„Die Strafverfolgungsbehörden schweigen bis heute und tun so, als wäre es unmöglich, die genauen Umstände von Romans Tod aufzuklären oder die Täter zu finden.” Das sagt Olga Kutscherenko im Interview mit dem belarussischen Online-Medium Salidarnasc/Gazeta.by, das wir in deutscher Übersetzung veröffentlichen.
Kutscherenko ist die Cousine von Roman Bondarenko, der am 11. November 2020 von einer Gruppe maskierter Männer in einem Minsker Hinterhof, dem sogenannten Platz des Wandels, zusammengeschlagen wurde und am folgenden Tag seinen Verletzungen erlag. Bondarenko wurde 31 Jahre alt und für die belarussische Protestbewegung des Jahres 2020 zum Symbol des unbändigen Freiheitswillens.
Der Totschlag ist bis heute nicht aufgeklärt. Im Februar 2021 wurde zwar ein Strafverfahren eingeleitet, aber im September desselben Jahres wieder eingestellt, weil man – die Behörden – keine Tatverdächtigen finden könne. Allerdings hatten belarussische Medien erdrückende Hinweise dafür zusammengetragen, dass der Chef des belarussischen Eishockey-Verbandes Dimitri Baskow am Tatort gewesen sein soll, als Bondarenko attackiert wurde. Außerdem der frühere Kickboxer Dmitri Schakuta. Beide unterliegen wegen mutmaßlicher Verwicklung in den Überfall verschiedener internationaler Sanktionen. Nach Bondarenkos Tod war die tut.by-Journalistin Katerina Borissewitsch festgenommen und in einem Strafverfahren zu sechs Monaten Haft verurteilt worden. Die Behörden hatten verbreiten lassen, dass Bondarenko betrunken gewesen sei. Borisewitsch interviewte den behandelnden Arzt, der die Unterstellung entkräftete.
Zu Bondarenkos Beerdigung in Minsk kamen Tausende, um ihre Anteilnahme und Trauer zu demonstrieren. In einem sehr persönlichen Interview mit Salidarnasc/Gazeta.by spricht seine Cousine Olga Kutscherenko, die mittlerweile in Polen lebt, über viele offene Fragen, über Erinnerungen an ihren Cousin, über seine Mutter, die Lage in der Heimat Belarus und den Krieg in der Ukraine.
Salidarnasc: Sie haben einmal gesagt, Roman Bondarenkos Sachen seien seiner Mutter Jelena Sergejewna auch nach einem Jahr noch nicht ausgehändigt worden.
Olga Kutscherenko: Jedenfalls nicht alle. Soweit ich weiß, nur der Ausweis, seine Uhr, fünf Rubel und ein Ladegerät, das ihm gar nicht gehörte – er hatte ein brandneues iPhone, aber da war einfach nur ein altes Kabel ohne Ladeblock. Seine Sachen wurden im Krankenhaus gestohlen, genau wie die Auflistung der persönlichen Gegenstände. Auch Romans Kleidung und seine Wohnungsschlüssel sind nicht aufgetaucht.
Wird Ihre Familie und seine Mutter von jemandem bedroht?
Nein, aber es gibt keine Garantie dafür, dass das so bleibt. Jeder kann sehen, was jetzt im Land passiert. Damals, direkt nach Romas Tod, als man uns seinen Leichnam lange nicht aushändigen wollte, kamen sie zu meiner Mutter, Romas Tante, auf die Arbeit und sagten zu ihr: Sie verstehen doch, wenn die Beerdigung an einem Wochentag stattfindet, ist das eine Sache, aber am Wochenende – das wäre was anderes. Dabei waren das Leute vom städtischen Gesundheitsamt, die weder mit Roma noch mit uns irgendetwas zu tun hatten.
Haben Sie damit gerechnet, dass so viele Menschen Anteil an Romans Tod nehmen würden, dass es geradezu eine Welle auslöst?
Nein, das haben wir nicht erwartet. Ich weiß noch, wie ich an dem Tag, an dem er starb, spät abends durch die Stadt fuhr und überall, entlang der Straße, an den Haltestellen, vor den Häusern, in allen Fenstern Kerzen brannten. Ich habe anfangs gar nicht verstanden, dass die Menschen auf diese Weise mit uns zusammen trauern. Erst danach habe ich auf Telegram von den Aktionen erfahren.
Den stärksten Eindruck haben bei mir die Ereignisse vom 15. November hinterlassen, als die Menschen Blumen in unserem Hof niederlegten und dafür brutal zusammengeschlagen wurden. Aber sie kamen trotzdem, auch später zur Beerdigung – obwohl man sie in Angst versetzt hatte. Das hat mich sehr stolz auf die Belarussen gemacht, auf ihren Mut.
Wie geht es Jelena Sergejewna, Romans Mutter?
Sie bekommt Unterstützung von sehr vielen wundervollen Belarussen. Natürlich auch von ihrer Familie. Wir versuchen, ihr zu helfen. Sie ist sehr tapfer, sucht weiterhin nach Interesse am Leben und lässt den Kopf nicht hängen.
Tante Lena ist oft auf dem Friedhof und erzählt, dass viele Menschen an Romans Grab kommen. Sie bringen Blumen und kleine Geschenke, zum Zeichen, dass sie an ihn denken. So sehr die Staatsmacht auch versucht, alle einzuschüchtern, sie kann nicht verhindern, dass die Menschen nachdenken und verstehen, was passiert.
Für unsere Familie ist es wichtig, dass Romas Name nicht in den Schmutz gezogen wird, dass er nicht als „Säufer und Unruhestifter“ verunglimpft wird. Uns ist wichtig, dass er als der Mensch in Erinnerung bleibt, der er wirklich war. Und natürlich wollen wir, dass die Täter bestraft werden.
Es ist schrecklich, was Russland da tut, und auch, dass die offizielle Führung in Belarus das unterstützt
Warum haben Sie Belarus verlassen?
Nicht, weil mir jemand gedroht hätte. Mein Mann lebt und arbeitet seit anderthalb Jahren in Polen. Meine Tochter und ich besuchten ihn gerade, als der Krieg ausbrach, und wir beschlossen eine Weile zu bleiben.
Hier konnte ich endlich wieder etwas an meine Arbeit denken. Ich bin Designerin, aber nach 2020 war ich in einer Zwangspause: Erst die Proteste, dann Romas Tod. Das hat mich alles aus der Bahn geworfen.
Und noch bevor wir richtig zu uns kommen konnten, begann dieser Krieg. So langsam sehe ich mir den Markt genauer an, sehe, dass ich hier eine Perspektive habe.
Was empfinden Sie angesichts der Ereignisse in der Ukraine?
Wie alle vernünftig denkenden Menschen machen wir uns Sorgen. Es ist schrecklich, was Russland da tut, und auch, dass die offizielle Führung in Belarus das unterstützt. Ich weiß nicht, ob sie begreifen, dass das auf jeden Fall Konsequenzen haben wird. Ob die belarussischen Offiziere und Soldaten das verstehen, von deren möglicher Beteiligung am Krieg ständig die Rede ist.
Natürlich wird die Ukraine siegen, daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Aber der Schock saß sehr tief. Ich habe Freunde in der Ukraine, Freunde in Belarus, die wegen der Ereignisse bei uns in die Ukraine geflohen waren und nun wieder fliehen mussten, als der Krieg begann. In den ersten Tagen hat eine Freundin bei uns gewohnt, die sich aus Irpen gerettet hat. Das ist alles so schrecklich.
Auch dass die Menschen wegen ihrer Nationalität diskriminiert werden, bereitet mir Sorgen, die Stimmungen hier in Europa. Als die Belarussen in den ersten Tagen ihre Autos versteckt haben, damit man sie nicht beschädigt. Als russischsprachige Kinder in der Schule beleidigt wurden.
Nicht alle Ukrainer wissen, dass die Belarussen, die derzeit in Europa sind, die Ukraine von ganzem Herzen unterstützen. Ich wünsche mir sehr, dass sie das verstehen.
Doch ich treffe auch hier viele Menschen, die nicht nur über die Ereignisse in der Ukraine, sondern auch in Belarus Bescheid wissen. Erst gestern hatte ich ein erstaunliches Gespräch mit einem Taxifahrer, einem Usbeken. Als er erfuhr, dass ich aus Belarus komme, erzählte er mir vom Usurpator Lukaschenko, den Repressionen in Belarus und dass die Belarussen nicht in der Ukraine kämpfen wollen.
Verfolgen Sie die Ereignisse in Belarus?
Sicher. Ich betrachte das, was gerade passiert, als niederträchtige Rache einer kleinen Gruppe von Menschen am ganzen Volk. Ich glaube, das kommt daher, dass sie sich in eine vollkommen ausweglose Situation gebracht haben.
Diese Gesetze, die sie erlassen, die nicht enden wollenden Repressionen – das zermürbt natürlich einerseits die Menschen, aber gleichzeitig erschwert das auch die Position der Staatsmacht. Sie reiten sich immer tiefer rein.
Wie bewerten Sie heute die Ereignisse von 2020? Manche werfen uns vor, dass wir es nicht zu Ende gebracht hätten.
Ich glaube, jede Nation hat ihren Weg, ihre Mentalität. Für die Belarussen steht das Leben der Menschen an erster Stelle. Ja, wir leiden immer noch, wir sind immer noch Repressionen ausgesetzt, aber dafür haben wir nicht so viele Todesopfer davongetragen.
Ich denke, wenn wir zu den Waffen gegriffen hätten, hätte es viel mehr Tote gegeben. Womöglich wäre auch ein Bürgerkrieg ausgebrochen. Aber auf so etwas waren die Belarussen nicht aus, wir wollten zeigen, dass wir mit dem Wahlergebnis nicht einverstanden sind und dass wir die Mehrheit stellen
Ich glaube, es war richtig, dass wir nicht zu den Waffen gegriffen haben. Und es gibt auch generell keine Gebrauchsanweisung, wie man sich in so einer Situation zu verhalten hat.
Niemand außer uns selbst kann über die Zukunft von Belarus entscheiden
Jetzt, nach fast zwei Jahren, glauben Sie, dass wir uns von der lichten Zukunft, von der wir alle träumen, entfernen oder uns ihr – im Gegenteil – nähern?
Ich glaube, wir nähern ihr uns. Nur auf Umwegen. Im Moment sind die äußeren Umstände sehr bestimmend, also die Ereignisse in der Ukraine.
Ich weiß nicht, ob das Regime in Russland schneller fällt als das in Belarus, wie lange es durchhalten und dem belarussischen Regime dazu verhelfen wird, an der Macht zu bleiben. Aber es ist vollkommen offensichtlich, dass sie alle untergehen werden und wir uns in entgegengesetzter Richtung nach oben bewegen.
Anders kann es überhaupt nicht sein. Ich bin generell Optimistin und habe nie auch nur eine Minute lang daran gezweifelt, dass wir es schaffen werden. Ich glaube fest an das belarussische Volk und sein Potential.
Hängt die Zukunft von Belarus von den Ereignissen in der Ukraine ab?
Wir sind ja die unmittelbaren Nachbarn. Und entsprechend sind wir voneinander abhängig. Natürlich hängt vieles von dem Sieg der Ukraine ab, aber nicht alles. Ich glaube, niemand außer uns selbst kann über die Zukunft von Belarus entscheiden. Weder Europa noch die USA – niemand wird uns den Sieg auf dem Silbertablett präsentieren.
Aber ich glaube, dass uns das Beispiel der Ukraine sehr anspornt, und es ist durchaus denkbar, dass die Belarussen – falls sich die Dinge entsprechend entwickeln und sie zur Waffe greifen müssen – dass sie das in erster Linie tun würden, um sich und ihre Kinder zu verteidigen
Belarus und seine Bevölkerung haben im Zweiten Weltkrieg immens gelitten: unter der Nazi-Besatzung zwischen 1941 und 1944, dem Holocaust, der Vernichtungspolitik und der sogenannten Partisanenbekämpfung sowie unter den Schlachten selbst. Insgesamt gab es auf dem Territorium der damaligen BSSR mehr als zwei Millionen Opfer. Ein Gesetz, das der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko Anfang 2022 unterschrieben hat, stellt die Leugnung des „Völkermordes am belarussischen Volk“ nun unter Strafe – es drohen bis zu fünf Jahre Haft, bei Wiederholung bis zu zehn. „Die Umsetzung des Gesetzes wird dazu beitragen“, verlautbarte die staatliche Nachrichtenagentur Belta, „dass die Ergebnisse des Großen Vaterländischen Krieges nicht mehr verfälscht werden und der Zusammenhalt der belarussischen Gesellschaft gewahrt bleibt.“
Was hat es mit dem Vorhaben auf sich? Schon im Vorfeld ist um das umstrittene Gesetz unter Historikern eine Debatte entbrannt. Was wird überhaupt unter dem „belarussischen Volk“ verstanden? Ist dieses weitreichende Gesetz selbst ein Versuch, Geschichte zu verfälschen? Geht es um echte Aufarbeitung oder darum, Geschichte zu instrumentalisieren und abweichende Meinungen im Keim zu unterdrücken?
Diese und andere Fragen beantwortet der belarussische Historiker Alexander Friedman in einem Bystro.
1. Am 5. Januar 2022 hat Alexander Lukaschenko das Gesetz „Über den Völkermord am belarussischen Volk“ unterzeichnet. Worum geht es darin genau?
In diesem Gesetz wird die offizielle Sicht der belarussischen Führung auf den Zweiten Weltkrieg und die NS-Verbrechen auf dem Territorium von Belarus formuliert. Damit wurde politisch beschlossen, diese Verbrechen zum „Genozid am belarussischen Volk“ zu erklären. Die Verabschiedung des Gesetzes wurde von langer Hand vorbereitet und kam nicht überraschend. Der Zweite Weltkrieg ist sowohl in Putins Russland als auch in Lukaschenkos Belarus ein historisches Schlüsselthema und wird seit Langem für politische, ideologische und propagandistische Zwecke instrumentalisiert. In der aktuellen Situation – nach den Protesten gegen das Lukaschenko-Regime im Jahr 2020 und mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine – dient es dazu, die Bevölkerung in der Konfrontation mit den USA und der EU um die Diktatoren zu scharen. Das Gesetz hat repressiven Charakter und zwingt der Gesellschaft ein Narrativ auf, das seit der Sowjetzeit bekannt ist und jetzt an die Bedürfnisse der Lukaschenko-Diktatur angepasst wurde, als verzerrtes Schwarz-Weiß-Bild der Welt: hier das „Gute“ – die UdSSR und ihr geistiges Erbe in Gestalt der Russisch-Belarussischen Union –, dort das „Böse“ – die Nazis und der „kollektive Westen“ als ihr geistiges Erbe. Im Großen Vaterländischen Krieg, so heißt es, hat das Böse versucht, das Gute zu vernichten und im 21. Jahrhundert wiederholt sich nun die Geschichte.
2. Was wird im Gesetz unter der Bezeichnung „belarussisches Volk“ verstanden?
Bei der Ausarbeitung des Gesetzes hat das Lukaschenko-Regime drei Formulierungen verwendet: Genozid „am belarussischen Volk“, „am Volk von Belarus“ und sogar: „an den Völkern von Belarus“. Die beiden letzten, neutraleren Versionen sind verworfen worden, weil beschlossen wurde, den Akzent auf das „belarussische Volk“ zu legen und praktisch die gesamte Bevölkerung der Vorkriegs-BSSR, die in ethnischer, religiöser und sprachlicher Hinsicht sehr vielfältig war, darin aufgehen zu lassen. Dieser Begriff wird den verschiedenen Opfergruppen, die es gab, auch sonst nicht gerecht: den ermordeten Juden im Holocaust und den Getöteten in der Zivilbevölkerung, den Gefallenen an der Front oder den Opfern aus dem Feldzug der Nazis gegen die Partisanenbewegung, um nur einige zu nennen. Das Gesetz wurde ganz bewusst so gestaltet, um der Bevölkerung von Belarus das Verständnis des Begriffs zu erleichtern und dem „Genozid am belarussischen Volk“ durch eine höhere Opferzahl mehr Gewicht zu verleihen. Der Begriff „Genozid“ allein reicht Lukaschenko und seinem Umfeld nicht aus. Er braucht maximale Verlustzahlen, um die belarussische Bevölkerung und die Weltgemeinschaft zu beeindrucken. Auch den Entschädigungsforderungen, die voraussichtlich an Deutschland auf Grundlage des neuen Gesetzes gestellt werden, soll dieser Begriff zusätzliches Gewicht verleihen.
3. Auf welchen Zeitraum zielen das Gesetz und somit das Verständnis der Begriffswahl „am belarussischen Volk“ denn genau ab?
