1450 politische Häftlinge hat die Menschenrechtsorganisation Wjasna mittlerweile in Belarus registriert. Die Zahl steigt seit dem Jahr der historischen Proteste unaufhörlich. Die Dunkelziffer dürfte, davon gehen Experten aus, noch wesentlich höher liegen. Viele sehen davon ab, sich offiziell als „politischer Häftling“ führen zu lassen, da dies Repressionen für Freunde und Angehörige nach sich ziehen könnte. Die Machthaber um Alexander Lukaschenko gehen also nach wie vor gegen jeglichen Widerstand vor und versuchen, diesen bereits im Keim zu ersticken.
Das Ausmaß der Proteste vor zwei Jahren scheint Lukaschenko derart getroffen zu haben, dass er alles dafür tut, eine weitere Eruption von Proteststimmung mit aller Gewalt zu verhindern. Deswegen soll das System auch auf die Zeit nach Lukaschenko vorbereitet und in seinen autoritären Strukturen gestärkt werden. Wie das aussehen kann und welche Tücken damit verbunden sind – das analysiert Waleri Karbalewitsch in seinem Beitrag für das Online-Medium SN Plus.
Lukaschenko hat eine Sitzung zu Gesetzentwürfen abgehalten, die Korrekturen im staatlichen Verwaltungssystem vorsehen. Die Sitzung war begleitet von langen und konfusen Ausführungen, in denen er versuchte, den Sinn und Zweck der Neuerungen zu erklären. Aus diesen widersprüchlichen und wenig konkreten Äußerungen war der Inhalt seiner Ideen nur schwer zu erahnen. Man kann nur vermuten, dass er das autoritäre System auch im Falle seines Ausscheidens aus dem Amt aufrechterhalten sehen will. Damit seine persönliche Sicherheit, die Sicherheit seiner Familie und seines engsten Kreises gewährleistet ist.
Er erklärt das folgendermaßen:
„Heute sind wir da. Morgen vielleicht auch. Aber übermorgen definitiv nicht. Also müssen wir eine Basis schaffen, Stabilität … Damit das System robust ist und niemand daran rütteln kann. Das ist der Schlüssel zu unserer Zukunft. Wir werden uns aus dem aktiven Geschehen zurückziehen, aber wir werden weiterleben und beobachten, wie sich das Land entwickelt … Meine Aufgabe ist es, der neuen Generation ein vernünftiges System zur Verwaltung von Staat und Gesellschaft zu hinterlassen. Das ist der Sinn.“
Ein Charakterzug von Lukaschenkos politischem Stil ist es, Dinge zu sagen, indem er sie verneint. Wenn er etwas strikt ablehnt, ist es vermutlich genau das, was er will. Und auch jetzt hören wir:
„Auf keinen Fall sollte man diese Gesetzentwürfe und Gesetze auf sich selbst beziehen: ‚Wo werde ich morgen sein, wo wird Golowtschenko, Andreitschenko oder Kotschanowa, Sergejenko sein und so weiter.‘ Auf gar keinen Fall! Wir müssen davon Abstand nehmen und die Gesetze für morgen machen.“
Ja, so haben sich das alle gedacht.
Die Macht soll einer herrschenden Nomenklatura gehören
In Lukaschenkos Vorstellung soll das politische Regime der Zukunft kein Regime der persönlichen Macht sein. Deshalb sieht die neue Verfassung vor, dass im Falle des Ausscheidens des Präsidenten seine Befugnisse nicht auf den Premierminister übergehen, wie das bei der alten Verfassung war, sondern auf den Vorsitzenden des Rates der Republik. Weil der Regierungschef nach Ansicht Lukaschenkos seine Macht missbrauchen könnte. Lukaschenko sagt:
„Stellen Sie sich vor, der Premierminister führt nach dem Ausscheiden des Präsidenten Präsidentschaftswahlen durch, was dann seine Aufgabe ist. Das Budget, die Wirtschaft, die Finanzen und so weiter – alles ist in einer Hand. Richtig? Richtig. Das Ergebnis wäre in jeder Demokratie recht vorhersehbar … Das ist doch wahrscheinlich nicht ganz korrekt. Es muss schließlich ein System von Checks and Balances, von Machtgleichgewicht geben …“
Aber andererseits will Lukaschenko die Macht auch nicht dem Volk geben und die Bürger die Regierungsorgane in freien Wahlen selbst wählen lassen. Genau deshalb hat er sich überlegt, dass das nicht gewählte Organ Allbelarussische Volksversammlung als oberste staatliche Instanz eingesetzt werden soll.
