersetzung „Henkersknechte: Das Glück des Messers oder Lebensbeschreibungen von Hyperboreern“ (aus dem Russischen von Thomas Reschke) erschien 1982 im Aufbau-Verlag, eine Wiederauflage 1988 bei Suhrkamp ↩︎
    8. Das Buch setzt ein mit einem imaginierten Monolog Adolf Hitlers. Ursprünglich war auch ein Kapitel zu Josif Stalin geplant, das jedoch der Zensur weichen musste. ↩︎
    9. vgl. Adamowitsch, Ales (1988): Henkersknechte: Das Glück des Messers oder Lebensbeschreibungen von Hyperboreern. (Aus dem Russischen von Thomas Reschke). Frankfurt a. M., S. 166f. ↩︎
    10. zit. vom Klappentext der Suhrkamp-Ausgabe (1988) ↩︎
    11. Das Buch erschien 1975 auf Belarussisch unter dem Titel „Ja z vohnennaj vëski…“ im Minsker Verlag Mastackaja literatura und ebendort in russischer Übersetzung (übersetzt von D. Kovalev) 1977 unter dem Titel „Ja iz ognennoj derevni…“ ↩︎
    12. Der Vergleich mit J. Littles Jahrzehnte später verfasstem Roman „Les Bienveillantes“ (2006, „Die Wohlgesinnten“) liegt nahe. ↩︎
    13. Places:Gold: Adamovič Aleksandr Michailovič (1927–1994) ↩︎
    14. Bundeszentrale für politische Bildung: Tschernobyl – die bekannte, unbekannte Katastrophe ↩︎

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  • Wassil Bykau

    Wassil Bykau

    Fotografien von der Beerdigung des belarusischen Schriftstellers Wassil Bykau im Juni 2003 gleichen Bildern, wie man sie seit Sommer 2020 aus Minsk kennt. Eine mehrtausendköpfige Kolonne zieht den Prospekt im Zentrum der Stadt entlang, viele der Teilnehmer schwenken weiß-rot-weiße Fahnen. Sie trauern um den wohl populärsten und wirkmächtigsten belarusischen Autor der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, um einen Chronisten der Wunden, die dieser Krieg in Belarus hinterlassen hat. Wer war dieser ehemalige Frontsoldat, in dessen Werk sich der Partisanenkampf und das Nationale, sozialistischer Realismus und Existenzialismus durchkreuzen? Und wie wurde aus ihm einer der schärfsten Kritiker der Regierung Alexander Lukaschenkos?

    Der Schriftsteller Wassil Bykau 1999 in der Literaturwerkstatt Berlin / Foto © IMAGO/gezett

    Geboren am 19. Juni 1924 in dem Weiler Bytschki im Norden von Belarus als Sohn einer einfachen Bauernfamilie, sind Kindheit und Jugend Bykaus durchzogen von Entbehrungen. Insbesondere die Erfahrung der Kollektivierung und das damit einhergehende Gefühl der Entmündigung verankern sich tief im Gedächtnis des jungen Bykau, ebenso das Verschwinden von Nachbarn im Zuge des Großen Terrors. Gleichzeitig macht er früh Bekanntschaft mit Literatur, mit den Büchern russischer und ausländischer Schriftsteller, bald aber auch mit Werken in seiner Muttersprache, dem Belarusischen, der Sprache seines zukünftigen Schreibens. Sein zeichnerisches Talent bringt ihn 1939 an die Kunstschule in Witebsk, wo in der Frühzeit der Sowjetunion neben Marc Chagall auch solch prägende Künstler der Avantgarde wie Kasimir Malewitsch oder El Lissitzky gelehrt hatten. Das Jahr, das er in Witebsk verbringt, stellt die einzige formale künstlerische Ausbildung dar, die Bykau Zeit seines Lebens erhält.

    Mit dem Kriegsausbruch beginnt die prägendste Zeit in Bykaus Leben. Ab 1942 dient er in der Roten Armee. Er gehört der Generation von Soldaten an, unter der die Opferzahlen am höchsten sind: Von den Frontsoldaten der Jahrgänge 1922 bis1924 überleben nur drei Prozent den Krieg.1 Bykau selbst entgeht dem Tod, wird jedoch zweimal verwundet. Als Artillerieoffizier kämpft er in der Ukraine, Moldau, Rumänien und Ungarn, stößt zu Kriegsende bis nach Österreich vor. Er sieht jahrelang sein Zuhause nicht, erhält erst 1944 seinen ersten Brief. Für kurze Zeit hält ihn seine Familie durch eine falsch ausgestellte Sterbeurkunde sogar für tot. Auch nach dem Krieg ist die Armee noch lange Teil seines Lebens: Auf einige wenige als Künstler und Zeitungsredakteur im westbelarusischen Grodno (belarusisch: Hrodna) verbrachte Jahren folgt 1949 die erneute Einberufung, Bykau muss wiederum Jahre fern der Heimat verbringen. Erst 1955 wird er entlassen. Verhältnismäßig spät also, in seinen frühen Dreißigern, kann aus dem Soldaten Bykau endgültig der Schriftsteller Bykau werden – auch wenn diese Kategorien im Hinblick auf sein Werk durchaus fließend sind.

    Bykau und die Leutnantsprosa

    Bykau veröffentlicht ab den späten 1940er Jahren Prosatexte. Als wesentlich gelten jedoch erst die Erzählungen Shurauliny kryk (Der Schrei des Kranichs) von 1959 und Trezjaja raketa (Die dritte Leuchtkugel) von 1962, die ihn zu einem Hauptvertreter der sogenannten „Leutnantsprosa“ machen, des Schreibens ehemaliger Soldaten, die ihre Kriegserfahrung in literarischen Texten verarbeiten. Gerade Trezjaja raketa ist in der gesamten Sowjetunion ein großer Publikumserfolg. In diesen frühen Erzählungen deuten sich bereits viele der später herausragenden Qualitäten von Bykaus Schreiben an. In beiden befindet sich eine Gruppe von sechs Frontsoldaten in einer ausweglosen Situation, in der jede Entscheidung unter dem Einsatz von Leben und Tod getroffen werden muss. Vor diesem Hintergrund werden Fragen der Moral, von Verrat und Treue, von Selbstüberwindung und Selbstaufgabe gestellt und an Figuren verhandelt, deren Biografien exemplarisch in die jüngere sowjetische Geschichte zurückgreifen. Die Vergangenheit der Protagonisten kommt in den Fokus, der eine ein ehemaliger Kleinkrimineller, der andere ein Opfer der Kollektivierung, der dritte ein Kind des Apparats. Es wird erkundet, inwiefern sie im Moment der Entscheidung über ihre Vergangenheit und die ihnen zugefügten Kränkungen hinausgehen können. Bykaus Krieg, dies zeigen schon seine ersten Werke, ist ein Krieg aus der Ameisenperspektive, ohne große Siege, Pläne oder Heldentaten, sein Sinn ist fraglich. Moral konstituiert sich einzig im Kleinen, zwischen konkreten Individuen, in Reaktion auf extreme Situationen.

    Seine so geartete Beschäftigung mit dem Krieg vertieft Bykau in den folgenden Jahrzehnten. Das führt allerdings dazu, dass seine Texte immer wieder mit der Zensur in Konflikt geraten, durch die alle literarischen Texte in der Sowjetunion müssen, denn sie stellen die klassische sowjetische Erzählung vom Sieg im Großen Vaterländischen Krieg infrage – ähnlich denen seines Landsmanns und Zeitgenossen Ales Adamowitsch. Besonders anfällig sind Bykaus Texte, weil sie vom Belarusischen ins Russische übersetzt werden müssen, um ein Publikum in den anderen Republiken der Sowjetunion zu erreichen. Trezjaja raketa etwa wird in der russischen Übersetzung stark sowjetisiert, und noch im hohen Alter ist Bykau sehr unzufrieden damit, dass seine Alpiiskaja balada (Alpenballade) von 1964 in einer qualitativ minderwertigen Übersetzung um die Welt ging – schließlich wurden die meisten Übersetzungen nicht auf Basis des belarusischen Originals, sondern der russischen Übersetzung angefertigt.2 Deswegen entschließt sich Bykau in den 1960ern dazu, seine Bücher selbst ins Russische zu übersetzen. Das gibt ihm zum einen Sicherheit im Hinblick auf die Qualität der Übersetzungen, zum anderen aber auch die Möglichkeit, seine Texte nicht nur in Belarus, sondern auch im Zentrum des literarischen Lebens, in Moskau, zur Erstveröffentlichung anzubieten. Damit schafft er sich einen gewissen Spielraum im Umgang mit der Zensur, kann doch manches Mal im Zentrum etwas gesagt werden, wovor man sich in der Provinz noch fürchtet.

    Existenzialismus zwischen den Fronten

    Beispielhaft zeigt sich dies an der Geschichte der Erzählung Sotnikau (Die Schlinge) von 1970. Diese hängt in Belarus so lange in der Zensur fest, dass Bykaus Selbstübersetzung in Moskau dank der verhältnismäßig liberalen Veröffentlichungspolitik der Zeitschrift Nowy mir deutlich vor dem stark zensierten Original erscheinen kann. In diesem Text kulminiert die Bykausche Auffassung vom Krieg. Die beiden Protagonisten, Rybak und Sotnikau, wie viele der Helden aus Bykaus mittlerer Schaffensphase Partisanen, werden von der belarusischen Hilfspolizei der deutschen Besatzer gefangengenommen. Während Sotnikau bereitwillig für seine Ideale in den Tod geht, läuft Rybak zu den Besatzern über. Sotnikau ist jedoch keine Geschichte über Gut und Böse, richtig und falsch, sondern eine über Uneindeutigkeiten, Zufälle, widrige Umstände und das Überleben in ihnen. Seinen Ausgang nimmt Rybaks Verrat damit, dass er seine Rolle als Opfer, dem nur der Tod als Ausweg bleibt, nicht akzeptieren kann:

    Nein, mit dem Tod konnte er sich nicht abfinden, den konnte er um nichts in der Welt gehorsam hinnehmen, und wenn er das ganze Polizeigebäude in Trümmer schlug oder Partnou und diesen Stas mit bloßen Händen erwürgte. Sie sollten ihm nur zu nahe kommen …3

    Der idealistische Tod Sotnikaus ebenso wie der unbedingte Überlebenswille Rybaks stellen die Frage nach dem Wert des zwischen die Fronten geworfenen Lebens und nach der Gültigkeit moralischer Kriterien in dieser Situation. Es ist die Radikalität dieser Frage, derentwegen Bykau oft in die Nähe der existentialistischen Philosophie gestellt wird. Dagegen erhebt Larissa Schepitkos Verfilmung unter dem Titel Woschoshdenije (Aufstieg), auf der Berlinale 1977 als einziger sowjetischer Film jemals mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, die Erzählung in biblische Höhen: Sie zeigt den Verrat Rybaks als Judasgeschichte in schneeverwehter Ausweglosigkeit, während Sotnikau als Jesus am Galgen stirbt.

