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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Strenges Schulregime

    Strenges Schulregime

    Am 1. September beginnt in Belarus wie in vielen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken traditionell die Schule. „Der Tag des Wissen“ (russ. Den Snanii), an dem die Schulanfänger feierlich eingeschult werden und an dem die Hochschulen wieder ihre Arbeit aufnehmen, war im vergangenen Jahr auch der Beginn der Studenten-Proteste in Belarus, die sich mit den landesweiten Demonstrationen gegen Wahlfälschungen und Gewalt solidarisierten. Seit vielen Jahren wird das Schulsystem sowie auch die Lehrpläne den autoritären Vorstellungen der Machthaber um Alexander Lukaschenko angepasst. In ihrem Beitrag für die Novaya Gazeta erklärt die belarussische Journalistin Irina Chalip, wie das genau geschieht und welche Folgen die Umerziehung für die belarussische Gesellschaft hat. 

    Gehirnwäsche ist an belarussischen Schulen schon lange Teil des Lehrplans. Ab kommendem Schuljahr wird es auch eigens dafür zuständige Bereichsleiter geben: Mit dem 1. September 2021 wird das Amt des Leiters des Lehrbetriebs für militärisch-patriotische Erziehung eingeführt. Einfacher gesagt: ein Politoffizier. Oder ein Politruk. Oder – ganz altmodisch gesagt – ein Kommissar.  
    Speziell für die Schul-Politruks stellt der Staat Geld für 2000 Gehälter bereit. Wobei kein zusätzlicher Unterricht geplant ist. Mit dem Zeigestab an der Tafel stehen, Hefte kontrollieren oder die Klassenleitung übernehmen werden die neuen Chefs nämlich nicht (was auch offen gestanden besser ist). Sie haben eine kniffligere Aufgabe: „Die Implementierung der Ideologie militärischer Sicherheit in Bezug auf die staatsbürgerliche und patriotische Erziehung von Kindern und Jugendlichen“. Außerdem die „Entwicklung der für die Verteidigung des Vaterlandes notwendigen moralisch-psychologischen Qualitäten bei Jungen und Mädchen“. So steht es zumindest im Allgemeinen Qualifikationshandbuch für Staatsbedienstete. Die akute Notwendigkeit für solche Kommissare entstand offenbar im vergangenen Schuljahr, dessen Beginn mit dem Höhepunkt der Protestaktivität in Belarus zusammenfiel.    
    Absolventen verschiedener Jahrgänge hängten ihre Goldmedaillen und Zeugnisse an die Zäune der Schulen, um durch nichts mehr mit jenen Mauern verbunden zu sein, hinter denen am 9. August die Wahlergebnisse so schamlos gefälscht wurden. Eltern unternahmen Protestaktionen auf Schulhöfen. Lehrer drehten Videos, in denen sie an ihre Kollegen appellierten, Fälschungen zu verweigern und die Wahrheit zu erzählen. Diese Lehrer verloren dann ihre Jobs. Die Eltern von Grundschülern nahmen ihre Kinder massenweise aus den staatlichen Schulen und schlossen sich zu sogenannten Elternkooperativen zusammen: Mehrere Familien mieten zusammen einen Raum und suchen selbst Lehrer für ihre Kinder, die sie ohne jegliche Schulideologie unterrichten. Dieser Trick ist allerdings nur für die Grundschule erlaubt: Will man sein Kind von der Schule befreien, muss man es zum individuellen Unterricht anmelden. Ob dies genehmigt wird oder nicht, entscheidet die jeweilige Schulleitung. Und während man in den ersten Schulstufen diese Genehmigung noch kriegen kann, wird dies später praktisch unmöglich. Heranwachsende Belarussen müssen zumindest einem qualifizierten Leiter des Lehrbetriebs unterstehen. Im Idealfall ist es einer für militärisch-patriotische Erziehung.

    Belarussische Geschichte im Schnelldurchlauf

    Diese Erziehung beginnt für jeden Schulanfänger sofort, gleich am 1. September. Seit vielen Jahren bekommen alle Erstklässler an allen belarussischen Schulen feierlich das Buch Belarus – unsere Heimat überreicht. Auf dem Umschlag steht unter dem Buchtitel: „Geschenk des Präsidenten der Republik Belarus A. G. Lukaschenko zum Schulanfang“. In dem Buch kommt A. G. Lukaschenko selbst reichlich vor, fast auf jeder Doppelseite. Zudem sind darin wie auf Schautafeln die historischen Meilensteine des unabhängigen Belarus angeführt:

    1991: Ausrufung der unabhängigen Republik Belarus
    1994: Beschluss einer neuen Verfassung der Republik Belarus
    1994: Wahl Alexander Grigorjewitsch Lukaschenkos zum Präsidenten der Republik Belarus

    Damit ist die Geschichte der Republik Belarus in diesem Buch auch schon zu Ende, und für die Kinder beginnt das Schuljahr. Einmal wöchentlich gibt es in allen Klassen, von der ersten bis zur elften, Politinformationen. Offiziell heißt das „Informationsstunde“ – an diesem Tag beginnt der Unterricht eine halbe Stunde früher. Alles Weitere hängt von den Lehrenden ab. Die einen nehmen den Auftrag wörtlich und erzählen den Kindern jedes Mal, was für ein märchenhaftes Glück sie haben, in Belarus mit seinen wirtschaftlichen Erfolgen und seiner politischen Stabilität zu leben. Andere sabotieren die Sache unauffällig, indem sie den Kindern erlauben, in dieser Zeit ihre Hausaufgaben zu machen. Doch im Klassenbuch wird bei allen Schülern klar und deutlich abgehakt: Informationsstunde erfolgt, Patriotismus gefördert. In den höheren Schulstufen gibt es außerdem Unterricht in vormilitärischer Ausbildung. Dort hören die Schüler der oberen Klassen nichts mehr von Stabilität, sondern im Gegenteil – man erklärt ihnen, dass Belarus von Feinden umzingelt sei, und zwar auch von inneren. 

    Nach dem Unterricht beginnen außerschulische Veranstaltungen. Ältere Kinder werden im Winter scharenweise in die Eispaläste getrieben, wo Lukaschenkos Jüngster, Nikolaj, Eishockey spielt, und im Sommer stellen alle, die nicht das Glück hatten, die Stadt zu verlassen, auf der Parade zum 3. Juli ihre glückliche Kindheit zur Schau. Die Jüngeren werden auf „patriotische“ Exkursionen geschleppt. Zum Beispiel hat es die Klasse meines Sohnes innerhalb eines Schuljahres geschafft, sowohl die OMON als auch die Sondertruppeneinheit 3214 zu besuchen, die landläufig längst Todesschwadron genannt wird. In der Polizei-Zeitung stand danach, die Kinder hätten „viel Spaß dabei gehabt, kugelsichere Westen, Helme und Schlagstöcke auszuprobieren“.  

    In der vierten Klasse werden aus den Oktjabrjata Pioniere, aus den roten Halstüchern werden rot-grüne / Foto © Zuma/tass
    In der vierten Klasse werden aus den Oktjabrjata Pioniere, aus den roten Halstüchern werden rot-grüne / Foto © Zuma/tass

    Ein weiteres beliebtes Exkursionsziel für Minsker Schüler ist die KGB-Schule, die mittlerweile Institut für nationale Sicherheit heißt. Dort dürfen sie schießen üben, und sie hören die Heldengeschichte der Bildungsanstalt, die viele herausragende Persönlichkeiten absolviert haben. Namen werden allerdings keine genannt – wahrscheinlich ein Militärgeheimnis. Und sie bekommen das Tschekistendenkmal zu sehen, das irgendwo in einer Nische steht, verborgen vor fremden Blicken. Anscheinend gehen die Offiziersschüler dahin, um zu beten und still zu trauern.  
    Auch schon in der ersten Klasse kommen die belarussischen Kinder zu den Oktjabrjata, der Vorstufe der Pioniere. Bei einer Feier in der Aula sprechen sie dem Sozialpädagogen den Schwur nach. Wer in der Sowjetunion Pionier war, kennt den Text. Er wurde, dem Willen des großen Lenin folgend, nie verändert.  
    In der vierten Klasse werden aus Oktjabrjata Pioniere. Nur tragen sie keine roten Halstücher mehr, sondern rot-grüne. Sonst bleibt alles beim Alten. In der Oberstufe kommen sie dann zur BRSM – der Belarussischen Republikanischen Jungen Union, im Volksmund „Lukamol“. 
    Zum Lukamol wird man sowohl mit der Peitsche getrieben als auch mit Zuckerbrot gelockt. Die Peitsche – das ist die Androhung eines schlechten Abschlusszeugnisses und die Warnung, ohne Mitgliedschaft in der BRSM nicht an der Universität aufgenommen zu werden. Das Zuckerbrot sind Rabatte bei Diskotheken und Konzerten und erleichterter Zugang zu Sommerjobs. Eine Bekannte erzählte mir, wie ihre jüngere Schwester sich um ein Haar hätte verführen lassen. Sie kam von der Schule nach Hause und sagte zum Vater, sie werde wohl der BRSM beitreten, weil  die ihr einen Sommerjob versprochen hätten. Der Vater sagte: „Das hast du dir ganz richtig überlegt, Tochter. Eine Arbeit wirst du nämlich brauchen, wenn du zum BRSM gehst, weil ein Dach über dem Kopf wirst du keines mehr haben.“

    Ein Aufseher für militärisch-patriotische Erziehung

    Früher waren die Eltern, die ihren Kindern alles richtig und wie Erwachsenen erklärten, in der Minderheit. Die Mehrheit schluckte angeekelt den Beitritt ihrer Sprösslinge zu all diesen Vereinen, um ihnen bloß nicht den Abschluss zu versauen. Nicht einmal den Jungen OMON-ler redeten sie ihnen aus – auch den gibt es in Belarus. 
    Doch das letzte Schuljahr hat Kinder wie Eltern verändert. Jetzt verbringen die Kinder ihre Zeit nicht mehr beim Jungen OMON-ler, sondern schreiben „Es lebe Belarus!“ auf den Asphalt. Oder sie sitzen auf der Polizeistation, weil sie wegen eines rot-weißen Regenschirms festgenommen wurden. Oder sie warten, dass ihre Eltern aus dem Gefängnis zurückkommen. Oder sie flüchten mit ihnen nachts über die Grenze. Sie werden jedenfalls schnell erwachsen – wie immer im Krieg.  

    Um dieses Erwachsenwerden und das Denken zu stoppen, um die Kinder wieder auf Linie zu bringen, verordnet ihnen der Staat nun einen Schulpolitruk für militärisch-patriotische Erziehung. Als Mutter eines Schülers, die sich mit seinen Klassenkameraden und Freunden sowie deren Eltern unterhält, sage ich felsenfest überzeugt: Da kann man das Geld gleich zum Fenster hinauswerfen. Was für ein erbärmliches und sinnloses Projekt, zum Scheitern verurteilt. Die Kinder stellen sich nicht mehr in Reih und Glied, und die Eltern werden nicht mehr den Mund halten, nur weil sie ein schlechtes Zeugnis fürchten. Nur Witze über diese Schulpolitruks werden in Belarus wie Pilze aus dem Boden schießen, sodass sich der Turn- und der Werklehrer von blöden Sprüchen endlich mal erholen können. 

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  • Soligorsk

    Soligorsk

    „Zu neuen Erfolgen, zu neuen Siegen“ titelte die Erstausgabe der Soligorsker Zeitung Sa kommunistitscheski trud am 7. November 1959, dem 42. Jahrestag der sogenannten großen Oktoberrevolution. Nicht zufällig erhielt die Stadt Soligorsk ihr erstes Presseorgan ausgerechnet an diesem symbolträchtigen Tag: Als sowjetische Planstadt sollte sie dazu beitragen, die Ideale der Revolution in der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) zu verwirklichen. Sie stand für die industriellen und architektonischen Ambitionen des Kommunismus. Doch für was steht Soligorsk heute?

    1949 wurden etwa 140 Kilometer südlich von Minsk reiche Kalisalzvorkommen entdeckt. Da der Rohstoff ein wichtiger Bestandteil von Kunstdünger ist und die sowjetische Landwirtschaft darauf angewiesen war, wurde umgehend der Abbau der Kalisalze sowie die Errichtung eines neuen Rajons samt Rajonzentrum beschlossen. 1958 begann man mit dem Bau einer Stadt für die Arbeiter des neuen Kalibergwerks, dem heutigen Soligorsk. Ab 1963 wurde schließlich das Sylvinitgestein abgebaut und bis 1979 entstanden in der Nähe der Stadt drei weitere Kalibergwerke, die schließlich im Kalikombinat Belaruskali zusammengefasst wurden. Mit den Expansionen des Betriebs wuchs auch die junge Stadt – von 211 Menschen zu Beginn der Bauarbeiten auf etwa 65.000 Einwohner in den späten 1970er Jahren bis hin zu den 106.000 Einwohnern der letzten Volkszählung von 2019.

    Monostadt Soligorsk

    Bis heute ist die Stadt vom Kalibergbau abhängig. Damit zählt Soligorsk zu den sogenannten Monostädten, die in ihrer wirtschaftlichen Grundlage von einem Unternehmen oder einem Industriezweig abhängig sind. Hunderte dieser Städte und Siedlungen bildeten, verteilt über alle Unionsrepubliken, das wirtschaftliche Rückgrat der Sowjetunion. 

    Auch auf dem Gebiet der ehemaligen BSSR, die durch den zweiten Weltkrieg besonders stark zerstört worden war, entstanden zahlreiche Monostädte unterschiedlicher Größe und unterschiedlichen industriellen Profils.1 In der Republik Belarus existieren heute noch 49 Monostädte, bei insgesamt 115 als Stadt klassifizierten Siedlungen.2 Allerdings waren die Landschaften der Belarus in höherer Dichte von alten Siedlungen durchzogen, weshalb es den sowjetischen Planern vielerorts schwerer fiel, das Konzept einer Neugründung auf freiem Feld auf diese Unionsrepublik zu übertragen. Lediglich vier Städte – Soligorsk, Nowalukoml, Beloosjorsk und Nowopolozk – entstanden von Null auf der „grünen Wiese“.

    Eine Produktionsstätte des Kalikombinats, heute OAO Belaruskali, am Rande von Soligorsk, 1974 / Foto © U. Iwanow/sputnikimages
    Eine Produktionsstätte des Kalikombinats, heute OAO Belaruskali, am Rande von Soligorsk, 1974 / Foto © U. Iwanow/sputnikimages

    Anders als die zeitgenössische kommunistische Propaganda betonte, waren Monostädte keinesfalls das Ergebnis von spontanen Gründungen durch ‚die Arbeiterklasse‘. Eine Vielzahl von Instituten und Behörden waren an den langwierigen Planungen, Zeichnungen und Kartierungen beteiligt. 

    Planung der Stadt

    Zwischen 1949 und 1950 wurde der erste Plan einer „Wohnsiedlung des Starobiner Kalikombinats“3 erarbeitet. Er umfasste die Konzeption und Ausgestaltung der gesamten Stadt sowie einzelner Viertel und Gebäude(typen). 

    Um zu überzeugen, musste er die vorherrschenden städtebaulichen Paradigmen berücksichtigen. Entsprechend grünflächig und herrschaftlich kam der erste grobe Entwurf der Arbeitersiedlung daher. Er reproduzierte alle Kernelemente stalinzeitlicher Stadtplanung: Komfortable Stalinkas mit reich verzierten Prunkfassaden, eine breite Magistrale mit Plätzen als Fluchtpunkten, ein zentraler Platz mit Denkmal in der geometrischen Mitte und eine Hauptchaussee, die auf das Haus sozialistischer Kultur hinführt – auf ein Gebäude, das die Schnittstelle von Parteiarbeit, Agitation und Freizeitgestaltung symbolisiert.4 Im baulichen Bild der geplanten Stadt manifestierte sich der stalinistisch-sowjetische Herrschaftsanspruch.

    Da jedoch noch bis 1957 Probebohrungen und Qualitätsbestimmungen der Kalisalzvorkommen durchgeführt wurden, konnte nicht sofort mit dem Bau der Stadt begonnen werden. Als schließlich 1958 der erste Spatenstich gesetzt wurde, war Stalin bereits tot. Mit seinem Ableben verloren auch bestimmte ideologische Paradigmen des Städtebaus ihre Gültigkeit.