Das Gesetz bezieht sich auf den Zeitraum von 1941 bis 1951. Sowjetische Verbrechen im westlichen Belarus werden dabei aus ideologischen Gründen ausgeklammert. Außerdem wird die Nachkriegszeit bewusst einbezogen, um die damaligen polnisch-belarussischen Konflikte zum Thema zu machen. Schließlich gehört Polen in den Propaganda-Narrativen des Regimes heute zu den westlichen Staaten, die 2020 der offiziellen Erzählung nach über die Proteste einen Putsch gegen das Lukaschenko-Regime initiieren wollten. In dem Gesetz werden alle Bürger der Sowjetunion, die sich im genannten Zeitraum auf dem Territorium von Belarus aufgehalten haben, zum „belarussischen Volk“ gezählt und dabei nivelliert, darunter auch Juden und Roma und auch Zuwanderer aus anderen Sowjetrepubliken. Im November 2021 hat Lukaschenko in einem Interview mit der BBC erklärt, Belarussen und Juden hätten während des Krieges das größte Leid erfahren. Aus seinen Worten geht klar hervor, dass er jüdische Menschen nicht als Teil des belarussischen Volkes ansieht; er zieht bewusst eine Grenze zwischen den Juden in Belarus und den Belarussen. Das Widersprüchliche daran: Das hindert ihn nicht, die jüdischen Opfer zu Opfern des „Genozids am belarussischen Volk“ zu erklären. Das Lukaschenko-Regime braucht zur Rechtfertigung die größte Zahl an Opfern, die irgend denkbar ist.
4. In Bezug auf den Holocaust wird also die sowjetische Tradition der Legendenerzählung zum „Großen Vaterländischen Krieg“ übernommen?
Der Einfluss der sowjetischen Tradition ist ganz offensichtlich. Die belarussische Führung war es seit jeher gewohnt, jüdische Menschen als solche weder zu erwähnen noch wahrzunehmen und verfolgt im Wesentlichen weiterhin diesen Kurs. Zu Sowjetzeiten wurde die Herkunft der jüdischen Opfer vertuscht, indem sie als „(friedliche) sowjetische Bürger“ bezeichnet wurden. Jetzt werden sie zum „belarussischen Volk“ erklärt. In der sowjetischen Erinnerungskultur kam der Holocaust nur am Rand vor. Und in der postsowjetischen Zeit galt er in Belarus als „jüdisches“ Thema. Die jüdischen Opfer galten als „unsere“, aber ihr Schicksal wurde als Tragödie der „anderen“ betrachtet. Nun hat man sich der jüdischen Opfer „erinnert“ – aber nicht mit Blick auf ihre Herkunft, sondern um sie im „belarussischen Volk“ aufgehen zu lassen. Auf die Juden als solche besinnt sich das Lukaschenko-Regime nur, wenn es Israel oder den USA Avancen machen will. Die Verschwörungstheoretiker in den herrschenden Kreisen von Belarus glauben offenbar, dass die (westliche) Welt von Juden beherrscht werde und sie dieser vermeintlichen „Tatsache“ Rechnung tragen müssten.
5. Ist diese Form des Antisemitismus ein fester Bestandteil in der Propaganda Lukaschenkos?
In Belarus ist die Meinung verbreitet, es gebe dort praktisch keinen Antisemitismus und dass es ihn auch nie gegeben habe. Das stimmt natürlich nicht. Die Geschichte des Antisemitismus in Belarus ist noch sehr wenig erforscht. Und obwohl es nur noch wenige Juden im Land gibt, scheut die staatliche Propaganda nicht vor Antisemitismus zurück. Er taucht auf, sobald oppositionelle Journalisten und Intellektuelle oder ukrainische und westliche Politiker mit jüdischen Wurzeln das Regime attackieren. Dabei ist der Einfluss antisemitischer Narrative aus Russland in Belarus ziemlich stark zu spüren. Lukaschenko selbst hat keine Hemmungen, sich – offen oder verdeckt – antisemitisch zu äußern. Ein Beispiel dafür: Als Wolodymyr Selensky Russlands Angriff auf die Ukraine mit dem Angriff Nazideutschlands auf die UdSSR verglich, sagte Lukaschenko, der ukrainische Präsident, „der seiner Nationalität nach Jude ist“, solle sich bei diesem Thema „bedeckt halten und schweigen“ und behauptete, Belarussen seien bei der Verteidigung von Juden in der Ukraine und in Belarus gefallen. Für Lukaschenko ist Selensky also in erster Linie ein „Jude“, der nicht das Recht hat, über die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs zu sprechen und den Belarussen noch dankbar dafür sein muss, dass sie sein Volk vor dem Genozid der Nazis gerettet hätten.
6. Es gab seit 2020 auch zahlreiche Repressionen gegen Historiker und Wissenschaftler. Steht dieses Vorgehen im Zusammenhang mit diesem Gesetz?
Das Lukaschenko-Regime braucht eigentlich keine speziellen Gesetze, um Historiker und Wissenschaftler zu verfolgen. Mit dem jetzt verabschiedeten Gesetz wird allerdings tatsächlich ein neuer Straftatbestand geschaffen: die öffentliche Leugnung des „Genozids am belarussischen Volk“. Es drohen bis zu zehn Jahre Haft. Es kann und wird höchstwahrscheinlich sowohl gegen Wissenschaftler als auch gegen den Normalbürger verwendet werden. Man darf sich da nichts vormachen. Es gab schließlich auch schon Anklagen wegen „Rehabilitierung des Nationalsozialismus“, wie beispielsweise gegen den belarussischen Journalisten Andrzej Poczobut von der polnischen Gazeta Wyborcza, der sich seit April 2021 in Haft befindet.
7. Wie reagiert die im Land verbliebene Wissenschaft auf das Gesetz?
Als über das Gesetz beraten wurde, gab es tatsächlich Diskussionen, allerdings außerhalb von Belarus. Schon vorher hatten es Historiker – besonders die, die sich mit Stalins Verbrechen und den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs befassten –, in der Ära Lukaschenko schwer und waren immer Repressionen ausgesetzt. Jetzt bleiben den Experten für Kriegsgeschichte, die sich noch in Belarus befinden, im Grunde noch vier Optionen: Sie können sich den neuen Begriff zu eigen machen und propagieren, sei es aus Überzeugung oder aus Opportunismus; sie können ihren Forschungsschwerpunkt auf weniger brisante Themen verlagern; sie können ihren Beruf aufgeben oder das Land verlassen. Offene Kritik an dem aufgezwungenen Begriff kann schwerwiegende Folgen bis hin zu Gefängnisstrafen nach sich ziehen.
8. Mit dem Gesetz geht es also alles andere als um Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen?
Die Erforschung und Aufarbeitung der Kriegsereignisse – einschließlich eines so schwierigen Themas wie der Beteiligung der lokalen Bevölkerung an den NS-Verbrechen gegen die Juden – kann das Anliegen einer demokratischen Gesellschaft sein, die Wesen, Ausmaß, Ursachen und Folgen der Gräueltaten begreifen möchte. Eine solche Gesellschaft will historische Erfahrungen nutzen, um sich weiterzuentwickeln. Das diktatorische Regime Lukaschenkos hat dieses Anliegen nicht und kann es auch gar nicht haben. Auf offizieller Ebene behandelt man die Geschichte in Belarus lieber nach dem Grundsatz „Geschichte ist in die Vergangenheit gekippte Politik“, es geht um die angesprochene Instrumentalisierung. Und in dieser Hinsicht nutzt Lukaschenko Geschichte auch, um seinen Machterhalt zu sichern. Das neue Gesetz dient dazu, Dissens schon im Ansatz zu verhindern, die eigenen Vorstellungen von der Vergangenheit durchzusetzen und damit die Position des Regimes zu festigen.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
„Um ehrlich zu sein, hätte ich nicht erwartet, dass sich die Operation derart hinziehen würde.“ Das sagte Alexander Lukaschenko in einem Gespräch mit der US-amerikanischen Nachrichtenagentur AP in Bezug auf den Krieg, den Russland bereits seit dem 24. Februar gegen die Ukraine führt. Bevor der Kreml seine Truppen aus dem Norden des Landes in den Donbass und in den Süden der Ukraine verlagert hat, war der Krieg bekanntlich auch von belarussischem Staatsgebiet aus geführt worden. Die Monitoring-Gruppe Belaruski Hajun will herausgefunden haben, dass russische Truppen allein von Belarus aus über 630 Raketen in Richtung Ukraine abgeschossen hätten.
Seit Wochen scheint der belarussische Machthaber eine zweigleisige Strategie gegenüber seinem Kollegen Wladimir Putin zu verfolgen: In der Öffentlichkeit unterstützt er den Krieg Russlands mit hehren Worten der Loyalität. So auch am Tag des Sieges, als Lukaschenko sagte, dass die Belarussen kein Recht hätten, Russland nicht zu unterstützen. Zudem bediente er das vom Kreml gesetzte Narrativ, indem er behauptete, der Westen würde den Nazismus in der Ukraine befördern. Immer häufiger aber mischen sich auch Töne der Kritik und der Distanzierung in Lukaschenkos Reden, was auf die schwierige innenpolitische Lage für den Langzeitautokraten hinweisen könnte. Ebenso auf den Versuch, sich neuen politischen Handlungsraum gegenüber Russland verschaffen zu wollen. Denn einige Belarussen bekunden ihren Unmut gegenüber der Unterstützung des Krieges durch zahlreiche Sabotageakte an den Eisenbahnstrecken in Belarus, was im Volksmund in Bezug auf den Partisanenmythos des Zweiten Weltkrieges bereits Schienenkrieg genannt wird.
Was hat Lukaschenko vor? Wie steht es überhaupt um seine Unterstützung in der belarussischen Gesellschaft? Fürchtet sich der Autokrat vor einer Proteststimmung, die trotz scharfer Repressionen neu aufkeimen könnte? Der belarussische Politikanalyst Waleri Karbalewitsch versucht in einem Beitrag für das Online-Portal SN Plus Antworten auf diese und andere drängende Fragen zu finden.
Viel wurde darüber geschrieben, dass Lukaschenko versucht, seinen außenpolitischen Kurs von 2014 bis 2020 zu wiederholen. Dass er Russlands Krieg gegen die Ukraine und Moskaus Konflikt mit dem Westen nutzen will, um die Beziehung zu den USA und zur EU aufzutauen. Genauso ist anzunehmen, dass Lukaschenko während dieses neuen russisch-ukrainischen Krieges intuitiv versucht, die acht Jahre alte Erfahrung in Bezug auf die gesellschaftliche Stimmung zu nutzen.
Noch 2014, als der russisch-ukrainische Konflikt begann, hatten unabhängige Meinungsforscher festgestellt, dass zwei Drittel der belarussischen Bevölkerung Russland unterstützen. Die Mehrheit der Belarussen hatte also eine stärkere prorussische Haltung als das offizielle Minsk, das Kurs auf eine (wenn auch nur bedingte) Neutralität nahm. Diese Situation war für die Machthaber sogar ein wenig unbequem, weil es Moskau zusätzliche Hebel zur Einflussnahme auf Belarus an die Hand gab. 2020 hat Lukaschenko die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit verloren. Sämtliche unabhängige Experten erklärten einhellig, dass er die Situation nicht ändern kann und bis zum Ende seiner Herrschaft lediglich der Repräsentant einer Minderheit bleiben wird.
Stimmung in der belarussischen Gesellschaft anders als 2014
Doch jetzt kam der „schwarze Schwan“ angeflogen: Russlands Krieg gegen die Ukraine, bei dem sich Moskau belarussisches Territorium zunutze machte. Dieses Ereignis hatte vorwiegend negative Folgen für das herrschende Regime: Es wurde zum Mit-Aggressor, es gab neue und härtere Wirtschaftssanktionen und es herrscht Antikriegsstimmung im Land und anderes mehr.
Möglicherweise hat die aktive politische Unterstützung Lukaschenkos für Russland bei diesem Krieg neben den bekannten Faktoren (der starken Abhängigkeit vom Kreml) auch einen anderen Sinn. Lukaschenko hatte wohl gemeint, dass die Bevölkerung in Belarus – ganz wie 2014 – Russland auch in dem jetzigen Krieg unterstützen würde, dass also die prorussische Stimmung der Bevölkerungsmehrheit und die absolut prorussische Position der Staatsführung im Einklang stehen würden. Und dass Lukaschenko erstmals seit 2020 die Unterstützung der Mehrheit erhalten und der gesellschaftliche Rückhalt breiter wird. Dass er wieder „Präsident des Volkes“ wird, nicht länger ein „Präsident der OMON“. Sprich: Der Krieg würde das Regime legitimieren. Und die Opposition, die die Ukraine aktiv unterstützte, würde erneut marginalisiert und sich wie vor 2020 in einem Ghetto wiederfinden.
Haben sich diese Hoffnungen erfüllt? Was sagt die Meinungsforschung?
Laut den soziologischen Daten von Professor Andrej Wardomazki geben nur 24 Prozent der Belarussen Russland die Schuld an dem Krieg, und 52 Prozent meinen, dass die Ukraine und der Westen daran Schuld seien. Es scheint, als hätte Lukaschenko bekommen, was er wollte.
Wobei die 52 Prozent auch nicht die zwei Drittel von 2014 sind. Und es wird noch interessanter: Es stellt sich heraus, dass nicht 52 Prozent, sondern nur 43 Prozent einen realen Krieg von Russland gegen die Ukraine unterstützen. Und 62 Prozent sprachen sich dagegen aus, dass die Russen belarussisches Territorium für den Angriff auf die Ukraine nutzen.
Krieg in der Ukraine bringt Lukaschenko kaum politisches Kapital
Das bedeutet, dass es Lukaschenko nicht gelungen ist, eine überzeugende gesellschaftliche Unterstützung für seine Position zum Krieg in der Ukraine zu erreichen. Ich glaube kaum, dass ihm eine Fortsetzung der Kriegshandlungen zusätzliches politisches Kapital einbringen wird.
Eine andere Sache ist, dass der Krieg in der Ukraine neue Spaltungen in der Gesellschaft zutage förderte. Wie sich zeigte, hegt ein gewisser Teil der auf Proteste ausgerichteten Community prorussische Sympathien. Das bedeutet, dass nicht alle, die gegen Lukaschenko sind, demokratischen Werten anhängen. Das wurde schon 2020 klar. Aber die derzeitige Tragödie in der Ukraine hat diese Stimmungen an die Oberfläche gespült. Lukaschenko hat auf der Sitzung vom 19. April bekanntermaßen verkündet, den Kurs der politischen Repressionen zu verstärken. Dazu gehörte der Schritt, die repressive Gesetzgebung zu verschärfen.
Mit Androhung der Todesstrafe gegen innere Feinde
Am 27. April verabschiedete das belarussische Repräsentantenhaus einen Gesetzesentwurf, der für „den Versuch, einen terroristischen Akt zu verüben“ die Todesstrafe vorsieht. Hier muss man betonen, dass diese Gesetzesneuerungen im beschleunigten Verfahren durchgesetzt werden: Die Gesetzesvorlage zur Änderung des Strafgesetzbuches wurde bereits in zweiter Lesung angenommen.
Bemerkenswert ist, dass die Todesstrafe nicht für den terroristischen Akt selbst, sondern schon für einen Versuch vorgesehen ist. Da der Begriff des Terrorismus in Belarus von der Obrigkeit sehr breit ausgelegt wird, lässt er sich mit jedweder oppositioneller Betätigung in Verbindung bringen. Hierzu gehört insbesondere die Teilnahme an Protestaktionen. Beispielsweise wurden gegen die Politiker Pawel Latuschko und Swetlana Tichanowskaja Anschuldigungen aufgrund von „Terrorismus“-Paragraphen erhoben.
Das Repräsentantenhaus verabschiedete darüber hinaus ein Gesetz, das es den Truppen des Innenministeriums erlaubt, zur Unterdrückung von „Massenunruhen“ großkalibrige Waffen einzusetzen. Friedliche Protestaktionen gelten in Belarus bekanntlich als „Massenunruhen“.
Die Urteile in den „politischen Verfahren“, bei denen die Opposition Haftstrafen zwischen 10 und 18 Jahre erhielt, werden bereits als „stalinistisch“ bezeichnet. Solche Urteile ergingen gegen Bürger der UdSSR in den 1930er und 1950er Jahren. Wir können in Belarus jetzt vom Aufkommen einer „stalinistischen Gesetzgebung“ sprechen. Das Land kehrt konsequent in jene finsteren Zeiten zurück.
Protest-Stimmung und Sabotageakte
Logischerweise stellt sich die Frage: Warum so plötzlich? Die Massenproteste sind zerschlagen. Es scheint keinerlei äußerlich sichtbare Bedrohungen für das herrschende Regime zu geben. Warum also so eine Hektik, den Druck auf die Silowiki zu erhöhen, solche drakonischen Gesetze zu verabschieden?
Ich denke, neben dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb sieht die Staatsführung eine Zunahme radikaler Stimmung im protestbereiten Teil der Gesellschaft. Das zeigt sich in den Sozialen Netzwerken. Es wird diskutiert, ob die friedlichen Proteste 2020 nicht ein Fehler waren und man nicht entschlossener hätte vorgehen sollen. Auch die Sabotageakte an Eisenbahnstrecken und die Aktivität der Cyberpartisanen lassen die Machthaber zu stärkeren Repressionen greifen. Angst hat schließlich große Augen.