Mit anderen Worten, eine Art hybrides Regime, bei dem die Macht nicht – so wie bisher – einer Person gehört, sondern einer herrschenden Nomenklatura, die sich auf verschiedene Institute verteilt, die völlig unabhängig vom Volk agieren. Also eine Diktatur ohne allmächtigen Diktator.
Eine komplexe und schwierige Aufgabe. Denn es ergibt sich sofort eine Reihe von Problemen.
Erstens zeigt die Erfahrung weltweit, dass das Ausscheiden des Diktators in personalistischen Regimen normalerweise eine politische Krise auslöst. Weil es keine echten Mechanismen der Machtübergabe gibt.
Das Hauptproblem besteht darin, dass die grundlegenden Staatsinstitute in derartigen Systemen nicht funktionieren. In Belarus existieren die Nationalversammlung mit ihren zwei Kammern, das Verfassungsgericht und die normalen Gerichte nur als Dekoration. Dasselbe kann man über die Allbelarussische Volksversammlung sagen. Auch die Regierung arbeitet exakt in dem von Lukaschenko vorgegebenen engen Rahmen. Und zu erwarten, dass diese atrophierten Institute bei Lukaschenkos Abgang plötzlich zum Leben erwachen und anfangen zu funktionieren, ist ein wenig naiv.
Als ob das nicht genug wäre, fügt Lukaschenko dieser kaputten Maschine ein weiteres Element in Form der Volksversammlung hinzu. Damit wird das simple, einer Deichsel vergleichbare System der Alleinherrschaft übermäßig verkompliziert. Ein autoritäres Regierungsmodell kann naturgemäß nicht komplex sein. Komplex, vielschichtig, mehrstufig und pluralistisch sind demokratische Systeme. Aber der Autoritarismus muss homogen, eindeutig und mit starren hierarchischen Mechanismen ausgestattet sein, die nach dem Motto funktionieren: „Ich Chef – du Idiot.“
Wichtig ist der Hinweis, dass die Volksversammlung im Prinzip nicht dazu gedacht war, einen Staat zu verwalten. 1200 Menschen, die sich einmal im Jahr versammeln, sind nicht nur nicht in der Lage, irgendwelche wichtigen Entscheidungen zu treffen, sie können nicht einmal ernsthafte staatspolitische Fragen erörtern. Alle sechs bisherigen Volksversammlungen dienten lediglich dazu, vorgefertigte Dokumente durchzuwinken. Es ist per Definition unmöglich, dieses dekorative Institut in ein echtes Regierungsorgan zu verwandeln. Das einzige, wozu die Volksversammlung dank ihrem neuen Status fähig ist, ist es, das Verwaltungssystem endgültig aus dem Gleichgewicht zu bringen, das auch so aus dem Gleichgewicht geraten wird, sobald der zentrale Pfeiler weg ist: der Alleinherrscher.
Hier sollten wir uns an die Erfahrung aus Gorbatschows Perestroika erinnern. Der schlanken und einfachen sowjetischen Ordnung wurden Elemente eingepflanzt, die für sie schädlich waren. In die Planwirtschaft wurde das Virus der Rentabilität, der Eigenfinanzierung und unternehmerischen Selbstverwaltung eingeschleppt. In das totalitäre politische System unter der Führung der KPSS – das Virus der Glasnost. Aus heutiger Sicht scheinbar ganz harmlose Dinge. Aber in der Folge ist das System nach kürzester Zeit zusammengebrochen.
Ich wage die Prognose, dass Lukaschenko sich eigenhändig eine Mine in sein neu geschaffenes System legt. Denn das kann nur so lange funktionieren, wie er selbst an der Macht bleibt.