    Der Generalplan des Jahres 1950 / © Belorusski gosudarstvenny archiw nautschno-technitscheskoi dokumentacii (BGANTD), Signatur f3, o4, d144, 1950
    Der Generalplan des Jahres 1950 / © Belorusski gosudarstvenny archiw nautschno-technitscheskoi dokumentacii (BGANTD), Signatur f3, o4, d144, 1950

    Dies zeigt sich besonders deutlich an Ergänzungen, die der Wirtschaftsrat der BSSR an dem überarbeiteten Plan des Jahres 1958 vornahm. Ein handschriftlicher Vermerk lautet etwa „Das Unternehmen soll dem Volk dienen“5, die vorgenommenen Änderungen folgten Chruschtschows Motto des „schneller, besser und billiger“- Bauens. Architektur sollte nun pragmatisch sein und nicht mehr vor allem Macht und Größe demonstrieren.

    Errichtung der Stadt

    In diesem Sinne wurden die ersten Quartiere der Stadt großflächig mit den heute als „Chruschtschowkas“ bekannten drei- bis fünfgeschössigen Wohngebäuden bebaut. Die stalinistischen Säulen und Prunkfassaden der 1950er-Planung wurden in der Chruschtschow’schen Umsetzung ab 1958 durch Waschbeton und Flachdach ersetzt. Ein westdeutscher Besucher urteilte 1968: „Es herrscht große Einfachheit in der Ausstattung der Gebäude, wenn nicht Primitivität, dazu aber bemerkenswerte Sauberkeit und Ordnung.“6

    Ein Schild mit der Losung „All-Unions Schwerpunktgroßbaustelle“ erinnert an die Wichtigkeit des Bauvorhabens, Soligorsk 1971 / Foto © U. Iwanow/sputnikimages
    Ein Schild mit der Losung „All-Unions Schwerpunktgroßbaustelle“ erinnert an die Wichtigkeit des Bauvorhabens, Soligorsk 1971 / Foto © U. Iwanow/sputnikimages

    Der Großteil der Stadt wurde jedoch erst in den Breshnew-Jahren errichtet und trägt auch den architektonischen Stempel jener Zeit. Es entstanden dicht aneinandergereihte Mikrorajone, bestehend aus vielgeschossigen Wohnblöcken in Plattenbauweise.

    Abgesehen von der höheren Geschosszahl und anderen Baumaterialien, die durch den technischen Fortschritt verfügbar waren, wurde jedoch in grundsätzlicher Form, Ausgestaltung und Konzeption der Planstadt an den ersten Entwürfen der 1950er Jahre festgehalten. So wurden die aufwändigen stalinzeitlichen Planungen zwar sowohl unter Chruschtschow als auch unter Breshnew überformt und modifiziert, jedoch nie völlig aufgegeben.

    Nachdem die Siedlung zuerst den Namen Nowо-Starobinsk trug, erhielt sie 1959 schließlich ihren heutigen Namen Soligorsk, wobei „Soli-“ für Salz und „-gorsk“ für Berg beziehungsweise den Bergbau stehen.7 Da Soligorsk eine „All-Unions Schwerpunktgroßbaustelle“ (wsessojusnaja udarnaja komsomolskaja stroika) war, wurden ab 1958 Tausende Komsomolzen als Arbeitskräfte zur „Baustellen-Stadt“ gesendet. Die ursprüngliche Bevölkerung Soligorsks stammte aus sämtlichen Unionsrepubliken der Sowjetunion, sodass bis heute neben Belarusen, Russen und Ukrainern auch Tschuwaschen, Deutsche, Aserbaidshaner, Armenier und Angehörige anderer Nationalitäten in Soligorsk leben.8

    Gestaltung der Stadt

    Die Architekten der Breshnew-Jahre waren darauf bedacht, dass sich die Identität der Bergbaustadt auch in der Gestaltung der Häuser und Gebäudeensembles widerspiegeln sollte. So wurden die Außenfassaden vieler Treppenhäuser mit stilisierten Ähren versehen – ein Symbol dafür, dass das abgebaute Kalisalz als Dünger in der Landwirtschaft Verwendung findet. Zudem werden im Stadtraum immer wieder die weiß-rötliche Farbe des Kalisalzes und die Struktur des Minerals als architektonisches und gestalterisches Stilelement aufgegriffen.

    Allein die Dichte der Bebauung während der Breshnew-Zeit verwundert, steht die Stadt doch auf „grüner Wiese“ und wird von nichts begrenzt als Feldern und den Abraumhalden der Kalisalzförderung in der Ferne. Diese Art der Bebauung war jedoch Ausdruck der vorherrschenden Stadtplanung jener Zeit. So war etwa nicht vorgesehen, dass jeder Bürger ein eigenes Auto besitzen sollte, was heute ein grundsätzliches Problem auf den Straßen der Stadt darstellt.

    Soligorsk heute

    Der politische und gesellschaftliche Wandel der Perestroika-Jahre erschütterte auch Soligorsk. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren kam es zu Protesten. Die Arbeiter forderten höhere Gehälter, organisierten Hungerstreiks und legten die Arbeit nieder.

    Heute sticht Soligorsk aus der Masse der Monostädte auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sowie auch im heutigen Belarus hervor. Diese hatten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion häufig an Einwohnern und Wirtschaftskraft verloren, nachdem die Staatsbetriebe, von denen sie abhängig waren, wegen Unrentabilität geschlossen oder stark verkleinert worden waren.9 Soligorsk hingegen ist wirtschaftlich stabil, die Löhne liegen über dem Landesdurchschnitt.10 In der Stadt wird unablässig renoviert, gebaut und die Stadtfläche durch neue Viertel und Wohnkomplexe vergrößert. So bietet allein das von 2016 bis 2017 errichtete Nabereshny kwartal verteilt auf drei Gebäude insgesamt 16.300 Quadratmeter neue Wohnfläche.

    Dieser Aufschwung ist eng mit einem Namen verbunden: OAO Belaruskali. Das Nachfolgeunternehmen des sowjetischen Kalikombinats Belaruskali hat etwa 20.000 Angestellte. Es zählt zu den größten Förderern und Exporteuren von Kali weltweit und ist eine zentrale Stütze des belarusischen Staatshaushalts. In den frühen 2000er Jahren wurde das Werk um zwei weitere Bergwerke in der Nähe von Soligorsk erweitert, 2017 um eine weitere Gewinnungsanlage, sodass es heute über insgesamt sechs Standorte verfügt.

    Arbeiter des Kalikombinats, 1968 / Foto © U. Iwanow unter CC BY-SA 3.0

    Belaruskali

    Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sollte auch in Soligorsk das örtliche Staatsunternehmen privatisiert werden. Die vollständige Umsetzung solcher Pläne wurde jedoch auch durch den Amtsantritt von Alexander Lukaschenko 1994 vereitelt, der sich strikt gegen eine Privatisierung aussprach. Belaruskali fand seinen Platz schließlich im 1997 gegründeten staatlichen Mischkonzern Belneftechim, aus dem es 2014 jedoch wieder ausgegliedert wurde. Grund dafür war der sogenannte „Kalikrieg“ mit dem russischen Unternehmen Uralkali im Jahr 2013. Seit spätestens 2011 nimmt Alexander Lukaschenko persönlich die Ernennung der Vorstandsmitglieder vor, das Unternehmen ist somit ein Beispiel für den belarusischen Sonderweg in der Wirtschaftspolitik.

    Durch stetiges Wachstum und anhaltend große Investitionen in die Stadt Soligorsk sowie einen hohen Jahresumsatz von Belaruskali – allein im Geschäftsjahr 2019 betrug er etwa 1,63 Milliarden Euro – stehen die Stadt und das Unternehmen heute wirtschaftlich sehr gut dar. Ein Prestigeprojekt ist auch der lokale Fußballverein Schachtjor Soligorsk, der von Belaruskali gesponsert wird und zuletzt 2020 die belarusische Meisterschaft gewann.

    Im Herbst 2020 geriet Belaruskali in die Schlagzeilen, als Arbeiter des Staatskonzerns aus Protest gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahl für zwei Wochen ihre Arbeit niederlegten. Nach der Festnahme von Streikführer Anatoli Bokun und auf Druck seitens des KGB nahmen sie ihre Arbeit jedoch wieder auf.11

    Welchen Stellenwert Belaruskali für die politische Elite des Landes und ihr Überleben hat, lässt sich auch daran ablesen, dass das Unternehmen bereits seit einigen Jahren als potenzielles Objekt westlicher Wirtschaftssanktionen galt. Im Sommer 2021 wurde es schließlich tatsächlich auf die Liste sanktionswürdiger Unternehmen und Organisationen der USA sowie der Europäischen Union gesetzt.12

    So zeigt sich, dass Soligorsk heute mehr ist als eine postsowjetische Planstadt unter vielen: Sie ist Sitz jenes Unternehmens, das Lukaschenko vor der Wahl 2020 als „unser nationales Eigentum und Stolz“ sowie „Säule des belarusischen Exports“13 bezeichnete. Von der engen Bindung an das System Lukaschenko profitiert die Stadt, sie trägt jedoch auch die negativen Konsequenzen.


    Anmerkung der Redaktion:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


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  • Bystro #26: Ist die belarussische Unabhängigkeit in Gefahr?

    Bystro #26: Ist die belarussische Unabhängigkeit in Gefahr?

    Am 25. August 1991, vier Tage nach dem gescheiterten Augustputsch in Moskau, stimmte der Oberste Sowjet der BSSR für die Unabhängigkeit der Sowjetrepublik. Damit war die Republik Belarus geboren. Neben einer kurzen Episode der Volksrepublik im Jahr 1918 war es das erste Mal in der Geschichte, dass die Belarussen eine Eigenstaatlichkeit erlangten. 

    Haben die Belarussen ihre Unabhängigkeit herbeigesehnt? Warum wurde 1994 ausgerechnet Alexander Lukaschenko in weitgehend freien Wahlen zum ersten Präsidenten gewählt? Welche Bedeutung haben die Proteste des Jahres 2020 für die Unabhängigkeit? In einem Bystro in acht Fragen und Antworten erklärt der renommierte kanadische Historiker David R. Marples 30 Jahre Unabhängigkeit für Belarus.

    1. 1. Wie war die Lage in der BSSR kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion? Gab es eine starke nationale Bewegung, die nach Unabhängigkeit strebte, wie etwa in den baltischen Staaten ?

      Die nationale Bewegung war ziemlich schwach und kämpfte ums Überleben. Zwar gewann die Belarussische Volksfront (Partyja BNF) Glaubwürdigkeit durch ihr Eintreten für die nationale Kultur und Sprache, durch ihre Reaktion auf die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 und auch durch die Entdeckung der Massengräber von Stalins Opfern in Kurapaty dank des BNF-Vorsitzenden Sjanon Pasnjak. Pasnjaks übertriebene Behauptung, dort lägen bis zu 300.000 Opfer begraben, hat Aufsehen erregt. Die BNF blieb jedoch eine Randpartei und musste ihren Gründungskongress in Vilnius abhalten, da sie nicht in Minsk tagen durfte. Nach den Wahlen von 1990 war sie mit nur 26 Sitzen im kommunistisch dominierten Parlament vertreten – im Gegensatz zu einigen Volksfronten in anderen Ländern, insbesondere in den baltischen Staaten und der Ukraine. Das Endziel der BNF war zwar die Unabhängigkeit, doch ihre wichtigste Errungenschaft bestand wohl in der Anerkennung von Belarussisch als Staatssprache der Republik Anfang 1990. Diese Regelung blieb in den folgenden fünf Jahren bestehen. 

    2. 2. Wie hat der Oberste Sowjet der BSSR am 27. Juli 1990 schließlich die Unabhängigkeit erklärt?

      Ich möchte zwischen der Unabhängigkeitserklärung vom 25. August 1991 und der Erklärung der staatlichen Souveränität unterscheiden. Am 27. Juli erklärte die BSSR ihre Souveränität – das heißt aber nur, dass sie die Kontrolle über ihre natürlichen Ressourcen beanspruchte, nicht aber über den Staatshaushalt, die Außenpolitik oder Verteidigungsangelegenheiten. Auch andere Sowjetrepubliken verabschiedeten zu dieser Zeit solche Erklärungen; nur Litauen erklärte seine völlige Unabhängigkeit. Das Parlament von Belarus war zwischen den Parteien und ihren Anführern zerrissen mit besonders ausgeprägter Rivalität zwischen dem Parlamentsvorsitzenden Nikolaj Dementei und dem Premierminister Wjatscheslaw Kebitsch. Zum Zeitpunkt der Souveränitätserklärung war Kebitsch die führende politische Persönlichkeit in Belarus. Das Land hatte den Ruf einer „Partisanen-Republik“: Von 1956 bis 1980 wurde die Kommunistische Partei von ehemaligen Partisanen angeführt. Von Nationalismus waren sie weit entfernt – es sei denn, man betrachtet den sowjetischen Patriotismus als eine Form des Nationalismus –, es gab aber einige Spannungen zwischen den Parteioberhäuptern in Moskau und in der Republik. Nachdem der Vorsitzende des BSSR-Zentralkomitees Pjotr Mascherow 1980 bei einem Autounfall ums Leben kam, sorgte Moskau dafür, dass seine Nachfolger keine ehemaligen Partisanen oder auch nur deren Verbündete waren.

    3. 3. Die belarussischen Kommunisten galten als besonders konservativ und loyal gegenüber Moskau. Was geschah mit ihnen, vor allem mit den wichtigsten Politikern, nach der Unabhängigkeit?

      In Belarus dominierten die Kommunisten 1991 zwar im Obersten Sowjet, doch die Lage war unbeständig. Der erste Sekretär der Kommunistischen Partei Anatoli Malofejew und der Parlamentsvorsitzende Nikolaj Dementei unterstützten 1991 den Augustputsch in Moskau. Als der Putsch gescheitert war, wurde Dementei seines Amtes enthoben und durch den Physikprofessor Stanislaw Schuschkewitsch ersetzt, der als seine erste Amtshandlung die Abspaltung der Republik von der Sowjetunion verkündete. Die Kommunistische Partei von Belarus wurde nach dem gescheiterten Moskauer Putsch verboten; ein Jahr später entstand die Partei der Kommunisten von Belarus (PKB). Die Mitglieder der ursprünglichen Kommunistischen Partei traten 1993 offiziell der PKB bei (Malofejew war zwei Monate zuvor zurückgetreten). Es entstanden auch einige kommunistische Randparteien mit progressiveren Ansichten. Kurz nach der Unabhängigkeitserklärung 1991 hatten die Kommunisten noch eine beträchtliche Anzahl von Sitzen, sahen sich jedoch starkem Druck ausgesetzt, neue Parlamentswahlen abzuhalten. Kebitsch befürwortete eine Wirtschafts- und Sicherheitsunion mit Russland, wobei er sich auf die gemeinsame Geschichte und Kultur berief. Er galt jedoch als korrupt, was ihm bei der Präsidentschaftswahl von 1994 zum Verhängnis wurde.

    4. 4. In wirtschaftlicher Hinsicht hatte Belarus mit einer gut ausgebildeten Bevölkerung und relativ soliden Staatsbetrieben beste Voraussetzungen für eine erfolgreiche Transformation. Warum ist diese dennoch gescheitert?

      Belarus funktionierte gut als BSSR, innerhalb des kommunistischen Systems, in dem seine industrielle Entwicklung eng mit der seiner Nachbarn verflochten war. Als Russland 1992 mit seiner wirtschaftlichen Schocktherapie begann, blieb Belarus allerdings auf der Strecke. 
      Das Land litt unter mehreren Problemen: Erstens hatte es nicht genug natürliche Ressourcen und war damit stark von Energieimporten aus Russland abhängig. Zweitens fehlte auch ein Programm für Wirtschaftsreformen. Schuschkewitschs Bemühungen, dem Beispiel Russlands nachzueifern, wurden von den Kommunisten im Parlament blockiert. Drittens musste das unabhängige Belarus die Auswirkungen der Tschernobyl-Katastrophe tragen; die Unterstützung der Union war weggefallen. Einer Schätzung zufolge beliefen sich die Kosten des Unfalls für Belarus auf 32 Jahreshaushalte. So viel Geld stand zwar nicht zur Verfügung, aber immerhin wurden in den ersten Jahren etwa 25 Prozent des Haushalts für die Gesundheitsversorgung aufgewendet. Schließlich die Privatisierungsrate – sie war eine der niedrigsten unter allen ehemaligen Sowjetrepubliken. Viele Branchen waren auf staatliche Subventionen angewiesen, um zu überleben. In den ersten Jahren wurde Belarus von Jelzins Russland subventioniert, doch diese Großzügigkeit hatte ihren Preis: Russland strebte eine engere Integration von Währung, Volkswirtschaften, Armeen und Sicherheitsdiensten an. Als dann von 1991 bis 1999 die Wirtschaftskrise Russland ereilte, die im Finanzkollaps von 1998 gipfelte, litt Belarus mit.