Wenn aber die Kommunikation mit der Gesellschaft einzig und allein darin besteht, die Daumenschrauben immer fester anzuziehen, dann hat dieses soziale Modell keine Zukunft. Man raubt diesem Land jede Perspektive, wenn man im 21. Jahrhundert mitten in Europa ein Nordkorea errichtet.
In den Fernen Osten zog es Alexander Lukaschenko in der vergangenen Woche. Der belarussische Machthaber besuchte die Hafenstadt Wladiwostok und traf in der Oblast Amur seinen russischen Kollegen Wladimir Putin. Der Ort des Zusammentreffens: der Östliche Weltraumbahnhof (russ. Kosmodrom Wostotschny), der dort seit vielen Jahren rund 8000 Kilometer von Moskau entfernt entsteht. Während Putin sich in Bezug auf den von Russland entfachten Angriffskrieg gegen die Ukraine siegesgewiss gab, stand ihm Lukaschenko bei. Er erklärte das Massaker von Butscha zur „psychologischen Spezialoperation der Briten“.
Der Politikanalytiker Waleri Karbalewitsch sieht in der demonstrativen und „ultraloyalen“ Unterstützungsrhetorik den Versuch, Lukaschenkos Haltung zu verschleiern, „dass er nicht bereit ist, belarussische Truppen in die Ukraine zu schicken“. Der Krieg des Kreml ist in der belarussischen Gesellschaft extrem unpopulär, was sich unter anderem durch die Sabotageakte an den Eisenbahnstrecken des Landes zeigt. Zudem bedroht die langfristige Stationierung russischer Truppen auf belarussischem Staatsgebiet nicht nur die Souveränität des Landes, sondern womöglich auch die Macht Lukaschenkos selbst.
Kann es also sein, dass Lukaschenko in seiner scheinbar ausweglosen Lage versucht, auf mehreren Ebenen zu agieren, um sich neue Handlungsspielräume zu erschließen? Entsprechend breit wurde auch ein Brief von Wladimir Makei diskutiert. Der belarussische Außenminister hatte sich, ebenfalls in der vergangenen Woche, an die Europäische Union gewandt, mit dem Vorschlag, den Dialog wiederherzustellen, der seit den Repressionen und Eskalationen Lukaschenkos gegen die Protestbewegung und seiner Rolle im Krieg gegen die Ukraine aufgekündigt worden war. Man würde sich, so Makei sinngemäß, auch nicht weiter in den Krieg hineinziehen lassen. Offensichtlich macht sich Lukaschenko Gedanken darum, inwieweit er seine außenpolitischen Fähigkeiten wiederherstellen kann. Auch für den Fall, dass Putin den Krieg verliert. Zudem plagen ihn zweifelsohne die Folgen der Sanktionen für die belarussische Wirtschaft und in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit Russland, das selbst scharf sanktioniert wird, diese Folgen abfedern kann und will, und vor allem: zu welchem Preis.
Lukaschenko und Putin, deren Verhältnis trotz der aktuellen demonstrativen Einigkeit in der Vergangenheit alles andere als unkompliziert war, haben im November 2021 eine weitere Integration von Belarus in den sogenannten Unionsstaat beschlossen. Wäre dessen Vollendung und Belarus´ endgültige Inkorporation in die Russische Föderation eine für die beiden Sowjetnostalgiker vorstellbare Option? Auf was zielen Lukaschenkos verwirrende und scheinbar widersprüchliche Taktikspiele möglicherweise ab? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in einer Analyse für das belarussische Online-Medium Naviny.
Alexander Lukaschenko thematisiert plötzlich eine mögliche Eingliederung der Republik Belarus in Russland, die er folgendermaßen kommentiert: „Putin und ich werden ja nicht so dumm sein, mit alten Methoden vorzugehen. Ich sage euch, wir werden eine solche Einheit zweier unabhängiger Staaten schaffen, dass sie von uns was lernen werden. Lernen werden sie von uns! Wie man Sanktionen überwindet und so weiter.“
Diese hochtrabende Tirade ließ Lukaschenko am 13. April in Wladiwostok bei einem Treffen mit dem Gouverneur der Region Primorje vom Stapel. Es sah nicht so aus, als würde ihn jemand dazu zwingen – dieses Thema scheint ihn einfach zu beschäftigen. Und seine Worte „Putin und ich werden ja nicht so dumm sein“ lassen sich dekodieren als „ich hoffe, Putin ist nicht so dumm“.
Das politische Lavieren als Strategie
Zwischen den beiden postsowjetischen Staatsoberhäuptern hat nie echtes Vertrauen geherrscht. Viele Beobachter sind der Meinung, Putin sei schon allein dadurch, dass er überraschend Russlands Präsident wurde, dem ambitionierten Ex-Direktor der Sowchose in Schklou in die Quere gekommen, der davon geträumt hatte, in Boris Jelzins Fußstapfen zu treten.
Heute erinnert sich kaum mehr jemand an den Konflikt, der 2002 zwischen Lukaschenko und Putin hochkochte. Damals trieb der Kremlchef die Frage der Eingliederung der Republik Belarus in Russland auf die Spitze. „Nicht einmal Lenin und Stalin sind auf die Idee gekommen, Belarus zu zerschlagen und es der RSFSR anzuschließen“, empörte sich damals der belarussische Präsident, der den souveränen Absolutismus zu schätzen gelernt und es sich in seiner Allmacht bereits bequem gemacht hatte.
Es folgte eine Zeit der Beziehungsschwierigkeiten, in der Lukaschenko mal Lobeshymnen auf Russland sang, um an billige Ressourcen zu kommen, mal Russlands imperialistische Allüren anprangerte, um das eigene Herrschaftsrecht in der ehemaligen Sowjetrepublik zu behaupten. Hin und wieder gelang es ihm, zu lavieren und mit dem Westen geopolitische Spielchen zu spielen. Eine richtige Annäherung an den Westen schaffte das belarussische Staatsoberhaupt allerdings nie, weil es ein auf seiner persönlichen Macht basierendes antidemokratisches Regime errichtet hatte.
Eine vollwertige Marktwirtschaft hingegen hat Lukaschenko nie errichtet. Während er behauptete, räuberische Reformen zu vermeiden, ging es ihm in Wirklichkeit nur darum, die staatliche (sprich, seine persönliche) Kontrolle über die materielle Basis nicht zu verlieren. Die ineffektive staatliche Wirtschaft erforderte aber permanent russisches Doping, sodass sich Lukaschenko bei allen Reibereien nie wirklich von Moskau lösen konnte.
Abhängigkeit jenseits der roten Linie
Eine Zeitlang – erinnern wir uns an die fetten Jahre der ersten Hälfte der 2000er – gelang dem belarussischen Staatschef der Tausch von, „Öl gegen Küsse“, und im Gegenzug gab er das Versprechen, sich vor die berüchtigten NATO-Panzer zu werfen.
Doch danach erhob sich das Imperium von den Knien und begann, für jedes verfütterte Vitamin reale Zugeständnisse einzufordern. Der Gipfel war im Dezember 2018 das berühmte Ultimatum von Dimitri Medwedew, damals Premierminister der Russischen Föderation: entweder „tiefgreifende Integration“, oder ihr könnt die spendablen Zuschüsse vergessen. Und wieder empörte sich Lukaschenko: „Uns zu erpressen, uns beugen zu wollen, uns das Knie auf die Brust zu drücken ist zwecklos.“
Und um der Falle zu entgehen, ließ er 2019 die Unterzeichnung der sogenannten Roadmaps für die Vertiefung der Integration platzen.
Doch die Ereignisse des Jahres 2020 – die Proteste gegen die gefälschten Wahlen und ihre brutale Niederschlagung – trieben den belarussischen Staatschef, der seine frühere Legitimität eingebüßt hatte, in eine solche Abhängigkeit von Moskau, dass er seinen alten Stolz begraben musste.
Lukaschenko unterschrieb 28 Bündnisprogramme (modifizierte Roadmaps der „vertieften Integration“) und ließ auf belarussischem Territorium russische Truppen stationieren, die am 24. Februar in der Ukraine einfielen. Das belarussische Staatsoberhaupt, das zuvor Kiew versprochen hatte, von seinem Land aus werde es keine Angriffe geben, fand sich in einer erbärmlichen Lage wieder: In den Augen der Ukrainer, des Westens und eines beträchtlichen Teils seiner Landsleute war er endgültig zu einer Marionette des Kreml geworden.
So hat die Logik des Machterhalts um jeden Preis den Regenten um einen beträchtlichen Teil seines politischen Subjektstatus gebracht und Belarus dem Risiko ausgesetzt, den letzten Rest seiner Souveränität zu verlieren, die das Regime ohnehin schon Stück für Stück verkauft hatte.
Nostalgien unterschiedlicher Machart
Lukaschenko hat, wie auch viele Beobachter, offenbar Putins Rationalität überschätzt. Und hat daher eine großangelegte Aggression gegen die Ukraine für unwahrscheinlich gehalten.
Dieser abenteuerliche Überfall, der die gesamte demokratische Gemeinschaft, die gesamte entwickelte Welt herausfordert, hat gezeigt, dass der Regent im Kreml den Kontakt zur Realität vollends verloren hat und sich rückhaltlos seinen imperialistischen Instinkten hingibt. Und das erhöht die Gefahr auch für Belarus.
Putin spricht der Ukraine das Recht auf einen eigenen Staat ab (mit dem Argument, Lenin habe sie künstlich erschaffen, die Kommunisten hätten ihr ur-russischen Boden abgetreten), doch alle diese großmächtigen Pseudoargumente können jederzeit auch auf Belarus angewandt werden. Auch die BSSR wurde von Bolschewiken in Smolensk ausgerufen, ihr Gebiet wurde durch Beschlüsse der sowjetischen Regierung festgelegt und erweitert.
Sowohl Putin als auch Lukaschenko trauern der UdSSR nach, wenn auch mit unterschiedlichen Arten von Nostalgie. Putin wünscht sich eine Wiedergeburt des Imperiums im klassischen Sinn. Er geißelt sogar Lenin dafür, dass dieser sich den „nationalen Randgebieten“ angebiedert, ihnen Souveränität verliehen habe, zwar eher pro forma, doch das sei das Pulverfass unter der Sowjetunion gewesen.
Lukaschenko hätte offenbar gern sowjetische Einigkeit, eine planmäßige Zufuhr billiger Ressourcen und einen garantierten Absatz für Erzeugnisse aus Belarus (die BSSR war einst die führende Montagewerkstatt der UdSSR). Plus einen atomaren Schutzschirm gegen den verfluchten Westen.
Doch dabei will er bestimmt nicht den Status eines Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der belarussischen Kommunistischen Partei, den Moskau befehligt und jederzeit absetzen kann. Lukaschenko will eine Reinkarnation der Sowjetunion, bei der er alle Vorteile aus dem Zentrum genießt und gleichzeitig auf seinem Territorium allmächtiger Zar bleibt.
Eine solche Idylle ist aber unmöglich. Und die Spielregeln diktiert der Stärkere. Heute, wo Lukaschenko geschwächt ist, macht Moskau ihn unverblümt zu seinem Vasallen.
Steht eine schleichende Eingliederung bevor?
Ein weiterer Punkt ist, dass Putin momentan eine klassische Inkorporation von Belarus mit Säbelrasseln und sonstigem Gedöns gar nicht haben will. Wozu sich noch mehr Scherereien einhandeln – von weiteren Sanktionen des Westens über den geschlossenen Widerstand eines Volkes, das mehrheitlich darauf verzichten möchte, Teil eines Imperiums zu werden, bis hin zur Notwendigkeit, mehr als neun Millionen Münder miteinzukalkulieren?
Die schleichende Inkorporation kommt Moskau heute gerade recht.
Lukaschenko aber fühlt sich in der Rolle des Vasallen schrecklich unwohl. Nomenklatur und Silowiki sehen ihren Boss, der so lange unbeugsam erschien, bereits in einem anderen Licht. Heute hat es der Kreml um einiges leichter, die Figur an der belarussischen Spitze bei Bedarf auszuwechseln.
Und seit dem Angriff auf die Ukraine ist die Unberechenbarkeit des Kremlherrschers in Lukaschenkos Augen wohl stark gestiegen. Der belarussische Staatschef sagt zwar „Putin und ich sind nicht so dumm“, hegt aber eigentlich die Hoffnung, dass „Putin nicht so dumm“ sein möge.
Weil es zwischen den Bündnispartnern de facto nie eine Parität gab, schon gar nicht jetzt. Lukaschenko konnte sich mit spitzfindigen Zügen lange halten, hat aber dieses Spiel mit dem Imperium erwartungsgemäß doch verloren. Die Perspektive des Kreml, sich heimlich, still und leise Belarus einzuverleiben, ist derzeit günstig wie nie zuvor.
Verhindern kann das wohl nur mehr eine schwere Niederlage des Kremlregimes in der Schlacht gegen die Ukraine und die progressive Welt. Na ja, und obwohl in Belarus alles Lebendige jetzt extrem unterdrückt ist, wird natürlich vieles von der mehrheitlichen Haltung seiner Bürger abhängen.
Die Ukrainer, von denen man eine rasche Kapitulation erwartet hatte, haben gezeigt, dass sie bereit und fähig sind, für die Freiheit zu kämpfen. Die belarussischen Truppen sind weitgehend deshalb nicht im ukrainischen Fleischwolf gelandet, weil die überwiegende Mehrheit der Belarussen kategorisch gegen den Krieg ist. Insofern können nicht nur die Staatschefs, sondern auch die normale Bevölkerung den Lauf der Geschichte entscheidend beeinflussen.
Laut des russischen Verteidigungsministeriums sollen die „militärischen Aktivitäten“ in der Ukraine bei Kiew und Tschernihiw deutlich reduziert werden. Man wolle sich vor allem auf den Donbass konzentrieren. Allerdings gingen die Angriffe von russischer Seite auch nach dieser Ankündigung weiter. Es gab auch das erste Treffen seit Wochen zwischen Vertretern der Ukraine und Russland in Präsenz. Doch ob die Verhandlungen wirklich eine Annäherung gebracht haben, wird sich erst zeigen müssen. Bisher wird das eher skeptisch gesehen.
Belarussische Medien wie Zerkaloberichteten am Dienstag von einem Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine nach Belarus, das der Kreml von Anfang an als Aufmarschgebiet für den Angriffskrieg genutzt hat. Immer wieder gab und gibt es Hinweise, dass der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko eigene Truppen in den Krieg schicken könnte, was bis heute allerdings nicht passiert ist. Ein Grund könnte sein, dass Lukaschenko die innenpolitischen Folgen eines solchen Schritts fürchtet. Denn die große Mehrheit der Belarussen scheint gegen den Krieg zu sein. Mittlerweile kämpfen mehrere Gruppen mit belarussischen Freiwilligen auf Seiten der Ukraine. Und im Land selbst haben Belarussen durch diverse Protestaktionen oder Sabotageakte beispielsweise an den Eisenbahnstrecken, über die russisches Gerät transportiert wird, ihren Unmut gegenüber dem Krieg zum Ausdruck gebracht. Ein weiterer Grund: Der Widerstand innerhalb der belarussischen Armee gegen den Kriegseinsatz ist einfach zu groß.
Die Belarussen befänden sich in einer komplexen moralischen und emotionalen Zwickmühle, meint der belarussische Autor Maksim Shbankou. Nach einer begonnenen friedlichen Revolution im Jahr 2020, die aber nicht zu einem Wechsel der Regierung geführt hat, seien sie nun Teil einer Gemengelage, die durch Lukaschenkos fatale Abhängigkeit vom Kreml entstanden ist. In dieser unheilvollen Situation würden sich auch bekannte Komplexe und Schuldgefühle bemerkbar machen und altbekannte Unsicherheiten in Bezug auf das kollektive Ich der Belarussen. In einem Stück für das belarussische Online-Portal SN Plus seziert der in Vilnius lebende Shbankou die momentanen Selbstvergewisserungsversuche und -möglichkeiten der Belarussen.
Der Krieg arbeitet in zwei Richtungen: Er pustet die Hirne durch und erhöht den Grad des Wahnsinns. Klar, die Führung des Landes liegt im Koma. Unangenehm, wenn du selbst nicht im Land bist. Plötzlich schämst du dich, dass hier nicht geschossen wird und du nicht schießt. In die richtige Richtung. Irgendwie peinlich, jetzt shoppen zu gehen. Den Newsfeed zu scrollen – ist eine billige Ausrede: Scheinbar auf dem Laufenden zu sein, aber doch dran vorbei. Du wartest auf eine Invasion oder Raketen. Du weißt nicht mehr genau: Ist es gut oder schlecht, dass Vilnius so nah an Minsk liegt? Seltsam, Filme anzuschauen. Keine Filme zu schauen ist noch seltsamer. Uncool, Russisch zu sprechen. Und du weißt nicht, wo man eine kugelsichere Weste kauft. Unser Film hat Schnellvorlauf integriert. Der Plot schwimmt und schmilzt. Es bleiben nur die einfachen Dinge. Ohne Angst aufwachen. Rausgehen. Die Katze füttern. Sich selbst für schuldig an allem erklären.