    Die von Bykau zugelassenen Uneindeutigkeiten beziehen sich jedoch ebenfalls auf die Mythen seiner eigenen Zeit – schließlich sind der Partisan und der Kollaborateur im sowjetischen Geschichtsbild eindeutig besetzte Figuren. Durch die Betonung des Zufalls und der fehlenden Selbstbestimmung im Krieg fordert er Raum für diejenigen ein, die nie Herren ihrer eigenen Existenz werden können, die im Aufmarschgebiet der Imperien leben und deshalb überhaupt erst gezwungen sind, eine der fremden Seiten zu wählen. Auch der Roman Snak bjady (Zeichen des Unheils) von 1982, in dem ein altes Bauernpaar zur Aufnahme deutscher Soldaten gezwungen wird und versucht, in der absoluten Entrechtung Leben und Würde zu bewahren, erzählt hiervon. In der letzten Szene dieses Romans setzt die Bäuerin Szepanida kurz vor ihrer Verhaftung den eigenen Hof in Flammen, auf dem sie eine selbstgebaute Bombe versteckt. Szepanida verbrennt, die Bombe aber wird zur Metapher für die kommende Rache der Geknechteten:

    Niemand löschte die Feuersbrunst, das Gehöft brannte ungehindert die ganze Nacht und den folgenden Tag, die Polizisten ließen niemanden heran und hielten sich auch fern, denn sie befürchteten eine gewaltige Bombendetonation.

    Die Bombe aber wartete auf ihre Stunde.4

    Im Unterboden des sowjetischen Geschichtsbildes taucht mit Figuren wie Szepanida die Idee auf, die Bykau zu seinem Lebensende auf die große politische Bühne treiben soll – die belarusische Nation.

    Der nationale Oppositionelle

    Trotz seiner langen Armeezeit und seiner großen Publikumserfolge wird Bykau nie Mitglied der Kommunistischen Partei. Gleichzeitig gilt er ungeachtet der Implikationen seines Werkes nie als politischer Schriftsteller, wird von Staatsseite mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet, ist „Volksschriftsteller“ und von 1978 bis 1989 Mitglied des Obersten Sowjets der Belarusischen Sowjetrepublik. Diese Zweideutigkeit endet in der Perestroika. 1987 beginnt Bykau in der Unionspresse Artikel pro Demokratisierung zu schreiben, 1988 ist er einer der Mitbegründer der nationalistischen „Belarusischen Volksfront“ (BNF), wird zum Aktivisten einer zweiten nationalen „Wiedergeburt“. Diese stellt er sich als inklusiv und demokratisch vor – mit der belarusischen Sprache als einendem Element. 

    Wassil Bykau bei einer Demonstration in Minsk, 24. März 1996 / Foto © Georgy Likhtarovich
    Wassil Bykau bei einer Demonstration in Minsk, 24. März 1996 / Foto © Georgy Likhtarovich

    Auch im unabhängigen Belarus setzt er diese Aktivitäten fort, unterstützt bei der Präsidentschaftswahl 1994 den Kandidaten der BNF, Sjanon Pasnjak, und tritt nach dessen Niederlage von Anfang an als scharfer Kritiker Alexander Lukaschenkos auf, der das nationale Projekt der ersten Unabhängigkeitsjahre beendet, die Rolle der belarusischen Sprache einschränkt, demokratische Freiheiten zurücknimmt. 1995 bezeichnet er die Regierung Lukaschenkos als „Präsidentenjunta“5. Für seine Kritik wird er in der staatlichen Presse intensiv attackiert, findet für seine Bücher in Belarus keinen Verlag mehr. Später beschreibt er die Attacken so: „Diese Propaganda wollte aus mir nicht nur einen schlechten Schriftsteller, sondern auch einen ‚wahnsinnigen Nationalisten‘ machen, der davon träumt, Polen das Gebiet von Białystok und Russland Smolensk wegzunehmen.“6

    Nach den Ereignissen des „Minsker Frühlings“ 1996 sieht er sich gezwungen, ins Exil zu gehen, lebt in den Folgejahren in Finnland, Deutschland und Tschechien, schreibt währenddessen an seiner Autobiografie, die 2002 unter dem Titel Douhaja daroha dadomu (Der lange Weg nach Hause) erscheint. Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich. 2003 kehrt er ein letztes Mal in seine Heimat zurück und stirbt dort am 22. Juni 79-jährig in einem Krankenhaus bei Minsk. Der Präsident ist auf Dienstreise. Die Straßen von Minsk füllen sich mit Menschen.


    Anmerkung der Redaktion

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.

     

    Zum Weiterlesen:
    Astrouskaja, Tatsiana (2019): Search for Truth: Vasil’ Bykaǔ, in: dies.: Cultural Dissent in Belarus (1968-1988): Intelligentsia, Samizdat and Nonconformist Discourses, Wiesbaden, S. 89–97
    Gimpelevich, Zina J. (2005): Vasil Bykaǔ: His Life and Works, Montreal/London/Ithaca
    McMillin, Arnold (1999): Vasil’ Bykaǔ: The Pain of Truth, in: ders.: Belarusian Literature in the 1950s and 1960s: Release and Renewal, Köln/Weimar/Wien, S. 205–230

    1. Gimpelevich, Zina J. (2005): Vasil Bykaǔ: His Life and Works, Montreal/London/Ithaca, S. 33 ↩︎
    2. Saloska, Juras/Bykau, Wassil (2009): Kateharytschna ab’jauljaju, schto ja — pismennik belaruski…, in: Dsejaslou 39 ↩︎
    3. Bykau, Wassil (1976): Die Schlinge [übers. v. Thomas Reschke], in: ders.: Novellen. 2, Berlin, S. 5–171, hier S. 142 ↩︎
    4. Bykau, Wassil (1984): Zeichen des Unheils [übers. v. Thomas Reschke], Berlin, S. 349f. ↩︎
    5. Nawumtschyk, Sjarhei (2015): Dsewjanosta pjaty, Radyjo Swaboda, S. 164 ↩︎
    6. Nowy tschas: Wassil Bykau pra Lukaschenku: Takoe urashanne, schto jon tolki utschora pryljazeu s kosmassu [übers. d. Verf.] ↩︎

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  • „Geiseln verurteilt man nicht!“

    „Geiseln verurteilt man nicht!“

    Nach über 90 Minuten Befragung im staatlichen Sender ONT sagt Roman Protassewitsch einen Satz, dessen Botschaft viele Belarussen nur zu gut verstehen: „Und ich möchte nie wieder in die Politik verwickelt werden, oder in irgendwelche schmutzigen Spiele oder Streitigkeiten.“ Es ist ein Satz, den viele Belarussen in den vergangenen 26 Jahren verinnerlicht haben: sich nicht in die Politik einmischen. Denn, wenn sie es tun, wenn sie ihren Unmut gegenüber Alexander Lukaschenko auf die Straße tragen, wenn sie sich oppositionell betätigen, gibt es womöglich Probleme mit den Machthabern. 

    Solche Probleme hat eben nun der 26-jährige Protassewitsch, der vor zehn Tagen auf spektakuläre Art und Weise zusammen mit seiner Freundin Sofia Sapega festgenommen wurde: Das Ryanair-Flugzeug, in dem er saß, wurde während eines Flugs von Athen nach Vilnius zu einer Zwischenlandung in Minsk gezwungen. Vergangenen Donnerstag strahlte der Staatssender ONT besagtes Interview aus, in dem Senderchef Marat Markow Protassewitsch über seine Arbeit für den Telegram-Kanal Nexta, über die Opposition um Swetlana Tichanowskaja, über seine Zeit und Rolle beim „Asow“-Bataillon in der Ukraine und viele andere Themen sprechen lässt. 

    „Heute haben wir die öffentliche Hinrichtung von Roman Protassewitsch erlebt“, kommentierte der Historiker Alexander Fridman das ausgestrahlte Gespräch, in dem der Interviewte nicht etwa seine Sicht auf die Dinge und seine Überzeugungen darlegt. Protassewitsch fungiert als Überbringer von althergebrachten Narrativen, alten Botschaften in neuem Gewand und ein paar gänzlich neuen Bonmots der Staatspropaganda. So sei die Opposition um Tichanowskaja und Pawel Latuschko in der Diaspora nur an Geld interessiert, der Westen und die EU würden die Opposition und so letztlich auch die Proteste finanzieren, zudem habe ein Teil der Opposition selbst die Notlandung mit Protassewitsch inszeniert, um die belarussische Führung zu diskreditieren und Sanktionen durch die internationale Staatenwelt zu provozieren. 