    5. 5. Warum wurde Lukaschenko 1994 zum ersten Präsidenten der Republik Belarus gewählt?

      Lukaschenko war zwar keine ganz unbekannte Figur, als er 1994 bei der Präsidentschaftswahl antrat, aber als Favorit galt der 39-jährige Schweinezüchter sicherlich nicht. Er war zum Interimsdirektor einer parlamentarischen Kommission zur Untersuchung von Korruption berufen worden und nutzte gleich die Gelegenheit, die Führung des Landes anzugreifen. Er wurde aber schlichtweg nicht ernstgenommen – genauso wie er selbst 26 Jahre später Swetlana Tichanowskaja nicht ernst nahm. Die anderen Kandidaten argumentierten vor allem gegen Kebitsch als einen Vertreter des Establishments. Der Altkader Kebitsch selbst wiederum konzentrierte sich auf Pasnjak von der BNF, nannte ihn einen Nationalisten, der die wahren Sorgen der belarussischen Durchschnittsbürger nicht kenne. Auch Schuschkewitsch, der keine Partei hinter sich hatte, war misstrauisch gegenüber Pasnjak. Die beiden demokratischen Kandidaten, Schuschkewitsch und Pasnjak, konnten sich also nicht einigen und bekämpften sich gegenseitig. Die Bevölkerung war der alten Garde wie Kebitsch überdrüssig; Schuschkewitsch betrachtete sie als Teil derselben Hierarchie und Pasnjak als zu radikal. Damit blieb Lukaschenko übrig, eine scheinbar attraktive Alternative, unbelastet von früheren Verbindungen, ehrgeizig und leidenschaftlich prorussisch. Seine persönlichen Schwächen, wie etwa das jähzornige Temperament, wurden ignoriert.

    6. 6. Lukaschenko hat sich in den letzten 26 Jahren immer wieder als alleiniger Garant für die belarussische Souveränität positioniert. Wie ist diese Positionierung zu bewerten, auch im Hinblick auf den Unionsstaat?

      Lukaschenko hatte verschiedene Phasen. In seinen Anfangsjahren versuchte er, sich Russland kontinuierlich anzunähern, von einer Gemeinschaft bis zur Gründung der Union (1999). Er verstand sich gut mit Jelzin, der seine späteren Jahre abwechselnd in Sanatorien und im Kampf mit wirtschaftlichen Problemen verbrachte. Aber Putin war ein ganz anderer Präsident: Er stellte die Öl- und Gassubventionen in Frage, ebenso wie die Logik einer gleichberechtigten Partnerschaft mit einem Staat, der leicht in die Russische Föderation integriert werden könnte. Auch persönlich mochten sich die beiden Staatschefs nicht. 
      Die Jahre von 2008 bis 2020 waren geprägt von Spannungen und Handelsstreitigkeiten, von Belarus’ Unwillen, Anweisungen aus Russland zu befolgen; von Russlands Versuchen, profitable belarussische Industrien zu übernehmen, von gemeinsamen militärischen und sicherheitspolitischen Maßnahmen, und immer wieder von Versuchen Lukaschenkos, die russische Kontrolle zu begrenzen. Seine Hauptmethode bestand dabei darin, den Westen zu umwerben und die EU zu überzeugen, dass er ein zuverlässiger Partner sei. Kredite des IWF und Chinas bildeten eine Alternative zu denen aus Russland, das sie nur zu harten Konditionen gewährte. In dieser Zeit entwickelte sich auch eine Art „sanfter Nationalismus“ in Belarus, als Lukaschenko nationale Gefühle nutzte, um seine persönliche Macht zu sichern und zu fördern. Auf diese Art verband er den Staat unmittelbar  mit seiner Präsidentschaft.

    7. 7. Warum war die demokratische Bewegung im unabhängigen Belarus immer relativ schwach und bis 2020 chancenlos? 

      Von 2001 an kontrollierte der Staat den Wahlprozess über zentrale und lokale Wahlkommissionen sowie über Registrierungsverfahren. Lukaschenkos erster Schritt bestand darin, Zeitungsredakteure zu ersetzen, die seine Autorität in Frage stellten. Auch das Fernsehen wurde zum Teil der Staatspropaganda. 
      Die Opposition suchte den traditionellen Weg zur Macht – in der Regel über politische Parteien, die weder genug Mitglieder noch genug Mittel hatten und dazu noch innerlich gespalten waren. So existierten zeitweise drei Ableger der Sozialdemokratischen Partei und zwei der Volksfront. 
      Zwar gab es Bemühungen, die Wahlkampagnen zu vereinheitlichen, aber diese fruchteten erst 2001, und auch da nur bedingt. Belarus hatte also nie eine oppositionelle Partei mit bedeutendem Rückhalt in der Bevölkerung, im Gegensatz beispielsweise zu Viktor Juschtschenkos Unsere Ukraine (ab 2000). Lukaschenko erklärte die Oppositionsparteien geschickt zu ausländischen Kräften, zu Blutsaugern, die mit westlichen Geldern ihre persönlichen Ausschweifungen finanzierten. Über längere Zeit wurden Geldstrafen, Verhaftungen und Schikanen zur Einschüchterung eingesetzt. Dies führte dazu, dass einige führende Oppositionelle das Land verließen und die Wählerschaft bis 2020 Passivität und Apathie an den Tag legte.

    8. 8. Was bedeuten die Proteste von 2020 und die anschließende Repressionswelle für die belarussische Unabhängigkeit? 

      Die Proteste und Repressionen haben alle Illusionen über Lukaschenko endgültig zerstört. Für die meisten Belarussen ist er als Präsident nicht mehr akzeptabel. Aber die Proteste waren friedlich und hatten keine Chance, einen Regimewechsel herbeizuführen, vor allem weil die Sicherheitskräfte und das Kabinett dem Präsidenten gegenüber loyal blieben und zu extremen Maßnahmen bereit waren. Vor den Repressionen sind Tausende von (vor allem jungen) Menschen aus Belarus ins Ausland geflohen. Andere sitzen in Gefängnissen und Arbeitslagern. Westliche Sanktionen, insbesondere nach der Zwangslandung des Ryanair-Fluges im Mai, haben Belarus noch stabiler in die russische Umlaufbahn geschubst. Der sehr geschwächte Lukaschenko machte Zugeständnisse an Russland, die früher undenkbar gewesen wären. Die belarussische Außenpolitik ist nicht mehr von der russischen zu unterscheiden. Die offiziellen Medien werden von Russland betrieben; auch die Sicherheits- und Militärpolitik ist koordiniert. Lukaschenkos einziger (symbolischer) Widerstand besteht in der Hoffnung auf eine Verfassungsänderung im nächsten Frühjahr durch die unrechtmäßige Volksversammlung. Kurzum, die belarussische Unabhängigkeit hängt am seidenen Faden. Aber die belarussische Bevölkerung hat letztes Jahr ihre Meinung sehr deutlich gemacht. Es kann keine Rückkehr zu der Situation vor 2020 geben, keinen Gesellschaftsvertrag zwischen diesem Präsidenten und dem Volk. 

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: David R. Marples
    Übersetzung: Alexandra Berlina
    Veröffentlicht am: 24. August 2021

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  • Kampf der Kulturen

    Kampf der Kulturen

    Auch Künstler, Musiker, Schriftsteller oder Kulturmanager sind seit dem 9. August 2020 Ziel staatlicher Repressionen in Belarus. Bei den sogenannten Hinterhofkonzerten im Herbst 2020 wurden dutzende Musiker festgenommen. Uladzimir Liankevich, der ehemalige Frontmann der Band TonqiXod, landete sogar zweimal im Gefängnis. Auch überprüfen staatliche Stellen aktuell, ob der Roman Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevich als „extremistisch“ eingestuft und damit verboten wird. Zum Jahrestag des Beginns der Proteste haben bekannte Vertreter und Vertreterinnen dieser alternativen Kultur in einem dekoder-Special von der Erschütterung erzählt, die Belarus mit der Eskalation der Gewalt erfahren hat. In einer Erhebung stellt der unabhängige Schriftstellerverband Belarussisches Pen-Zentrum, der wie über 100 NGOs von den Behörden liqudiert wurde, 621 Fälle fest, bei denen die Rechte von Kulturschaffenden verletzt wurden – und zwar allein für das Jahr 2021. Ist das ein Zeichen dafür, wie machtvoll die neue Kultur tatsächlich ist?

    Warum es die belarussischen Machthaber auf die sogenannte alternative Kultur abgesehen haben und was die aktuellen Entwicklungen für die Kulturszene bedeuten, analysiert der Philosoph, Kulturwissenschaftler und Medienanalytiker Maxim Shbankou in einem Beitrag für das belarussische Medium Belorusy i rynok.

    Störung des Wertegleichgewichts

    Es ist kein Geheimnis, dass bei uns – schon seit langer Zeit – nicht nur die eine Kultur existiert, sondern kulturelle Strömungen unterschiedlicher Qualität, Ausrichtung, ideeller Basis und Prinzipien. Wenn wir über die staatliche Kultur sprechen, so ist das stets, und in letzter Zeit verstärkt, eine Kultur der Loyalität, eine patriotismusgeleitete Kultur. Ihr zentrales Ziel war nicht die Entwicklung oder Suche nach neuen Formen, sondern vielmehr die Aufrechterhaltung quasisowjetischer Traditionen. Es ist also eine Kultur, und das sage ich auf Russisch, des „Bestandsschutzes“. Die auf staatlicher Ebene oft beschworene Stabilität wird im Kulturbereich durch eben diese Einförmigkeit sichergestellt, durch die Erziehung zu Staatsloyalität und zur Einsicht, dass Staat und Gesellschaft praktisch eins sind und all das geschützt werden muss, da das unser Schicksal ist, unser Land und so weiter und so fort.

    Auf der anderen Seite entwickelte sich auf der Ebene der, sagen wir, nichtstaatlichen oder alternativen Kultur viel Interessanteres und Komplexeres. Dort gab es kreatives Suchen, Experimente, Versuche, neue Beziehungen zur Vergangenheit herzustellen, zu kulturellen Traditionen, zum globalen Kontext – als nichtlineare Entwicklung. Die staatliche Kultur war stets einer konventionellen ideologischen Linie unterworfen (da unser System aber nie eine eigene Ideologie hatte und sie auch jetzt nicht hat, gibt es lediglich sekundäre, aus der Sowjetzeit entliehene Prioritäten und Werte). Die andere Kultur hingegen zeichnete sich gerade durch ihre Vielfältigkeit aus, durch Buntheit, Patchwork, Mosaik, eine viel breiter gefasste und interessantere schöpferische Bandbreite – und selbstverständlich auch durch den Charakter aller am Prozess Beteiligten und natürlich die Ergebnisse. Ich kann mit vollem Ernst und Verantwortungsgefühl sagen, dass die wertvollsten und interessantesten Ereignisse im Kulturbetrieb der vergangenen 20 Jahre in der freien, nichtstaatlichen Sphäre verortet sind, in einer Kultur, die nicht auf das Züchten von Loyalität, sondern, im Gegenteil, auf die Herausbildung einer gewissen kulturellen Freiheit abzielt, und dabei die unterschiedlichsten kulturellen Strömungen und Traditionen umfasst.

    Die politische Krise, in die wir im Sommer des vergangenen Jahres geraten sind, offenbarte die Stärke der unabhängigen Kultur, denn eben da begann ein sehr kraftvoller, explosiver kultureller Aktivismus, es entstanden unzählige neue visuelle Arbeiten, eine neue Street Art, eine neue literarische samt poetischer Lexik, neue musikalische Werke und vieles mehr. Es gab viele spontane Reaktionen auf die Situation, die eine für die stagnierende staatliche Kultur ungewöhnliche und komplett andere Dimension unserer Kunst bedeuteten. Es ist klar, dass in der Situation der politischen Konfrontation, in der der Staat sehr gewaltsam und energisch sein Recht zur Lenkung der Bevölkerung verteidigt, die kreative, „andere“ Kultur natürlicherweise zu einer Kultur des Dissens wird, einer Kultur der Unruhe, einer Kultur des intellektuellen Nonkonformismus und ideologischen Widerstandes. Und ebenso klar ist, dass eine solche Kultur des Dissens, eine Schule des freien Denkens und der unabhängigen Realitätsdeutung – in diesem Moment, meines Erachtens vollkommen angebracht, vom Staat als Problemquelle angesehen wird. 

    Wobei sich die staatliche Kultur in dieser Situation zusehends selbst eliminierte. Gefragt waren starke Slogans und frische Ideen, doch die staatliche Kultur vermochte nur eine Sammlung vermoderter Schablonen und banaler Verweise auf sowjetische Heldensprüche hervorzubringen. Das System der staatlichen Kulturindustrie stand also völlig hilflos vor den Herausforderungen einer neuen Epoche. Und diese Selbsteliminierung parallel zur Kulturrevolution, die meiner Ansicht nach im Sommer und Herbst des vergangenen Jahres stattfand, führten in der Summe zu einer Störung des Wertegleichgewichts. Oder dem, was die Machthaber für ein Wertegleichgewicht hielten. 

    Es zeigte sich, dass die ideologisch stabile Propaganda die Energie des Dissens, die zu jener Zeit im Umfeld der unabhängigen Kultur ausbrach, nicht blockieren konnte. Das Gefühl der Bedrohung, das mit der massenhaften Veränderung der grundlegenden Weltanschauung einherging, als ein beträchtlicher Teil der Nation plötzlich auf einer anderen Welle unterwegs war, führte daher tatsächlich zu einem Krieg der Kulturen, zu einer Konfrontation mit einer für den Staat völlig unverständlichen, feindlichen und verstörenden Sicht auf die Dinge.

    Der Feind muss vernichtet werden, der Gegner muss vom Feld

    Doch für einen Krieg der Kulturen braucht es einen angemessenen Gegner. In unserer Situation stand auf Seiten der offiziellen Kultur eine glatte Null: ein absolutes Kreativitätsdefizit, absolut unflexibles Schablonendenken und das Fehlen von energischen, markanten und überzeugenden Ausdrucksformen. Demgegenüber stand diese Kulturexplosion, die als ideologische Herausforderung, weltanschauliche Sabotage verstanden wurde. Aus ideologischer Konfrontation wurde Gewalt. Wenn ein Künstler nicht nur als Künstler, sondern auch als ideeller Gegner begriffen wird, wenn ein Musiker, ein Journalist oder wer auch immer aus dem kreativen Bereich nicht nur als anders, sondern als Feind aufgefasst wird, greifen plötzlich grundlegende Prinzipien des Selbstschutzes: Der Feind muss vernichtet werden, der Gegner muss vom Feld. Andere Mittel als die der Repression haben die Machthaber nicht gefunden. Das Standardvorgehen des bürokratischen Apparates wurde in Gang gesetzt: „Wer ist der Anstifter? Wer hat das genehmigt? Wer hat das losgetreten?“ Ein bürokratisches System, das ausschließlich auf Befehlen und Direktiven beruht, kann sich nicht vorstellen, dass die Gesellschaft in der Lage ist, eigenständig etwas umzusetzen. Der Dissens muss stets einen Regisseur haben, der Dissens braucht immer einen Strippenzieher. Und wen kann man am einfachsten als Strippenzieher abstempeln? Klare Sache: diejenigen, die herausstechen, diejenigen, die laut schreien, diejenigen, die sichtbare und markante künstlerische Zeichen setzen. 