Die beste Frage des russisch-ukrainischen Krieges: Wie hält man es mit den Belarussen? Am häufigsten hört man das von den Belarussen. Alle anderen kümmert es nur schwach – im Zusammenhang mit Alltagsgeopolitik oder öffentlicher Rhetorik. Sie leben von anderem. Aber wir haben ja nur uns. Unsere Firmenstrategie ist die aggressive Selbstaufopferung: Wir verhören uns selbst, wir richten und verurteilen uns, wir nageln uns selbst ans Kreuz. Wenn man es durchschaut hat, tatsächlich eine hervorragende Form der traumatischen Eigenwerbung.
Vielleicht nimmt man uns so wenigstens wahr.
Wir sind schuld, dass wir Lukaschenko nicht besiegt haben
Die erste ukrainische Front ist dort, wo Kiew belagert wird, Iskander in Geburtskliniken einschlagen, ausgebrannte russische Panzer liegen und Wohngebiete flächenbombardiert werden. Die zweite ist in den Köpfen einzelner belarussischer Klugscheißer. Die sich nicht entscheiden können, was sie tun sollen: Reue zeigen oder gekränkt sein. Für alle Fälle wählen sie einfach beides.
Was hat uns gekränkt? Dass wir im Sandkasten vergessen wurden. Dass wir so großartig sind – aber nur schwach geliebt werden. Prag macht dicht, London will uns nicht, die Grenzer lächeln nicht.
Dass Europa uns einen Kampf schuldig ist – aber diese Schuld nicht einlöst. Dass Schengenvisa zu kurz sind und die Überweisungen zu lange dauern. Dass die Belarussen nicht im Trend und überhaupt kaum auf der Agenda sind – dabei war das Thema noch gar nicht durch. Dass sie uns blöde mit Lukaschenko verwechseln – und jetzt auch noch mit Putin.
Plus, wir sind schuld, dass wir Lukaschenko nicht besiegt haben. Und jetzt auch noch Putin. Ein triumphales Tribunal. Humanitäre Selbstverstümmelung. Und was nun? Wir wurden so gemacht. Wir haben uns so gemacht. Vermeintliche Papierschiffkapitäne.
In einer Situation, in der Dächer einstürzen und Züge brennen, fliegt unser kulturelles Gepäck wie der Koffer eines überstürzt Flüchtenden in alle Winde und legt intime Details grundlegender geistiger Übungen dem zufälligen Betrachter zum Urteil vor. Geistige Klammer namens postsowjetischer Intellektualismus.
Alles hier besteht aus populären Illusionen, ausgebremstem Transitiv und emotionalen Rückschlägen. In einer solchen nach fremden Vorbildern zusammengebauten Welt bewegen Klugscheißer die Massen und säen das ewig Gute, diktieren Bücher die Regeln, erhalten die Beleidigten Blümchen, triumphiert die Vernunft, herrschen höhere Werte. Und das klangvolle Wort eines Nobelpreisträgers wiegt mehr als eine Ladung Marschflugkörper aufs nächste heiße Ziel.
Wir warten auf private Tänze im Wahnsinn der globalen Katastrophe
Hier laufen zwei im postsowjetischen Raum populäre Legenden in einem gemeinsamen Schwung zusammen: intellektuelle Selbstverliebtheit und provinzielle Unterlegenheit. Erstere erlaubt es jedem beliebigen Individuum, das halbwegs „Habermas“ aussprechen kann, im Namen des besten Teils der Nation auf Sendung zu gehen. Letztere bringt einen dazu, sich beleidigt und minderwertig zu fühlen, selbst wenn man es in die höchste Liga geschafft hat. Der traumatische Messianismus bringt komplexbehaftete Helden zum Vorschein und fordert im Gegenzug obligatorische Knickse und regelmäßige Reue. Aber muss man überhaupt sagen, dass beide oben beschriebenen Märchen ausschließlich in unserer Fantasie existieren?
Die Nation ist eine Abstraktion. Das Volk eine Verallgemeinerung. Ein Konzept. Ein rhetorisches Mittel. Wollen die Russen Krieg? Eine inhaltslose Frage, die nach Konkretisierung schreit. Ist der Dichter schuld, dass er Schriftsteller und nicht Scharfschütze ist? Selbes Spiel. Oder: Ist Belarusse ein Makel oder ein Qualitätsmerkmal? Ebenso. Frag gefälligst konkreter.
Sich für die Hölle zu entschuldigen ist ausschließlich dann sinnvoll, wenn du – und zwar genau Du und nicht eine angenommene „Nation“ oder ein „Volk“ – irgendwie in der Lage warst, die Geschehnisse zu beeinflussen. Und das nicht getan hast. Mit anderen Worten, Reue erfordert Beteiligtsein.
Ein in Asphalt gewalztes Land möchte bestimmt nicht an einem Panzertango teilnehmen. Und ohne den verlieren alle Reueakte und weitere Wortakrobatik sofort ihren Wert, wenn wir den Mund aufmachen. Noch eine Videoansprache. Noch eine Petition. Ein neues Wortpaket. Eine frische Geste. Und noch ein Kommentar hinterher. Wer hat denn gesagt, dass unsere Konzepte etwas wert sind? Wer hat entschieden, dass die Orks Partituren brauchen?
Wir sind schön, laut, leicht verbeult – und stehen noch auf einem leeren Bahnsteig. Wir warten auf private Tänze im Wahnsinn der globalen Katastrophe. Wir senden im Namen derer, denen das scheißegal ist. Wir sind bereit, fremde Schuld auf uns zu nehmen, die wir niemals begleichen können. Noch immer zu wenig Liebe? Stellt euch drauf ein, es wird schlimmer.
Es hat uns alle zugedeckt. So leben wir weiter.
Die zweite ukrainische Front – das ist der Krieg mit uns selbst. Mit der erdachten Mission und dem erträumten Status. Mit der Facebook-Brunft und der Youtube-Extase. Mit der ewigen Promo-Aktion der eigenen Minderwertigkeit und dem Pseudo-Partisanentum.
Ein jeder hat sein Gewicht. Seine Geschichte. Und seine Front. Wir brennen wie wir können.
Die politische Krise, die mit den Protesten vom Sommer 2020 begann, hat zu einer neuen Welle der Massenmigration aus Belarus beigetragen und die Politisierung der belarusischen Diaspora gefördert. Den vorliegenden Daten zufolge haben innerhalb des ersten Jahres seit den Ereignissen schätzungsweise 100.000 bis 150.000 Menschen das Land verlassen. Bei einer erwerbstätigen Bevölkerung von insgesamt rund 4,3 Millionen Menschen ist dies eine sehr hohe Zahl. Zugleich ist der Prozess noch nicht abgeschlossen. Angesichts der anhaltenden Repressionen im Land planen oder erwägen weiterhin viele Menschen die Ausreise. Auch im Zuge des Krieges in der Ukraine sind viele Belarusen wieder auf der Flucht, denn viele hatten in Kiew oder anderen ukrainischen Städten neu angefangen. Die neuen Migranten treffen auf eine Diaspora, die aus einer langen Geschichte mehrerer Auswanderungswellen hervorgegangen und in zahlreichen Ländern organisiert und politisch aktiv ist. Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja gibt der Demokratiebewegung im Ausland ein neues, international bekanntes Gesicht mit politischem Gewicht.
Bereits die Wahlkampagne im Frühjahr 2020 in Belarus, in der Kandidaten nicht zugelassen, verhaftet oder ins Exil getrieben wurden, und die friedlichen Massenproteste nach der gefälschten Präsidentenwahl gaben der Diaspora bemerkenswerten Aufschwung: Bestehende Auslandsorganisationen (unter anderem in den USA, Schweden, Großbritannien und Polen) wurden so gestärkt und neue Organisationen (unter anderem in Italien, Deutschland und der Tschechischen Republik sowie in den USA) registriert.
Diese neue Solidarität lässt sich an der hohen Beteiligung der belarusischen Diaspora an kontinuierlichen politischen Aktivitäten ablesen, mit denen auf Ungerechtigkeiten in Belarus aufmerksam gemacht wird. Daran zeigt sich auch, dass die außerhalb des Landes organisierte belarusische Demokratiebewegung eine wichtige Rolle spielt. Für Aljaxsandr Lukaschenka erschwert das ein neuerliches Lavieren zwischen dem Westen und Russland. Das ist mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine allerdings mehr denn je in den Bereich des Undenkbaren gerückt, da Lukaschenka der russischen Führung gewährt, Belarus als Aufmarschgebiet für russische Truppen zu nutzen. In einer Zeit, in der die Opposition im Land selbst zunehmend unterdrückt wird, dient die Diaspora dabei als Stimme von außen, um demokratische Veränderungen einzufordern.
Vor der politischen Krise von 2020
Die Geschichte der Auswanderung aus der Region des heutigen Belarus beginnt zur Zeit des Großfürstentums Litauen: Damals studierten Hunderte junger Belarusen an Universitäten in West- und Mitteleuropa. Emigranten wie Francysk Skaryna, Ilja Kapijewitsch und andere berühmte Persönlichkeiten der belarusischen Kultur haben im Ausland prägend gewirkt.
Die Massenauswanderung setzt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Zu dieser Zeit wurden Migranten nicht als Belarusen erfasst, weil die zaristische Regierung diese Nationalitätsbezeichnung offiziell nicht zuließ und es ablehnte, das ethnografisch belarusische Gebiet unter eine einheitliche Verwaltung zu stellen. Obwohl die Zahlenangaben schwanken, liegen sie überwiegend in derselben Größenordnung: Zwischen 1860 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs verließen etwa 1,5 Millionen Belarusen ihre Heimat. Die meisten gingen nach Sibirien, der Rest wanderte in Richtung Westen aus – nach Europa und in die USA. Diese Migrationswelle hatte einen vorwiegend wirtschaftlichen, teils aber auch politischen Hintergrund. Belarusische Juden wanderten in den 1850er Jahren aufgrund religiöser Verfolgung durch die Obrigkeiten aus.
Die Entstehung der belarusischen Diaspora
Die zweite Welle der belarusischen Emigration wurde durch den Ersten Weltkrieg und die revolutionären Ereignisse von 1917 ausgelöst. In den folgenden Jahren gab es in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) über zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Gebiet des heutigen Belarus, mehr als 100.000 Menschen gingen in andere Länder. Mit der Proklamation der Belarusischen Volksrepublik (BNR) 1918 und der Gründung der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) im Jahr 1919 erhielt das erwachende Nationalbewusstsein einen Schub. Die Belarusen sahen sich zunehmend als eigenständige Gruppe.
Die Politisierung der belarusischen Diaspora begann in den 1920er Jahren in den USA: Zu dieser Zeit nahm die Führung der Rada BNR Kontakt zu neu gegründeten belarusischen Organisationen in New York, New Jersey, Chicago, Michigan und Pennsylvania auf und begann, mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Archivdokumente zeigen, dass die kommunistischen Führungen in Moskau und Minsk sogar Versuche unternahmen, belarusische Emigranten über die Schaffung pseudo-nationaler belarusischer Organisationen für die kommunistische Bewegung zu mobilisieren – um die Weltrevolution voranzutreiben. In seinem Buch Belarusians in the United States liefert Vitaut Kipel mit Gershan Duo-Bogen ein Beispiel eines kommunistischen Agenten, der daran beteiligt war, die kommunistische Bewegung auf der anderen Seite des Ozeans zu aktivieren.
Belarusen engagieren sich von den USA aus für nationale Selbstbestimmung
Der Zweite Weltkrieg führte zur dritten Auswanderungswelle. Bei Kriegsende zählte die belarusische Diaspora in Europa etwa eine Million Menschen, von denen es viele weiter in die USA zog. Die politischen Emigranten der 1950er Jahre und ihre Nachkommen bildeten die Basis der modernen belarusischen Diaspora. Diese nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA eingewanderten Belarusen waren nationalbewusst. Sie setzten sich bei der US-Regierung mit Nachdruck dafür ein, den belarusischen Staat als nationale und ethnische Einheit mit dem Recht auf Freiheit und nationale Selbstbestimmung anzuerkennen. So hielten beispielsweise belarusische Priester laut Protokoll des US-Kongresses in den 1960er bis 1980er Jahren fast an jedem Jahrestag der Proklamation der BNR Eröffnungsgebete für den Kongress ab. Zum 50. Jahrestag der BNR-Gründung im Jahr 1968 verzeichnet das Protokoll 23 Redebeiträge im US-Kongress, die die Unabhängigkeit von Belarus unterstützten.
Von 1960 bis 1989 war kaum Auswanderung möglich
In den 1960er bis und 1980er Jahren wuchs die belarusische Diaspora nicht nennenswert an, weil die Emigration aus der Sowjetunion rechtlich nicht möglich war. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR, der massiven Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage in der Republik Belarus sowie den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 erhöhte sich die Zahl der Ausreisen wieder deutlich. Im Jahr 1989 erlaubte die Sowjetrepublik dem Innenministerium zufolge 14.700 Menschen auszureisen. 1990 lag diese Zahl bei 34.100 Menschen und war damit mehr als doppelt so hoch.
Nachdem Aljaxandr Lukaschenka im Jahr 1994 an die Macht gekommen war, schwand die anfängliche Hoffnung der belarusischen Diaspora auf eine demokratische Zukunft. An ihre Stelle traten politische Aktivitäten, die von dem Gedanken geleitet waren, Belarus als unabhängigen demokratischen Staat zu erneuern. Die neuen belarusischen Migranten konnten sich im Laufe der Zeit mit der älteren organisierten Diaspora in den USA, Kanada, Europa und anderen demokratischen Ländern auf gemeinsame Positionen verständigen. So wurde in den USA nach erheblichem Engagement der belarusischen Diaspora der Belarus Democracy Act von 2004 verabschiedet – ein US-Bundesgesetz, das erlaubte, politische Organisationen, NGOs und unabhängige Medien zu unterstützen, die sich für die Förderung von Demokratie und Menschenrechte in Belarus einsetzen. Diese Bewilligung wurde in den Jahren 2006, 2011 und 2020 erneuert.
Neue Migrationswelle nach den Repressionen in Belarus
Seit der Jahrtausendwende bis zum Jahr 2019 emigrierten jährlich schätzungsweise zwischen 10.000 und 20.000 Menschen aus Belarus. Das brutale Vorgehen gegen die Opposition nach den größten Protesten in der Geschichte des unabhängigen Belarus 2020/2021 löste dagegen eine beispiellose Migrationswelle aus. Im ersten Jahr nach August 2020 haben etwa 100.000 bis 150.000 Menschen Belarus verlassen. Viele gingen nach Lettland, Estland und noch weiter weg.
Nicht eingerechnet sind diejenigen, die nach Russland oder in die Ukraine übersiedelten, weil es kein Visum braucht, um in diese Länder zu reisen. Mit präzisen Zahlen ist es dort daher schwierig. Trotzdem lässt sich die Vorstellung einer Größenordnung bekommen: Laut den Zahlen, die der Staatliche Migrationsdienst der Ukraine herausgibt, stiegen die befristeten Aufenthaltsgenehmigungen für belarusische Staatsbürger dort beispielsweise um 39 Prozent (von 2175 im Jahr 2019 auf 3042 im Jahr 2021). Im Oktober 2020 unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky zudem ein Dekret, das es Unternehmern und hochqualifizierten Fachkräften mit belarusischer Staatsangehörigkeit sowie deren Familienangehörigen erleichtert, eine Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine zu erhalten. Infolgedessen sind seit der Protestwelle nach der Präsidentschaftswahl bis zu 1500 belarusische IT-Spezialisten aus politischen Gründen in die Ukraine emigriert.
Doch die meisten Belarusen gingen nach Polen. Laut Eurostat sind dort zwischen August 2020 und November 2021 knapp 2000 Asylanträge von belarusischen Staatsbürgern eingegangen – mehr als in jedem anderen EU-Land. Das ist ein eindrucksvoller Zuwachs, denn zwischen Anfang 2019 und September 2020 hatten Belarusen in Polen nur 165 Asylanträge gestellt. Nach Angaben des polnischen Außenministeriums hat das Nachbarland im Zeitraum von Juni 2020 bis Ende Juli 2021 zudem 178.711 Visa an Personen aus Belarus erteilt, darunter mehr als 20.000 „Poland.Business Harbour“-Visa, etwa für Programmierer und Unternehmer im IT-Bereich.
Das EU-Land mit der zweithöchsten Zahl von Asylanträgen aus Belarus ist Litauen: Dort beantragten 235 belarusische Bürger Asyl – von Anfang 2019 bis zum Beginn der Proteste waren es dagegen nur 35. Nach den Zahlen der litauischen Migrationsbehörde hat das Land von September 2020 bis November 2021 zudem 26.200 nationale Visa an belarusische Bürger ausgestellt.