    Das TV-Gespräch löste international vehemente Kritik aus. Auch auf belarussischer Seite wurden viele Stimmen laut – darunter die Eltern Protassewitschs –, die mutmaßten, dass das Interview unter Druck, möglicherweise unter Folter, entstanden sei. Der Menschenrechtler Sergej Ustinow analysierte dazu die Wunden an Protassewitschs Handgelenken und sein offensichtlich geschwollenes Gesicht und verglich dies mit den bekannten Foltermethoden des belarussischen KGB. Nikolaj Chalesin, Gründer des Belarus Free Theatres, urteilte, dass man Protassewitsch für seine Aussagen nicht schuldig sprechen dürfe und dass das Gespräch ein neuerlicher Beweis dafür sei, dass die Machthaber vor Gewalt, Niedertracht und Zynismus nicht halt machen: „In Belarus leben wir in einer Zeit, in der sich Beispiele für Schwäche, Verrat und Laster mit Beispielen für verzweifelten Mut, unglaubliche Stärke und überwältigende Liebe abwechseln. Dies sind die Zeichen des Krieges – der Wechsel von Hässlichkeit und Schönheit. Und es ist nicht an uns, über diejenigen zu urteilen, die nicht unsere Seite gewählt haben.“ Der Politologe Waleri Karbalewitsch kommentierte, dass viele Aussagen Protassewitschs vor allem an einen adressiert seien – nämlich an Lukaschenko selbst. Protassewitsch äußert dabei auch die Hoffnung, dass Lukaschenko ihn aufgrund seiner angeblichen Beteiligung am Krieg der Ukraine gegen die prorussischen Separatisten nicht an die Machthaber der Luhansker Volksrepublik ausliefere. Karbalewitsch schreibt: „Ein weinender Feind, der um Gnade und Nachsicht von Alexander Grigorjewitsch bittet, ist die politische Dividende, die alle negativen Folgen aufhebt: die Sperrung des Luftraums, Wirtschaftssanktionen und so weiter. Ein moralisch gebrochener Gegner ist Balsam für eine traumatisierte Seele.“

    In dem Gespräch, das im Original über vier Stunden gedauert haben soll, nannte Protassewitsch auch einen Chat, über den bekannte Belarussen die Proteste im Sommer 2020 geplant und organisiert haben sollen. So fiel auch der Name des renommierten politischen Analysten Artyom Shraibman, der am Tag nach der Ausstrahlung der Sendung Belarus verließ und sich nun in der Ukraine befindet. In einem Post, den er über seinen Telegram-Kanal und über Facebook verbreitete, erklärte er seine Beweggründe für die hastige Flucht und auch seine Beteiligung an besagtem Chat.

    Was für eine Ironie. Am Morgen des 3. Juni erscheint im Medienprojekt Redakzija ein Beitrag, der mit meinen Worten endet, ich würde mich nicht direkt gefährdet fühlen und Belarus deswegen nicht verlassen. Und schon abends packe ich eilig meine Sachen zusammen und mache mich auf den Weg.

    Ich finde es wichtig zu sagen warum. In dem Interview auf ONT hat Roman Protassewitsch gesagt, ich hätte beratend zur Seite gestanden in einem Chat, den man bezeichnen könnte als Koordinationszentrum der Revolution: Love Hata [dt. Liebeshütte].

    Ich kann nur raten, warum und ob aus eigenem Willen – doch Roma hat übertrieben, was meine Beteiligung angeht. Ich war tatsächlich bis Ende Herbst 2020 in diesem Chat, der seinerzeit als einfacher Online-Treffpunkt für Blogger begonnen hatte. Aber mit zunehmendem Umfang der Proteste wurde dieses Thema zum zentralen Diskussionspunkt.

    Mich hat interessiert, live zu beobachten, wie diejenigen miteinander kommunizieren, die ab August als Koordinatoren der belarussischen Revolution bezeichnet wurden. Diese Bezeichnung passt jedoch bei weitem nicht zu allen in diesem Chat, und die Besprechung der Details bevorstehender Aktionen geschah aus Sicherheitsgründen in Audiokonferenzen der Koordinatoren. Aus eben jenen Sicherheitsgründen habe ich an keiner dieser Konferenzen teilgenommen.

    Doch es ging dabei natürlich nicht nur um Sicherheit. Entschuldigt den Pathos: Ich vertrete schon lange die Position, dass ein Analyst nicht Teilnehmer sein kann oder darf an den Prozessen, die er analysiert, genau wie ein Fußballkommentator bei einem Spiel nicht gleichzeitig Feldspieler sein kann. Viele kritisieren mich für diese Zurückhaltung, doch Politik ehrlich analysieren und gleichzeitig politisch aktiv sein, das könnte ich nicht.

    Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht genau, ob die belarussischen Geheimdienste überhaupt ein auf Verhaftung abzielendes Interesse an mir hatten. Es gibt Gerüchte über die Vorbereitung eines Strafverfahrens, doch das lässt sich momentan schwer belegen. Paradoxerweise wussten die Silowiki über die Existenz dieses Chats, seine Themen und Teilnehmer mindestens seit Mitte Herbst. Ich wurde sogar schon im Dezember auf ONT in der Teilnehmerliste gezeigt, vor einem halben Jahr. Und nichts ist passiert.

    Ich habe damals nicht das Land verlassen, weil mir bewusst war, dass man mir eigentlich nichts vorwerfen kann. Trotz der geleakten Screenshots aus dem Chat und obwohl die Geheimdienste sicherlich einen riesigen Fundus solcher Screenshots haben, wusste ich genau, dass da keine „Strippenzieherei“ von mir zu finden ist, weil es sie tatsächlich auch nicht gab. Höchstens, wenn man sie in Photoshop malt. Es gab von mir keinerlei Beratung jenseits einer grundlegenden Beschreibung dessen, wie ich die Lage im Land sehe, also das, was ich auch in Interviews und Artikeln sage.

    Doch im heutigen Belarus ist selbst die Nichtbeteiligung an dem, was die Staatsmacht für ein Verbrechen hält, keine ausreichende Absicherung mehr. Im Fall tut.by, bei dem es formal um Steuern des Unternehmens geht, sitzt der politische Block der Redaktion ein, Leute, die vermutlich keinerlei Ahnung davon haben, wie viel Steuern gezahlt werden.   
    In meinem Fall ist das genau die gleiche Situation. Allein die Tatsache, dass ich vor vielen Monaten in diesem Chat dabei war und jetzt die laute Äußerung von Protassewitsch, dazu ein Moderator, der in Bezug auf mich extra nachgefragt hat – das bedeutet den Übergang in eine ungemütliche Risikozone. Dieses Gefühl wurde stärker, als ich an eben jenem Abend draußen an meinem Hauseingang etwas bemerkte, das sehr nach Beschattung aussah. 

    Ich weiß nicht, ob mir Verhaftung drohte. Sie strahlten Romans Interview aus, ohne mich vorher festzunehmen, obwohl ich mich nicht versteckt hatte. Möglicherweise wäre auch jetzt wieder alles ausgegangen wie vor einem halben Jahr, also folgenlos. Doch unter diesen Vorzeichen einfach weiterhin ruhig im Land zu leben und zu arbeiten, wäre schwierig gewesen. Daher musste ich die schwere Entscheidung treffen, zu gehen. Beide Alternativen – Untersuchungshaft oder tägliche Erwartung der Untersuchungshaft – wären sowohl für mich als auch für meine Nächsten schlimmer gewesen.
    Im Grunde war’s das schon. Ich danke für die Aufmerksamkeit, für die Anteilnahme und für die vielen Angebote zu helfen. Meine Situation ist ungleich einfacher als die derer, die im Gefängnis sitzen oder auf die Entlassung ihrer Angehörigen warten müssen. Deswegen wäre es an meiner Stelle eine Sünde zu verzagen. Ich arbeite weiter, wie ich bisher gearbeitet habe. Ich werde mein Bestes geben, meine gewohnte Herangehensweise an Analysen beizubehalten, auch wenn man versucht, aus mir den Berater von irgendjemandem zu kneten. Ich habe niemanden beraten und habe es auch nicht vor. 
    Dann bis bald in der Heimat. Alles geht vorüber.

    PS: Groll gegen Protassewitsch gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Wir wissen nicht, welchen Keller in Luhansk und welches Schicksal für seine Freundin man ihm ausgemalt hat für den Fall, dass er das Interview ablehnt. Geiseln verurteilt man nicht. 

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  • Mediamasterskaja #1: Haben Frauen auch die Medien in Belarus bereits verändert?

    Mediamasterskaja #1: Haben Frauen auch die Medien in Belarus bereits verändert?

    „Wir brauchen keine starken Anführer – wir brauchen eine starke Gesellschaft.“ Dies sagte die Philosophin Olga Shparaga im August 2020 in einem Interview, kurz nachdem sich eine historische Protestwelle gegen die belarussischen Machthaber erhoben hatte. Das autoritäre System von Alexander Lukaschenko versucht bis heute diesen gesellschaftspolitischen Wandlungsprozess durch Gewalt und Repressionen aufzuhalten und zu stoppen. Viele wie Olga Shparaga, die die historischen Ereignisse in ihrem Buch Die Revolution hat ein weibliches Gesicht beschreibt, haben das Land mittlerweile verlassen und arbeiten von Vilnius, Warschau oder Berlin aus daran, die Silowiki in Belarus unter Druck zu setzen und die entstandene Oppositionsbewegung voranzutreiben.

    Mit unserer Podcast-Reihe Mediamasterkaja (dt. Medienwerkstatt) wollen wir den eingeleiteten Wandlungsprozess in Bezug auf die Medien kritisch begleiten und mit unterschiedlichen Akteuren erörtern. In der ersten Folge sind es Olga Shparaga und die Gender-Forscherin Lena Ogorelyschewa, die diskutieren, inwieweit die Rolle der Frauen bei den Protesten auch die belarussische Medienwelt bereits geprägt hat – oder wie das Auftreten einer Frau wie Swetlana Tichanowskaja das klassische Rollenverständnis auch von Medien und Journalisten in Belarus herausgefordert hat. Wir bringen einige Auszüge aus dem Podcast.

    Frauen wurden bei den Protesten schnell zu einem agierenden Kollektiv, hier am 11. August 2020 in Minsk / Foto © Olga Schukailo/tut.by
    Frauen wurden bei den Protesten schnell zu einem agierenden Kollektiv, hier am 11. August 2020 in Minsk / Foto © Olga Schukailo/tut.by

    Mediamasterskaja: Kann man sagen, dass Frauen eine Schlüsselrolle bei den Protesten von 2020 gespielt haben?

    Olga Shparaga: Durch die Märsche, die im August zusätzlich zu den großen Sonntagsmärschen begannen, wurden die Frauen dann in dem weiteren Protest zu einem agierenden Kollektiv, das natürlich nicht homogen ist. Wie ich in meinem Buch über die Revolution in Belarus schreibe, ist dieses weibliche Subjekt durch das Patriarchat gespalten. Ein Teil der Frauen begreift sich als feministisch, ein anderer nicht. Aber das ist ein normales Phänomen, das wir in modernen Gesellschaften überall auf der Welt beobachten können. Es hängt mit der Polarisierung der Gesellschaften zusammen, mit der ungleichen sozialen, ökonomischen, politischen Position von Frauen, auf die verschiedene Frauen, die sich in verschiedenen Situationen befinden, mit unterschiedlichem Bildungsgrad und Einkommen, unterschiedlich reagieren.