    Trauer über die Ausreisewelle? Das wäre falsch

    Was die Frage der Emigration der Kulturschaffenden angeht, ob sie nun temporär ist oder nicht, so sei vorangestellt, dass jeder Mensch ein Recht auf die eigene Unversehrtheit hat. Jeder Mensch hat das Recht, sich und seine Nächsten zu schützen und zu verteidigen. Daher werde ich nie etwas Schlechtes über diejenigen sagen, die das Land verlassen. Der Mensch hat das Recht auf freie Entscheidung, Mobilität und Selbstschutz.

    Zweitens scheint mir, dass unsere Überlegungen darüber, dass jemand das Land verlassen und uns hier im Stich gelassen hat, dass wir hier zurückbleiben und sie nicht bei uns sind und so weiter, auf Vorstellungen aus dem vorvergangenen Jahrhundert beruhen. Denn damals war es ein unglaublicher Verlust, wenn ein Mensch nicht mehr an deiner Seite war, da es nur minimale Möglichkeiten des Kontakts, geschweige denn der ideellen oder ästhetischen Kommunikation gab. Damals hatte eine Änderung deines geografischen Aufenthaltsortes mitunter tragische Folgen. Wie für so viele im Emigrantenmilieu kam ein Verlassen der Heimat faktisch einer Lebenskatastrophe, einem existenziellen Debakel gleich.

    Heute bewegen wir uns jedoch in einem offenen, globalen Informationsraum. Heute ist die digitale Anwesenheit bedeutender und stärker als die physische Anwesenheit in einem konkreten Raum, vor allem im Bereich der Kultur. Darüber hinaus kann die physische Abwesenheit in einem Territorium der Gefahr und der zeitweise katastrophalen Ereignisse für Kulturschaffende durchaus zuträglich sein. Distanz schafft Reflexionsräume. Wenn du im Zentrum der Ereignisse stehst, bist du eine Geisel deiner Emotionen, eine Geisel der Gefühle. Um all das aber in Text, Musik, Bild, Film oder Ähnlichem abzubilden, braucht es eine gewisse Distanz. Deshalb können diese Distanzen und Grenzen dem kreativen Ausdruck seltsamerweise doch zum Vorteil gereichen.

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  • „Glaube ihnen nicht, fürchte dich nicht, bitte um nichts und lache – das ist mein Prinzip“

    „Glaube ihnen nicht, fürchte dich nicht, bitte um nichts und lache – das ist mein Prinzip“

    Seit Mittwoch, 4. August 2021, wird Maria Kolesnikowa in Minsk der Prozess gemacht. Die Oppositonelle sitzt seit September 2020 in Untersuchungshaft. Die Flötistin Maria Kolesnikowa, die auch lange Zeit in Stuttgart lebte und perfekt Deutsch spricht, leitete im vergangenen Jahr zunächst den Wahlkampfstab von Viktor Babariko und hatte sich nach dessen Verhaftung schließlich dem Frauentrio rund um Swetlana Tichanowskaja angeschlossen. Als die Behörden Anfang September 2020 versuchten, Kolesnikowa gewaltsam außer Landes zu bringen, zerriss sie an der Grenze ihren Pass. Ihre beiden Mitstreiterinnen Swetlana Tichanowskaja und Maria Zepkalo waren unterdessen gezwungen gewesen, Belarus zu verlassen.
    In dem Prozess, der vergangenen Mittwoch begann, wird Kolesnikowa und dem Anwalt Maxim Snak, ebenfalls Mitglied im Koordinationsrat der belarussischen Opposition, unter anderem die Gefährdung der nationalen Sicherheit vorgeworfen.


    Kurz vor Prozessbeginn hat der unabhängige russische Fernsehsender Doshd mit Kolesnikowa ein schriftliches Interview geführt und sie gefragt, wie sie zu den Vorwürfen steht und welche Zukunft sie für sich selbst und für Belarus sieht.


    Update am 06.09.2021: Am Montag, 6. September 2021, verurteilte das zuständige Minsker Gericht Maria Kolesnikowa zu einer Haftstrafe von elf Jahren. Die 39-jährige belarussische Oppositionelle wurde der Konspiration zur verfassungswidrigen Machtergreifung und der Gründung und Führung einer extremistischen Vereinigung für schuldig befunden. Außerdem habe sie zu Handlungen aufgerufen, die der nationalen Sicherheit der Republik Belarus schaden. Zu zehn Jahren Haft wurde der Jurist Maxim Snak, ebenfalls Mitglied des oppositionellen Koordinierungsrates, verurteilt. Der Prozess gegen beide fand seit 4. August unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Frühere Anwälte von Kolesnikowa und Snak war im Vorfeld die Lizenz entzogen worden. Die derzeitigen Anwälte mussten eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben und durften in der Öffentlichkeit nicht über den Prozess berichten. Trotz des Versammlungsverbotes hatten sich vor dem Gericht dutzende Menschen eingefunden.

    Seit dem 4. August 2021 wird Maria Kolesnikowa in Minsk der Prozess gemacht / Foto © Tatyana Belaeva/Sputnik RIA Novosti
    Seit dem 4. August 2021 wird Maria Kolesnikowa in Minsk der Prozess gemacht / Foto © Tatyana Belaeva/Sputnik RIA Novosti

    Maria Borsunowa/Doshd: Was können Sie derzeit über die Anklage sagen?

    Maria Kolesnikowa: Es ist eine absurde Anklage, nach der Maxim Snak und mir bis zu 12 Jahre Haft drohen für etwas, das wir nicht gemacht haben – das zeugt von der rechtlichen Willkür eines Polizeistaats. 

    Sie haben mir vorgeschlagen, einen Film à la Roman Protassewitsch zu drehen

    Die Staatsmacht hat panische Angst vor einem öffentlichen Prozess, bei dem alle sehen, dass die zentrale Gefahr und Bedrohung für die Belarussen, für Belarus und die nationale Sicherheit von der Staatsmacht ausgeht.  

    Haben Sie ein Angebot zur Kooperation bekommen? Vielleicht, ein Gnadengesuch zu schreiben oder ein Schuldeingeständnis im Tausch gegen Freiheit?

    Ja, in unterschiedlicher Form, aber schon während sie mir das anboten, glaubten sie nicht so recht an meine Zustimmung. Ich selber versuche, einen Dialog zu initiieren, Verhandlungen, um den Widerstand in der Gesellschaft zu beenden. Sie haben mich „angehört“ und vorgeschlagen, einen Film à la Roman [Protassewitsch] zu drehen. Ich sagte, Markow (Marat Markow, Chef des staatlichen belarussischen TV-Senders ONT – Anm. Doshd) kann gern kommen, und ich erzähle die schockierende Wahrheit über meine Entführung, die Ermittlungen gegen mich und den Wahnsinn im Gefängnis. Irgendwie kommt er nicht. 🙂 Und weil ich unschuldig bin, lehne ich es ab, ein Gnadengesuch zu schreiben.    

    Wenn Ihnen das vorgeschlagen würde, wie würden Sie reagieren?

    Das ist eine Bande fieser, feiger Hütchenspieler, es wäre merkwürdig, ihnen zu glauben. Die lügen doch immer. Glaube ihnen nicht, fürchte Dich nicht, bitte um nichts und lache – das ist das mein Prinzip bei der Kommunikation mit ihnen. 

    Was denken Sie über Menschen, die solche Bedingungen akzeptieren, um ihre Freiheit zurückzukriegen?

    Auf keinen Fall würde ich deswegen jemanden verurteilen. Jeder von uns trifft seine Entscheidung je nach den Umständen, in denen er sich befindet, und trägt allein die Verantwortung dafür, vor allem vor sich selbst.   

    Das ist eine Bande fieser, feiger Hütchenspieler, es wäre merkwürdig, ihnen zu glauben

    Gelingt es Ihnen, an Nachrichten zu kommen? Können Sie irgendwie verfolgen, was im Land passiert?

    Teils über Anwälte, teils über staatliche Zeitungen und Fernsehen. Manchmal ist allerdings nicht so klar, ob das BT (das belarussische Staatsfernsehen – Anm. Doshd) eine Außenstelle des KGB ist oder umgekehrt. Lustig, wie sie nun schon seit über einem Jahr einander um die Wette beweisen, dass sie die Mehrheit sind und nicht nur drei Prozent. 🙂

    Sie haben bestimmt vom Urteil gegen Viktor Babariko gehört (Kolesnikowa  war Koordinatorin von Babarikos Wahlkampfteam – Anm. Doshd). Haben Sie so eine lange Haftstrafe erwartet?

    Ich hatte keinen Zweifel, dass die Strafe hart wird. Denn je schwächer das Regime, desto grausamer das Urteil. Viktor Dimitrijewitsch ist schon über ein Jahr inhaftiert, aber seine Umfragewerte sind hoch, er hat eine Partei gegründet, ist sich selbst treu geblieben, hat keine Kompromisse mit seinem Gewissen geschlossen, obwohl sein Sohn, seine Familie und sein Team quasi in Geiselhaft sind. Sie haben Angst vor ihm, weil sie selber nichts können als Gewalt auszuüben. 

    Je schwächer das Regime, desto grausamer das Urteil

    Bald ist Ihre Verhaftung ein Jahr her. Haben Sie erwartet, dass Sie so lange in U-Haft sein werden? 

    Ich wusste, wenn ich nach dem 9. August in Belarus bleibe, wird es ganz bestimmt nicht einfach. Aber dazu war ich bereit. Und am 7. September (dem Tag, an dem Kolesnikowa verhaftet wurde – Anm. Doshd) war ich mir gar nicht sicher, ob ich am Leben bleibe und ob das nicht der letzte Montag meines Lebens sein wird. Ein Jahr später lebe ich noch – wie könnte mich das nicht freuen!

    Bereuen Sie im Nachhinein irgendetwas? Denken Sie manchmal, es wäre besser gewesen wegzugehen?

    Nein, ich bereue nichts, ich finde, es war die einzig richtige Entscheidung, meinen Pass zu zerreißen und damit meine Ausweisung zu verhindern. Wie sich zeigte, waren alle Gerüchte über die Macht des KGB maßlos übertrieben, und eine einzige Handbewegung reichte aus, um ihre feigen Pläne in Luft aufzulösen. Das Böse spielt sich immer selbst ins Aus. 

    Ein Jahr nach den Wahlen: Mit welchen Gefühlen erinnern Sie sich an jenen August und an das, was weiter passierte? Sind Sie enttäuscht, oder, im Gegenteil, gerade gar nicht?

    Der ganze Sommer hatte einen enormen Drive, es war ein Meer von positiver Stimmung, von Wärme, Lächeln und Liebe. Es war schwer, aber es hat sich gelohnt. 

    Das Böse spielt sich immer selbst ins Aus

    Enttäuschung spüre ich keine, dafür einen Ozean an Begeisterung! Ich bin begeistert von den unglaublichen Belarussen und ihrem unbeirrten Streben nach Freiheit, ihrer Bereitschaft, dafür zu kämpfen.

    Wie kann es weitergehen? Was muss passieren, damit sich die Situation in Belarus ändert?

    Die Situation ändert sich so rasant – mitten in den Turbulenzen lässt sich nichts vorhersagen. Es ist klar: Die herzlosen Aktionen der Staatsmacht – Repressionen, Säuberungen im Medien- und Infobereich, die Boeing-Geschichte (die Landung des Flugzeugs mit Protassewitsch – Anm. Doshd), die Migranten, die Vernichtung des Unternehmertums sowie die pathologische Unfähigkeit, die Folgen des eigenen Handelns wenigstens ein, zwei Schritte vorauszuberechnen – werden vor dem Hintergrund des absoluten Mangels an Vertrauen und Rückhalt seitens der Bevölkerung unweigerlich zum Zusammenbruch [der Staatsmacht] führen.   

    Verlassen Sie sich in dieser Hinsicht auf irgendjemanden oder irgendetwas?

    Ich glaube, dass die Belarussen ihre Probleme auch jetzt schon selbst lösen könnten, aber das braucht politischen Willen, Weisheit und Mut. Einen Dialog mit dem Volk zu beginnen – das ist das Einzige, was offensichtlich allen recht wäre und das Land wegführen würde vom Rand des Abgrunds, an den uns die Staatsmacht so unerbittlich drängt.  

    Können die europäischen Sanktionen das Geschehen irgendwie beeinflussen? Sollen die westlichen Länder auf die Ereignisse in Belarus reagieren, und wenn ja, wie?

    Für die Belarussen ist die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft sehr wichtig, nämlich zu wissen und zu spüren, dass wir mit diesem Terror und mit dieser wildgewordenen Dampfwalze nicht allein sind.   

    Die russische Regierung unterstützt Alexander Lukaschenko, zumindest auf offizieller Ebene. Wie groß ist die Rolle Russlands beim aktuellen Geschehen in Belarus und dabei, dass Alexander Lukaschenko im Amt bleibt? 

    Niemand kommt auf die Idee, dass die Führung Russlands Lukaschenko vertraut oder seinen Versprechungen auch nur ein Jota glaubt. Wir wissen nicht, ob es tatsächlich Unterstützung gibt und worin die besteht, abgesehen von Gesprächen darüber. 

    Für die Belarussen ist die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft sehr wichtig – zu wissen, dass sie mit dieser wildgewordenen Dampfwalze nicht allein sind

    Die harten Fakten: Die Bank der Gazprom (Gazprom und Gazprombank sind Aktionäre der Belgazprombank – Anm. Doshd) ist vernichtet, die Top-Manager sitzen hinter Gittern, [die Freundin von Roman Protassewitsch und russische Staatsbürgerin Sofia] Sapega ist in Minsk, Flüge auf die Krim gab es dann doch keine, und so weiter. Alle Gespräche über „Unterstützung“ sind Schaumschlägerei. Aber es ist auch klar, dass es für Lukaschenko einfacher ist, auf Knien um „Unterstützung“ zu betteln, als den Widerstand in Belarus zu beenden. Offenbar hat er vergessen, dass er nicht mit Putin zurechtkommen muss, sondern mit den Belarussen.  

    Haben Sie am Anfang mit Russlands Unterstützung gerechnet?

    Nein. Als Babarikos Wahlkampfteam waren wir strikt gegen eine Einmischung anderer Länder in innere Angelegenheiten der Republik Belarus. Als Lukaschenko den Krieg gegen uns anfing, schlugen wir vor, einen Dialog zu beginnen, entweder aus eigenen Kräften oder mit Vermittlung Russlands, der EU und der OSZE. Das ist unsere ehrliche und konsequente Position. Ich bin auch jetzt der Meinung, dass wir die Krise nur durch einen Dialog überwinden können.

    Was würden Sie den Belarussen gern sagen? 

    Ich glaube an die Belarussen, und ich liebe Belarus. Ich bin in Sorge um alle , weiß aber, dass das Böse sich selbst ins Aus spielen und das Gute siegen wird. Unsere kleinen Schritte führen zu großen Siegen. Für die Freiheit und die Zukunft von Belarus lohnt es sich zu kämpfen. Gemeinsam werden wir siegen! 

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    Grenzverschiebungen

    „Wir werden niemanden aufhalten“, sagte Alexander Lukaschenko Anfang Juli bei einem Treffen seiner Regierung in Minsk. Damit meinte der langjährige Autokrat Flüchtlinge vorwiegend aus dem Irak, aus Syrien oder Afghanistan, die versuchen, über Belarus in die EU zu gelangen. Tatsächlich sind seit Anfang des Jahres fast 4000 Flüchtlinge nach Litauen gelangt, täglich werden es mehr. Sie laufen durch die Wälder und Moorgebiete, die Belarus und Litauen auf einer Länge von 680 Kilometer voneinander trennen – es sind im Übrigen Fluchtwege, die zum Teil auch Belarussen nutzen, die aus politischen Gründen ins Nachbarland flüchten.