Die Politisierung der Diaspora nach den Protesten in Belarus
Nach dem Ausbruch der Krise hat sich die belarusische Diaspora innerhalb weniger Monate weltweit zu einer ernstzunehmenden Kraft mit politischem Einfluss entwickelt. Ihre Aktivitäten sind jetzt eng mit neuen politischen Kräften verknüpft, etwa dem Koordinationsrat von Belarus, dem Büro der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja und dem NAM (Nationales Antikrisen-Management).
Der Koordinationsrat von Belarus wurde im August 2020 von Zichanouskaja im litauischen Exil ins Leben gerufen, um auf eine friedliche Machtübergabe hinzuarbeiten und die Krise im Land zu überwinden. Er versteht sich als das ausschließliche Repräsentativorgan der demokratischen belarusischen Gesellschaft. Die Arbeitsgruppen des Rats befassen sich unter anderem damit, Bildungsinitiativen zu entwickeln, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und über Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen zu informieren, die ihren Arbeitsplatz verloren haben.
Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja ist eine separate Einrichtung. Es besteht aus ihr selbst, acht Beratern für nationale und internationale Angelegenheiten sowie Kommunikationsmitarbeitern.
Die von Pawel Latuschka im Oktober 2020 gegründete Organisation NAM (Nationales Antikrisen-Management) in Warschau arbeitet mit dem Koordinationsrat und Zichanouskajas Büro zusammen. Zudem gibt es zahlreiche Initiativen, darunter ByPol, das von ehemaligen Sicherheitskräften gegründet wurde, und BySol für Sportler, ein Projekt von Sportfunktionären und Athleten.
Die belarusische Diaspora hat viele Anstrengungen unternommen, um sich weltweit zu vernetzen und sich in das Ringen um ein künftiges Belarus einzubringen. Ein Beispiel dafür ist die neu gegründete Organisation Association of Belarusians in America (ABA), die Repräsentanten belarusischer Communitys aus 25 Städten in 18 US-Staaten verbindet. Das Büro von Swjatlana Zichanouskaja organisierte im September 2021 eine Konferenz der Belarusen der Welt in Vilnius und brachte Vertreter belarusischer Communitys aus über 27 Ländern und 40 Organisationen zusammen.
Durch die Repressionen sind die Proteste 2021 abgeebbt. Infolge der brutalen Unterdrückung durch die belarusische Regierung und mit der Rückendeckung durch Russland bestand kaum noch Aussicht, etwas zu erreichen. Gleichwohl ist zu erwarten, dass die neu erstarkte und vereinte Diaspora sowie die organisierten demokratischen Kräfte von außen weiter und stärker als vor dem Krisenjahr 2020 eine demokratische Zukunft für Belarus einfordern und denjenigen helfen werden, die unter den Repressionen des Lukaschenka-Regimes leiden.
ANMERKUNG DER REDAKTION:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Der belarussische Lyriker und Philosoph Ihar Babkou, geboren 1964 in der belarussischen Stadt Homel im Südosten des Landes, ist einer der prägendsten Denker und Intellektuellen der jüngeren Ideen- und Geistesgeschichte seiner Heimat. Für seine Lyrik und Essays wurde Babkou vielfach ausgezeichnet. Er hat sich eingehend beschäftigt mit der Bedeutung des belarussischen Kulturraums als europäischer Grenzregion und als Raum, der zwischen oder am Rande von Imperien lag und liegt. Dabei geht es ihm immer wieder um die Bedeutung für die Ausformung einer nationalen Identität und kulturellen Selbstverortung. Vor dem Hintergrund des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt, erörtert Babkou für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft in seinem Essay die ideengeschichtliche Einordnung dieser Zeitenwende, die Europa erschüttert. Es gehe vor allem um die Verteidigung der Diversität, schreibt er. Es sei „ein Krieg für die Diversität. Ein Krieg zwischen Kunderas Mitteleuropa und Osteuropa“.
Es existiert die Ansicht, dass die Philosophie die Dinge komplizierter macht, als sie wirklich sind. Aber auch so etwas gibt es: Die Dinge an sich sind uns unbekannt, und die Philosophie zeigt sie komplizierter, als sie dem gewöhnlichen Menschen erscheinen.
Es gibt jedoch Kontexte, in denen möchte man klar und deutlich sein. Daher beginne ich mit Definitionen.
Wenn wir über die „Russische Welt“ sprechen, meinen wir eine bestimmte ideologische Doktrin und die ihr entsprechenden Praktiken des russischen Staates, die bereits seit einigen Jahrzehnten in latenter Form im politischen und kulturellen Bereich präsent sind, aber erst 2014/2015 vollständig zum Vorschein gekommen sind. Üblicherweise setzen wir diese neue „Russische Welt“ in Anführungszeichen und markieren damit die Abgrenzung zur ideologischen Bedeutung des Begriffs in der Zeit davor, in der er die „kulturelle und wirtschaftliche Unterstützung der Russen im Ausland“ bezeichnete, ebenso wie die allgemeine Bedeutung dieser Wortgruppe, die tatsächlich alles Mögliche heißen kann (darunter auch die schöne Utopie der russischen Kultur jenseits von Barrieren, Grenzen und Mächten).
Die heutige „Russische Welt“ umfasst Praktiken des brutalen und aggressiven Neoimperialismus, die vor allem gegen die direkten Nachbarstaaten gerichtet sind. Sie trägt aber auch eine allgemeine „geopolitische“ Vision von der ganzen Welt in sich. Die Vorstellung von einer Zukunft der Menschheit, in der starke Herrscher effektiv und straffrei Ressourcen und Territorien unter sich aufteilen. Die wichtigste konzeptionelle Emotion, die der „Russischen Welt“ zugrunde liegt, ist die postkoloniale Haltung eines Beleidigten, die an die Oberfläche tritt als ein „Warum mag man Russland nicht“, „Warum werden Russlands Interessen nicht berücksichtigt“ und „Warum haben sie Russland vergessen“. Daher sind die Kriege an der Peripherie und die Destabilisierungsversuche der globalen Ordnung nur als Instrumente von Bedeutung, um Russlands Eintritt in die schöne neue Welt zu ebnen, in der es auch „Rechte haben“ wird. Recht auf Krieg. Auf Lügen. Auf Mord und Inhaftierung kritischer Stimmen. Auf zynisches Ignorieren der öffentlichen Meinung. Auf eine Welt, in der mit Russland „gerechnet werden“ muss.
Diese postkoloniale Kränkung reift schon seit Längerem heran. Entsprechende Symptome findet man seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Doch der Übergang zur brutalen und aggressiven Phase geschah so abrupt und unerwartet, dass es ein wirklicher Schock für Intellektuelle war – sowohl in Russland als auch in Europa. Selbst heute kann ich nicht eine richtungsweisende Arbeit nennen, ob nun auf Deutsch oder Französisch, die über den Versuch der situativen Beschreibung der Ereignisse und Schuldzuweisungen hinausgeht und hinter dem ideologischen Konzept eine bestimmte Denkweise erkennt und ihre Funktionsweise versteht.
Beschreibt doch bitte Grundlagen und Konzepte und stellt dann endlich die Frage nach der neuen Epoche, in die wir aus unseren fröhlichen Postmodernismen und bedeutend weniger fröhlichen Postkommunismen nun hineingeraten sind.
Einen Text, der die Praktiken imperialen Denkens kritisch reflektiert oder gar dekonstruiert, anstatt nur Risiken und Folgen zu kalkulieren. Das Imperium findet zuallererst im Geiste, in den Köpfen und Texten statt, erst danach beginnt es sein Wirken in der politischen und wirtschaftlichen Realität. Das Imperium, das sind nicht nur Armee, Geheimdienste und Kolonialverwaltung. Es sind auch Werte, Emotionen und kulturelle Codes. Ein Weltbild, das als universell aufgedrückt wird.
Noch bedeutsamer ist, dass in der aktuellen intellektuellen Sphäre Europas nicht nur reflektierende Texte fehlen. Es fehlt auch der Ort, von dem eine solche Reflexion ausgehen könnte. Und eine Sprache, in der diese kritische Reflexion stattfinden könnte.
Es mutet seltsam an, denn im gesamten 20. Jahrhundert war in Europa eine Überproduktion kritischer Theorie zu beobachten. Heute verstehen wir jedoch auch ohne weitere Argumente: die Hegemonie der Neomarxisten, die Frankfurter, die Baudrillardschen Simulacren, selbst Sloterdijks zynische Vernunft und Žižeks Glanznummern zu Lacan, sie alle sind nicht in der Lage, die neue Realität zu beschreiben, die der russisch-ukrainische Krieg und die belarussische Revolution freigelegt haben.
Und nun sind wir bereit, die Wahrheit auszusprechen: Wir verstehen nicht, was mit uns geschieht, welche Epoche wir betreten haben.
***
Hier entsteht die Verlockung zu sagen: Einer der Denkorte, von dem aus die Zukunft sichtbar wird, ist heute die osteuropäische Grenzregion.
Und die Sprache, in der man konzeptuell über die neue Epoche sprechen kann, kann die Sprache der belarussischen und ukrainischen (postkolonialen) Theorie sein, ihre formalisierende und konzeptualisierende Erfahrung in der Konfrontation mit dem Imperium. Das Überleben dieser Kollision. Die Verteidigung der eigenen Subjektivität und Andersartigkeit.
Denn gerade das ist das Erstaunlichste: Ungeachtet zweier Jahrhunderte permanenter Arbeit des Imperiums ist die osteuropäische Grenzregion nicht nur nicht verschwunden, nicht im Schmelztiegel des Imperiums und der sowjetischen Nation aufgegangen, sondern hat sogar ihre paradigmatische Andersartigkeit gestärkt.
So zeichnet sie sich heute weniger durch Regionalität, sondern als wirkliches Alternativkonzept zur „Russischen Welt“ aus.
In einem klassischen Text über die Tragödie Mitteleuropas stellte Milan Kundera das Paradigma der „maximalen Vielfalt auf geringstem Raum“, das er das mitteleuropäische nannte, dem Paradigma der „geringsten Vielfalt auf größtmöglichem Raum“ gegenüber, das er auf die damalige UdSSR bezog.
Wir könnten also sagen, dass das osteuropäische Grenzgebiet nicht nur für die Verteidigung der Ukraine bestimmt ist. Oder für die Unterstützung der belarussischen Revolution. Es geht vor allem um die Verteidigung der Diversität. Um einen Krieg für die Diversität. Einen Krieg zwischen Kunderas Mitteleuropa und Osteuropa.
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In Belarus hat die kritische Dekonstruktion des östlichen Nachbarn eine lange intellektuelle Tradition, chiffriert in grundlegenden Mythen der Identität, sie beginnt letztlich mit dem belarussischen Projekt an sich. Letzteres ist nicht einfach ein Standardprojekt des Nation Building mit zentralem Fokus auf dem sozialen Aspekt (soziale Befreiung des belarussischen Dorfes), sondern auch ein explizit antikoloniales Projekt (diese Befreiung ist nicht möglich ohne die Strukturen des imperialen Jochs zu demontieren).
Begonnen bei Adam Mickiewicz, der als erster in der hiesigen Tradition das Imperium kritisiert (vor allem in der Ahnenfeier (Dziady), aber auch in den Büchern des polnischen Volkes und seiner Publizistik der 1830er Jahre), später Janka Kupala, dessen Tuteischyja (Die Hiesigen) ein klassisches Beispiel für Literatur ist, die ein koloniales Trauma bearbeitet, Ihnat Abdsiralowitsch und Uladsimir Samojla, die eine entsprechende Metaphysik der belarussischen anti- und postkolonialen Handlungsmacht erarbeitet haben, bis hin zu Sjanon Pasnjaks klassischem Text Über den russischen Imperialismus und seine Gefahren und eine ganze Reihe postkolonialer Analytik vom Ende der 1990er Jahre, – die belarussischen Intellektuellen stellen wieder und wieder die passenden Fragen und geben immer neue Antworten.
Hin und wieder glaubt man schon, dass es davon zu viel in der Kultur gäbe. Dass die zentrale Aufgabe sei, „das Imperium zu vergessen“, endlich zur Normalität überzugehen und zu erinnern, dass wir „alle gemeinsam zu den Sternen fliegen“.
Doch jedes Mal, wenn die Intellektuellen sich an die Umsetzung dieser Aufgabe machen, wendet sich die Geschichte erneut, und wie am Murmeltiertag wachen wir auf, im Bett mit dem Imperium, erinnern uns qualvoll an den Vortag und versuchen zu begreifen, wie all das noch enden wird.
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Vorreiter bei der Adaption der westlichen postkolonialen Theorie für die osteuropäische Grenzregion war die ukrainische Diaspora. Der Australier Marko Pavlyshyn, die Amerikanerin Oksana Grabowicz und andere verfassten zu Beginn der 1990er Jahre erste Texte, in denen sie aufzeigten, dass Frantz Fanon, Edward Said und sogar Homi K. Bhabha, dass all das auch um uns geht. Die Entstehung einer ukrainischen Theorie verdanken wir zwei Kiewer Intellektuellen: Oksana Sabuschko und Mykola Rjabtschuk. Sie waren es, die die postkolonialen Studien aus dem akademischen Ghetto befreit und in eine Logik und Strategie für die Kultur verwandelt haben, in eine Kulturpolitik. Konzeptuell war die Ukraine seit dem Ende der 1990er Jahre bereit für die Situation „nach dem Imperium“.
In der russischen Intellektuellenszene ist die Situation weniger erfreulich. Nur drei Beispiele möchte ich anführen.
2006 erschien in Moskau die russische Übersetzung von Edward Saids Orientalismus in einem Verlag namens Russkij Mir (dt. Russische Welt). Im Vorwort wurde darauf hingewiesen, dass Said Palästinenser sei, den Westen kritisiert und daher, wenn nicht Verbündeter, so doch sicher „Weggefährte“ unseres Imperiums sei. Unerwähnt blieb an dieser Stelle jedoch, dass Saids Buch die Entstehung eines der stärksten und effektvollsten Diskurse befördert hatte, in dem das Imperium (alle Imperien) kritisiert und dekonstruiert wird.
Im selben Jahr, 2006, inszenierte das Bolschoi Dramatitscheski Teatr (BDT) in Sankt Petersburg das Stück Translations von Brian Friel. Der Autor der russischen Version, Michail Stronin, gab dem Stück den Titel Nushen perewod (dt. etwa Es braucht (eine) Übersetzung). Friels Stück wird an Universitäten schon lange als Klassiker postkolonialer Literatur behandelt. Es zeigt, wie die imperiale Macht gewaltsam den Raum überschreibt, indem sie nicht nur die Geografie und kulturelle Tradition zerbricht, sondern auch die Lebenswelten der Bewohner. Insofern kann seine Botschaft nicht unpassender verstanden werden als mit „Perewod nushen“.
Und das letzte Beispiel: 2011 erschien in Cambridge Alexander Etkinds Buch Internal Colonization: Russia’s Imperial Experience, in dem der Autor anstrebt, den intellektuellen Apparat der postkolonialen Studien an die intellektuelle Geschichte des Russischen Imperiums anzupassen. Ich sage es gleich: Bei aller Sympathie für den Autor und die Verdienste des Buches an anderen Stellen – sein postkolonialer Teil ist ein komplettes Fiasko. Der Autor steigt direkt mit der kolonialen Annahme ein, „ganz Russland kolonisiere sich selbst“, wodurch er nicht nur andere konzeptuelle Perspektiven marginalisiert und verdrängt, sondern auch alle Völker und Gebiete, die das „Glück“ hatten, sich innerhalb Russlands zu befinden.
Diese drei Geschichten sind bezeichnend für das Verständnis der russischen intellektuellen Szene der letzten Dekaden. In meinen Augen sind sie Teile einer Kette, zeigen ein und dieselbe kulturelle Logik und denselben Denktypus.
Und alle drei Geschichten zeugen von Nichtbegegnung. Nicht nur mit Said, Friel und den akademischen postkolonialen Studien. Sondern vor allem den nächsten Nachbarn – Belarus und der Ukraine.
2. Fische und Menschen
„Ich bin kein Fisch, ich bin Ichthyologe“, sagte der Redner.
Das war ein Scherz unter Profis. Wir saßen in einer geschlossenen Zoom-Konferenz, einem Seminar, und diskutierten einen Vortrag über die belarussische Revolution. Er war relativ kurz. Die erste halbe Stunde zur Kultursoziologie (um die Instrumente festzulegen). Danach zehn Minuten über den August 2020 (um den Kontext herzustellen). Zum Schluss wurde es konzeptuell: Es war eine Revolution des Visuellen. Sie hatte keinen sozialen oder politischen Inhalt außer der eigenen phänomenalen Performativität. Das Volk zeigte sich einfach selbst. Trat auf die Bühne der Geschichte. Spazierte durch ihre Straßen und Gassen.