    Dass die Herausbildung eines kollektiven weiblichen Subjekts eine wichtige und neue Etappe war, sehen wir unter anderem daran, dass es ab dem dritten Frauenmarsch harte Repressionen und Festnahmen gab. Das führte dazu, dass die Organisatorinnen diese Form des Protests schließlich aufgeben mussten.

    Dennoch waren und sind die Frauen weiterhin im öffentlichen Raum präsent. In kleinen Gruppen, ja, aber sie sind sehr kreativ und beweisen nach wie vor, dass Frauen Führung übernehmen können, dass sie der Gesellschaft neue Formen des Protests und des Widerstands anbieten können. Sie beweisen, dass Frauen Verantwortung übernehmen, Leaderinnen sein und uns verschiedene Formen der Solidarisierung anbieten können.

    Hat die Aktivität der Frauen bei den Protesten das Bild von Frauen bereits verändert?

    Eine wichtige Etappe war, denke ich, die Schwesterlichkeit in den Gefängnissen, der Zusammenhalt unter Frauen. Sie schreiben darüber in ihren Briefen, wie zum Beispiel Julia Sluzkaja. Wir erfahren daraus, wie wichtig diese gegenseitige Unterstützung für die Frauen ist. Eine weitere wichtige Komponente, eine wichtige Dimension der Revolution von 2020 verbinden diverse Forscher heute mit dem Begriff der gegenseitigen Fürsorge. Fürsorge lässt neue soziale und horizontale Verbindungen entstehen – etwas, das in der belarussischen Gesellschaft sehr gefehlt und sich im Verlauf der Ereignisse herausgebildet hat. Hierfür waren oft Frauen die Impulsgeberinnen, sie bestimmten die Stoßrichtung. Von diesen Verbindungen hängt in meinen Augen die demokratische Zukunft von Belarus ab.

    Die Tatsache, dass ein Teil der belarussischen Gesellschaft derart überrascht war von der aktiven Position von Frauen, hängt natürlich mit den bestehenden Stereotypen zusammen. Diese Stereotype werden wiederum von den offiziellen Medien aktiv unterstützt. Denken wir nur an die Aussage von Lidija Jermoschina, dass Frauen Borschtsch kochen sollten, anstatt sich mit Politik zu beschäftigen. Leider sind solche Ansichten auch für die belarussische Zivilgesellschaft und die unabhängigen Medien charakteristisch. Wir wissen, mit welcher Art von sexistischen Äußerungen die Präsidentschaftskandidatin Tatjana Korotkewitsch 2015 konfrontiert war. Genau diese Stereotype und Vorstellungen waren der Grund dafür, dass ein Teil der belarussischen Gesellschaft die Frauenbewegung am Anfang nicht ernst genommen hat.

    Aber ich glaube, die Tatsache, dass die Aktivierung der Frauenbewegung in mehreren Etappen verlief und die Frauen ihre Fähigkeit, Führung zu übernehmen, Leaderinnen zu sein und als Team zu arbeiten auf jeder Etappe von einer neuen Seite entdeckt haben, hat die Sicht auf die Frauen verändert.

    Wie lässt sich die Sichtbarkeit von Frauen in Politik und im gesellschaftlichen Leben erhöhen?

    Warum werden Frauen so widerwillig in Geschichte, Politik und das öffentliche Leben einbezogen, warum werden sie immer auf die zweiten Ränge verwiesen? Weil in der belarussischen Gesellschaft patriarchale Denkmuster vorherrschen, also die Vorstellung, dass Männer Führungsrollen übernehmen können und sollen und Frauen im Hintergrund zu bleiben haben. Und das sehen wir leider nicht nur im staatlichen Kontext. Leider beobachten wir das auch innerhalb der Zivilgesellschaft.

    Zweitens müssen wir beachten, dass auch Kommentatoren, Redakteure von Internetportalen, Journalisten und Leiter von diversen Projekten die Hintergrundrolle der Frau mit deren individuellen Fähigkeiten in Verbindung bringen und nicht mit der sozialen Ordnung, den Stereotypen, die in der Gesellschaft vorherrschen. Daraus folgt, dass die leitenden Akteure – meist Männer, selten auch Frauen – nicht verstehen, wie wichtig es ist, dass Frauen einen würdigen Platz in der Gesellschaft einnehmen, einen Platz, den sie einnehmen können und wollen. Dass Frauen ihre Unterstützung brauchen, dass man die bestehenden Stereotype kritisieren muss.

    Wie können die Medien die Rolle der Frau stärken?

    Ich finde, noch vor einem oder mehreren Monaten haben wir mehr weibliche Expertinnen gesehen. Hervorzuheben wären da Walerija Kostjugowa, Katerina Schmatina oder Tatjana Tschulizkaja.

    Dass die Frauen aus dem öffentlichen Raum verschwunden sind, dass sie weniger werden, beweist meiner Meinung nach, dass wir bewusst daran arbeiten müssen und uns auf die Anwesenheit von Frauen fokussieren. Wir brauchen dringend ein Verständnis davon, dass die Abwesenheit von Frauen im öffentlichen Raum gesellschaftliche Gründe hat, und nicht etwa mit angeborenen oder individuellen psychologischen Besonderheiten von Frauen zusammenhängt. Das bedeutet nämlich, dass man dieses Problem beheben kann, indem man die Rahmenbedingungen ändert. Und diese Bedingungen können von den Redakteuren, Journalisten, Projektleitern selbst geändert werden. Es muss eine Politik geben, die die Gleichberechtigung der Geschlechter anstrebt.

    Aber das Wichtigste ist, glaube ich, dass das alles nicht geschehen wird, solange nicht die Projektleiter und Redakteure davon überzeugt sind, dass die Teilnahme von weiblichen Expertinnen, die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum sowohl für die Frauen als auch für die Gesellschaft als Ganzes wichtig ist. Die Wichtigkeit hat die Revolution von 2020 bewiesen, die Veränderungen, die in der belarussischen Gesellschaft passiert sind, ihre Aktivierung, das Entstehen von neuen sozialen Verbindungen, die Fortsetzung des Widerstands, den es natürlich nach wie vor gibt in der belarussischen Gesellschaft.

    Warum hat das Image, das Swetlana Tichanowskaja um ihre Person aufgebaut hat, den Belarussen so gefallen? 

    Lena Ogorelyschewa: Für das moderne Belarus mit seiner zwiespältigen Wahrnehmung der Genderfrage war die Figur Swetlana Tichanowskaja und ihre Image-Kampagne deshalb so erfolgreich, weil sie einerseits eine starke Führungspersönlichkeit ist, eine Leaderin, die vor Tausenden von Menschen auftreten konnte. Ich spreche jetzt von der Swetlana Tichanowskaja, wie wir sie während des Wahlkampfs erlebt haben.

    Sehr vielen Menschen hat sie als Leaderin imponiert, aber auf der anderen Seite war da auch ihre persönliche Geschichte, die ebenfalls maximal verbreitet wurde: Dass sie diese Führungsrolle quasi ungewollt übernommen hat, weil sie vor allem Ehefrau und Mutter ist. Dass sie das alles nur deshalb auf sich genommen hat, weil ihr Mann inhaftiert wurde. Das hat auch den Menschen gefallen, die sonst für traditionelle Werte einstehen, für die patriarchale Ordnung. Ein großer Teil der potentiellen Wählerschaft von [Sergej] Tichanowski hat sie unterstützt und gewählt, weil es gewissermaßen ein Kompromiss war: Ich unterstütze ja nicht eine Frau, sondern die Ehefrau von Tichanowski. Oder, ich unterstütze ja eigentlich Tichanowski, aber weil ich ihn nicht wählen kann, wähle ich seine Frau.

    Swetlana Tichanowskaja übernahm die Führungsrolle im Wahlkampf quasi ungewollt / Foto © tut.by
    Swetlana Tichanowskaja übernahm die Führungsrolle im Wahlkampf quasi ungewollt / Foto © tut.by

    Wenn wir uns unsere Kultur und die Frauenfiguren ansehen, die darin gepriesen werden, dann ist genau dieses Bild – die Frau als Mutter, ihre Bereitschaft, sich für irgendwelche gesellschaftlichen Ziele zu opfern – durchaus überlebensfähig und populär. Deshalb hat diese Geschichte sehr vielen Menschen, auch solchen, die sonst unpolitisch sind, imponiert.

    Die Leute sind auch der Schwäche von Swetlana Tichanowskaja gefolgt

    Auch die PR-Strategie war sehr erfolgreich, wiederum nicht unbedingt nach Lehrbuch, wie man einen politischen Leader aufbaut. Bei Tichanowskaja war alles umgekehrt: Sie hat ihre Schwäche in den Vordergrund gestellt, dass sie lieber Frikadellen braten würde. Und das war erfolgreich. Die Menschen sind ihr gefolgt. Unter anderem ihrer Schwäche. Manche haben darin eine Stärke gesehen. Manche sagten sich: Alles okay, das sind keine Feministinnen, die die Macht ergreifen, wenn alles vorbei ist, geht die Frau zurück zur Familie.

    Ja, jetzt ist natürlich alles anders. Sowohl ihr Image als auch die Art, wie sie sich positioniert. Sie wirkt wie eine unabhängige, starke Politikerin, deren Worte Autorität haben. Aber angefangen hat alles genau so. Leider kann man sich noch immer schwer eine Strategie vorstellen, die für eine weibliche Politikerin erfolgreicher wäre als die, die sie in dem Moment gewählt hat. Selbst in dem so fortschrittlichen Amerika sind die Leute nicht bereit, für Hillary Clinton zu stimmen. Lieber Trump als Hillary, zeigt uns die Praxis.

    In der ersten Zeit hat Swetlana Interviews gemieden. Ihr Erscheinungsbild unterschied sich sehr von dem, wie es heute ist. Aber dann, nachdem sich die Wahlkampfstäbe zusammengeschlossen hatten, wurde allen klar, dass Swetlana die einzige Alternative zur herrschenden Macht ist. Ob wir das wollen oder nicht, eine andere Alternative gibt es nicht.