    In den vergangenen Tagen demonstrierten mehrere hundert Litauer in Vilnius gegen einen Plan der EU-Kommission, die Migranten in einem Camp im Grenzort Dieveniškės unterzubringen. Auch im Grenzort Rudninkai protestierten Menschen gegen ein bereits errichtetes Zeltlager. Das kleine Litauen steht unter hohem politischen Druck. Das drei Millionen Einwohner-Land hatte bereits Anfang Juli den Notstand ausgerufen. Über 30 Soldaten der EU-Grenzbehörde Frontex wurden nach Litauen geschickt, um die dortigen Grenzbehörden zu unterstützen, auch bei der besseren Sicherung der Grenze zu Belarus. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis beschuldigte Lukaschenko, die Flüchtlinge als „hybride Waffen gegen die EU“ zu benutzen – sozusagen als Strafe für die Sanktionen, die die EU am 21. Juni gegen die belarussischen Machthaber beschloss. Auch Politiker der belarussischen Opposition wie beispielsweise Pawel Latuschko warfen Lukaschenko vor, die Migranten gezielt in Richtung EU zu schleusen. Die litauische Regierung gehört zu den schärfsten Kritikerinnen Lukaschenkos. Anfang Juli hatte Litauen der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, die sich mit ihrem Team in Vilnius aufhält, einen offiziellen Status zuerkannt, worauf es zu einer diplomatischen Krise zwischen beiden Ländern kam.

    Aus welchen Ländern kommen die Flüchtlinge? Was sind ihre Beweggründe zu fliehen? Wer organisiert ihre Flucht vor Ort und in Belarus? Wie gelangen sie über die Grenzen? Das belarussische Online-Medium Reform.by beschäftigt sich in einer aufwändigen Reportage und Recherche mit diesen Fragen.

    Bagdad und Minsk verbindet ein recht belebter Luftweg. Bis vor Kurzem flog diese Strecke nur die Iraqi Airways – ein- bis zweimal pro Woche, je nach Saison; jetzt fliegt sie mittwochs und freitags. Doch seit dem 10. Mai hat sich die Zahl der Flüge zwischen der irakischen und der belarussischen Hauptstadt verdoppelt. Denn auch Fly Baghdad fliegt jetzt die Strecke – montags und donnerstags. [Inzwischen fliegt Iraqi Airways nach Informationen von Zerkalo.io (ehemals tut.by) vier Mal pro Woche von Bagdad nach Minsk, im August gibt es außerdem weitere Verbindungen von Sulaimaniyya, Basra und Erbil nach Minsk – dek].
    Seit Frühling 2021 preisen irakische Reisebüros massenhaft Urlaub in Minsk an. Die Kosten solcher Pakete variieren zwischen 560 und 950 Dollar. Im Preis inbegriffen sind Flugtickets, Visum, Versicherung, Unterbringung im Hotel und mehrere geführte Touren. 

    Die irakische Reiseagentur Jood Land wirbt für Reisen nach Belarus / Foto © Screenshot Reform.by
    Die irakische Reiseagentur Jood Land wirbt für Reisen nach Belarus / Foto © Screenshot Reform.by

    Solche Pauschalreisen aus dem Irak nach Belarus sind in den letzten Monaten deutlich billiger geworden. Das erwähnte im Gespräch mit Reform.by auch Jelena K. – eine Belarussin, die im irakischen Kurdistan lebt und mit einem Einheimischen verheiratet ist. 

    Lange Zeit plante das Paar eine Reise in Jelenas Heimat, konnte sich diese aber nicht leisten. Laut Jelena hätte noch im letzten Jahr ein Ticket nach Belarus und zurück mit Umsteigen in Istanbul rund 850 Dollar gekostet. Eine Pauschalreise wäre auf etwa 1000 Dollar pro Person gekommen. Jetzt, sagt Jelena, kann man Reisen nach Belarus ab 500 Dollar pro Person finden.

    Im August 2020 bot die irakische Reiseagentur Jood Land achttägige Touren nach Belarus an, von denen die billigste 949 Dollar kostete. Reform.by hat die Agentur kontaktiert und nach dem aktuellen Preis gefragt. Die Antwort: Eine achttägige Reise mit Unterbringung im Doppelzimmer kostet für eine Person 570 Dollar. In der Agentur betonte man, dass es jetzt viel mehr Iraker als früher gebe, die Belarus besuchen wollen.  

    Ich habe mein Leben lang davon geträumt, den Irak zu verlassen

    Angesichts der Preise für Pauschalreisen ist es nur logisch, dass viele Iraker sich für Belarus interessieren. Das beweisen auch die Facebook-Kommentare zu Werbungen von Reisebüros. Wir haben einige Iraker kontaktiert, die in FB-Kommentaren nach den Kosten für Belarus-Reisen fragten. 
    Gleich der erste junge Mann aus Bagdad erklärt: Er habe eine Werbung gesehen, von den vier Angeboten habe ihm Belarus am besten gefallen, daher wolle er hinfahren – nur als Tourist, zur Erholung. In Belarus sei er noch nie gewesen, und er kenne auch niemanden, der schon mal dort war. Doch schon ein paar Minuten später fragt er: „Wissen Sie überhaupt, wie es im Irak zugeht? Kennen Sie sich vielleicht mit Migration in die EU aus? Wenn ich nach Belarus fahre und dort heiraten würde, könnte ich dann legal im Land bleiben?“
      
    Wie uns der Iraker Amin (Name geändert) erzählt, wurde Alexander Lukaschenkos Verlautbarung, Belarus werde Flüchtlingen, die in die EU wollen, keine Steine mehr in den Weg legen, mehrere Tage hintereinander im irakischen Fernsehen gesendet. Und überhaupt würden die irakischen Medien Nachrichten zum Thema Migration viel Aufmerksamkeit schenken und jetzt oft über Belarus berichten. Daher würden viele Iraker, die permanent auf der Suche nach Möglichkeiten seien, das Land zu verlassen, diese Chance sofort nutzen.

    Für Migranten sei Belarus derzeit eine der billigsten und ungefährlichsten Arten, nach Europa zu gelangen

    Amins Karte / © Reform.by 
    Amins Karte / © Reform.by 

    Amin ist 25. Der junge Mann sagt, er habe sein Leben lang davon geträumt, den Irak zu verlassen, er nennt den Irak die Hölle auf Erden. Als er im Fernsehen von Belarus erfahren habe, hätten er und seine Freunde beschlossen, diese Gelegenheit beim Schopf zu packen. Er sagt, für Migranten sei eine Reise nach Belarus derzeit eine der billigsten und ungefährlichsten Arten, nach Europa zu gelangen.   
    „Schlepper kassieren meistens ein paar tausend Dollar für eine Lkw-Fahrt in ein europäisches Land“, sagt Amin.
    Er meint, nach Lukaschenkos Worten sei im Irak die Nachfrage nach Belarus-Reisen deutlich gestiegen. Er selbst und vier seiner Freunde haben im Reisebüro Al Qimma Travel and Tourism für 700 Dollar pro Person gebucht. Im Preis inkludiert sind PCR-Test, Visum, Unterkunft und mehrere Ausflüge. Ein Visum für zehn Tage bekam Amin gleich auf dem Nationalen Flughafen in Minsk ausgestellt.     

    Noch vor seiner Ankunft in Belarus erzählt uns Amin: Seine Freunde und er verfolgen Meldungen über Festnahmen illegal Reisender an der litauischen Grenze und markieren die jeweiligen Orte auf einer Karte. Den Grenzübertritt planen die jungen Männer in der Region Grodno – weil dieses Gebiet auf Satellitenkarten bewaldet aussehe. Außerdem suchen sie Informationen darüber, mit welchen Transportmitteln sie bis zur Grenze kommen und wo sie litauische SIM-Karten kaufen können. Amin und seine Freunde entscheiden sich, mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis Lida zu fahren und von dort mit dem Taxi zur Grenze. 

    Mit dem Taxi bis zur Grenze

    Zuerst hatte die Gruppe vor, etwa drei Tage in Minsk zu bleiben, aber als sie am 10. Juli ankommen, wollen sie lieber keine Zeit verlieren und am selben Tag noch bis zur Grenze fahren. Dann passiert etwas Kurioses, das illustriert, wie illegale Einwanderer in Belarus – wenn auch nicht in allen, so doch in vielen Fällen – absolut auf sich gestellt und ohne jegliche Organisation und Hilfe agieren. Die Jungs verlassen das Hotel und gehen zur nächsten Bushaltestelle, wo Amin dem Journalisten, mit dem er Kontakt hat, ein Foto des Fahrplans schickt und fragt: „Welcher von diesen Bussen fährt an die Grenze?“
    Im Endeffekt fahren sie mit dem Taxi. Wahrscheinlich sind sie über der Grenze, als unser Kontakt zu Amin abreißt. Soweit wir wissen, werden den Leuten in den Auffanglagern während der Quarantäne die Handys abgenommen und nur zu bestimmten Zeiten ausgehändigt.

    „Welcher von diesen Bussen fährt an die Grenze?“ / Foto © Reform.by
    „Welcher von diesen Bussen fährt an die Grenze?“ / Foto © Reform.by


    Die Fluchtbewegung nach Litauen besteht nicht nur aus Irakern. Mansur (Name geändert) ist ein 23-jähriger Syrer, er hat in der Türkei einen Uni-Abschluss als Energieingenieur gemacht. Jetzt wird er zur Armee einberufen und hat beschlossen, das Land zu verlassen.  
      
    „Von Migration über Belarus habe ich in der Zeitung gelesen, in Syrien liest man aufmerksam alle Nachrichten zum Thema Migration. Ich habe von der Situation in Belarus und von Lukaschenkos Aussage über Einwanderer gehört, daher wollte ich die Chance nutzen“, erzählt der junge Mann. 
    Da Mansur in der Türkei studiert hat, hat er eine doppelte Staatsbürgerschaft: die syrische und die türkische. Türkische Staatsbürger haben das Recht, sich bis zu 30 Tage ohne Visum in Belarus aufzuhalten. Daher braucht Mansur kein Visum zu beantragen.

    Wenn ich über die Grenze gehe, werde ich ein Handy mit aufgeladener Karte, zwei Kilo Bananen, zwei Liter Wasser, eine Hose und ein Hemd einpacken

    Dreiländereck Polen, Litauen, Belarus / © Reform.by
    Dreiländereck Polen, Litauen, Belarus / © Reform.by

    „Vom Flughafen fuhr ich mit dem Bus nach Minsk und ging zum Bahnhof, wo ich dem Schalterbeamten auf meinem Handy den Satz ‚Ich möchte ein Ticket Minsk–Grodno kaufen‘ auf Russisch zeigte. So fuhr ich nach Grodno. Auf der Karte hatte ich gesehen, dass es in der Nähe der polnischen und der litauischen Grenze liegt, daher wollte ich sofort in diese Stadt. Hier wohne ich bis auf Weiteres in einem Hotel im Zentrum und tüftle mir eine Route aus. Ich überlege, wo ich am besten hingehe, sehe mir diesen Ort an“, Mansur zeigt uns einen Screenshot. 

    „Wenn ich über die Grenze gehe, werde ich ein Handy mit aufgeladener Karte, zwei Kilo Bananen, zwei Liter Wasser, eine Hose und ein Hemd einpacken. Aber ich muss erst herausfinden, wie ich zur Grenze komme, wie das hier mit dem Taxi ist“, erzählt Mansur weiter.
    Der junge Mann gibt zu, große Angst vor der belarussischen Miliz zu haben. Das letzte Mal haben wir am 7. Juli mit Mansur gesprochen, seitdem war er nicht mehr telefonisch erreichbar und nicht mehr online.

    Nach dem Irak kommt ihnen Belarus wie ein Polizeistaat vor

    Wie wir von unseren Gesprächspartnern wissen, haben Migranten, die durch unser Land flüchten, generell große Angst vor Begegnungen mit der Miliz: Nach dem Irak kommt ihnen Belarus wie ein Polizeistaat vor. Sollte es dennoch passieren, wollen sie sich als Studenten der Universität Grodno ausgeben. Ihrer Meinung nach klingt das glaubwürdig und kann sie vor Festnahmen bewahren. 

    Keiner der Migranten erzählt uns (obwohl sie recht gesprächig sind), dass sie in Belarus Anweisungen bekommen hätten, wo sie hinfahren und was sie dort sagen sollen, schon gar nicht von Grenzbeamten. Daraus schließen wir, dass sie vor allem untereinander ihre Erfahrungen weitergeben. Sie verkehren in unzähligen Social-Media-Gruppen und Telegram-Chats für Flüchtlinge – in der Regel geschlossenen, in die man schwer reinkommt, aber uns ist es gelungen. 

    Hast du es geschafft – dann hilf dem Nächsten

    Samir, der eine solche Community gegründet hat, erzählt uns, dass solche Gruppen in erster Linie dazu da sind, Informationen über möglichst ungefährliche Transitrouten nach Europa zu teilen. Mit dem Ziel, dass sich möglichst wenige Leute dem Risiko aussetzen, in Booten das Meer zu überqueren oder sich in mit Menschen vollgestopften Lastwagen über den halben Kontinent karren zu lassen und dafür noch Unsummen hinzublättern. 
    Jetzt entstehen spezielle Gruppen, in denen es darum geht, wie man über Belarus nach Europa gelangt. 

    Tausende Dollar für Europa?

    Samid (Name geändert) ist Kurde. Er will über Belarus nach Polen, um dann nach Deutschland weiterzureisen. Von ihm haben wir die Kontaktdaten eines kurdischen Schleppers bekommen, der die Leute von Litauen nach Deutschland bringt.

    „Sie bringen die Leute von Litauen nach Deutschland, pro Person kostet das 85.000 US-Dollar. Außerdem haben sie noch jemanden an der Grenze, der den Weg erklärt, vielleicht ein Einwohner Litauens“, erzählt Samid.

    Laut Samid sind in dem Preis ein Visum und andere Dokumente enthalten, die für die Einreise nach Belarus und den Transit zur Grenze nötig sind. An der Grenze werde den Leuten erklärt, wohin sie gehen müssen. Nach dem Grenzübertritt würden sie in Litauen von jemandem empfangen und nach Deutschland gebracht. 

    Samids Bericht ist die einzige uns vorliegende Quelle, die sich mit den Informationen überschneidet, die sich mittlerweile vielfach in den Medien finden: Dass viele Migranten bis zu 15.000 Dollar bezahlen würden, um über Belarus nach Litauen zu gelangen. In den Chats von irakischen Migranten haben wir diese Informationen nicht gefunden, und auch von unseren Interviewpartnern, die überwiegend aus dem Irak stammen, wurden sie nicht bestätigt.

    Interessant ist, dass in den vergangenen Jahren illegal reisende Migranten (auch aus dem Irak) Belarus gemieden und sogar davor gewarnt haben, über dieses Land in die EU einzureisen, weil die Grenze zu streng bewacht werde.

    Wir haben einen Post von 2017 gefunden, in dem Iraker darüber diskutieren, warum es gefährlich sei, die belarussische Grenze zu passieren. In den Kommentaren schrieb ein Syrer namens Hatim, Belarus sei als ein Staat bekannt, in dem jeder verhaftet würde, man solle diese Variante lieber nicht in Betracht ziehen.

    Eine offene Grenze

    Warum gilt der belarussische Korridor also jetzt als eine nahezu sichere Möglichkeit, in die EU zu gelangen? Das liegt nicht nur an den gesunkenen Preisen für Flüge und touristische Reisen. Aus den Berichten aller unserer Interviewpartner geht klar hervor, dass sich das Verhalten der Grenzbeamten grundlegend geändert hat. Das sagen nicht nur Migranten, sondern auch Belarussen. Diese Angaben wurden uns außerdem von zwei Grenzbeamten bestätigt, die bereit waren, anonym mit uns zu sprechen.

    Ein anonymer Informant von Reform.by, der an einem Grenzkontrollpunkt arbeitet, erzählt von der gegenwärtigen Situation an der belarussisch-litauischen Grenze:

    „Derzeit passieren ziemlich erstaunliche Dinge. Früher wurde man dafür belohnt, wenn man einen Zigarettenschmuggler erwischt hat, jetzt ist das nicht gern gesehen. Und was die Illegalen angeht, die Grenzbeamten verhaften zwar welche, doch neuerdings gibt es den Befehl von oben, dass die Beamten ihre Patrouillen nach einem festen Plan durchführen sollen, so dass gewisse Fenster entstehen, durch die die Illegalen hindurchkönnen. Es gibt keinen konkreten Befehl, aber wenn du zum Beispiel deinen Vorgesetzten sagst, die rechte Flanke der Grenzzone ist nicht abgedeckt, heißt es, das sei nicht weiter schlimm, und keiner unternimmt etwas.“

    Es ist offensichtlich, dass die Schleusen für Schmuggelei und illegale Migration geöffnet sind

    „Früher hat ein Grenzbeamter einen Illegalen festgenommen und dafür 200 Rubel [knapp 70 Euro – dek] Prämie bekommen, aber wenn ein Grenzbeamter heute trotz allem noch jemanden festnimmt, bekommt er gar nichts mehr. Kollegen, die neulich Gruppen von je 14 und fünf Irakern festgenommen haben, haben gerade mal 20 Rubel bekommen.