Mir verschlug es die Sprache. Dann folgte ein Anflug von Hysterie. Nicht nur, weil das alles der Wahrheit entsprach – genauso hatten wir es gemacht. Sondern auch, weil dies eine These war, die ein guter Ausgangspunkt für weitere Überlegungen gewesen wäre. Für Fragestellungen. Aber der Redner beendete damit seinen Vortrag und seine weiterführenden Gedanken galten lediglich den Veröffentlichungsmöglichkeiten seiner Erkenntnisse.
Zweifel konnte es ohnehin nicht geben. Der Redner war ja ein Ichthyologe.
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Für die hiesigen Ichthyologen brach eine wunderbare Zeit an. Und sie hatten sie verdient. Jahrzehntelang hatten sie weder Aufmerksamkeit noch Wertschätzung erfahren. Die letzte Diktatur, die entnationalisierte Nation. Seltsam, dass ihr überhaupt noch lebt. Dann kam 2020 und rückte alles wieder an seinen Platz.
Jetzt konnten sie Vorträge und Mitteilungen schreiben, Konferenzen organisieren, Sammelbände herausgeben. Die Revolution wurde zum Modethema. Vorher war sie offensichtlich vorbei, zu Ende, ein totes Objekt. Man konnte Monographien schreiben, ohne zu befürchten, dass das Finale die Erkenntnisse in Frage stellen wird.
Mit den Fischen war es schon schwieriger. Wir fühlten uns gar nicht so optimistisch.
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Vor unseren Augen zerfielen alle Versuche zu verstehen, was mit uns passiert. Wir hatten das Seminar von Anfang an geleitet und hatten alle Stadien durchlaufen. Von Euphorie und Erhabenheit der ersten Treffen, über den Willen zum Wissen während der Kulmination, bis zur Sorge und Depression während der Pogrome.
Am Anfang standen Ideen und Muster für jeden, es schien, als stünden wir kurz vor dem Durchbruch. Dann begannen die exklusiven Spiele. Alle wollten ihr Stück von der Ruhmestorte abbeißen.
Die Feministinnen schrieben, es sei eine weibliche Revolution. Und verließen das Land.
Die progressiven Liberalen schrieben, das sei ihre Revolution, sie habe alle befreit und nun seien alle frei. Die Konservativen waren misstrauischer. Sie bezweifelten zwar den Heldenmut des Volkes nicht, doch die Anführer und deren Richtung passten ihnen nicht. Und so schwankten sie: Mal lobten sie das Volk, mal schimpften sie auf die „zufälligen Anführer“.
Das Tragikomische an der Situation war, dass alle recht hatten. Die Feministinnen, die Progressiven, die Konservativen, selbst die Poeten. Die Revolution gab allen mehr als möglich. Aber nur für eine gewisse Zeit.
Diese Zeit ist nun offensichtlich vorbei. Und das war furchtbar. Dass die Dinge, die auf der Bühne der Revolution wie Gold und Glitter aussahen, im Licht der neuen Epoche nur Tand und Blendwerk sind.
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Das alles kulminierte, und sank dann sanft wieder ab in den Bereich des Gewöhnlichen, Alltäglichen. Alles kehrte an seinen Platz zurück. Man konnte sich umschauen und Bilanzen ziehen. Es war kein Anblick für schwache Nerven.
Wir waren am Boden. Über den Asphalt malmten russische Panzer. Es war unklar, ob die Okkupation lange dauern würde oder ob es noch eine Chance gab.
Die exklusiven Spiele kamen zur Ruhe. Niemand schrieb mehr, dass „wir“ das waren. Wirklich. In den Gefängnissen saßen über tausend Häftlinge. Die eine Hälfte des Landes hasste die andere Hälfte aufrichtig. Von Emotionen überwältigte Journalisten schrieben vom Krieg.
Wie sind wir dahingekommen? Nach den Rosen und Umarmungen, den Teepartys in den Innenhöfen und den süßen Träumen vom Sieg. Und noch eins. Eine Frage, die wir uns kaum zu flüstern trauten.
Wer übernimmt die Verantwortung für all das?
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Der Fischwitz ist gut, schrieb ich in den Chat. Nur bin ich kein Ichthyologe. Ich bin ein Fisch. Und es scheint höchste Zeit zu sein, sich in die Tiefe zu verdrücken.
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Noch gestern erinnerte Minsk an das Paris der Zwischenkriegszeit: Cafés eröffneten und schlossen wieder, Bücher und Performances sprudelten förmlich, IT-Leute halfen Katzen und Hunden, die Mittelklasse kaufte Wohneigentum und reiste durch die Welt.
Wie und warum ist all das verschwunden?
Wie und warum konnte eine Macht, die schon fast gewonnen, alle Formen des Widerstands in sich vereint hatte, plötzlich das eigene Projekt zerstören und mutigen Schrittes in den Selbstmord gehen und nebenbei noch alle ins Giorgio-Agamben-Konzentrationslager schicken?
Das liegt alles an ihm, sagt A. Dem Chef der Gazprombank. Man muss ein völliger Idiot sein, um zu glauben, dass er wirklich gewinnen wollte. Von der Revolution ganz zu schweigen. Bestenfalls, wenn wir optimistisch sind, hätte er zehn Prozent geholt und einen Sitz im Parlament. Mit weißen Bändern und Russlands Unterstützung.
Das Schlimmste wäre, wenn es ihm gelungen wäre. Dann hätten wir nicht mehr zwei Seiten im Land, wie jetzt, sondern nur noch eine. Die Gefängnisse wären auch voll, aber dort würden „eure ganzen Nationalisten“ sitzen.
Das ist alles Verschwörungstheorie, sagt B. Das kann nicht sein.
Ja, Verschwörung, stimmt A. zu. Aber das kommt vor.
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Der Postkommunismus ist halt vorbei, sagt C.
Jahrzehntelang Katastrophen und Enttäuschungen, die wir mit Süßigkeiten kompensiert haben. Fast dreißig Jahre haben sie uns angefüttert. Emotionen, Erwartungen. Noch ein bisschen, dann siegen wir. Die Macht wird unsere sein.
All das war verlockend. Wenngleich von Beginn an klar war: Dieses „wir“, das siegen wird, gibt es nicht. Und die Macht wird niemals „unsere“ sein. Sobald „Unsere“ dahingelangen, passiert etwas Seltsames mit ihnen, das sie sofort zu „Nicht Unsrigen“ macht.
Es begann mit dem Gefühl der Freude. Die Zukunft ist ganz nah, bei unseren Nachbarn ist sie schon angelangt. Man musste nur die Hausaufgaben gut machen. So sein wie alle.
Dann schreiben die Historiker, dass die Mittelklasse im Westen seit 1972 im Niedergang begriffen sei. Dass hinter den Fassaden Ungleichheit und Ungerechtigkeit herrscht. Dass alles modert. Und seit 2008/09 bröckelt es in aller Öffentlichkeit. Dass Osteuropa sich zu früh gefreut hat, als es mit der altersschwachen Barkasse den Luxusliner erreichte, auf dessen Oberdeck ein Orchester spielt. Denn das sei die Titanic.
Das Böse erkennt man nur mit dem Mikroskop, sagt C., das ist die Hauptsache. Das ist die wichtigste Erkenntnis, für uns und die ganze Welt. Plötzlich veränderten sich die Dioptrien und alle konnten es in seiner ganzen Widerwärtigkeit sehen: Auf der Welt herrscht das Böse.
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Die Zukunft eröffnet sich nicht, weil jemand sie sich ausgedacht hat. Sondern weil es diesen Ort in der menschlichen Seele gibt. Und er unversehens reagiert. Auf das Gute. Auf die Freude.
Was auch immer die Ichthyologen schreiben, ich kenne das Geheimnis der belarussischen Revolution. Doch davon spricht man nicht einmal im Flüsterton. Denn ausgesprochene Worte verändern sofort ihre Bedeutung. Und Geschriebenes trifft es erst recht nicht. Und dennoch.
Es war ein Aufstand der Fische. Die Revolution der Antipolitik.
Kein Sturm, keine Machtübernahme. Sondern ein erfolgreicher Auszug aus der Festung. Eine Flucht in die Zukunft.
Die Vergangenheit ist immer ein soziales Projekt. Eine kollektive Erinnerung, leicht zu manipulieren. Mit der Zukunft ist es komplizierter. Die Zukunft ist eine Hoffnung. Eine Bestrebung. Und vielleicht ein Glaube.
Die Zukunft eröffnet sich nicht, weil sie sich jemand ausgedacht hat oder konstruiert hat. Sondern weil es diesen Ort in der menschlichen Seele gibt. Und er unversehens reagiert. Auf das Gute. Auf die Freude.
In diesem Lichte ist das ziellose und sinnlose Durch die Straßen Gehen gar keine so dumme Beschäftigung: Sich die Zukunft zurückholen – das war der wahre Inhalt des revolutionären Laufs.
Wer da hinausgegangen ist, kehrt nicht wieder zurück.
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Nur das hat wirklich Sinn, in jeder Revolution: das Unmögliche zu fordern.
Gemeinsam mit dem Wind auf den Höhen sein, gemeinsam mit der Welle die Mauern abtragen, gemeinsam mit den Wolken die Freiheit üben.
Mit nichts übereinstimmen, losgelöst gehen. Stets aufgeschlossen sein, nie dagegen.
Sich den Naturgewalten nicht entgegenstellen, sondern ihre Stärke nutzen.
Neue Regeln schreiben, um mit Vernunft zu leiten.
Geopolitik und Post-Wahrheit verbieten.
Journalisten einen Pflichtkurs in Mediation verpassen, wenn sie mit Emotionen handeln.
Im Grundschulunterricht immer wiederholen:
Wir sind keine Ichthyologen. Wir sind Fische.
3. Untergegangen
– Herr Präsident, was ist mit Russland geschehen? – Es ist untergegangen.
Seit Alexander Lukaschenko das Territorium von Belarus als Aufmarschgebiet für den Krieg Russlands gegen die Ukrainer zur Verfügung gestellt hat, toben auch in den sozialen Medien scharfe Auseinandersetzungen. Von der ukrainischen Seite wird den Belarussen vorgeworfen, sie müssten kollektive Verantwortung für diesen Krieg übernehmen. Die Anfeindungen zeigen mitunter, dass das Wissen bei den Nachbarländern über die jeweiligen politischen Systeme nicht sonderlich ausgeprägt ist. Der litauische Politologe Vitis Jurkonis beispielsweise sagt: „Man muss das Regime in Belarus und sein Volk auseinander halten.“ Denn es waren Belarussen, die sich bereits früh ab Ende 2013 den Maidan-Protesten in der Ukraine angeschlossen haben und auch teilweise in den Krieg in der Ostukraine gezogen sind. Auch aktuell gibt es Freiwillige, die sich für den Einsatz in der Ukraine melden, sowie zahlreiche Solidaritätsaktionen, die Belarussen für die Ukraine organisieren. Nach den Protesten im Jahr 2020 sind mehr als 100.000 Belarussen vor den Repressionen in ihrem Land in die Ukraine geflohen. Nun müssen sie wieder fliehen.
Der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič wendet sich in einem offenen Brief, der auf der Webseite der ukrainischen Zeitschrift Ukrajinsky Tyshden (dt. Die Ukrainische Woche) veröffentlicht wurde, an die Ukrainer. Darin erklärt er nicht nur seinen persönlichen Schmerz über den und seine persönliche Schuld an dem Krieg, sondern auch die seiner Landsleute, dazu die zahlreichen Beziehungen, die sich zwischen Ukrainern und Belarussen entwickelt haben und die Bedeutung der Proteste in Belarus. Er wendet sich gegen den Vorwurf, dass seine Heimat nun grundsätzlich als „Fleck der Schande“ angesehen werden soll.
Liebe Ukrainerinnen und Ukrainer! Meine Helden, meine Freunde. Ihr Menschen, um die es uns allen heute weh ist.
Ich will nicht, dass dieser Text als Beschönigung oder Entschuldigung gelesen wird. Für Entschuldigungen ist es schon zu spät – und es hat auch keinen Sinn. Die Kriegsmaschinerie läuft, der Tod kommt gleichzeitig aus mehreren Richtungen, darunter auch vom Staatsgebiet meiner Heimat, und mit Entschuldigungen hält man sie nicht auf. Ich will auch nicht, dass mein Text als Buße verstanden wird. Buße tun sollen die, die Blut an ihren Händen haben. Ihr seid im Krieg, Ihr verteidigt euer Land – und wir sind nicht in der Kirche. Wir alle stehen vor dem Gericht der Geschichte, auf unterschiedlichen Seiten einer Zivilisationsgrenze, die nicht wir gezogen haben. In hässlichen Tagen, vor allem für die Ukraine, aber auch für ganz Europa, das in der Falle seines Strebens nach „Frieden um jeden Preis“ gefangen ist. Das ist das Europa, an das ich noch glaube und auf das ich hoffe. Dessen Hoffnung Ihr jetzt seid. Ich will so sehr, dass Ihr diesen Text bis zum Ende lest. Danach könnt ihr uns Belarussen hassen, ihr könnt uns verachten – oder doch nachdenken, wer euer Gegner ist, ob mein Belarus wirklich euer Gegner ist.
„Wir Belarussen sind friedliche Menschen …“ So beginnt die Nationalhymne der Republik Belarus. Die Musik stammt noch aus sowjetischen Zeiten, nur der Text ist neu. Irgendwann klang an dieser Stelle ein sklavisches: „Wir Belarussen, verbrüdert mit Russland …“ Aber weder die alte noch die neue Hymne hat mein wahres Belarus anerkannt. Diese Hymne ist für uns ebenso Symbol der Diktatur wie die rot-grüne Fahne und das sowjetische Wappen. Doch das interessiert die Welt bereits nicht mehr. „Wir Belarussen sind friedliche Menschen …“ Lange Zeit befriedigte diese Formel alle Seiten. Sowohl die staatliche Propaganda als auch die Gegner des Regimes verwendeten sie gern. Wir sind friedliche Menschen. Das war eine Erklärung, der alle gern zustimmten, ob nun Machthaber oder Opposition.
Belarus ist jetzt der Aggressor und reiht sich damit in die Liste der finstersten Länder der Weltgeschichte
Jetzt ist es eine Lüge. Die schöne alte Erzählung von den friedliebenden Menschen und ihren guten Nachbarn wurde von einem Augenblick zum anderen zum heuchlerischen und blutigen Lügenmärchen. Zusammen mit dem „verbrüderten Russland“ ist Belarus zum Aufmarschgelände für den Angriff auf die Ukraine geworden. Belarus ist jetzt der Aggressor und reiht sich damit in die Liste der finstersten Länder der Weltgeschichte. Das Bild vom „friedlichen Menschen“ ist im Nu zerstoben – für immer. Auch das Bild, das uns als Opfer zeigt, die jahrhundertelang unterdrückt und vernichtet wurden, aber überlebten und dafür respektiert werden sollten. Lukaschenka hat Belarus und sein Volk endlich in die letzte Sackgasse geführt, aus der nun alle herausklettern müssen, auch die, die sich „für Politik nie interessiert haben“. Niemand kann es aussitzen und wegschweigen. Niemand wird mehr sagen können: „Ich bin ein kleiner Mensch, ich habe damit nichts zu tun“. Aber das Entsetzlichste ist: Für diese hässliche Rolle, die Belarus jetzt spielt, werden auch die nächsten Generationen zahlen. Beim Wort „Belarus“ werden im Bewusstsein der Welt noch sehr lange die Bilder des Krieges auftauchen: die Bilder jenes Krieges, in dem Belarus zum ersten Mal in seiner Geschichte nicht Opfer oder Verteidiger ist, sondern der getreue Handlanger von Putins Faschismus.
Noch vor Kurzem waren wir so stolz, dass wir in den Augen der Welt endlich ein schönes, starkes Antlitz haben: das Bild der mutigen Frauen und Männer, die 2020 ohne Waffen, nur mit ihrem Freiheitswillen und Protestworten auf die Straßen gingen und sich gegen die bis zu den Zähnen bewaffneten Militäreinheiten stellten, die sich selbst als „Miliz“ und „Armee“ bezeichneten. Jetzt ist dieses Bild durchgestrichen und verschmiert. So überpinselt man in meiner Heimatstadt Minsk bis heute die Revolutionsgraffitis. Doch jetzt wird es mit ukrainischem Blut verschmiert – von Menschen, die sich – wie auch ich – Belarussen nennen. Aber wir, die wir von einem anderen Belarus träumen und seit Jahren versuchen, diese Träume wahrzumachen – wir fühlen uns stärker mit Euch Ukrainern verbunden als mit unseren Generälen und Soldaten, die in Euer Land einmarschieren. Deshalb bin ich, der belarussische Schriftsteller Bacharevič, bereit, meinen Teil der belarussischen Verantwortung auf mich zu nehmen. Ich bin bereit, die belarussische Schuld und die belarussische Schande auf mich zu nehmen, wie es seinerzeit während des Zweiten Weltkriegs auch die deutschen Literaten in der Emigration taten. Das ist eine der Aufgaben der Literatur heute. Schuld und Schande anzuerkennen.