    Auch danach wurde Tichanowskaja kritisiert, aber ich kann mich nicht an eine Flut von Artikeln erinnern, die sie immer noch ausgelacht oder kritisiert hätten für ihre, nun ja, nennen wir es Unprofessionalität. Langsam bildete sich eine Parallele heraus: Wenn du Tichanowskaja kritisierst, bist du für die Macht. Etwas dazwischen gibt es nicht.

    Ich denke, am Anfang haben die Medien sie manchmal gnädiger behandelt, waren vielleicht geduldiger mit ihren Schwächen als politische Anführerin. Wenn wir analysieren, was geschrieben wurde, dann überwiegen die Artikel, die Tichanowskaja begeistert lobten. Diese Begeisterung gab auch in den folgenden sechs Monaten den Ton an, nicht nur die Begeisterung der Journalisten, sondern auch die des Publikums, das ihr überwiegend wohlgesonnen war. Nur selten kamen kritische Äußerungen in ihre Richtung.

    Wie veränderte sich die Berichterstattung mit der Veränderung von Tichanowskajas Image?

    Sie wird jetzt als gestandene und unabhängige Politikerin beurteilt. Deshalb gibt es mittlerweile auch Artikel wie „Hier hätte das Tichanoswkaja-Büro vielleicht das tun können, und hier hätte es vielleicht besser anders gehandelt“. Eine interessante Tendenz, finde ich. Im ersten Moment hatte man Mitleid, im nächsten begann man an sie zu glauben. Und ehe man sich versah, war sie nicht mehr die Frau in der Politik, sondern einfach nur Politikerin. Man kann jetzt nicht mehr einfach zurück zu der Situation, wo man sie vor allem als Frau oder als besonders weiblich beurteilt hat, weil sie diese Etappe schlicht hinter sich gelassen hat.

    Wir haben uns damit abgefunden, dass Tichanowskaja in unserem Informationsfeld existiert, dass sie ein unabhängiges Subjekt ist und im Grunde eine der ganz wenigen Hoffnungen darauf, dass sich der Fall Belarus nach einem positiven Drehbuch entwickelt. So hat sie unter anderem auch den potentiellen Sexismus besiegt, der in ihre Richtung zielte.

    Das heißt nicht, dass alles nur gut ist. Es kann alle möglichen Meinungen zu Tichanowskaja geben, aber die, die sie eher loben als kritisieren, überwiegen.

    Gibt es zunehmend weibliche Expertinnen, und wovon hängt das ab?

    Wir sehen zum Beispiel, dass man jetzt relativ regelmäßig Frauen als politische Beobachterinnen einlädt. Plötzlich hat sich herausgestellt, dass es in Belarus nicht nur Frauen gibt, die von Beruf Politikerinnen sind, sondern sich auch mit der Analyse von politischen und wirtschaftlichen Prozessen beschäftigen, und diese Frauen werden jetzt in die Redaktionen eingeladen.

    Aber das ist in Wirklichkeit ein sehr langsamer Prozess. Und wir müssen uns klar sein, dass sich alles hier Gesagte nur auf unabhängige Medien bezieht. Ja, man sieht zum Teil mehr weibliche Expertinnen. Im März gab es zum Beispiel viele runde Tische, an denen auch Frauen teilgenommen haben, Politikwissenschaftlerinnen, Frauen, die in soziologische Forschungen involviert sind, und eine ganze Reihe von anderen Expertinnen. Aber im April war alles wieder beim Alten.

    Die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum ist für die Gesellschaft als Ganzes wichtig / Foto © Wadim Samirowski/tut.by
    Die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum ist für die Gesellschaft als Ganzes wichtig / Foto © Wadim Samirowski/tut.by

    Wenn wir uns zum Beispiel heute dieselbe Situation im Westen anschauen, dann kann man sich schwer eine große Paneldiskussion vorstellen, an der keine einzige Frau teilnimmt. Das würde sofort negativ aufstoßen. Das Publikum wäre empört: „Was ist denn hier passiert? Ist irgendwas kaputt? Bringt das schnellstens in Ordnung“, weil man es nicht mehr gewohnt ist.

    Ich würde gerne glauben, dass die belarussische Medienwelt irgendwann an den Punkt kommt, an dem die völlige Abwesenheit von Frauen in bestimmten Bereichen etwas Ungewohntes sein wird. 

    Welche Rolle spielte die Staatspropaganda bei der Beleuchtung der Ereignisse des Jahres 2020?

    Das ist ein sehr wichtiger Punkt, über den ich auch gerade nachdenke: Wie Frauen in den staatlichen Medien dargestellt werden, denn auch dort können wir eine Spaltung beobachten, die es seit August gibt und die sich immer mehr vertieft. Damit meine ich, dass es aus Sicht der Staatsmedien offenbar „normale Frauen“ und die Smaharki-Frauen gibt – solche, die an Protesten teilnehmen.

    Das Bild der „normalen Frau“ hat sich nicht geändert. Immer noch dieselbe Palette von patriarchalen und sonstigen Stereotypen. Aber die Smaharki werden auf jede erdenkliche Weise diskreditiert, da sind der Kreativität der Künstler und Schreiber von politischen Pamphleten keine Grenzen gesetzt.

    Von einer dieser Künstlerinnen gibt es ein Bild, Der Frauenmarsch. Ziel war es, die Frauen zu diffamieren und zu zeigen, wie abnormal sie sind, weil sich „normale Frauen“ solche Emotionen nie erlauben würden, aber ich finde dieses Porträt sehr lebendig und menschlich. Seit ich es kenne, liebe ich die Frauen, die an politischen Prozessen teilnehmen, noch viel mehr. Sie sind dort so lebendig, so ungleichgültig.

    Dieses Porträt will die Gesichter der Frauen entstellen, denn das weibliche Gesicht soll ja, wie wir alle wissen, schön sein. Aber für mich steckt die Schönheit genau da drin, in dem Schmerz, den man angesichts der Ereignisse empfindet, den Schmerz angesichts der menschlichen Tragödien, die Frauen und Männer hier und jetzt erleben, wo immer sie gerade sind. Und auch den Schmerz darüber, wie die Staatspropaganda versucht, das belarussische Volk zu entzweien, indem sie sich unter anderem dieser festgefahrenen Geschlechterstereotypen bedient. Sie versucht auch die Frauen zu entzweien. Ihr Ziel erreichen sie nicht. Mit diesen Versuchen und dem plumpen Spiel mit dem Patriarchat erreichen sie exakt das Gegenteil.

    Warum sind die Massenmedien nicht mehr die primäre Quelle für wichtige Informationen?

    Da kommen wir wieder auf die Rolle der Medien. Hier könnten wir eine ganz eigene Diskussion aufmachen, aber sie passt sehr gut zu dem, was aktuell in Belarus passiert. Wir sehen, dass die sozialen Netzwerke, die Mikroblogs, diverse Kommunikationskanäle heute eine riesige Rolle spielen. Und wenn wir uns nochmal Tichanowskaja ansehen, aber auch andere Frauen, die 2020 mit politischen Ambitionen vorgetreten sind, sehen wir, dass die Nachrichten ihr Publikum nicht mehr unmittelbar aus den Massenmedien erreichten – jeder, der wollte, konnte ihren Telegram-, Facebook-, Instagram– oder YouTube-Kanal abonnieren und die Informationen aus erster Hand bekommen. Und wenn man seine Informationen aus den Mikroblogs einer bestimmten Personen bezieht, können die Medien das Bild nicht mehr so leicht verzerren, wenn sie das wollen.

    Wobei ich in dem Fall gar nicht von verzerren sprechen will, denn im Hinblick auf einen politischen Leader oder politische Leaderin muss natürlich klar sein, dass eine Swetlana Tichanowskaja in Wirklichkeit ganz anders sein kann, als das Image, das ihre PR-Abteilung von ihr zeichnet. Das ist weder gut noch schlecht – das ist einfach die Realität. Bei männlichen Politikern ist das nicht anders – ihr Bild in der Öffentlichkeit kann sich sehr stark von dem unterscheiden, wie sie in Wirklichkeit sind. Aber das Sprachrohr der PR ist so mächtig, dass die Massenmedien es manchmal schwer haben, dieses Bild zu beeinflussen.

    Ich würde sagen, dass die Medien die Inspiration, die von Tichanowskaja ausging, von dem Zusammenschluss der drei Wahlkampfstäbe und den drei Gesichtern der weiblichen Revolution, natürlich befeuert haben. Aber sie haben eher das aufgegriffen, was in der Realität passierte. 

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     „Mir fällt es schwer, über die Gegenwart zu sprechen, wenn ich die Vergangenheit nicht verstehe.“ In diesem Satz liegt wohl die Quintessenz dessen, was Lesia Pcholka antreibt und was ihre Arbeit ausmacht. Die Belarussin beschäftigt sich als Fotografin, Künstlerin oder Projektmanagerin in unterschiedlichen Formen mit der Aufarbeitung der Geschichte ihres Landes, seiner Kultur und seinen Traditionen. Gerade hat sie mit ihrer Initiative VEHA nach drei Jahren Arbeit zwei Projekte zum Abschluss gebracht: Die beiden Bücher Dsjawotschy wetschar (dt. Jungfernabend) und Aposchni fatasdymak (dt. Das letzte Foto) umfassen 100 Fotografien aus der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Belarus zum Russischen Zarenreich gehörte, bis zur zweiten Hälfte der 1980er Jahre in der Sowjetunion. Die beeindruckenden Fotos von Hochzeiten und Beerdigungen stammen aus unzähligen Familienarchiven, die Lesia Pcholka in den vergangenen Jahren zusammentragen konnte. Die Bilder zeigen die Veränderung von Traditionen und Ritualen vor dem Hintergrund von gesellschaftspolitischen und kulturhistorischen Wandlungsprozessen in Belarus.

    1915–1925, Sluzk, Oblast Minsk. Aus dem Archiv von Dzmitry Sjarebrnikau. Alle Fotos © VEHA.by
    1915–1925, Sluzk, Oblast Minsk. Aus dem Archiv von Dzmitry Sjarebrnikau. Alle Fotos © VEHA.by

    dekoder: Mit was beschäftigt sich VEHA? Und wie ist das Projekt entstanden?