    Es ist offensichtlich, dass die Schleusen für Schmuggelei und illegale Migration jetzt geöffnet sind. Sogar die festgenommenen Illegalen bekommen jetzt nur eine kleine Geldstrafe und werden wieder freigelassen. Früher wurde ein Protokoll erstellt, Anklage erhoben, sie wurden in spezielle Abschiebelager gebracht. Das Ergebnis ist ein starker Beamtenschwund, viele verlängern ihre Verträge nicht.“

    Roman (Name geändert) ist Grenzbeamter an der belarussisch-litauischen Grenze in der Oblast Grodno. Auch er bestätigt die Informationen über den Beamtenschwund im Grenzdienst.

    Es gab den mündlichen Befehl, die Augen vor illegalen Migranten zu verschließen

    „Es gab den mündlichen Befehl, die Augen vor illegalen Migranten zu verschließen, sie nur festzunehmen, wenn sie extrem dreist werden, quasi direkt über den Grenzkontrollpunkt marschieren. Normalen Grenzbeamten gefällt das natürlich gar nicht, sie versuchen trotzdem, die Gesetzesbrecher festzunehmen. Dann gibt es einen Stempel, ein Protokoll, eine Geldstrafe und die Illegalen werden mit ihren Sachen in ein Untersuchungsgefängnis gebracht. Wobei sie oft nur einen Rucksack dabeihaben oder gar keine Sachen, keine Ahnung, wo sie die lassen.

    Übrigens werden statt Grenzbeamten derzeit OSAM (Spezialeinheiten der Grenztruppen) auf Grenzpatrouille geschickt – schon möglich, dass diese Spezialeinheiten den Migranten selbst den Weg zeigen.“

     

    Belarussische Grenzschützer bei der Arbeit / Symbolbild © gpk.gov.by

    Auch Belarussen bemerken an der Grenze Gruppen von Migranten. Anfang Juli posten viele Anwohner der Grenzregion in Telegram-Kanälen, dass sie immer wieder Busse zur Grenze und wieder zurückfahren sehen und dass die Beamten keine Passkontrollen bei den Nichteinheimischen mehr durchführen.

    Wir sprechen außerdem mit einem Belarussen, der Ende Juli ins Ausland geflohen ist, um einer politisch motivierten Gefängnisstrafe zu entgehen. Zunächst hat er knapp eine Woche in der Nähe von Lida gewohnt und auf den richtigen Moment gewartet. Er sagt, er hätte von Einheimischen gehört, dass sie oft Kleinbusse mit zugezogenen Vorhängen sehen – ihrer Meinung nach werden darin Migranten transportiert. Unser Interviewpartner hat auch selbst einen solchen Bus gesehen.

    Schon möglich, dass diese Spezialeinheiten den Migranten selbst den Weg zeigen

    Unmittelbar hatte er nur beim Grenzübertritt mit Migranten zu tun. Er berichtet, er und seine Begleiter hätten kurz vor der Grenze, unweit der Stelle, an der sie das Land verlassen wollten, ein militärisches Zeltlager mit Grenzbeamten gesehen. „Als würden sie auf jemanden warten, oder sich abseits halten, um nicht zu stören“, sagte er. Deswegen entschieden er und seine Begleiter sich, nicht an dieser Stelle, sondern direkt, wo sie waren, über die Grenze zu gehen. Sie mussten also durch den Sumpf fliehen, überquerten die Grenze und trafen dort auf litauische Grenzbeamte. Eine Viertelstunde später kam auf demselben Weg eine Gruppe von Migranten: knapp zwölf arabisch aussehende Menschen. Sie erklärten den Grenzbeamten, sie wären Studenten der Universität Grodno, wurden verhaftet und in ein Lager gebracht.

    Außerdem wissen wir von einem Mann, der Anfang Juli nach einer Festnahme durch Sicherheitskräfte aus Belarus geflohen ist. Er berichtet, ein befreundeter Grenzbeamter hätte ihm zu einem Grenzübertritt in der Oblast Grodno geraten, denn „dort achtet gerade keiner auf die Grenze“. Tatsächlich konnte unser Interviewpartner die Grenze bei Lida problemlos überqueren. Er sagt auch, er habe an dem Grenzabschnitt noch vier arabisch aussehende „Kollegen“ gesehen, die auf der belarussischen Seite ebenfalls nicht aufgehalten worden seien.

    Migranten als aktive Teilnehmer eines hybriden Angriffs zu betrachten

    Alena Tschechowitsch ist Juristin bei Human Constanta, einer öffentlichen Beratungsstelle für Migranten und staatenlose Menschen. Sie kommentiert für Reform.by die Situation aus Sicht des Migrationsrechts. Tschechowitsch ist der Meinung, dass Migranten, die die politische Situation in Belarus nutzen wollen, in einer sehr gefährlichen Lage sind:

    „Nach polnischem und litauischem Recht können die Migranten, die in diesen Ländern Asylanträge stellen, nicht abgeschoben werden, bevor über diese Anträge entschieden wurde. Diese Gesetze gelten für alle Asylsuchenden, unabhängig davon, ob sie legal oder illegal ins Land gekommen sind. Wenn die Migranten nicht nachweisen können, dass ihnen im Herkunftsland Gefahr droht, wird ihnen das Asyl verweigert, dann können Polen oder Litauen sie nach ihren jeweiligen internen Verfahren abschieben. In der gegenwärtigen Situation, also angesichts der hohen Zahl von Ankommenden, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass die litauischen und polnischen Behörden die Anträge auf Asyl und einen Flüchtlingsstatus unbegründet ablehnen. 

    Zudem hat das litauische Parlament die gestiegene Fluchtbewegung über die belarussische Grenze als hybride Kriegsführung bezeichnet. Das Parlament fordert, die Migranten aus Drittstaaten, die illegal über die litauische Grenze einreisen und keine Papiere haben – ausgenommen sind Frauen mit Kindern, behinderte Menschen und Kinder unter 16 – , als aktive Teilnehmer eines hybriden Angriffs zu betrachten, solange nicht das Gegenteil bewiesen wurde. Wenn die litauische Regierung diesem Gesetzesentwurf zustimmt, könnten sich hunderte Menschen in einer sehr gefährlichen Lage wiederfinden, ohne den ihnen zustehenden Schutz.“

    Am 21. Juli wurde der Gesetzesentwurf vom litauischen Präsidenten unterzeichnet.

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    Der Fall Timanowskaja: Wie man einen internationalen Skandal baut

    „Ich wurde unter Druck gesetzt, man versucht, mich gegen meinen Willen außer Landes zu bringen.“ Mit diesen Worten wandte sich die belarussische Leichtathletin Kristina Timanowskaja am Sonntag aus Tokio an das Internationale Olympische Komitee.

    Das Belarussische Olympische Komitee hatte zuvor den Abzug der Sportlerin von den Olympischen Spielen erklärt und dies offiziell mit ihrer „emotional-psychischen Verfassung“ begründet. Kritiker sehen den tatsächlichen Grund allerdings in Aussagen Timanowskajas, die sie zwei Tage zuvor auf ihrer Instagram-Seite gemacht hatte: Dort hatte sie sich darüber empört, dass sie nun kurzfristig und unabgesprochen in einer weiteren Disziplin (4-mal-400-Meter-Staffel) antreten müsse – anstelle ihrer Kolleginnen, die nicht an den Spielen teilnehmen konnten, weil Sportfunktionäre bei den Dopingtests geschlampt hätten.

    Timanowskaja musste am Sonntag letztlich nicht nach Belarus ausreisen, wo sie nach eigenen Angaben womöglich Repressionen erwartet hätten. Kurz nach dem Vorfall am Flughafen von Tokio veröffentlichte der Telegram-Kanal Nik i Maik den mutmaßlichen Mitschnitt eines Gespräches, in dem Nationaltrainer Juri Moissewitsch und ein weiter Sportfunktionär Timanowskaja die Ausreise nahelegen und auch, in der Angelegenheit von nun an zu schweigen. Dimitri Nawoscha, Gründer des Sportportals sports.ru, spricht von einem „epochalen Dokument“: „Eine Mischung aus Lügen, direkten Drohungen, Victimblaming (,Du zerstörst das Schicksal anderer Menschen‘), Überredungen (,Mach es fürs Team!‘) – ein Dogmen-Mix aus Orthodoxie und Komsomol.“

    Der im Juni nach Kiew geflohene politische Analyst Artyom Shraibman kommentiert den Vorfall um Timanowskaja auf seinem Telegram-Kanal und sieht darin seine bereits mehrfach geäußerte These über den Machtapparat Lukaschenkos bestätigt: „Das System verliert an Kompetenz und macht einen Fehler nach dem anderen.“ 

    Der Fall der Athletin Timanowskaja demonstriert höchst anschaulich, wie ein bürokratisches System – das sich im vergangenen Jahr jegliche Selbstkontrolle abgewöhnt und innere Checks and Balances sowie die Reste von Kritikfähigkeit aufgegeben hat – wie dieses System aus einer völlig unbedeutenden Episode einen internationalen Skandal macht.

    Ausländische Journalisten fragen oft: Warum musste man denn gleich Sanktionen provozieren, um Protassewitsch festzunehmen? Warum musste man sich ausgerechnet 80 Prozent [der Wählerstimmen – dek] andichten vor einem Jahr?

    Doch dafür gibt es keinen Grund. Das System funktioniert nicht so, dass es bei der Entscheidungsfindung alle Risiken abwägt. Die Anreize sind hier anders gelagert: Um jeden Preis gilt es, das zu löschen, was den Zorn des Ersten [Mannes im Staate – dek] entflammen könnte. Und wenn der Zorn entbrannt ist, dann muss er mit doppeltem Einsatz gelöscht werden.

    Ich bin ziemlich sicher, dass sich alles wie folgt entwickelt hat: Timanowskaja veröffentlicht ein Video mit Kritik an den Sportfunktionären, die die Dopingtests von anderen Athletinnen vergeigt haben und nun Timanowskaja zwingen, an deren Stelle zu laufen. Telegram-Kanäle greifen das Video auf.

    Wenn Lukaschenkos Zorn entbrannt ist, dann muss er mit doppeltem Einsatz gelöscht werden

    Das Fernsehen läuft in dem Modus: Auf alles eindreschen, was Telegram-Kanäle aufgreifen. Im Endeffekt ist Timanowskaja nun die Anti-Heldin aller Nachrichtensendungen im Staatsfernsehen. Lukaschenko schaut Fernsehen und ist wütend: Wir haben ihr doch alles gegeben, haben sie auf unsere Kosten trainiert, und sie zieht da ihre Show ab und postet solche Sachen. Lukaschenko greift zum Hörer und fordert, Timanowskaja von den Spielen abzuziehen und sie mit dem nächsten Flugzeug nach Hause zu schicken.

    Die Sportfunktionäre beeilen sich, die Weisung auszuführen, aber es sickern schon Informationen durch. Also denken sie sich eine Version aus über eine ärztliche Untersuchung und eine instabile Gefühlslage der Läuferin [als offizielle Erklärung des Rückzugs von den Spielen – dek]. Die Läuferin bestreitet aber, dass sie überhaupt untersucht worden sei. Internationale Medien greifen die Geschichte auf und machen daraus einen Skandal, der durchaus zum Ausschluss von Belarus aus dem IOC oder anderen Sanktionen im Sportbereich führen kann.

    Ich wette – sollte es so kommen – dann wird im nächsten Stadium von einer geplanten Provokation und einer im Voraus gekauften Timanowskaja die Rede sein. Sie hat ja auch einen verdächtigen Nachnamen [ähnlich zu dem von Swetlana Tichanowskaja – dek]. Und alles im Rahmen eines hybriden Kriegs, nach dem gescheiterten Blitzkrieg. Alles, damit die Region Grodno an Polen fällt. Oder ist es jetzt die Region Gomel an Japan?

    Aber im Ernst: Bei dieser Geschichte geht es nicht nur um die Mechanismen, wie unser Staat funktioniert, sondern auch um dessen Reputation. Hätten Sportfunktionäre irgendeines anderen Landes als Belarus – und vielleicht abgesehen von Nordkorea – beschlossen, einen Sportler zum Flughafen zu bringen, der wegen einer Meinungsverschiedenheit mit seinen Vorgesetzten von den Spielen abgezogen wurde, hätte dem niemand Beachtung geschenkt. Aber in unserem Fall ist selbst im fernen Japan jedem klar, was Timanowskaja im Vorzeigeland der europäischen Sicherheit droht.

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  • Die Brester Festung

    Die Brester Festung

    Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Brester Festung zu einem der wichtigsten Erinnerungsorte der Sowjetunion, seit den 1970er Jahren befindet sich am historischen Ort eine monumentale Gedenkstätte. Bis heute steht die Festung in Russland und Belarus für den heroischen Widerstand gegen die deutschen Angreifer in den ersten Tagen des „Großen Vaterländischen Krieges“, für Vaterlandsliebe und Opferbereitschaft. Ein genauer Blick zeigt jedoch, dass die heutige Legende wenig mit den tatsächlichen Ereignissen gemein hat. 

    Am Zusammenfluss von Bug und Muchawez entstand im 11. Jahrhundert die Stadt Brest. Unter Zar Nikolaus I. wurde sie in den 1830er Jahren jedoch niedergerissen und etwas weiter östlich neu errichtet. Grund dafür war der Bau einer mächtigen Befestigungsanlage, welche die Grenze des Zarenreiches zu Kongresspolen sichern sollte. Umgeben von den beiden Flüssen sowie künstlich angelegten Gräben liegt die Festung auf vier Inseln mit einer Fläche von etwa vier Quadratkilometern. Die äußeren Inseln wurden mit Erdwällen gesichert, während die Kerninsel von einer zweistöckigen Ringkaserne mit mächtigem Mauerwerk umgeben war.

    Grundriss der Brester Festung in den 1830er Jahren / © gemeinfrei1

    Im August 1915 konnten deutsche und österreichische Truppen Stadt und Festung ohne Gegenwehr einnehmen, nachdem beide im Zuge des russischen Rückzuges verlassen und teilweise zerstört worden waren. Am 3. März 1918 wurde hier der Vertrag von Brest-Litowsk unterzeichnet. Mit dem Frieden von Riga fielen Stadt und Festung 1921 an den neugegründeten polnischen Staat, bevor sie nach dem deutschen Überfall auf Polen und der sowjetischen Annexion Ostpolens im Herbst 1939 sowjetisch wurden. Die Stadt stellte einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt unmittelbar an der Grenze zum deutsch besetzten Polen dar, der militärisch von der Festung aus kontrolliert wurde. 

    Kampf um die Festung

    In den Morgenstunden des 22. Juni begann auf einer Front von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer der Angriff auf die Sowjetunion. An diesem Tag übertrat auch die 45. Infanterie-Division der Wehrmacht als Teil der Heeresgruppe Mitte die Grenze. Sie hatte den Befehl, Stadt und Festung handstreichartig zu erobern, um die geplante „Panzerrollbahn 1“ zu sichern.

    Doch während die Stadt schnell eingenommen war, stießen die Deutschen in der Festung auf Widerstand. Etwa 9000 sowjetische Soldaten und Kommandeure waren durch den Überfall in der Festung eingeschlossen und viele von ihnen nahmen den Kampf auf. Nach drei Tagen waren die schweren Kämpfe jedoch beendet, es hielten sich nur noch einzelne Widerstandsherde, um die weitere zwei Tage gekämpft wurde. Ab dem Abend des fünften Kriegstages, dem 26. Juni 1941, wurde nur noch ein Reduit auf der Nordinsel der Festung, das sogenannte Ostfort, verteidigt. Zwei Bombenangriffe der Luftwaffe zwangen dessen Verteidiger am Abend des 29. Juni zur Kapitulation.