Belarus wurde am 24. Februar 2022 zum Ausgangspunkt für die russische Invasion der Ukraine. Sowohl in seinen Reden als auch mit technisch-logistischer Unterstützung stand der belarussische Staatschef Lukaschenka an der Seite des Kreml. Das ermöglichte russischen Truppen, die ukrainische Hauptstadt Kyjiw direkt anzugreifen. Für Lukaschenka bedeutete dies einen Bruch mit seiner langjährigen Ukraine-Politik. Denn bis dahin unterhielt er gute Beziehungen zu allen sechs Präsidenten, die seit 1991 an der Spitze der Ukraine standen. Dem lag eine pragmatische Partnerschaft zugrunde, die vor allem auf wirtschaftlichen Interessen fußte.
Dabei gab es genug Grund für mögliche Spannungen: Die Revolutionen, die es in der Ukraine gab, lehnte Lukaschenka ab. Russlands Annexion der Krim – hat er lange nicht anerkannt, aber auch nicht verurteilt. Doch gerade dieses Lavieren zwischen Kyjiw und Moskau befähigte Belarus schließlich, während des Kriegs im Donbas eine Vermittlerrolle zu übernehmen.
Was Lukaschenka auch antrieb, sich mit Kyjiw nicht auseinanderzudividieren, war der Wunsch, sich im Angesicht der zunehmenden Abhängigkeit von Russland Türen offenzuhalten. Nach der gefälschten belarussischen Präsidentschaftswahl im August 2020 erhielten die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine freilich erste Risse. Der russische Angriffskrieg hat das Verhältnis beider Länder nun in seinen Grundfesten erschüttert.
Kurz nach Ende des Kalten Krieges hatten alle drei Länder – Russland, die Ukraine und Belarus – am 6. Dezember 1991 noch einhellig die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gegründet und damit die Sowjetunion begraben. Mit diesem historischen Schritt verbanden die Führungen von Belarus und der Ukraine allerdings ganz unterschiedliche Erwartungen.
So stellte die GUS für den ersten ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk lediglich eine zivile Form der Scheidung von der Sowjetunion dar. Dementsprechend wurde die Ukraine nie vollwertiges Mitglied der GUS und beteiligte sich nur an wirtschaftlichen Kooperationsformaten. Bereits Krawtschuks Nachfolger Leonid Kutschma erhob die europäische Integration zur außenpolitischen Leitlinie. Belarus sah hingegen in der GUS zunächst einen Ersatz für die Sowjetunion. Nach dem Scheitern dieser Hoffnung verfolgte der belarussische Staatschef Lukaschenka den Weg einer engen Integration mit Russland. Dieser Weg mündete 1999 in den Plan zur Bildung eines gemeinsamen Unionsstaats.1
Pragmatische Kooperation
Die unterschiedlichen außenpolitischen Strategien belasteten die bilateralen Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine jedoch nicht. Vielmehr gestalteten sich diese zunächst weitgehend konfliktfrei. Den einzigen Streitpunkt bildete das 1997 geschlossene zwischenstaatliche Grenzabkommen. Denn Belarus weigerte sich, es zu ratifizieren, solange die reklamierten Schulden ukrainischer Unternehmen aus den letzten Jahren der Sowjetunion nicht beglichen seien.2
Mitte der Nullerjahre nahm die zwischenstaatliche Zusammenarbeit zwischen Belarus und der Ukraine deutlich zu. Das hing von belarussischer Seite wesentlich damit zusammen, dass der russische Präsident Wladimir Putin von Lukaschenka verlangte, als Gegenleistung für gewährte Energiesubventionen auf einige Souveränitätsrechte für Belarus, wie eine eigene Währung, zu verzichten. Lukaschenka suchte daher die ukrainische Unterstützung, um sich aus seiner Isolation als autokratischer Herrscher in Europa zu befreien. Gleichzeitig gewann der bilaterale Handel für beide Seiten an Bedeutung.