    Lesia Pcholka: VEHA lässt sich am ehesten als eine unabhängige Initiative beschreiben, die sich mit Archivfotografie und der Alltagsgeschichte der Belarussen beschäftigt. Ich habe sie 2017 gegründet, und zwar als eine Reaktion auf die Unzugänglichkeit der belarussischen Archive und die einseitige Darstellung unserer Geschichte. Die wird vor allem über die Tragödie des Großen Vaterländischen Kriegs konstruiert und über die Angst, dieser könnte sich jederzeit wiederholen. Das öffentliche Narrativ beginnt natürlich mit dem einigermaßen bequemen Jahr 1941 und endet mit den Erben des Sieges (so heißt ein Saal im neuen Museum des Großen Vaterländischen Kriegs in Minsk, in dem Porträts des Präsidenten und seiner Familie ausgestellt sind). Die Erinnerungsmuster, die man uns bietet und die uns zugänglich sind, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Große Vaterländische Krieg aus Sicht der heutigen Regierung, das Großfürstentum Litauen als einer der Vorgängerstaaten von Belarus, aus Sicht der damaligen Opposition. VEHA aber geht es um die Bewahrung der unsichtbaren Geschichte, um das Verstehen der kulturellen Codes auf alten Fotografien und um die Beteiligung jedes einzelnen am Erhalt des kulturellen Erbes. Das erscheint dem gegenwärtigen Regime so langweilig, dass es nicht einmal unter die Zensur fällt. 

    Woher kam die Idee für die Projekte zu den Hochzeits- und Beerdigungsfotos?

    2018 haben wir das erste Buch Nailepschy bok (dt. Die beste Seite) herausgegeben, in dem wir Portraits von Belarussen vor gewebten Teppichen gesammelt haben. Es sind Aufnahmen von armen Leuten auf dem Land in der Zwischenkriegszeit. Sie konnten sich keinen Besuch im Fotostudio leisten, deswegen wird das auf den Fotos imitiert. Das erkennt man nur, wenn man den Kontext kennt, in dem diese Bilder entstanden sind. Auf den Fotos sehen wir schön gekleidete Menschen, die sich von ihrer „besten Seite“ zeigen, um für ihre Nachfahren ein positives Bild von ihrem Leben zu hinterlassen. Nach dem Erscheinen des ersten Buchs beschlossen wir, eine Retrospektive des gesamten 20. Jahrhunderts zusammenzustellen, und mit etwas Glück auch des auslaufenden 19. Jahrhunderts, um zu sehen, wie sich Generation um Generation verändert, um eine visuelle Chronologie zu kreieren. 

    Das beliebteste Thema, das dokumentiert wird, war und ist die Hochzeit. Wir fingen also an, Hochzeitsfotos zu sammeln, um ein Narrativ anhand der Kommunikation von Frauen während der Erstellung eines wjasselnaga wjanka (eines Kranzes aus Kunstblumen für die Braut) herauszuarbeiten. Viele Hochzeitsbräuche, die heute tradiert werden, wurden künstlich geschaffen, ihnen liegt die Idee der Manipulation zugrunde, etwas zu lenken, durch sie werden Politik oder kapitalistische Prinzipien des Konsums umgesetzt. Nicht viele Menschen kennen die Herkunft, Bedeutung und Authentizität der Bräuche. Die Fotografien zeigen die Entstehungszeit von Bräuchen und ihr Verschwinden.  

    Belarus ist ein sehr ländlich geprägtes Land, das viele Kriege und Katastrophen erlebt hat. Welchen Einfluss hat dies auf Familienarchive und die Fotografie an sich?

    Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war die Fotografie ein Privileg der Städter. Um sich fotografieren zu lassen, musste man ein Studio aufsuchen, diese befanden sich meist in der Nähe der Eisenbahn und wurden überwiegend von jüdischen Familien betrieben. Dorfbewohner konnten sich teure Fotografien oft nicht leisten, außerdem hätten sie dafür in die Stadt fahren müssen. Die meisten Familienarchive wurden seit Anfang der 1950er Jahre gesammelt – nachdem die Fotografie nicht mehr an Studios gebunden war und sich schnell ausbreitete. Nicht zu vergessen sind auch die zwei Weltkriege und die Repressionen, als in Familien viele Fotografien einfach vernichtet wurden, um bestimmte Verwandtschaftsbeziehungen zu verbergen. Derzeit erleben wir einen weiteren Verlust einer ganzen Schicht unserer visuellen Geschichte, weil die Menschen den Wert von Familienfotografie nicht sehen und sie dementsprechend auch nicht in der nötigen Form aufbewahren. 

    Kümmern sich in Belarus nicht die staatlichen Museen um den Erhalt solcher Fotos?

    Doch, aber sie betreiben das völlig losgelöst von den Menschen. Auf den Webseiten der Museen finden sich kaum Fotoarchive, und es ist nahezu unmöglich, an die Bestände zu kommen. Im vergangenen Jahr habe ich selbst versucht, mir die Frage zu beantworten, was denn mit unseren Museen nicht stimmt, und kam zu folgendem Ergebnis: Für 2017 bis 2020 gab es einen Plan, der eine Modernisierung der Museen und eine Digitalisierung der Exponate vorsah, es sollten Kataloge erstellt, neue Technologien bei der Ausstellungs- und Bildungsarbeit eingeführt werden (so stand es im Gesetz zu den Museen und Museumsbeständen der Republik Belarus). Das wurde auch umgesetzt – alle belarussischen Museen haben jetzt eine Webseite. Ich habe es selbst überprüft. Das Problem ist nur, dass es meistens Standardwebseiten sind, die nur ein Minimum an Information enthalten; Kataloge der Bestände finden sich dort gar nicht. Ich habe mit einigen Museumsmitarbeitern gesprochen und sie gefragt, warum die staatlichen Museen so einen schlechten Internetauftritt haben. Die häufigste Antwort war: Fehlende Mittel und die Machtvertikale im Entscheidungsprozess (der sogenannte Plan „von oben“, der einen strengen Rahmen vorgibt). Die zweithäufigste: Die Museumsmitarbeiter wollen die Exponate aus ihren Beständen nicht online präsentieren, weil sie befürchten, dass die Besucher dann nicht mehr ins Museum kommen. Ließe sich das erste mit finanziellen Mitteln lösen, so ist das zweite eine Frage des Umdenkens darüber, was ein Museum eigentlich ist – dafür braucht es Weiterbildung und Zeit. 

    Auf den Beerdigungsfotos sind Freunde und Verwandte um den Sarg der Verstorbenen gruppiert. Was ist das für eine Tradition, und wie ist sie entstanden?

    Das ist eine sehr alte Tradition, solche Fotos finden sich in fast jedem Familienalbum. Besonders verbreitet waren sie in den 1970er Jahren, damals wurden halbautomatische Kameras jedem zugänglich. Im Gegensatz zu europäischen Traditionen wurden Tote nie wie Lebende fotografiert, also mit offenen oder aufgemalten Augen, in netten Posen. So etwas zu tun, galt als ein beleidigender Umgang mit dem Körper des Verstorbenen. Die kanonisierten Traditionen waren ein Porträt vom Verstorbenen im Sarg in Nahaufnahme und unbedingt ein Foto von einer Menge an Verwandten um den Sarg. Während die Trauernden in den 1930er Jahren in die Kamera gesehen und posiert hatten, sahen sie später, ebenfalls posierend, den Toten an, um ihm quasi die letzte Ehre zu erweisen. Im Moment der Aufnahme gehörte es sich nicht, Gefühle zu zeigen (die Angehörigen weinten und klagten nicht); Menschen verschiedenen Alters sahen dem Verstorbenen ruhig und ernst ins Gesicht. Heute berichten sie, dass diese Kollektivaufnahmen angefertigt wurden, „um sich zu erinnern, wer bei der Beerdigung war“, und dass sie daran teilgenommen haben, weil es wichtig sei „Traditionen zu achten“. 

    Werden solche Fotos auch heute noch gemacht?

    Heute wollen viele Menschen ihre Angehörigen nicht tot auf Fotos sehen, sie wollen sie „lebend in Erinnerung behalten“, deswegen werfen sie die Fotos von Beerdigungen weg. Die Erinnerung an den Tod wird aus dem Leben der Menschen verdrängt, was typisch ist für eine postchristliche, atheistische Gesellschaft, die den Tod fürchtet. Beerdigungsfotos werden aus Familienalben entfernt und nur die ältere Generation bewahrt sie aus Tradition auf. Wobei diese Träger der Tradition selbst nicht wirklich erklären können, wozu sie es machen.