    Drei Tage nach dem Ende der Kämpfe verließ am 2. Juli 1941 die Masse der 45. Infanterie-Division Brest in Richtung Osten und ließ nur schwache Sicherungskräfte zurück. Für die Zeit danach sind keine zeitgenössischen Quellen bekannt, die Kämpfe belegen würden. Mit einer Ausnahme: Am 23. Juli 1941 wurden bei einem Feuerüberfall mehrere deutsche Soldaten verwundet und ein sowjetischer Kommandeur gefangengenommen.2

    Entwicklung der Verluste in den Kämpfen um die Brester Festung auf Basis von Primärquellen / © Christian Ganzer, lizenziert unter CC BY-SA 4.0
    Entwicklung der Verluste in den Kämpfen um die Brester Festung auf Basis von Primärquellen / © Christian Ganzer, lizenziert unter CC BY-SA 4.0

    Insgesamt wurden bei den Kämpfen etwa 430 Angreifer getötet und rund 660 verwundet. Ihnen gegenüber standen etwa 2000 gefallene Verteidiger. Zudem gerieten rund 6800 Angehörige der Roten Armee in Gefangenschaft, was etwa 75 Prozent der Garnison entspricht.

    Eine Legende wird geformt

    Auch wenn diese Zahlen von einer schnellen und klaren Niederlage zeugen, entwickelten sowjetische Journalisten, Parteiideologen und Schriftsteller nach dem Krieg ein Heldennarrativ rund um die Festung Brest: Obwohl zahlenmäßig unterlegen und mangelhaft mit Wasser, Lebensmitteln und Munition versorgt, hätten die sowjetischen Soldaten Gegenangriffe unternommen, unzählige Wehrmachtssoldaten getötet und den Angreifern wochenlang standgehalten. Ihrem Eid treu ergeben, hätten sie zudem den Tod der „schändlichen“ Gefangenschaft vorgezogen. Diese Bereitschaft zur bedingungslosen Selbstaufopferung beweise ihre Überlegenheit und ihre grenzenlose Liebe zum sozialistischen Vaterland und zur Kommunistischen Partei. Eine ganze Division der Wehrmacht sei über einen Monat festgehalten worden, hier hätten die Deutschen einen Vorgeschmack dessen bekommen, was sie noch erwarten sollte, hier wurden angeblich die ersten Ziegel im Fundament des „Großen Sieges“ gelegt.

    Paradebeispiel für diese Behauptungen war Major Pjotr Gawrilow, der noch am 23. Juli 1941, dem 32. Tag des Krieges, allein gegen die Invasoren gekämpft haben soll. Erschöpft und entkräftet sei er gefangengenommen worden, ohne sich jedoch ergeben zu haben.   

    Dadurch, dass der Kampf bis zum Tod und die vermeintlich lange Dauer des Widerstands die Hauptsäulen der Heldengeschichte bildeten, wurde das Thema der Kriegsgefangenschaft ausgespart. Obwohl sie drei Viertel der Verteidiger betraf, war sie nicht Teil des offiziellen sowjetischen Narrativs. Als ehemalige Gefangene fanden nur jene Erwähnung, die als Zeitzeugen gebraucht wurden.

    Die Tücken der Quellen

    Doch da die Zeitzeugen in der Regel in deutscher Gefangenschaft gewesen waren und „Gefangengabe“ in der Sowjetunion den Straftatbestand des Vaterlandsverrates erfüllte, hatten sie allen Grund, sich als besondere Patrioten darzustellen – von Kapitulation und weißen Fahnen sprachen sie also prinzipiell nicht. Im Gegenteil: Viele Erinnerungsberichte von in Brest stationierten Rotarmisten enthalten Unwahrheiten oder Übertreibungen. Denn so, wie sie von der sowjetischen Propagandamaschinerie instrumentalisiert wurden, instrumentalisierten sie diese auch selbst, um das Stigma des Kriegsgefangenen loszuwerden, das in vielen Fällen mit Benachteiligungen und Diskriminierungen einherging.

    In den ersten Nachkriegsjahren wurden einige Zeitungsartikel und Gedichte veröffentlicht, die Brest als ein Ereignis von lokaler Bedeutung behandelten. 1948 und 1951 erschienen schließlich mehrere längere Texte in der sowjetischen Presse, die zum Teil in Armeemedien eine unionsweite Verbreitung fanden. Doch alle, die sich in den 1940er und bis zur Mitte der 1950er Jahre mit der Brester Festung beschäftigten, standen vor einem großen Problem: Es gab kaum Quellen.

    Es kursierten lediglich Fragmente einer in Teilen mangelhaften Übersetzung des Gefechtsberichts des Kommandeurs der 45. Infanterie-Division.3 Eine Abschrift dieses Dokuments war im Winter 1941/42 in sowjetische Hände gefallen. Aber der Bericht war für eine Heroisierung in großen Teilen ungeeignet, unter anderem deshalb, weil in ihm von vielen Gefangenen die Rede war. Weitere Primärquellen waren nicht bekannt, was dazu führte, dass die Autoren ihrer Fantasie freien Lauf ließen. So etablierten sie eine Geschichte voller Heldentum und ohne Gefangene und weiteten schrittweise die Dauer der Kämpfe von acht auf 32 Tage aus. Das von ihnen geschaffene narrative Grundgerüst füllten sie mit erfundenen Ereignissen und Fantasiehelden.

    Popularisierung der Brest-Legende

    Die Brester Heldengeschichte war bereits in ihren Grundzügen geformt und durch Veröffentlichungen in der Sowjetunion bekannt gemacht worden, als der Schriftsteller und Journalist Sergej Smirnow 1954 begann, sich mit dem Thema zu befassen. Er machte erstmals systematisch Zeitzeugen ausfindig und hatte zudem mehrfach Gelegenheit, im Allunionsradio aufzutreten, woraufhin sich aus dem ganzen Land weitere Brest-Veteranen bei ihm meldeten. Diese interviewte er ausführlich, doch einige von ihnen kannten bereits frühere Veröffentlichungen und orientierten ihre Erzählungen an diesen.

    Smirnow bezog sich auf ihre Berichte, aber auch auf die meisten Motive der patriotisch-fantasievollen Werke seiner Vorgänger, außerdem integrierte er sorgfältig ausgewählte Fragmente der einzigen bekannten Primärquelle. Aus all dem schuf er die „wahre Geschichte“ von „grenzenloser Kühnheit“ und wochenlangen Kämpfen – obwohl keine seiner Quellen mehr als acht Tage abdeckte.4 Das Buch wurde zu einem Publikumserfolg. Seine Beschäftigung mit der Festung brachte Smirnow den Leninpreis ein und trug maßgeblich zur Popularisierung der Brest-Legende bei.

    Im gleichen Zeitraum wurde ein erstes kleines Museum in der Festung eröffnet und es kam der erste Film zum Thema in die Kinos. Ab 1957 explodierte die Zahl künstlerischer Auseinandersetzungen mit der Festung Brest förmlich; es wurde sehr viel geschrieben, gefilmt und gemalt. 1971 wurde schließlich eine große Gedenkstätte in Brest eröffnet. Allein die Wissenschaft hielt sich zurück: Sowjetische Historiker haben sich der „heldenhaften Verteidigung“ der Brester Festung nie angenommen, ihre Publikationen verwiesen nur auf Heldenbelletristik und redigierte Erinnerungsberichte.5 Die Legende durfte nicht hinterfragt werden.

    Eine Abteilung der freiwilligen Ehrenwache marschiert in den 1970er Jahren auf dem Zeremonienplatz. Im Hintergrund ist der Sockel des titanverkleideten, 100 Meter hohen Obelisken zu erkennen, dessen Form an das sowjetische Bajonett erinnern soll. Die Ehrenwache existiert bis in die Gegenwart, allerdings dürfen Mädchen seit den 1980er Jahren keine Waffen mehr tragen / Foto © Arkadij Bljacher
    Eine Abteilung der freiwilligen Ehrenwache marschiert in den 1970er Jahren auf dem Zeremonienplatz. Im Hintergrund ist der Sockel des titanverkleideten, 100 Meter hohen Obelisken zu erkennen, dessen Form an das sowjetische Bajonett erinnern soll. Die Ehrenwache existiert bis in die Gegenwart, allerdings dürfen Mädchen seit den 1980er Jahren keine Waffen mehr tragen / Foto © Arkadij Bljacher

    Das offizielle Narrativ über die „heldenhafte Verteidigung der Brester Festung“ basierte auf Fantasien, Verzerrungen, Fälschungen, Übertreibungen und Verschweigen, einem mehr als problematischen Umgang mit Quellen – vor allem aber auf dem übergroßen Wunsch, der Kriegsverlauf möge wirklich so gewesen sein, wie man ihn sich gewünscht hätte. Wie sehr es den jeweiligen politischen Gegebenheiten diente und von ihnen abhing, wird deutlich, wenn man sich die Veränderungen in der Erinnerungskultur anschaut: Kämpften die Helden zunächst noch „mit Stalin im Herzen“, taten sie es nach dem XX. Parteitag ohne ihn. Kämpften sie zunächst für die Kommunistische Partei und das sozialistische Vaterland, taten sie es nach dem Ende der Sowjetunion nur noch für das – oder irgendein – Vaterland.

    Das heutige Gedenken

    Heute befindet sich auf dem Gelände der Brester Festung die monumentale Gedenkstätte „Brester Heldenfestung“. Sie umfasst eine Vielzahl von Denkmälern und Museen und ist Schauplatz vielfältiger Rituale, die das Erinnern lebendig halten. Von den einstigen Motiven des sowjetischen Narrativs sind vor allem Patriotismus und Militarismus übriggeblieben. So besuchte am 22. Juni 2021, dem 80. Jahrestag des deutschen Überfalls,  Alexander Lukaschenko die Festung und schwor seine Landsleute darauf ein, „das Vaterland“ – und damit vor allem ihn selbst – so gegen Angriffe von außen zu verteidigen, wie es die Verteidiger der Festung im Sommer 1941 getan hätten. Er verglich damit den deutschen Angriff von 1941 mit den Aktivitäten der Protestbewegung 2020 und sprach in Anlehnung an die „Farbrevolutionen“ von einem gegen Belarus gerichteten „Farbenblitzkrieg“.

    Wachablösung der von freiwilligen Schülern gestellten Ehrenwache an der Ewigen Flamme. Im Hintergrund das Hauptmonument „Kühnheit“, das mit seinen 32 Metern Höhe die gesamte Anlage dominiert, 10.06.2011 / Foto © Christian Ganzer
    Wachablösung der von freiwilligen Schülern gestellten Ehrenwache an der Ewigen Flamme. Im Hintergrund das Hauptmonument „Kühnheit“, das mit seinen 32 Metern Höhe die gesamte Anlage dominiert, 10.06.2011 / Foto © Christian Ganzer

    Bis heute sind in Belarus und Russland die von der sowjetischen Propaganda geprägten Bilder präsent und wirkmächtig. Obwohl die Heeresgruppe Nord vor der Heeresgruppe Mitte die Grenze zur Sowjetunion überschritt, gilt Brest weiterhin als Ort, an dem der Krieg begonnen haben soll. Und noch immer wird vermittelt, die Brester Helden hätten über einen Monat ausgehalten. 2020 wurden Teile der Gedenkstätte in Brest mit russischen und belarusischen Mitteln restauriert. Gleichzeitig hat das Gedenken an den Überfall auf Brest bis heute blinde Flecken: So wird kaum über die jüdischen Opfer Brests gesprochen, die unter deutscher Besatzung dem Holocaust zum Opfer fielen. 

    Und auch das Thema der Kriegsgefangenen wird bis heute weitgehend ignoriert, dabei betraf dieses Schicksal den größten Teil der Verteidiger der Festung. Nicht nur in Deutschland ist die Geschichte dieser nach den Juden zweitgrößten Opfergruppe des Nationalsozialismus weitestgehend unbekannt, auch in ihren Herkunftsländern haben sie noch keine wirkliche Lobby gefunden. Als Helden waren sie nützlich, wenn sie die heroische Perspektive auf den Krieg stützten, als Opfer passten diese Männer jedoch nicht ins Bild der patriotisch und patriarchal geprägten Kriegserzählung der Sowjetunion. Bis heute hat sich daran wenig geändert. 


    ANMERKUNG DER REDAKTION:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


    Zum Weiterlesen
    Ganzer, Christian (2021): Kampf um die Brester Festung 1941: Ereignis – Narrativ – Erinnerungsort, Paderborn (Krieg in der Geschichte 115)
    Vortrag von Christian Ganzer in der Topographie des Terrors am 23.06.2021: Kampf um die Brester Festung 1941: Ereignis – Narrativ – Erinnerungsort

    1. Abbildung aus Atlas krepostej Rossijskoj imperii — SPb., 1830-e gody ↩︎
    2. Eine große Anzahl von Primärquellen zu den ersten ca. vier Wochen des Krieges in Brest sind in einer mikrogeschichtlichen Quellenedition jeweils in den Sprachen der Originale und in russischer Übersetzung publiziert worden, siehe dazu: Gancer, Kristian [Ganzer, Christian]/Elenskaja, Irina/Paškovič, Elena u. a. (Hrsg., 2017): Brest: Leto 1941 g. Dokumenty: Materialy:Fotografii: Izdanie vtoroe, ispravlennoe, Smolensk ↩︎
    3. abgedruckt in Gancer et al., Brest: Leto 1941 g., S. 292-300 ↩︎
    4. Smirnov, Sergej (1970): Brestskaja krepost’, Moskau ↩︎
    5. Von 1961 bis 1971 wurden die stark redigierten Erinnerungsberichte von ca. 70 sowjetischen Zeitzeugen in insgesamt vier Auflagen veröffentlicht. Die sowjetische Zensur kontrollierte Memoiren und Kriegsliteratur besonders streng, sodass der Quellenwert dieser Texte gering ist. Vgl. dazu Gljazer, M.I./Olechnovič, G. I./Chodceva, Tat’jana u. a. (Hrsg., 1961): Geroičeskaja Oborona: Sbornik vospominanij ob oborone Brestskoj kreposti v ijune-ijule 1941 g., Minsk ↩︎

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  • „Die zwei slawischen Autokratien leugnen den Lauf der Zeit“

    „Die zwei slawischen Autokratien leugnen den Lauf der Zeit“

    Seit 2016 lädt die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zu einem Diskussionsklub ein – um die dringendsten gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zu diskutieren. Beim zweiten Klub-Treffen des Jahres Anfang Juni 2021 ging es um das Buch Das Licht, das erlosch des bulgarischen politischen Analysten Iwan Krastew. Neben Krastew und Alexijewitsch nahm die russische Politologin Ekaterina Schulmann an der Diskussion teil, die der belarussische Analyst Artyom Shraibman moderierte. 
    Mit seinem Co-Autor Stephen Holmes vertritt Krastew in Das Licht, das erlosch einmal mehr die These eines „Nachahmungsimperativs“ des Westens nach dem Kalten Krieg. Damals hätte in Mittel- und Osteuropa ein Zeitalter der Imitation begonnen, doch auch unter dem Eindruck der Bevormundung seien Gefühle der eigenen Unzulänglichkeit immer größer geworden. Schließlich habe der Westen knapp 30 Jahre nach Ende des Kalten Kriegs seine Glaubwürdigkeit und Strahlkraft verloren. 

    Krastews Buch wurde in Westeuropa kontrovers diskutiert. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann etwa kritisiert unter anderem, dass Krastew mit „dem Westen“ einen Kampfbegriff und eine normative Bezugsgröße aus Zeiten des Kalten Krieges bemühe, die es so heute gar nicht mehr gebe. Auch unterscheide Krastew zu wenig zwischen liberaler Demokratie und neoliberaler Wirtschaftsordnung. 

    Vor dem Hintergrund zunehmender Gewalt und Repression in beiden Gesellschaften, sowie angespannter politischer Beziehungen mit Westeuropa fragt der Klub: Wo stehen Russland und Belarus knapp 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion? Und wie sieht ihre gesellschaftliche und politische Zukunft aus? Das belarussische Magazin Kyky hat Teile der Diskussion transkribiert – in denen vor allem die Politologin Ekaterina Schulmann den Thesen Krastews teilweise energisch widerspricht.