Revolution in der Ukraine, Repression in Belarus
Die Annäherung beider Länder wurde weder dadurch wesentlich beeinträchtigt, dass Lukaschenka die Orangene Revolution von 2004 ablehnte, noch durch die Parteinahme des neuen ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko für die belarussische Opposition, nach den gescheiterten Protesten gegen die gefälschte belarussische Präsidentschaftswahl von 2006. Bereits in Juschtschenkos erstem Amtsjahr gab es Regierungskontakte auf höchster Ebene, bilaterale Treffen der Präsidenten folgten 2008 und 2009. Das offizielle Kyjiw bot sich dabei als Ausrichtungsort für einen Runden Tisch zwischen den belarussischen Regierungs- und Oppositionslagern an. Gleichzeitig beteiligte sich die Ukraine nicht an den seit 2004 verhängten EU-Sanktionen gegen Lukaschenka. Stattdessen positionierte sich Juschtschenko gegenüber der EU als Türöffner für Belarus.3
Obwohl der vierte ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch einen russlandfreundlicheren Kurs verfolgte, ergab sich nach der belarussischen Präsidentschaftswahl vom Dezember 2010 ein ähnlich ambivalentes Bild: Die Ukraine schloss sich den negativen Wahleinschätzungen von EU und OSZE an, jedoch nicht den neu verhängten EU-Sanktionen. Kyjiw plädierte vielmehr für die weitere Beteiligung von Belarus an der EU-Initiative „Östliche Partnerschaft“. Allerdings verzichtete die ukrainische Führung darauf, Lukaschenka im Jahr darauf zur gemeinsam mit der EU organisierten Internationalen Konferenz anlässlich des 25. Jahrestags der Tschernobyl-Katastrophe nach Kyjiw einzuladen. Zudem belasteten diplomatische Skandale und die Verhaftung ukrainischer Aktivist*innen in Minsk4 die bilateralen Beziehungen.
Das zentrale Interesse, das beide Seiten aber weiterhin aneinanderband und an dem sich beide Seiten auch orientierten, war die wirtschaftliche Kooperation: 2012 belief sich das Handelsvolumen zwischen beiden Staaten bereits auf 6,2 Milliarden US-Dollar. Dies bedeutete eine Vervierfachung gegenüber 2008, wobei sich der belarussische Handelsüberschuss auf 2,12 Milliarden US-Dollar belief. Nach Russland war die Ukraine damit der zweitwichtigste Handelspartner von Belarus, wobei die belarussische Handelsbilanz gegenüber Russland ein Minus von etwa 6 Milliarden US-Dollar aufwies. Die Kooperation mit der Ukraine war für Lukaschenka somit von zentraler Bedeutung, um die Abhängigkeit des Landes von Russland zu verringern.
Lukaschenkas Unterstützung der pro-europäischen Ukraine
Im Juni 2013 beseitigten Belarus und die Ukraine mit dem Austausch der Ratifizierungsurkunden während eines Lukaschenka-Besuchs in Kyjiw schließlich die letzte Hürde für das Inkrafttreten des bilateralen Grenzabkommens aus dem Jahre 1997.5 Für die Ukraine war dies ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur geplanten Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der EU. Belarus konnte im Gegenzug seine wirtschaftliche Handelsposition weiter verbessern.
Als Janukowitsch im November 2013 das Ziel der EU-Integration zugunsten eines Abkommens mit Russland aufgab, verurteilte Lukaschenka zwar die Proteste des Euromaidan, die sich daran entzündeten. Für die Revolution machte er jedoch vor allem die Schwäche und die Flucht Janukowitschs verantwortlich. Im Unterschied zum Kreml akzeptierte Lukaschenka den politischen Richtungswechsel in Kyjiw und nahm im Juni 2014 an der Inauguration des neu gewählten ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko teil.