Aber ich bin dagegen, dass mein Belarus heute ausschließlich ein Fleck der Schande und des Hasses für die Welt sein soll.
Ihr, die Ukrainer, verteidigt Euer Land. Eure Armee, eure Territorialverteidigung, jeder Ukrainer und jede Ukrainerin widersetzen sich dem Aggressor. Euer Krieg ist ein Verteidigungskrieg, ein Krieg für die Freiheit. Ihr seid schon einen so langen Weg zur Freiheit gegangen, dass Putins Imperium Euch nie wieder in sein Gefängnis zurückholen kann. Die Ukraine hat sich für immer verändert.
2020 haben wir, die Belarussen, uns davon überzeugt, dass wir keine belarussische Armee haben. Die Einheiten, die uns verteidigen sollten, führten Krieg gegen unbewaffnete Menschen. Die Belarussen haben gesehen, wie die, die dem Volk ihre Treue geschworen hatten, dieses Volk ohne mit der Wimper zu zucken verrieten, wie sie aktiv an Massenrepressionen gegen die eigenen Mitbürger teilnahmen. Seitdem hält niemand im Land die belarussische Armee mehr für wirklich belarussisch. Belarus hat keine Armee. Es hat nur Lukaschenkas Generäle, die von Putins Medaillen träumen. Es hat diejenigen, die deren verbrecherische Befehle ausführen. Und es hat Menschen – die jetzt als Kanonenfutter in einem verbrecherischen Krieg benutzt werden.
Ich glaube an Worte als die letzte Waffe des Menschen
Man sagt mir wieder und wieder, das seien nur Worte. Die Ukraine erwarte von uns Belarussen entschlossenes Handeln. Doch das, was ich kann, sind eben nur Worte. Worte, für die ich mich verantworte. Ich glaube an Worte als die letzte Waffe des Menschen. Ich schreibe euch aus der Emigration – aus dem Europa, in dem noch Frieden herrscht, ein sehr wackeliger Frieden. Ich schreibe aus dem Europa, das heute unglaubliche Einigkeit demonstriert, aus dem Europa, das für euch einsteht. Und was die Entschlossenheit angeht: Im Jahr 2020 gingen Hunderttausende Belarussen gegen dieses Regime auf die Straße, das heute die Ukraine überfallen hat. Darunter war ich, waren meine Freunde und Kollegen. Zehntausende wurden in Gefängnisse gesteckt, wo sie gefoltert wurden und weiterhin gefoltert werden. Zehntausende emigrierten. Und Tausende, die in der Heimat geblieben sind, führen den Widerstand im Untergrund fort.
Dort, in der Heimat, ist alles vernichtet. Selbst das kleinste bisschen, das zuvor hartnäckig, der Macht zum Trotz, in den letzten zehn Jahren herangewachsen war. Nicht einmal diese minimale Freiheit, die uns früher kritisches Denken und produktives Schaffen erlaubte, ist geblieben. Es gibt keine freien Informationsplattformen mehr, die die Wahrheit über die Ereignisse in der Ukraine erzählen könnten und helfen könnten, den Krieg mit ukrainischen und belarussischen Augen zu sehen. Sie alle sind blockiert, als „extremistisch“ und „staatswidrig“ abgestempelt, die Journalisten sitzen im Gefängnis oder arbeiten im Ausland. In Belarus herrschen nach dem August 2020 Schmerz und Furcht. Belarus ist eine einzige, große Wunde. Ich weiß nicht, ob es noch Familien gibt, die nicht von den Repressionen betroffen sind. Belarus konnte seit der Zerschlagung der Proteste kaum einatmen, da wurde es schon in einen blutigen Krieg gezogen. Für mich sieht es so aus: Man hebt einen schwer Verletzten auf und beginnt, mit seinem Kopf die Tür des Nachbarn einzuschlagen. Wer trägt die Schuld? Natürlich der Verletzte. Es ist ja sein Kopf.
Damals, 2020, unterstützten uns die UkrainerInnen sehr stark in unserem Kampf. Sie unterstützten uns vor allem mit Worten – und es waren sehr wichtige Worte, die wir nie vergessen werden. Ist es wirklich die Schuld der Belarussen, dass wir die Mauer nicht zerstören konnten? Dass wir Putin unser Land besetzen ließen? Dass wir dem russischen Faschismus erlaubten, unser Land zu benutzen? In historischer Perspektive – ja, vielleicht. Aber wir leben hier und jetzt. Zehntausende Belarussen sind Repressionen ausgesetzt und sitzen im Gefängnis. Und ich werde nie zustimmen, dass sie Hass und Verachtung verdienen. Was sie getan haben, war nicht umsonst. Wenn auch sehr langsam, so ist Belarus doch aus dem süßen Lukaschenkaschlaf erwacht. Geschichte wird nicht an einem Tag gemacht. Die Belarussen, die für Freiheit waren, werden sie vielleicht niemals sehen. Aber bedeutet das wirklich, dass alles, was sie taten, umsonst war?
Ist wirklich alles, was die ukrainischen Medien 2020 über Belarus berichteten, so rasch vergessen worden? Vielleicht schon lange vor dem Krieg? Wenn ich heute lese, was die ukrainischen Medien über das sogenannte Referendum schreiben, das am Sonntag in Belarus abgehalten wurde, traue ich meinen Augen kaum. Diese weitere Farce, von der Diktatur organisiert, um das Land unter totale Kontrolle zu bringen und endgültig Russland auszuliefern, wird als antiukrainische „Willensäußerung des belarussischen Volkes“ dargestellt. Ich verstehe, dass der Informationskrieg in vollem Gang ist. Dass der Hass auf den Feind eine heilige Sache ist. Aber es war keine „Willensäußerung“. Es war nur eine weitere absurde Inszenierung in Lukaschenkas Staatstheater, ein weiterer „eleganter Sieg“, wie Lukaschenka es gern nennt.
Belarus lebt jetzt in einer Situation, die man als Bürgerkrieg unter ausländischer Okkupation beschreiben kann. Belarus ist nicht die Ukraine. In Belarus gibt es keine belarussische Regierung, keine belarussische Armee, keine belarussische Miliz, keine belarussische Politik, keine belarussischen freien Medien. Belarus ist verstümmelt, Belarus ist gespalten, Belarus weiß nicht, was es mit sich selbst anfangen soll, wie es überleben und nicht von der Weltkarte und aus dem Territorium der Moral verschwinden kann. Mein Belarus existiert jetzt als über das Land und darüber hinaus verstreute Widerstandsherde, die nur eine Aufgabe haben: überleben und Kräfte sammeln. Die Hoffnung, dass sie heute in der Lage sein könnten, sich zu vereinen, die Regierung zu stürzen und den Krieg zu beenden, habe ich nicht. Aber diese Widerstandsherde sind die Grundlage des zukünftigen friedlichen Staates, der freien Nachbarin der freien Ukraine. Diese Widerstandsherde unterstützen heute die Ukraine, sie machen für euch alles was in ihrer Macht steht. Ist es wirklich richtig, diese Bemühungen zu ignorieren, wenn sie doch euch gelten – euch, genau wie dem zukünftigen Belarus?
Belarussen leben jetzt in einer Leere – zwischen Licht und Dunkelheit
Irgendwann im Jahre 1968 schrieben die Tschechen über sieben (nur sieben) sowjetische Dissidenten, die auf dem Roten Platz in Moskau gegen die Invasion in der Tschechoslowakei protestierten: Diese sieben Menschen seien sieben Gründe, warum wir Russland nicht hassen können. Nur am Sonntag und am Montag wurden in Belarus etwa eintausend Menschen dafür verhaftet, dass sie gegen den Krieg in der Ukraine protestierten. Und ich wage zu hoffen, dass diese Menschen ebenfalls eintausend Gründe sind, Belarus nicht zu hassen.
Ich will nicht, dass dieser Text wie Weinen oder Jammern wirkt. Als würde ich vor Euch auf die Knie gehen. Wenn ich, wie viele andere Belarussen, meine Honorare an die ukrainische Armee und für humanitäre Hilfe spende, wenn meine Frau und ich Sachen für ukrainische Flüchtlinge bringen – dann bin ich kategorisch dagegen, dass dies als Freikaufen von Schuld verstanden wird. Ich tue das als Gleicher für Gleiche, vor allem als Mensch, aber auch als Belarusse, der helfen will. Wenn meine Frau und ich zu Unterstützungsdemonstrationen für die Ukraine gehen, dann tun wir das nicht, weil wir ein schlechtes Gewissen haben, sondern um Einfluss auf die Politiker im Westen auszuüben, die noch darauf hören, was das Volk ihnen sagt. Wenn ich, ein Emigrant in Graz, diesen Text schreibe, dann tue ich das nicht, um Vergebung zu erhalten, sondern weil ich nicht schweigen kann und will. Als ich meine Bücher schrieb, als ich in meinem Roman Die Hunde Europas vor der Gefahr des Putinschen Imperiums warnte, las die Mehrheit das als Phantasmagorie und Dystopie. Jetzt leben wir alle in dieser Dystopie. Habe ich alles getan, was ich konnte? Diese Frage richtet sich nicht an euch, ich muss sie selbst beantworten. Wie alle Belarussen.
Und doch kann ich nicht ruhig und verständnisvoll zusehen, wie die Ukrainer uns im Netz immer öfter schreiben: „Ihr, Belarussen, liebt doch euren Putin!“ Sie schreiben es nicht den chronischen Putinoiden, sondern den Belarussen, die jahrelang gegen Putins Faschismus gekämpft haben und Belarus nicht zu Europas Schande werden ließen. Ich kann nicht ohne Entsetzen lesen, dass man den Belarussen, die ukrainischen Flüchtlingen helfen, die Autoscheiben zerschlägt – nur, weil das Auto ein belarussisches Kennzeichen hat. Ich kann nicht ertragen, wenn jemand Menschen, die durch Lukaschenkas Repressalien gegangen sind, schreibt: „Ihr Schweinehunde, küsst euren Lukaschenka.“ Ich kann nicht sehen, wie die Belarussen, die in der Ukraine eine Zuflucht vor dem Regime gefunden haben, heute aus ihren Häuser gejagt werden. À la guerre comme à la guerre … Aber was gibt euch dieser Hass? Wenn Ihr überzeugt seid, dass der Hass euch hilft, die Besatzer zu besiegen, werden wir ihn schweigend ertragen. Wir werden euch unterstützen auch wenn ihr uns hasst. Dieser rückhaltlose Hass auf alles Belarussische bringt euch keinen Freund im feindlichen Land mehr als ihr schon habt. Aber Belarus ist kein feindliches Land. Die Belarussen leben jetzt in einer Leere – zwischen Licht und Dunkelheit. Wir schämen uns, wir fürchten uns, und wir sind beleidigt – aber wir sind auf eurer Seite. Mit Worten, mit Gedanken, mit Taten und auch mit Waffen – denn für Euch kämpfen heute auch Belarussen. Und viele meiner Landsleute können nicht einschlafen, sie lesen Nachrichten und verfluchen die zwei Verrückten, die diesen Krieg entfacht haben: Putin und Lukaschenka.
Wir haben uns nicht ausgesucht, wo wir geboren sind. Genau wie Ihr.
Ein Teil des teuflischen Moskauer Plans ist die Vermehrung des Hasses. Wo immer es geht. Das ist ihre langfristige Aufgabe, mit der sie schon vor langer Zeit begonnen haben. Für den Kreml ist es besonders wichtig, den Hass zwischen seinen Nachbarn zu schüren. Diesen Hass auf ein solches Niveau zu treiben, dass eine Rückkehr zur Normalität in den Beziehungen unmöglich wird. Darauf folgt, nach ihrem Plan, das klassische divide et impera.
Liebe Ukrainerinnen und Ukrainer, wir haben einen gemeinsamen Feind. Er freut sich über jeden Konflikt zwischen uns. Wenn Putin und Lukaschenka sehen, dass der Hass zwischen uns wächst, lächeln sie zufrieden. Das bedeutet, alles geht nach Plan. Wollen wir wirklich, dass sie zufrieden lächeln?
Wir haben einen gemeinsamen Feind. Bitte lasst uns das nicht vergessen.
Wer weiß, vielleicht ist es auch schon zu spät.
Alhierd Bacharevič (* 1975, Minsk/Belarus) ist ein belarussischer Schriftsteller und Dichter. Seine Romane und Essaybände sind ins Deutsche, Englische, Französische, Polnische, Russische und Schottische übersetzt. 2017 erschien das Hauptwerk des Autors: Die Hunde Europas. Das Belarus Free Theater inszenierte den Roman in Minsk und in London. Die Neuauflage des Romans wurde im Frühjahr 2021 von Lukaschenkos Behörden konfisziert und als „extremistisch“ und „staatswidrig“ eingestuft. Bacharevič ist für sein Schreiben in Belarus vielfach ausgezeichnet worden. 2021 wurde er mit dem deutschen Erwin-Piscator-Preis geehrt. Auf Deutsch sind aktuell der Roman Die Elster auf dem Galgen sowie die Essay-Sammlungen Berlin, Paris und das Dorf und Sie haben schon verloren erhältlich. Seit Dezember 2020 lebt Alhierd Bacharevič mit Julia Cimafiejeva mit dem Literaturstipendium Writer in Exile in Graz.
Auf die Proteste des Jahres 2020 folgte eine schwere politische Krise in Belarus, die bis heute anhält. Das politische System um Machthaber Alexander Lukaschenko hat sich zusehends radikalisiert – ein Prozess, der weiter andauert. Die EU und andere Länder der demokratischen Staatenwelt haben den Eskalationskurs mit bisher fünf Sanktionspaketen bestraft. Erstmals wurden auch Wirtschaftssanktionen verhängt, so unter anderem gegen Belaruskali, einen der weltweit größten Hersteller von Kalidüngern.
Lässt sich aktuell schon etwas über die Effektivität dieser Sanktionen sagen? Befindet sich die belarussische Wirtschaft, der man schon häufiger den baldigen Kollaps vorausgesagt hat, in einer Krise? Welche Rolle spielt Russland für die wirtschaftliche Entwicklung in Belarus? In einem Bystro mit neun Fragen und Antworten widmet sich der Wirtschaftsexperte Robert Kirchner den ökonomischen Rahmenbedingungen in Belarus.
1. Seit 20 Jahren heißt es immer mal wieder, die belarussische Wirtschaft stünde kurz vor dem Kollaps. Wie sieht es aktuell mit der Wirtschaftslage aus?
Ich glaube, jeder Belarus-Beobachter kennt diese Einschätzungen, die ich jedoch frei nach Mark Twain für „stark übertrieben“ halte. Lassen wir die Daten sprechen: Belarus ist im vergangenen Jahr um 2,3 Prozent gewachsen, was im internationalen Vergleich eher mager ist, da sich viele Länder nach der Corona-Krise 2020 im Erholungsmodus befanden. Allerdings ist Belarus insofern ein Sonderfall, da 2020 kaum Corona-bedingte Einschränkungen implementiert wurden und das Land dadurch weniger stark wirtschaftlich getroffen wurde. Was nun den Ausblick für dieses Jahr angeht, ist die Lage wesentlich unsicherer. Auch aufgrund der westlichen Handels- und Finanzsanktionen ist eine Verlangsamung des Wachstums in diesem Jahr auf etwa 0,5 Prozent wahrscheinlich, ein Durchschnittswert der Prognosen der wichtigsten Institute. Wenn wir über die aktuelle Lage hinausgehen und uns mal die mittelfristigen Trends anschauen, dann fällt auf, dass Belarus nur noch sehr langsam wächst. Wurden vor der Finanzkrise 2009 teilweise jährliche BIP-Wachstumsraten von mehr als zehn Prozent erzielt, so hat sich das Bild in den letzten zehn Jahren komplett gedreht, als das Wachstum maximal drei Prozent erreichte. Der negative langfristige Trend ist also sehr ausgeprägt.
2. Die Inflation lag 2021 bei fast zehn Prozent, die Renten sind leicht gefallen und Lebensmittelpreise gestiegen. Aus Sicht der Menschen ist das schon ein bemerkbares Absinken des Lebensstandards, oder?
Ich denke, dass die hohe Inflation, die aktuell sogar über zehn Prozent liegt, gegenwärtig das wichtigste Problem für die meisten Menschen in Belarus darstellt. Die hohe Inflation ist allerdings nicht nur auf Belarus beschränkt; auch viele andere Länder verzeichnen aktuell eine hohe Inflationsrate. Im Falle von Belarus muss aber darauf verwiesen werden, dass dies trotz der Anwendung von administrativen Maßnahmen der Preiskontrolle bei verschiedenen Gütern geschieht, die tatsächliche Inflation damit wahrscheinlich sogar noch höher liegt. Auch das Wachstum der Realeinkommen und der Löhne hat sich in der vergangenen Zeit deutlich abgeschwächt – in der Summe also eine große wirtschaftliche und soziale Herausforderung für die Bevölkerung. Aufgrund der angespannten finanziellen Situation kann der Staat hier keine großen Mittel aufwenden, ohne die finanzielle Stabilität zu gefährden.