    Swetlana Alexijewitsch: Die Zeit hat alle unsere Illusionen und Erwartungen auf den Kopf gestellt, unsere ganze emotionale Trägheit. Vor allem in Belarus sind wir gezwungen, nach Solshenizyns Büchern zu leben. Weder meine noch eure Generation – niemand hat damit gerechnet. Wenn wir an unseren Enthusiasmus der 1990er Jahre denken, hätten wir nie gedacht, dass wir dort hinkommen, wo wir heute sind. Es gibt viele drängende Fragen, aber ich glaube, noch viel wichtiger ist es zu verstehen, warum wir da gelandet sind, wo wir heute sind. Warum all unsere Illusionen, die wir hatten, als wir uns an die Perestroika machten – warum nichts davon eingetroffen ist, sich nichts bewahrheitet hat.


    Wenn wir an unseren Enthusiasmus der 1990er Jahre denken, hätten wir nie gedacht, dass wir dort hinkommen, wo wir heute sind

    Als ich Das Licht, das erlosch von Iwan Krastew und Stephen Holmes gesehen habe, war ich schwer beeindruckt. Wir sollten aufhören, Angst zu haben, mal vor der Vergangenheit, mal vor der Zukunft, mal vor der Gegenwart. Wir leben in ständiger Angst. Versuchen wir doch einmal, unserer neuen Realität ins Gesicht zu schauen.

    Artyom Shraibman: Nachahmung ist ein Prozess, der viele Länder der Welt erfasst hat, aber vermutlich nicht alle. Es ist wichtig zu verstehen, warum er ausgerechnet unsere Länder erfasste und was das Ende dieser Epoche für uns bedeutet. 

    Iwan Krastew: Anfang der 1990er Jahre war klar, dass die Welt das westliche Lebensmodell imitieren würde, weil es zwei globale Ideologien gab, die den Kalten Krieg begründeten. Eine davon hat den Krieg nicht nur verloren, sie hat auch aufgehört, sich selbst zu glauben.

    [Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis] Fukuyama sprach von dem Ende der Geschichte, heute lachen alle über diese Idee. Aber Anfang der 1990er Jahre war Demokratie ein Synonym für die Modernisierung der Gesellschaft. Alle dachten, dass sie dieses Modell imitieren werden. Wir wollten leben wie im Westen: Die Ungarn wollten das, die Bulgaren, die Polen. 

    Aber wenn man jemanden imitiert, gibt man zu, dass er besser ist als man selbst. Das wirft eine zweite Frage auf: Was passiert mit der eigenen Identität? Und es gibt noch einen dritten Punkt: Man imitiert nicht Christus, sondern eine andere Gesellschaft, die sich ständig verändert. Daher kommen die starken antiliberalen Stimmungen, die man in Teilen der ungarischen und auch der polnischen Gesellschaft beobachten kann: Man wollte etwas anderes als das, was man imitiert hat. Schließlich erschien den Polen die westliche Gesellschaft Ende der 1980er als durchaus konservativ, alle gingen in die Kirche. Und sehen Sie sich an, wie sich diese Gesellschaft innerhalb von 30 Jahren verändert hat.

    Man wollte etwas anderes als das, was man imitiert hat

    Es gab in der Tat eine Zeit, in der selbst autoritäre Regime die Menschen davon überzeugen wollten, dass sie demokratisch legitimiert sind, dass sie wie die westlichen Demokratien sein wollen, es aber nicht gelingt. Doch diese Zeiten sind seit vier, fünf Jahren vorbei. Jetzt sehen wir in Russland und Belarus eine andere Rhetorik: Wir wollen nicht so sein wie ihr, im Gegenteil, und wir werden nie so sein wie ihr.

    Ekaterina Schulmann: Einen Teil dessen, was Iwan anspricht, bezeichnet man als Problem oder, wenn man so will, als Tragödie der aufholenden Entwicklung. Länder, die das Gefühl haben, rückständig zu sein, versuchen den Weg zum Fortschritt durch Nachahmung abzukürzen. Doch bevor wir konstatieren, dass die Länder der Zweiten Welt aufgehört haben, die Länder der Ersten Welt zu imitieren, sollten wir uns daran erinnern, dass das westliche Lebensmodell universelle Anziehungskraft besitzt.
    Niemand will etwas grundsätzlich anderes (das gilt auch für China und den postsowjetischen Raum), alle wollen iPhones, Supermärkte und Cafés, niemand will in Askese leben. Außerdem reagieren die Menschen sehr empfindlich auf Einschränkungen, die ihr Privatleben betreffen. Sie sind bereit, politische Freiheiten zu opfern – zum einen, weil sie nicht wirklich verstehen, was das ist, zum anderen, weil sie diese Freiheiten nie wirklich gehabt haben. Sie haben den unmittelbaren Zusammenhang zwischen politischer Freiheit und Lebensstandard noch nicht erkannt. Aber die Konsumfreiheit wollen ausnahmslos alle. Insofern wird die Nachahmung nicht aufhören, solange sich Wunsch und Wirklichkeit gleichen.

    Wir sollten uns daran erinnern, dass das westliche Lebensmodell universelle Anziehungskraft besitzt

    Es hat sich kein Alternativangebot, kein neuer Zivilisationstypus herausgebildet. Wie Iwan schon sagte, gab es zwei globale Ideologien, von denen die eine gestorben ist und die zweite gesiegt hat, das ist nach wie vor wahr. Aber es gibt auch eine zunehmende Diskrepanz zwischen dem gewollten Lebensstil und dem politischen Überbau. Genau darin liegt die Gefahr oder die Attraktivität des chinesischen Beispiels. China scheint der ganzen Welt sagen zu wollen: Man kann auch ohne den politischen Überbau des Westens Dutzende Millionen von Menschen aus der Armut führen und Riesenstädte errichten, ohne die Risiken, die die Demokratie in sich birgt. Das ist ein neues autoritäres Angebot, das nicht ideologisch ist. Es macht keinen Versuch, das Märchen von Orthodoxie, Selbstherrschaft, Volkstümlichkeit nachzuerzählen; Versuche dem Wahlvolk zu gefallen – das ist keine Ideologie. Auf dem Markt der Ideen hat der Westen insofern immer noch das absolute Monopol.

    China scheint der ganzen Welt sagen zu wollen: Man kann auch ohne den politischen Überbau des Westens Dutzende Millionen von Menschen aus der Armut führen

    Als der Sprecher der russischen Staatsduma vor einiger Zeit sagte, Russland sei die letzte Insel der Demokratie und der Freiheit, konnte man schwer nachvollziehen, was in diesem Moment in seinem komplexen Hirn vor sich ging. Klar ist jedoch, dass Demokratie und Freiheit als etwas Gutes wahrgenommen werden. Nur dass diese Dinge im Westen faul geworden und verdorben sind, wohingegen es sie bei uns nun einfach gibt. 

    In Russland spricht man oft davon, dass wir mehr Europa sein werden als Europa selbst, das die wahre Freiheit gegen Toleranz eingetauscht habe. Nach dem Motto: Ihr beschwert euch über die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor? Ihr habt ja keine Ahnung von der grausamen Hetze gegen Menschen und der Selbstzensur, die in den sozialen Netzwerken im Westen florieren.

    In Russland spricht man oft davon, dass wir mehr Europa sein werden als Europa selbst

    Das Buch, mit dem wir das Gespräch begonnen haben, wurde vom russischsprachigen Publikum nicht ohne Schadenfreude aufgenommen: Die im Westen haben ihre historische Niederlage eingestanden! Aber Niederlage im Vergleich zu wem? Zu diesen ewig imitierenden Autokratien, die zu 80 Prozent aus Propaganda und 20 Prozent aus Gewalt bestehen? Sollen die das neue historische Angebot sein?

    Niederlage im Vergleich zu wem? Zu diesen ewig imitierenden Autokratien, die zu 80 Prozent aus Propaganda und 20 Prozent aus Gewalt bestehen?

    Sie können ja nicht einmal formulieren, wer sie selbst sind. Heute sind sie eine souveräne Demokratie, morgen verteidigen sie sich gegen geheimnisvolle Feinde und machen sich nicht einmal mehr die Mühe zu erklären, was sie überhaupt zu verteidigen versuchen. Das einzige erklärte Ziel ist es, den Tag irgendwie durchzustehen und die Nacht zu überleben. Die Macht geben wir nicht ab, weil es ohne uns nur noch schlimmer wird – das ist das Einzige, was sie ideologisch anzubieten haben.

    Artyom Shraibman: Betreten wir wirklich eine neue Ära? Und ist sie überhaupt neu, haben wir nicht im 20. Jahrhundert und noch früher ähnliche Umbrüche, eine ähnliche Abkehr von Formen eines nationalen Selbstverständnis gesehen?

    Ekaterina Schulmann: 30 Jahre postsowjetischer Transit gehen zu Ende. Während dieser Zeit haben sich im postsowjetischen Raum drei politische Ordnungen herausgebildet: primitive mittelasiatische Despotien (Usbekistan u. a.); schwache Demokratien mit einem instabilen Staatsapparat, einem nicht erreichten Gewaltmonopol und einer ziemlich starken Rolle von Zivilgesellschaft, aber auch oligarchischen Gruppen (Ukraine, Kirgistan, Republik Moldau, Georgien, Armenien); und der dritte Typus – personalisierte Autokratien, die zwar Wahlen durchführen, aber durch die Wahlen keinen Wechsel riskieren wollen; die die Vorteile des Konkurrenzkapitalismus für sich nutzen, aber gleichzeitig eine extrem hohe Staatspräsenz in der Wirtschaft erschaffen (Russland, Belarus, Kasachstan). Das sind unsere drei Karten: eine Drei, eine Sieben, ein Ass. Oder, wenn Sie so wollen, die drei Wege, die die postsowjetische Entwicklung einschlagen konnte.

    Jetzt können wir beobachten, wie unterschiedlich die Autokratien in die für sie kritische Übergangsperiode eintreten. Bisher scheint Kasachstan von den dreien am besten abzuschneiden – sein politisches System hat den Mut gefunden, einzugestehen, dass ein Übergang notwendig ist und stattfinden wird.

    Die zwei slawischen Autokratien haben sich entschieden, den Lauf der Zeit zu leugnen, sie krallen sich am Status quo fest, den sie Stabilität und Souveränität nennen, und laufen jetzt doppelt so schnell, um auf der Stelle zu bleiben.

    Denn es hat sich herausgestellt, dass man den Status quo nicht aufrechterhalten kann, ohne eine unglaubliche Menge an Ressourcen reinzustecken. Ich glaube nicht, dass dieses Stadium – der Versuch, die Notwendigkeit eines Übergangs zu leugnen – die Endstation ist.

    Die zwei slawischen Autokratien haben sich entschieden, den Lauf der Zeit zu leugnen, sie krallen sich am Status quo fest

    Das russische Modell, das vielfältiger und flexibler als das belarussische ist, ist noch dabei, diese komplexe Gleichung für sich zu lösen: Was müssen wir ändern, damit alles gleich bleibt? Das politische System in Belarus verhält sich dabei sekundär und komplementär zum russischen. Wenn bzw. falls sich das russische Modell transformiert, wird das belarussische folgen.
    Die Todesstarre, der Krampf, der unsere beiden Systeme befallen und zahlreiche Prozesse auf Zwangspause gestellt hat, verdient Beobachtung, aber keine Verabsolutierung. Man sollte es nicht als finale Etappe einer dreißigjährigen Entwicklung sehen, als Ende der Geschichte. Lassen Sie uns nicht Fukuyama spielen.

    Artyom Shraibman: Wenn Belarus, Kasachstan und Russland denselben institutionellen Weg gehen, den die Länder Zentral- und Osteuropas gegangen sind, wird sich nicht irgendwann herausstellen, dass es eine Sackgasse ist? Was sollen die jungen, noch ungewissen Regime nach Lukaschenko, Putin und Nasarbajew aufbauen, wenn selbst ein wesentlicher Teil der Bevölkerung in den jungen Demokratien Osteuropas von der Imitation enttäuscht ist?

    Ekaterina Schulmann: Wie sollen wir uns modernisieren, wenn der Westen nicht mehr das Vorbild ist? Wissen Sie, einer der Faktoren für die Erosion des Ideals ist die Annäherung daran. Das heutige Belarus und sogar Russland sind dem Westen viel ähnlicher als der Sowjetunion. Unsere Autokratien haben sich den Vorbildern angenähert, die sie sich vorgestellt hatten. Wir haben uns den Kapitalismus angeschafft, Wahlen, sogar ein bisschen freie Presse, breite Uferpromenaden und Elektroroller, aber in die Erste Welt dürfen wir immer noch nicht.

    Der Sowjetmensch hat sich den legendären Westen als Schlaraffenland vorgestellt. Aber als das westliche Leben immer vertrauter wurde, entdeckte man darin immer mehr Flecken und Risse. Zumal man über den kollektiven Westen heutzutage nur nachsinnen darf, wenn man Nikolai Platonowitsch Patruschew ist.

    Einer der Faktoren für die Erosion des Ideals ist die Annäherung daran

    Was können wir über den nächsten Entwicklungssprung der postsowjetischen Autokratien sagen? Sie werden offenkundig urbanisierte Staaten mit einer gebildeten Bevölkerung bleiben und sich weiter in diese Richtung entwickeln; sie sind nicht so sehr Industriemächte als vielmehr Länder, in denen der Dienstleistungssektor eine immer größere Rolle spielt. Das ist nicht unbedingt der geeignetste Nährboden für eine primitive Diktatur. 

    Obwohl die neuen Möglichkeiten, jede einzelne Geldtransaktion, jede Bewegung nachzuverfolgen, einschließlich der Bewegung von Informationseinheiten, neue Möglichkeiten für Planung und Umverteilung bieten. Der Staat gibt seinen Bürgern Geld, unterstützt die Wirtschaft, und will im Gegenzug dafür deine Daten – wissen, was du schreibst, sagst, wo du dein Geld aufbewahrst, wohin du geschaut hast – und im nächsten Schritt auch deine Loyalität.

    Was die nächste Zukunft bringt

    Artyom Shraibman: Ekaterina, Sie haben das, was in Belarus und in Russland passiert, als „Krampf“ bezeichnet. Worin wird das münden? Der eine wie der andere Leader scheint sich ganz wohl zu fühlen, sie haben keine Angst, den Einsatz zu erhöhen, den Griff noch fester zuzudrücken. Wo ist die Wand, gegen die dieser Krampf prallt?

    Ekaterina Schulmann: Dass der Druck erhöht wird, ist kein Anzeichen für die Abwesenheit von Angst. Jemand, der sich nicht bedroht fühlt, führt keine Eskalation herbei. Ich will nicht darüber urteilen, wer sich wohl fühlt und wer nicht. Bedenken wir einfach, dass die ganze Arbeit dieser politischen Systeme darin besteht, einen Eindruck zu erwecken, und zwar zum großen Teil einen falschen. Dafür werden gigantische Ressourcen aufgewendet.
    Ich habe die Situation nicht als Krampf bezeichnet, weil ich sie für ein kurzfristiges Phänomen halte. Ineffektive politische Modelle können sehr langlebig sein.

    Bedenken wir einfach, dass die ganze Arbeit dieser politischen Systeme darin besteht, einen Eindruck zu erwecken, und zwar zum großen Teil einen falschen. Dafür werden gigantische Ressourcen aufgewendet

    Was ist diese Wand, diese Schwelle, hinter der sich etwas qualitativ transformiert? Die Wahlen 2024 sind der nächste Punkt. Wenn die Beliebtheit des amtierenden russischen Präsidenten nach 2021 weiter sinkt, könnte er auf den Gedanken kommen: Sollte ich es nicht lieber machen wie Jelzin? Sollte ich nicht meinen Nachfolger mit den Überresten meiner eigenen Popularität ausstatten und ihm das Verlangen nach Erneuerung, das in der Gesellschaft so groß ist, als Geschenk hinterlassen?
    Jelzin war extrem unpopulär, und sein Nachfolger wurde quasi über Nacht ein gefragter Mann. Warum? Weil die Menschen einen neuen Leader wollten, aber keine Revolution. Ein Nachfolger muss gleichzeitig Erbe und Antagonist sein. Ich denke, je näher 2024 rückt, desto mehr könnte diese politische Parallele eine Rolle spielen.

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