Gleichzeitig erklärte Lukaschenka, dass die Krim de facto zu Russland gehöre, auch wenn dies nicht de jure gelte.6 Bei anderen Gelegenheiten betonte er, Belarus werde Russland stets gegen den Westen unterstützen. Dieses Lavieren ermöglichte es Lukaschenka, für beide Seiten eine unterstützende Positionierung einzunehmen und Minsk zum Ausrichtungsort für die internationalen Vermittlungsversuche und Verhandlungen zur Regulierung des Donbas-Krieges zu machen. Fortan war Lukaschenka daher Gastgeber für die Gespräche des Normandie-Formats. Auf diese Weise konnte er seine Position gegenüber dem Kreml stärken, der den in Belarus längst schon ungeliebten Unionsstaat vorantreiben wollte. Gleichzeitig gelang ihm damit das Kunststück, die Beziehungen zur EU zu normalisieren.7
Die politische Krise in Belarus von August 2020 als Wendepunkt
Auch zum sechsten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky unterhielt Lukaschenka zunächst gute Beziehungen. Daher war es für ihn ein Schock, als die ukrainische Führung die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl vom 9. August 2020 nicht anerkannte und sich im Herbst 2020 erstmals sogar den neuen EU-Sanktionen anschloss. Allerdings beschränkte sich dieses erste Sanktionspaket auf Einreiseverbote und Vermögenssperren. So weit, auch den umfassenden Wirtschaftssanktionen zu folgen, die von der EU nach der erzwungenen Landung eines Ryanair-Flugzeugs im Mai 2021 in Minsk verhängt wurden, wollte die Ukraine hingegen nicht gehen. Ebenso vermied Selensky im Unterschied zu den meisten westlichen Staatschefs ein Treffen mit Swjatlana Zichanouskaja, der belarussischen Oppositionsführerin im Exil. Damit signalisierte Selensky, dass er den offiziellen Kommunikationskanal weiter offen zu halten gedachte. Gleichzeitig war die Ukraine bis zur russischen Invasion des ganzen Landes jedoch ein bedeutender Zufluchtsort für zehntausende Belaruss*innen, die vor den staatlichen Repressionen in ihrer Heimat flohen. Hinzu kommt, dass die für beide Länder zentrale wirtschaftliche Zusammenarbeit bereits infolge der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie rückläufig war.
Die gestiegene Abhängigkeit des international isolierten Lukaschenkas gegenüber Russland und seine zunehmend aggressive antiwestliche Rhetorik wurden in Kyjiw mit wachsender Sorge gesehen. Dennoch sah man es dort nicht als eindeutiges Kriegszeichen, als Ende 2021 ein gemeinsames Militärmanöver mit Russland für Februar 2022 an der belarussischen Grenze zur Ukraine angekündigt wurde. Denn angesichts der bisherigen Länderbeziehungen, die bereits einiges auszuhalten hatten, und mit Blick auf frühere Äußerungen Lukaschenkas, dass die Belarussen nie mit einem Panzer, sondern höchstens mit einem Traktor in die Ukraine fahren würden, fiel es den Ukrainern bis zum 24. Februar schwer sich vorzustellen, dass ihr Land von Belarus aus angegriffen werden könnte.8
Minimale Kontakte im Krieg
Der Krieg hat die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine nicht nur auf staatlicher, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene tiefgreifend verändert. Eine erneute belarussische Vermittlungsrolle lehnte die ukrainische Führung sehr schnell ab, da sie Belarus als faktische Kriegspartei betrachtete. Kurz nach Beginn der Invasion kam es zwar zu zwei (erfolglosen) Verhandlungsrunden zwischen Delegationen aus Russland und der Ukraine, die im belarussischen Grenzgebiet abgehalten wurden. In der Folgezeit kamen jedoch andere Staaten in die Vermittlerrolle, insbesondere die Türkei. Dass die russische Armee damit gescheitert ist, die Hauptstadt Kyjiw zu erobern, hat etwas Druck aus den angespannten bilateralen Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine genommen. So beließ Selensky seinen Botschafter in Minsk. Ebenso verzichtete die ukrainische Führung zunächst auf weitere Sanktionen. Dies änderte sich, als Belarus und Russland im Oktober 2022 die Bildung einer gemeinsamen Militäreinheit ankündigten – und damit die Gefahr der direkten Beteiligung belarussischer Soldaten am Krieg stieg. Der ukrainische Sicherheitsrat reagierte hierauf mit neuen Sanktionen und beschloss erstmals auch Wirtschaftssanktionen gegen belarussische Unternehmen. Lukaschenka befindet sich allerdings nach wie vor nicht auf der ukrainischen Sanktionsliste.