    1900–1915, Minsk. Fotostudio von Hirscha Hatouskau. Aus dem Archiv von Ivan Maraŭjeŭ
    1900–1915, Minsk. Fotostudio von Hirscha Hatouskau. Aus dem Archiv von Ivan Maraŭjeŭ
    1920–1939, Brest. Aus dem Archiv von Aliaksandr Paščuk
    1920–1939, Brest. Aus dem Archiv von Aliaksandr Paščuk
    Links - 6. August 1933, Kamjanez, Oblast Brest. Aus dem Archiv von Andrej Astašenia. Rechts - 1936, Polesien. Traditionelles Hochzeitskleid. Foto von Zofja Chamiantoŭskaja. Aus dem Archiv der Stiftung für Archäologie der Fotografie
    Links – 6. August 1933, Kamjanez, Oblast Brest. Aus dem Archiv von Andrej Astašenia. Rechts – 1936, Polesien. Traditionelles Hochzeitskleid. Foto von Zofja Chamiantoŭskaja. Aus dem Archiv der Stiftung für Archäologie der Fotografie
    1930–1940, Oblast Vitebsk. Aus dem Archiv des historisch-kulturellen Museumskomplexes Polazk
    1930–1940, Oblast Vitebsk. Aus dem Archiv des historisch-kulturellen Museumskomplexes Polazk
    1950–1960, Brest. Aus dem Archiv von Alieh Pališčuk
    1950–1960, Brest. Aus dem Archiv von Alieh Pališčuk
    1950–1955 Staryna, Rajon Ljosna, Oblast Vitebsk. Aliena Bierzin and Viktar Varapajeŭ. Aus dem Archiv des Militärmuseums von Ljosna
    1950–1955 Staryna, Rajon Ljosna, Oblast Vitebsk. Aliena Bierzin and Viktar Varapajeŭ. Aus dem Archiv des Militärmuseums von Ljosna
    1950–1960, Hradzianka, Asipovichy Rajon, Mogiljow Oblast. Aus dem Archiv der Familie Byčkoŭ
    1950–1960, Hradzianka, Asipovichy Rajon, Mogiljow Oblast. Aus dem Archiv der Familie Byčkoŭ
    1955–1960 Dzivin, Rajon Kobryn, Oblast Brest. Familie Skraščuk. Aus dem Archiv von Iryna Dajnakova
    1955–1960 Dzivin, Rajon Kobryn, Oblast Brest. Familie Skraščuk. Aus dem Archiv von Iryna Dajnakova
    1957–1958 Smorgonski Rajon, Oblast Hrodna. Archiv von  Siarhiej Lieskieć
    1957–1958 Smorgonski Rajon, Oblast Hrodna. Archiv von Siarhiej Lieskieć
    Ca. 1956 Minsk. Viktar Paŭloŭski and Maryja Lučyna. Aus dem Archiv von Aliaksandr Lučyna
    Ca. 1956 Minsk. Viktar Paŭloŭski and Maryja Lučyna. Aus dem Archiv von Aliaksandr Lučyna
    10. Oktober 1962, Mir, Kareličy Rajon, Oblast Hrodna. Uladzimir and Tamara Rafiejenka. Aus dem Archiv von Voĺha Kalasoŭskaja
    10. Oktober 1962, Mir, Kareličy Rajon, Oblast Hrodna. Uladzimir and Tamara Rafiejenka. Aus dem Archiv von Voĺha Kalasoŭskaja
    1965–1985, Dsjarschynsk, Oblast Minsk. Foto von Ivan Šabalinski. Aus dem Archiv von Hienadź Dubatoŭka
    1965–1985, Dsjarschynsk, Oblast Minsk. Foto von Ivan Šabalinski. Aus dem Archiv von Hienadź Dubatoŭka
    1965–1985, Dsjarschynsk, Oblast Minsk. Foto von Ivan Šabalinski. Aus dem Archiv von Hienadź Dubatoŭka
    1965–1985, Dsjarschynsk, Oblast Minsk. Foto von Ivan Šabalinski. Aus dem Archiv von Hienadź Dubatoŭka
    1908, Vialikaja Bierastavica, Oblast Hrodna. Paviel Valyncevič am Grab seines Vaters. Aus dem Archiv von Dzmitry Siarebranikaŭ
    1908, Vialikaja Bierastavica, Oblast Hrodna. Paviel Valyncevič am Grab seines Vaters. Aus dem Archiv von Dzmitry Siarebranikaŭ
    1940–1950, Asipovičy Rajon, Magіljoўskaja Oblast. Archiv von Hanna Čarapko
    1940–1950, Asipovičy Rajon, Magіljoўskaja Oblast. Archiv von Hanna Čarapko
    1950–1952, Puhačy, Rajon Valožyn, Oblast Minsk. Aus dem Archiv von Dzmitry Siarebranikaŭ
    1950–1952, Puhačy, Rajon Valožyn, Oblast Minsk. Aus dem Archiv von Dzmitry Siarebranikaŭ
    1960–1970, Vialikaje Zarečča, Rajon Schklou, Magіljoўskaja Oblast. Fotografie von Ivan Daŭhin. Aus dem Archiv von Siarhiej Lieskieć
    1960–1970, Vialikaje Zarečča, Rajon Schklou, Magіljoўskaja Oblast. Fotografie von Ivan Daŭhin. Aus dem Archiv von Siarhiej Lieskieć
    1964, Lushki, Rajon Sharkawshchyna, Oblast Vitebsk. Beerdigung von Uladzislaŭ Akušk. Aus dem Archiv von Iryna Skakoŭskaja
    1964, Lushki, Rajon Sharkawshchyna, Oblast Vitebsk. Beerdigung von Uladzislaŭ Akušk. Aus dem Archiv von Iryna Skakoŭskaja
    1960–1970, Vialikaje Zarečča, Rajon Schklou, Magіljoўskaja Oblast. Totengedenktag Raduniza. Foto von Ivan Daŭhin. Aus dem Archiv von Siarhiej Lieskieć
    1960–1970, Vialikaje Zarečča, Rajon Schklou, Magіljoўskaja Oblast. Totengedenktag Raduniza. Foto von Ivan Daŭhin. Aus dem Archiv von Siarhiej Lieskieć
    1985, Ljubіschtscha, Magіljoўskі Rajon, Magіljoўskaja Oblast. Aus dem Archiv von Andrej Karačun
    1985, Ljubіschtscha, Magіljoўskі Rajon, Magіljoўskaja Oblast. Aus dem Archiv von Andrej Karačun
    1988, Brest. Foto von Vadzim Kačan. Aus dem Archiv von Vadzim Kačan
    1988, Brest. Foto von Vadzim Kačan. Aus dem Archiv von Vadzim Kačan
    Vorbereitung der VEHA-Ausstellung "Dziavočy viečar" („Jungefernabend”), FAF Galerie | Warschau
    Vorbereitung der VEHA-Ausstellung „Dziavočy viečar“ („Jungefernabend”), FAF Galerie | Warschau

    Fotos: Lesia Pcholka/VEHA
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: dekoder-Redaktion
    Übersetzung: Maria Rajer
    Veröffentlicht am 27.05.2021

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  • Harte Landung

    Harte Landung

    Um 14.15 Uhr Ortszeit landet am vergangenen Sonntag die Ryanair-Maschine FR 4978 am Nationalen Flughafen von Minsk. Eigentlich hätte der Flug, der in Athen gestartet war, um 13 Uhr die litauische Hauptstadt Vilnius erreichen sollen, das eigentliche Ziel der Reise. Was den Piloten letztlich veranlasst hat, mit über 100 Passagieren und sechs Crewmitgliedern an Bord in der belarussischen Hauptstadt zu landen, darüber gibt es noch kein klares Bild. Denn in dem Moment, als die Boeing 737 sich über der belarussischen Stadt Lida befand, war sie Vilnius eigentlich näher als Minsk. In der offiziellen Erklärung, die vom Pressedienst des Minsker Flughafens veröffentlicht wurde, heißt es, dass das Flugzeug ein Notsignal abgegeben und sich an den Minsker Flughafen gewandt habe mit der Bitte um Landung. Die Nachricht sei um 12.50 Uhr Minsker Zeit eingegangen, berichtet Tut.by in einer detaillierten Recherche. Dann wird die Faktenlage unklarer. Denn ursprünglich ist in den offiziellen Kanälen der belarussischen Machthaber von einer Bombendrohung die Rede. Am Sonntagabend heißt es von offiziellen belarussischen Stellen dazu, dass man diese aus Informationen der Hamas erhalten habe, was von der Hamas aber kurze Zeit später dementiert wird. Jedenfalls macht sich der Ryanair-Flug auf den Weg nach Minsk, mittlerweile ist ein Kampfjet der belarussischen Luftwaffe aufgestiegen, angeblich auf Befehl von Alexander Lukaschenko, der die Aktion persönlich geleitet haben soll. Die MiG 29 begleitet Flug FR 4978 nach Minsk. 

    Nach der Landung müssen die Passagiere die Maschine verlassen, ihr Gepäck wird mehrmals von Sicherheitsbeamten durchsucht. Die mehrstündige Aktion findet neben dem Flugzeug statt, was für eine angebliche Bombendrohung zumindest ungewöhnlich erscheint. Schließlich werden zwei Passagiere festgenommen: Der Belarusse Roman Protassewitsch und dessen Freundin Sofia Sapeha, eine russische Staatsbürgerin. Protassewitsch war Chefredakteur des Telegram-Kanals Nexta, der seit dem Beginn der Proteste in Belarus nach dem 9. August 2020 zu einer der wichtigsten Informationsquellen für die Ereignisse in dem osteuropäischen Land avancierte. Der Kanal wurde von den Machthabern in Belarus als „extremistisch“ eingestuft. Der 26-jährige Protassewitsch, der bereits seit 2019 in Polen lebt, stand auf der Fahndungsliste der belarussischen Machthaber. Nach Bekanntwerden der Festnahmen macht in den sozialen Medien schnell eine Anschuldigung die Runde: Die Landung in Minsk sei eben wegen Protassewitsch erzwungen worden. Nexta ließ die Vermutung verlautbaren, Lukaschenko habe mit einem Verstoß gegen alle Gesetze ein Flugzeug „gekapert“. Das offizielle Minsk verteidigte sein Vorgehen, das nun „bewusst politisiert“ werde.

    Das Vorgehen des Lukaschenko-Staates wurde noch am Sonntagabend von zahlreichen Regierungen und Organen der EU scharf kritisiert. Dem Autokraten wurde „Luftpiraterie“ vorgeworfen. Zahlreiche Fluggesellschaften haben angekündigt, den belarussischen Luftraum ab sofort umfliegen zu wollen. Bereits am Montag verkündete die EU neue Sanktionen, unter anderem soll der Luftraum über der EU für belarussische Maschinen gesperrt werden. Zudem wurde die unverzügliche Freilassung von Protassewitsch gefordert, dem nach belarussischen Gesetz bis zu 15 Jahren Haft oder sogar die Todesstrafe drohen könnten. Am Montagabend verbreiteten mehrere staatliche Kanäle in Belarus ein Video von Protassewitsch, in dem er – sichtlich unter Druck stehend und mit Verletzungen und blauen Flecken im Gesicht – seine vermeintliche Schuld eingestand.

    Warum ausgerechnet Protassewitsch? Was bedeutet dieses beispiellose Ereignis für die belarussische Opposition und für die internationale Staatenwelt? Hat der russische Präsident Putin Lukaschenko den Rücken für diese Aktion freigehalten, war der Kreml letzten Endes womöglich sogar beteiligt? Auf diese und andere Fragen versucht der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in seiner Analyse für Naviny.by Antworten zu finden.

    Offiziell versucht Minsk alles so darzustellen, als sei Protassewitsch ganz zufällig gefasst worden. Eigentlich habe Belarus aber Europa vor einer Gefahr gerettet (und was, wenn nun tatsächlich eine Bombe an Bord gewesen wäre, hm?!), und nur deswegen habe es den ausländischen Linienflieger, der von Athen nach Vilnius flog, zur Landung gezwungen.