3. Im vergangenen Jahr haben die EU und die USA erstmals Wirtschaftssanktionen beschlossen. Kann man jetzt schon sagen, ob diese überhaupt einen Effekt auf die belarussische Wirtschaft haben?
Hier muss man die Lage sehr differenziert betrachten. Auf den ersten Blick haben sich die Exporte in die EU 2021 sehr dynamisch entwickelt – sie sind in US-Dollar um 74 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen; der Anteil der EU an den gesamten Exporten ist auf 24 Prozent gestiegen. Allerdings war 2020 durch Corona geprägt, und der hohe Anstieg ist vor allem ein Preiseffekt (beispielsweise aufgrund von höheren Energie- und anderen Rohstoffpreisen), die exportierten Mengen haben sich weit weniger stark entwickelt. Aufgrund der Konstruktion der Wirtschaftssanktionen – es gibt ja Ausnahmen für laufende Verträge und für bestimmte Produkte – ist die Abwesenheit spürbarer Folgen in 2021 jedoch nicht weiter überraschend. Ich gehe davon aus, dass sich die negative Auswirkung der Sanktionen vor allem in 2022 bemerkbar machen wird. Hier wird es aber sicher weitere Nachjustierungen und Anpassungen geben, wie etwa die Unterbindung des Düngemitteltransits durch Litauen Ende Januar 2022 zeigt. Die Unsicherheit bleibt damit hoch, was natürlich die Wirtschaft belastet.
4. Wo ist die belarussische Wirtschaft eigentlich am verwundbarsten? Oder anders: Wo liegen die strukturellen Hauptprobleme für die Wirtschaft in Belarus?
Viele große Unternehmen, so etwa in der Industrie, wurden nie privatisiert und sind weiter im staatlichen Besitz. Damit ist Belarus in gewisser Weise ein Sonderfall unter den osteuropäischen Transformationsländern. Denn so fehlt häufig aber auch der Zugang zu Kapital und Know-How, welches beispielsweise von ausländischen Investoren bereitgestellt werden kann. Dies zeigt sich dann in einer niedrigeren Produktivität. Auch der Bankensektor ist durch staatliche Banken dominiert. Das hat zur Folge, dass Kredite häufig nicht nach marktwirtschaftlichen Überlegungen vergeben, sondern staatlich in die gewünschten Bereiche gelenkt werden. Insgesamt ist der Reformbedarf im strukturellen Bereich damit unverändert hoch; es gab in den vergangenen Jahren durchaus Fortschritte bei der Entwicklung des Privatsektors, wie etwa im IT-Sektor, was kleinen und mittleren Unternehmen zu Gute gekommen ist Aber die weitere Entwicklung ist nun sehr unsicher.
5. Gerade der IT-Bereich hat über Jahre einen enormen wirtschaftlichen Beitrag geleistet. Allerdings war auch die IT-Branche von Repressionen betroffen, viele Unternehmen haben das Land verlassen. Wie ist der aktuelle Stand?
Hier besteht weiterhin ein Widerspruch zwischen den offiziellen Wirtschaftsstatistiken und der aktuellen Stimmung beziehungsweise der Wahrnehmung der Lage der Branche. Ich hatte ja bereits auf das BIP-Wachstum im letzten Jahr hingewiesen – der wichtigste Treiber von der Angebotsseite war der IKT-Sektor, der um 9,2 Prozent expandiert ist! In 2021 trug der Sektor damit insgesamt 7,4 Prozent zum BIP bei, nach 7,3 Prozent in 2020 und 6,3 Prozent in 2019. Hier sieht man sehr gut die dynamische Entwicklung dieses primär privaten Sektors, auch wenn sich das starke Wachstum der Vergangenheit etwas abgekühlt hat. Wie sich das weiterentwickeln wird, ist schwer zu prognostizieren. Natürlich sind solche Tätigkeiten sehr mobil und prinzipiell leicht verlegbar. Auch beim steuerlichen und regulatorischen Rahmen ziehen andere Länder nach; die Ukraine hat gerade ihr Diia City-Projekt gestartet. Es bleibt also sehr unsicher, wie sich der Sektor unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen weiter entwickeln wird.
6. Die russische Abhängigkeit ist Fluch und Segen für die Machthaber. Lässt sich die Aussage treffen, dass die belarussische Wirtschaft ohne Russland vor dem Kollaps stünde?
Ich würde nicht den Begriff Kollaps verwenden. Aber die permanente und vielfältige ökonomische und finanzielle Unterstützung durch Russland mit Hilfe von zinsgünstigen und langfristigen Krediten, durch den vergünstigten Bezug von Energieträgern wie Öl und Gas ist sicherlich ein zentraler Faktor für Wirtschaft und Politik in Belarus. Ohne diese Unterstützung würde das aktuelle Wirtschaftsmodell sicher ganz anders aussehen, auch wenn es spekulativ bleibt, in welche Richtung es sich entwickeln würde.
7. China hat in den vergangenen 15 Jahren immens in Belarus investiert. Welche Rolle spielt die Volksrepublik für die belarussische Wirtschaft?
Der wirtschaftliche Einfluss Chinas ist in der Tat langfristig gewachsen. Allerdings sollte hervorgehoben werden, dass für China insbesondere Belarus‘ Lage an der EU-Außengrenze von Interesse ist, und diese Transitfunktion eine wichtige Rolle spielt. So gehen etwa 80 Prozent des China-EU Transits durch Belarus. Investitionsprojekte außerhalb dieser sogenannten Belt and Road Initiative gibt es kaum, da auch die finanziellen Konditionen nicht besonders vorteilhaft waren. Wegen der aktuellen Spannungen beziehungsweise Sanktionen von Seiten der EU ist diese Funktion teilweise bedroht. In einem solchen Szenario der Unsicherheit würde ich erwarten, dass China zunächst abwartet und beobachtet, wie sich die Lage weiterentwickelt. Hierzu passt, dass wir in den letzten Jahren auch von keinen großen neuen Projekten mehr gehört haben, was sicherlich aber auch an der Pandemie lag.
8. Auch die Ukraine hat sich den Sanktionen gegen Lukaschenko angeschlossen. Welche Folgen hat dies für die Wirtschaftsbeziehungen beider Länder?
Sowohl für Belarus als auch für die Ukraine sind die bilateralen Handelsbeziehungen sehr wichtig, was vor dem Hintergrund der geographischen Lage und des gemeinsamen sowjetischen Erbes nicht überrascht. Für die Ukraine spielt Belarus insbesondere bei der Versorgung mit Ölprodukten eine strategisch wichtige Rolle. Daher hat sich die Ukraine auch nicht komplett den westlichen Sanktionen angeschlossen, sondern nur selektiv (wie etwa bei den Luftfahrtsanktionen). Der Warenaustausch zwischen beiden Ländern betrug 2021 sechs Milliarden US-Dollar, 2020 waren es aufgrund der Pandemie nur vier Milliarden US-Dollar. Was nun die weitere Entwicklung der Russland-Ukraine-Krise angeht – im Falle einer militärischen Eskalation würden die wirtschaftlichen Effekte sicherlich sehr negativ sein. Neben den Auswirkungen auf die direkten Wirtschaftsbeziehungen müsste hier natürlich noch Russland einbezogen werden, welches für Belarus der Hauptpartner ist. Hier würden mögliche Sanktionen des Westens gegenüber Russland (beziehungsweise eventuell auch gegen Belarus) als Reaktion auf die Eskalation die Lage weiter verschärfen.
9. Eine weitere Öffnung der Wirtschaft wird es in der aktuellen politischen Lage sicher nicht geben. Was muss Lukaschenko 2022 gelingen, damit die Wirtschaft stabil bleibt und die Unzufriedenheit der Menschen nicht weiter wächst?
In der Tat ist das eine große Herausforderung, gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Russland-Ukraine-Krise. Ich denke, der unmittelbare Fokus wird weiter auf der Bewahrung der makroökonomischen und finanziellen Stabilität liegen, so wie auch in den vergangenen beiden Jahren. Hierdurch sollen schockartige Krisenepisoden vermieden werden, wie beispielsweise eine massive Abwertung des belarussischen Rubels, ein weiterer Anstieg der Inflation oder Abzüge von Einlagen bei den Banken. Die wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung durch Russland wird in einem solchen Szenario weiter eine zentrale Komponente bilden. Gleichzeitig ist klar, dass in einem solchen Kontext keine neuen Impulse für beschleunigtes Wachstum erfolgen werden. Wir werden es also mittelfristig mit einem sehr niedrigen Wachstum zu tun haben, was sich negativ auf die Schere zwischen der Einkommensentwicklung von Belarus und östlicher EU-Staaten wie Polen auswirken wird.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Am 27. Februar 2022 wird in Belarus ein Verfassungsreferendum stattfinden, von dem wohl nur die wenigsten glauben, dass es die präsidiale Macht Alexander Lukaschenkos entscheidend beschränken wird. Bei seiner alljährlichen „Rede an die Nationalversammlung und das belarussische Volk“, die Lukaschenko Ende Januar im Palast der Unabhängigkeit in Minsk hielt, schwörte der Autokrat die mehr als 2500 Parlamentarier, Politiker, Funktionäre und Gäste auch auf die anstehende Abstimmung und die zu erwartenden Änderungen im politischen System ein.
Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski hat sich die Rede für das Online-Medium Naviny.by genauestens angehört. In seinem Beitrag analysiert er, ob die Verfassungsreform überhaupt darauf ausgerichtet ist, Lukaschenkos eingeschlagenen Radikalisierungskurs einzudämmen und ob Opposition, Medien und Zivilgesellschaft entsprechend auf erleichterte Rahmenbedingungen hoffen können.
Seiner Rhetorik nach zu urteilen, sieht Lukaschenko die Lösung für die innenpolitische Krise und die gespaltene Gesellschaft in Belarus eindimensional: „Diese verrückten Unglaublichen“, wie er die Protestteilnehmer nannte, müssen sich der brutalen Gewalt des Regimes fügen.
Machtwechsel als Krankheit
Obwohl er Verfassungsänderungen immer als Demokratisierung bewarb, offenbarte sich seine tatsächliche Haltung zur Demokratie in der Aussage: „Wenn wir uns, so wie einige andere postsowjetische Staaten, dem Fieber der Machtwechsel ergäben [Hervorhebung des Autors], wenn wir ein politisches und ideologisches Zurückweichen zuließen, dann wäre ein unkontrollierbarer Sturzflug nicht mehr aufzuhalten.“ Also gilt der in Demokratien übliche Prozess des Machtwechsels als Anomalie, als Krankheit.
Der (aktuelle) Auftritt hat gezeigt, dass Lukaschenko nicht beabsichtigt, sein autoritäres System im Kern zu ändern. Das Publikum, das ihm zuhörte, bezeichnete er als Prototypen der zukünftigen Allbelarussischen Volksversammlung (WNS), an die er sich in Zukunft mit solchen Botschaften wenden wolle. Da stellt sich die Frage: War denn das Volk an der Zusammensetzung dieses Publikums beteiligt? Eine rhetorische Frage. Im Saal waren natürlich Beamte und erprobte Loyalisten versammelt, die eine breit aufgestellte Volksvertretung imitieren sollten. Ein Gesetz, das die Kompetenzen, den Entstehungsprozess und die Tätigkeiten der Allbelarussischen Volksversammlung festlegt, soll innerhalb eines Jahres nach dem Referendum verabschiedet werden. Man kann jedoch unschwer annehmen, dass dieses zu gründende Organ, das gemäß der neuen Verfassung mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet werden soll, auf genauso intransparente und volksferne Art zusammengeschustert wird.
Nie der richtige Zeitpunkt für den Rücktritt
Eigentlich geht es bei der Idee der Allbelarussischen Volksversammlung darum, die Bürger noch weiter vom Staat zu entfernen. Die aktuell regierende Elite will ein von den Willenserklärungen der Bevölkerung isoliertes politisches Konstrukt schaffen, das es ermöglicht, alle staatlichen Schlüsselfragen im intimen Kreis zu entscheiden. Wobei fast kein Zweifel besteht, dass Lukaschenko auch Vorsitzender der WNS sein wird (diese Option ist ausdrücklich in dem Verfassungsentwurf vorgesehen) und die beiden Ämter mindestens bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen 2025 zu behalten gedenkt.
Mit seiner Rede hat Lukaschenko zum wiederholten Mal thematisiert, wie lange er vorhat, im Amt zu bleiben. Und wieder ist er einer direkten Antwort ausgewichen: „Alles je nach Situation. Wenn sie uns einen Krieg anhängen – was soll es dann für Wahlen geben, wie soll ich da abdanken? Wenn’s sein muss, nehm ich eine MG, und gehe voran … Wenn alles ruhig bleibt, sei’s drum, wenn unser Volk friedlich lebt und sich entwickelt – jederzeit.“ Damit gibt Lukaschenko erstens de facto zu, dass die Lage in Belarus alles andere als stabil ist. Wenn er zweitens die unermüdliche Suche nach Feinden fortsetzt, die Dämonisierung der Opposition, der benachbarten NATO-Mitgliedsländer, der Ukraine und der USA, wenn er die Atmosphäre einer belagerten Burg weiter hochpeitscht (und speziell davon war seine Botschaft durchdrungen), dann wird er immer sagen können, jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt zu gehen.
Überhaupt strotzte Lukaschenkos gesamte Rede nur so von der Idee, er sei unersetzlich (oder gar von Gott erwählt). Als ob es ohne seine Entschlossenheit mit der MG in Händen im August 2020 am Höhepunkt der Proteste (die er Aufstand nennt) das Land gar nicht mehr gäbe: Die fünfte Kolonne hätte die Macht ergriffen und Belarus bereits dem Westen ausgeliefert (die NATO-Truppen „waren schon in Startposition“). Dieses Motiv – dass unter bedrohlichen Umständen ein erfahrener, starker Führer auf keinen Fall abdanken darf – wird er bestimmt weiter ausschlachten, zumal die Konfrontation mit dem Westen allem Anschein nach ernst werden und lang dauern wird. Und da eröffnet sich noch dazu die günstige Gelegenheit, dem Kreml zuzuspielen.
Echte Ideen zur Entwicklung fehlen dem Regime
Wobei die Redenschreiber sich offenbar bemüht haben, Ideen von Innovation und Entwicklung einzubauen, um den Redner nicht komplett rückschrittlich und reaktionär aussehen zu lassen. Allerdings mit wenig Erfolg. „Wir haben alle Möglichkeiten, Belarus zu einem sich dynamisch entwickelnden Land zu machen“, erklärte Lukaschenko. Doch hat er versucht eine Überarbeitung des Grundgesetzes, die das vom ersten Präsidenten geschaffene strenge und undemokratische System aufrechterhält, als politische Innovation zu verkaufen. Sogar in Bezug auf den kontrollierten Aufbau von Parteien (auf dessen Belebung sowohl der Kreml als auch ein Teil der Loyalisten gehofft hatten) verplapperte sich unser Staatsoberhaupt mit den Worten: „Wir werden diesen Prozess nicht forcieren.“
Desgleichen ließ er verlautbaren, dass in nächster Zeit ein Gesetz beschlossen werde, das definiert, was Zivilgesellschaft ist und was ihr Wesen, ihre Struktur ausmache. Doch die Formierung einer Zivilgesellschaft nach staatlichen Vorgaben ist per se Nonsens. Eine echte Zivilgesellschaft wächst von unten, auf Initiative der Bevölkerung. Noch dazu ist das wichtigste Ziel, wie ganz offen erklärt wurde, dass „die Basis der Zivilgesellschaft nicht schlafende Keimzellen nationaler Minderheiten werden, die 2020 das Land umstürzen wollten“. Mit anderen Worten, auf diesem durch die Repressionen verbrannten Feld sollen Attrappen geschaffen werden, GONGOs, die eine Zivilgesellschaft imitieren.
Kein Wort fiel zum Thema Wirtschaftsreformen. Im Gegenteil, Lukaschenko gab zu verstehen, dass er IT-ler und Unternehmer noch stärker in die Mangel nehmen kann – jene Berufsgruppen, die sich aktiv an den Protesten beteiligt hatten. Indessen sind es gerade diese fortschrittlichen Gesellschaftsschichten, die die Wirtschaft in Schwung bringen könnten. Aber wie wir sehen: Der Chef des Regimes will in erster Linie den Aufstand unterdrücken, wenn auch zum Schaden der wirtschaftlichen Entwicklung. Insofern sind Versprechungen dynamischer Transformationen schöne Worte und nichts dahinter. Faktisch opfert die Regierung, die um jeden Preis an der Macht bleiben will, die Entwicklung des Landes und versucht, jegliche Gegenstimmen in die Knie zu zwingen.