Gleichzeitig blieb das offizielle Kyjiw weiterhin auf Distanz zu den von Swjatlana Zichanouskaja koordinierten belarussischen Oppositionskräften im Exil. Die Eröffnung eines eigenen Büros in Kyjiw durch Zichanouskaja im Mai 2022 wurde in der Ukraine skeptisch als PR-Maßnahme betrachtet9 – zumal in der Ukraine unvergessen ist, wie sehr Zichanouskaja sich 2020 um die Unterstützung des Kremls für die belarussische Opposition bemüht hatte. Auch insgesamt stieg das Misstrauen: Seit Kriegsbeginn waren etliche Belaruss*innen in der Ukraine mit Einreiseverboten, Kontensperrungen, verweigerten Aufenthaltsgenehmigungen und anderen Restriktionen konfrontiert. Allerdings würdigte die ukrainische Führung Formen des aktiven Widerstands, darunter Sabotageakte gegen Eisenbahnlinien, mit denen auf belarussischer Seite versucht wird, den Nachschub für die russische Armee zu erschweren. Ebenso begrüßte man in der Ukraine die Bereitschaft von Freiwilligen, gegen Russland an die Front zu gehen, darunter beim Kalinouski-Regiment. Gleichwohl fällt der belarussische Widerstand aus ukrainischer Sicht insgesamt zu schwach aus – auch wenn wahrgenommen wird, dass es in der belarussischen Gesellschaft im Unterschied zu russischen nur wenige Kriegsbefürworter gibt.
Die Wiederannäherung beider Länder wird nach diesem Krieg viel Zeit in Anspruch nehmen – und zwar ganz unabhängig von der Frage, ob Lukaschenka die rote Linie womöglich doch noch überschreitet, und eigene belarussische Truppen in den Krieg schickt.
Anmerkung der Redaktion:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Sahm, Astrid (2001): Integration, Kooperation oder Isolation? Die Ukraine und Belarus‘ im Vorfeld der EU-Osterweiterung, in: Osteuropa, 2001, S. 1391-1404 ↩︎
Die Ratifizierung des Abkommens durch Belarus war bereits 2009 während der Präsidentschaft Juschtschenkos erfolgt, nachdem dieser die von Belarus reklamierten Schulden ukrainischer Unternehmen in Höhe von 134 Mrd. US-Dollar anerkannt und getilgt hatte, vgl. Boguzkij, Oleg (2013): Belarus-Ukraine, Belarusian Yearbook 2013, S. 96-106 ↩︎
Wegen der Gewalt und der Repressionen in Belarus, sei es gegen Andersdenkende, sei es gegen Aktivisten, haben zehntausende Belarussinnen und Belarussen ihre Heimat verlassen. Auch im Zuge des Angriffskrieges, den Russland gegen die Ukraine führt, kehrten viele ihrer Heimat den Rücken. So ist im Ausland eine neue Diaspora entstanden, die aktiv versucht, von außen einen Demokratisierungsprozess weiterzuentwickeln, um bei einer etwaigen politischen Öffnung die neuen Impulse in Belarus selbst zu nutzen. Das in Warschau ansässige Künstlerkollektiv Heartbreaking Performance hat sich dabei der persönlichen Ebene vieler im Exil Lebender gewidmet und in einer Fotoausstellung das Gefühl von Heimweh thematisiert. In diesem Visual zeigt dekoder eine Auswahl von Bildern aus dieser Ausstellung und die Gründerin der Künstler-Gruppe, Ana Mackiewicz, beschreibt die Motivation für das Fotoprojekt.
dekoder-Redaktion: Wie ist die Idee zu der Ausstellung entstanden?
Ana Mackiewicz: Die Idee zu der Fotoausstellung kam mir vor etwas mehr als einem halben Jahr, noch vor Kriegsbeginn. Plötzlich wurde mir klar, dass ich die Straßen meiner Heimatstadt Minsk vor mir sehe, wenn ich die Augen schließe. Ich kann nicht zurück dorthin, ich würde festgenommen werden für das, was ich in der Immigration mache – wegen meiner Kunst, meines Engagements und dafür, dass ich die Wahrheit sage. Und ich dachte: Seltsam, ob das wohl allen so geht, wenn sie ihre Heimat längere Zeit nicht sehen? Ich kenne noch ein Phänomen: Wenn wir eine Person sehr lange nicht sehen, vergessen wir nach und nach, wie sie aussah, auch wenn sie uns wirklich nahestand. Ich habe dann angefangen, die Menschen danach zu fragen und festgestellt, dass es nicht nur mir so geht. Ich wusste, dass viele ihr Zuhause vermissen, aber nicht groß darüber reden – es ist sehr schwer. Deshalb dachte ich: Vielleicht könnten Fotos von ihren Lieblingsorten ihnen ein bisschen helfen?