    Ihren Reaktionen nach zu urteilen glauben Europa und Washington einer so unschuldigen Version nicht mal ansatzweise. Die dortigen Politiker gehen vielmehr davon aus, dass das Regime, um seinen Feind einzufangen, das Leben von EU-Bürgern und die Flugsicherheit gefährdet hat. Schwere Vorwürfe wurden laut. Die Entführung eines Flugzeugs auf Geheiß der Behörden bezeichnete Ryanair-Chef Michael O’Leary als „staatlich gesponsorte Piraterie“. Er deutete an, dass sich an Bord des Flugzeugs mehrere KGB-Agenten befunden hätten.

    Den Kommentaren in den Medien und Sozialen Netzwerken nach zu urteilen vermuten auch viele unabhängige Experten und belarussische Bürger hinter dieser verrückten Geschichte eine gut durchdachte Aktion der belarussischen Geheimdienste. Umso mehr als die großen Bosse mit den Schulterklappen zuvor öffentlich gedroht hatten, die ihren Worten zufolge „blutrünstige“ Opposition wo auch immer zu ergreifen. Die Geschichte von der Festnahme Protassewitschs schlägt genau in diese Wir-haben-lange-Arme-Kerbe. Das breite Publikum nun von einer anderen Interpretation zu überzeugen, ist also eine – nun, sagen wir mal: sehr undankbare Aufgabe.

    Warum ausgerechnet Protassewitsch?

    Der Blogger und Journalist Protassewitsch ist 2019 nach Polen emigriert. Er hat der belarussischen Machtelite natürlich ordentlich in die Suppe gespuckt, als er im vergangenen Jahr bei Ausbruch der Massenproteste einen Telegram-Kanal redaktionell verantwortete [den Kanal Nexta – dek], den die Behörden schließlich als „extremistisch“ einstuften.

    Die Welle der belarussischen Revolution hat das Regime ins Wanken gebracht und seine Führung eindeutig in Angst versetzt. Und einige Telegram-Kanäle schienen tatsächlich die Straßenproteste zu koordinieren und führten einen harten Infokampf gegen das Regime. Deswegen wurde gegen Protassewitsch auch ein Strafverfahren aufgrund von drei Paragraphen eingeleitet.

    Aber jetzt sind die Proteste dem Erdboden gleichgemacht. Zu koordinieren gibt es da nichts mehr. Warum ist die Verhaftung Protassewitschs den Machthabern ausgerechnet jetzt so wichtig, dass sie sogar all die unangenehmen Konsequenzen aus dem Ausland in Kauf nehmen?

    „Hier geht es nicht so sehr um rationale, als vielmehr um emotionale Aspekte. Zum Beispiel um den Wunsch, sich für die Schockmomente zu rächen, die die Machthaber im letzten Jahr durchgemacht haben“, so Waleri Karbalewitsch vom analytischen Zentrum Strategija in Minsk.

    Außerdem sei den Machthabern wichtig, durch den Fang eines Feindes ihre Anhänger zu motivieren, „so nach dem Motto, schaut her, wie cool wir sind“, sagt der Analyst in einem Kommentar auf Naviny.by.

    Die Verhaftung Protassewitschs passe gerade in propagandistischer Hinsicht gut ins Konzept: „Womöglich wird er etwas erzählen, und dann heißt es im Fernsehen: Schaut her, die westlichen Geheimdienste haben eine Farbrevolution in Belarus eingefädelt.“

    In der Tat hat die belarussische Führung schon seit Beginn der Proteste die Verschwörungserzählung forciert, dass Saboteure im Westen diesen ganzen Brei angerührt hätten. Und wir haben schon gesehen, dass die hiesigen Silowiki imstande sind, die Zungen der Verhafteten zu lösen. Also ist nicht ausgeschlossen, dass man Protassewitsch etwas in den Mund legen wird – um Leute zu diskreditieren, die gegen das System von Alexander Lukaschenko kämpfen, und besonders diejenigen, die er „Flüchtige“ nennt.

    Und natürlich wird mit dem Aufgreifen Protassewitschs das Ziel verfolgt „den Anführern der emigrierten Opposition einen Schreck einzujagen“, unterstreicht der Gesprächspartner von Naviny.by.

    Es sei noch hinzugefügt, dass dieser Plot, der so manchen Blockbuster aus Hollywood in den Schatten stellt, sicherlich den gesamten Protest der belarussischen Gesellschaft beeindrucken wird. Als wollten die Machthaber zeigen: Wenn wir sogar die kriegen, die sich mit der Ausreise in Sicherheit wähnten, dann können wir euch, liebe Täubchen, sowieso jederzeit in die Mangel nehmen.

    Über die Folgen dieser Geschichte, die bereits heftigen Widerhall in der Welt gefunden hat, hat man sich in den belarussischen Machtstrukturen nicht allzu viele Gedanken gemacht, besser gesagt „man erwartet nicht, dass es besonders weitreichende Folgen geben wird“, so Karbalewitsch.

    Lukaschenkos Krieg mit dem Westen spielt Moskau in die Hände

    Moskaus Reaktion auf diesen Skandal ist interessant: Die Sprecherin des russischen Außenministeriums hat in ihrer typischen Manier versucht, dem Westen die Leviten zu lesen. Dieser, so Maria Sacharowa, solle sich doch mal erinnern an die „Zwangslandung des Flugzeugs des Präsidenten von Bolivien in Österreich auf Ersuchen der Vereinigten Staaten; und an die Ukraine, wo ein belarussisches Flugzeug mit einem Antimaidan-Aktivisten elf Minuten nach dem Start zur Landung gezwungen wurde“.

    Doch so viel Whataboutism hat sich als tölpelhaft erwiesen: Denn damit gibt man indirekt zu, dass Minsk, als es das irische Flugzeug zur Landung zwang, eine Sonderoperation durchgeführt hat.
    Insgesamt hat Moskau allerdings zurückhaltend reagiert. Putins Pressesprecher Dmitri Peskow kommentierte den Ryanair-Vorfall nicht weiter: die internationalen Luftfahrtbehörden sollten die Situation bewerten, sagte er nur. Der russische Außenminister Sergej Lawrow plädierte dafür, „die Situation nicht im Eifer des Gefechts und nicht übereilt zu bewerten, sondern auf Grundlage aller verfügbaren Informationen“.

    Mit anderen Worten: Die russische Führung scheint nicht bereit zu sein, vorbehaltlos für ihren Verbündeten einzustehen. Warum nicht?

    Der Minsker Analyst Andrej Fjodorow schließt in seinem Kommentar für Naviny.by nicht aus, dass die belarussischen Behörden geplant hatten, Moskau in den Skandal mit der Zwangslandung und der Festnahme von Protassewitsch hineinzuziehen: „Wenn Moskau [in dieser Geschichte] Schulter an Schulter mit Minsk kämpfen würde, hätte es keine Handhabe, [die belarussische Regierung] bei Verfassungsreformen, Machttransfer und so weiter unter Druck zu setzen.“ So sieht der Analyst eine mögliche Logik der belarussischen Seite.

    Moskau würde nur ungern in eine Angelegenheit hineingezogen, in der die Minsker Argumente nicht sehr überzeugend klingen. Der Kreml will seine Vorteile in den Verhandlungen mit Lukaschenko nicht verlieren, sagt der Gesprächspartner von Naviny.by.

    Man muss jedoch anmerken, dass einige Kommentatoren meinen, dass bei der Verhaftung von Protassewitsch auch russische Geheimdienste ihre Hand im Spiel hatten. 

    So oder so, der Skandal mit dem Ryanair-Flugzeug und die Inhaftierung des ausgewanderten Oppositionellen ist für Moskau von Vorteil, glaubt Karbalewitsch: „Lukaschenko ist isoliert; neue Konfrontation mit dem Westen; die Brücken werden abgebrochen.“

    Minsk setzt noch auf Verhandlungen, doch vorläufig wächst sich der Konflikt weiter aus

    Im Prinzip sieht es wie ein politische Gesetzmäßigkeit aus: Je schlechter Lukaschenkos Beziehungen mit dem Westen sind, desto abhängiger ist er vom Kreml. Die Geschichte mit Protassewitschs Gefangennahme schwächt also potenziell Lukaschenkos Position in Richtung Osten.

    Das zieht allerdings auch die Europäische Union in Betracht, wenn sie Sanktionen gegen das belarussische Regime ausarbeitet. In Brüssel befürchtet man traditionell, dass übermäßiger Druck auf Belarus das Land immer stärker an Russland bindet.

    Die zweite Sorge des Westens gilt den möglichen Gegensanktionen: Das Regime könnte die Opposition, die zivilgesellschaftlichen Strukturen und die unabhängigen Medien im Land endgültig zerstören. Im April hat der belarussische Außenminister Wladimir Makei ein solches Szenario ganz offen umrissen: Falls die Sanktionen verschärft würden, „wird es diese Zivilgesellschaft nicht mehr geben, um die sich unsere europäischen Partner so sehr sorgen“.

    Die belarussischen Behörden rechnen offensichtlich damit, dass der Westen mit seinem „verfaulten Humanismus“ kalte Füße bekommt und keine härtere Gangart einlegen wird.

    Andere Kommentatoren meinen, dass die belarussische Führung, die die europäischen Politiker für Schwächlinge hält, mit dem Ryanair-Flugzeug dem kollektiven Westen auf den Zahn fühlt: Wird er auch diese Pille schlucken?

    Darüber hinaus könnte Protassewitsch, den belarussische Menschenrechtler bereits als politischen Gefangenen anerkannt haben, hinter Gittern (zusammen mit den anderen bekannten Persönlichkeiten) zu einem wertvollen Faustpfand werden in den voraussichtlichen Verhandlungen des Regimes mit dem Westen, in denen es um einen Ausweg aus der Isolation und das Auftauen der Beziehungen gehen wird. Darin liegt ein weiteres Motiv der Regierung, die Kosten für die sensationelle Landung des irischen Flugzeugs in Minsk in Kauf zu nehmen.

    Werden solche Berechnungen aber aufgehen? Wie ein Schneeball sammelt diese ganze Geschichte bis jetzt üble Konsequenzen an. Vor dem Hintergrund des Skandals mit dem Flugzeug entflammte ein diplomatischer Konflikt mit Lettland. Minsk gab bekannt, dass es nicht nur seinen Botschafter, sondern die gesamte Botschaft wegen des Vorfalls mit der belarussischen Staatsflagge in Riga abberuft. Lettland reagierte symmetrisch.

    Der Knoten des Konflikts mit dem Westen zieht sich immer fester zu. Und in Belarus wird alles noch düsterer.