Sie bezeichnen die Ausstellung als exhibition-experience. Was ist damit gemeint?
Als ich anfing, Freunden und einigen Unterstützern von der Idee zu erzählen, meinte jemand: Warum eigentlich nur Fotos? Warum nicht das Ganze mit allem Drum und Dran? Und ich dachte: Stimmt, ich möchte den Menschen wirklich gern das Gefühl geben, zu Hause zu sein, auch wenn sie nicht dorthin können. Ein Minsk 2.0, etwas, das ihnen hilft, damit abzuschließen, um Kraft zum Weitermachen zu finden. Das heißt nicht unbedingt, dass sie die Sehnsucht vergessen, eines Tages zurückzukehren. Du musst eine Geschichte beenden, damit eine neue anfangen kann und Heilung möglich ist. Wir haben versucht, die Atmosphäre von Minsk nachzubilden und den Menschen das Gefühl zu geben, als seien sie dort – und doch in Sicherheit, anders als in der Stadt, die sie irgendwann in den beiden letzten Jahren verlassen haben. Außer Fotos gibt es Geräusche aus Minsk, einen kurzen Dokumentarfilm, in dem sich Menschen, die dort gewohnt haben, liebevoll an die Stadt erinnern, eine Pinnwand, an der die Menschen Gedanken und Wünsche zu ihrer Heimat hinterlassen können und sogar einen Raum, wo man weinen oder seine Lieben anrufen kann. Also wirklich ein Erlebnis, wenn man so will. Wir haben schon ein paar Geschichten gehört. Die Menschen haben ihre Häuser und ihre Balkone erkannt, ein Freund von mir hat auf einem Foto sogar seine Mutter entdeckt!
Die Gruppe, die die Ausstellung initiiert hat, nennt sich Heartbreaking Performance Art Group. Was ist das für eine Gruppe und wie ist sie entstanden?
Als die Proteste begannen, habe ich sofort angefangen, Protestkunst zu machen. Manchmal allein, manchmal zusammen mit anderen, die sich für das Projekt interessierten. Nach einiger Zeit bin ich zu dem Schluss gekommen, dass sich das alles um eine Idee dreht: Kunst als Aktivismus, als Werkzeug, um Menschen und die Welt zu verändern. Und ich wusste, diese Idee wird ihren Weg zu den richtigen Leuten finden, und die Leute werden zu ihr finden. Das Projekt erhielt den Namen Heartbreaking Performance. Ich wollte einen Namen, der klar aussagt: Wir machen keine schicke „philosophische“ Kunst, bei der es fast schon den Betrachtern überlassen bleibt, was sie sehen wollen. Wir machen Kunst, die zählt, die einen Sinn ergibt. Kunst, die zu Empathie und Selbstreflexion aufruft und die Menschen wachrüttelt. Wir haben unterschiedliche Projekte: Filme, Konzerte, Performances, Ausstellungen. Verschiedene Menschen, die mit einer dieser Formen arbeiten, stoßen für die Dauer eines Projekts zu uns und gehören während dieser Zeit auch zu Heartbreaking Performance. Und einige haben sich entschieden, über das Projekt hinaus dabei zu bleiben, was mich wirklich freut.
Außer Fotos gibt es Geräusche aus Minsk, einen kurzen Dokumentarfilm, (…), eine Pinnwand, an der die Menschen Gedanken und Wünsche zu ihrer Heimat hinterlassen können und einen Raum, wo man weinen kann
Wie wurden die Fotografen für das Projekt ausgewählt?
Einige kannte ich schon, und außerdem hat mir jemand, der sich in der belarussischen Fotografieszene sehr gut auskennt, geholfen, Leute zu finden. Manche haben uns auch angesprochen, weil sie unsere Insta-Kampagne gesehen haben. Leider konnten wir nicht alle einbeziehen, weil wir die Prints selbst finanziert haben und auch der Museumsraum nicht sehr groß war. Wenn wir nach Belarus zurückkehren, machen wir hoffentlich regelmäßig tolle Ausstellungen mit all diesen großartigen Künstlern, die sich an uns gewandt haben. Alle vermissen Minsk, manche nur ein bisschen, andere wirklich sehr. Wir haben Instagram-Postings zu den Teilnehmenden gemacht, und ich habe alle gebeten, ein paar Sätze zu Minsk zu schreiben – was immer sie möchten. Und diese Texte waren wirklich allesamt herzerwärmend.
Stammen Sie selbst aus Minsk?
Ja, ich bin aus Minsk. Ich habe diese Stadt von Beginn unserer Beziehung an geliebt, sie ist wie Mutter oder Vater für mich. Wie schon gesagt, ich sehe sie, wenn ich die Augen schließe, manchmal träume ich von ihr. Es ist sehr schwer, nicht dorthin zurück zu können. Einige meiner Freunde in Belarus verstehen das nicht: „Du bist doch in Sicherheit, warum siehst du das so negativ? Du hast schon vor Jahren entschieden fortzugehen, also was soll das Theater?“ Nun, das ist eine etwas längere Geschichte. Kennst du diese Filme, wo die Helden vor die Wahl gestellt werden: Entweder du gehst mit den Außerirdischen und siehst deine Heimat nie wieder, oder du bleibst und wirst den Weltraum nicht sehen? Ich habe es nie wirklich verstanden, wenn jemand beschloss, alles zurückzulassen und auf Nimmerwiedersehen fortzugehen. Ich würde mich von mir aus nie so entscheiden. Die Ereignisse in Belarus 2020 haben dazu geführt, dass das ohne mein Zutun entschieden wurde. Ich hatte plötzlich keine Wahl mehr.
Und warum sind Sie letztlich fortgegangen?
Ich bin aus Belarus fortgegangen, um meiner Musik-Karriere willen – die Kultur hat es dort leider schwer, wie immer in Diktaturen. Ich bin vor Jahren hierher nach Polen gekommen, und obwohl ich zur Hälfte Polin bin, konnte ich wegen meines Imigrantinnenstatus hier leider nie wirklich Karriere machen. Ich habe es in anderen Ländern versucht, und ich glaube, ich hätte es auch geschafft. Aber Corona hatte andere Pläne mit mir, so wie mit allen Künstlern überall auf der Welt. Wie auch immer, vor dem 9. August 2020 konnte ich manchmal nach Hause fahren, um Freunde und Familie zu sehen. Als die Proteste losgingen, dachte ich, dass es mit der Diktatur bald vorbei ist. Aber selbst wenn ich das nicht geglaubt hätte, hätte ich dasselbe getan. Ich wurde Aktivistin und machte aktivistische Kunst. Laut und ohne Scheu, Gesicht zu zeigen. Es gab keine Briefe oder Hinweise, dass ich festgenommen würde, wenn ich nach Belarus gehe. Aber ich habe vieles getan, wofür Leute dort im Gefängnis sitzen. Niemand kann sich dort einen Augenblick lang sicher fühlen, der hier in Warschau auch nur an Demonstrationen teilgenommen hat. Sie verhaften die Leute einfach willkürlich. Am liebsten würden sie wohl alle einsperren, die mit dem, was sie tun, nicht einverstanden sind, selbst Kinder, aber dafür haben sie ja Kinderheime. Also: Ja, mir sind meine Wurzeln, meine Familie und meine Heimat genommen worden, der Ort, wo ich immer wieder zu mir kommen konnte. Das schmerzt, es ist auch eine Art von Gefängnis. Ich kann nicht normal leben, wenn ich nicht nach Hause kann. Mein Leben steht einfach auf Pause.
Die Phrase Ja chatschu da domu, Ich will nach Hause, hört man häufig von den Belarussen, die ihre Heimat wegen der Repressionen verlassen mussten. Symbolisiert dieser Ausruf die Hoffnung, dass eine Rückkehr bald möglich ist?
Ja, das glaube ich. Ich kenne viele, die zurückkehren werden, egal, wie lang sie im Ausland gelebt haben. Sie wollen nach Hause in ihr Land, um es mit aufzubauen und auf eine bessere Zukunft hinzuarbeiten. Ein Propagandamedium des Regimes hat zu unserer Ausstellung geschrieben: „Haha, diese Versager, jetzt stellen sie plötzlich fest, dass sie nach Hause wollen“ und so weiter. Ich finde, genau das ist unsere Stärke – offen und laut zu sagen: Ja, wir wollen nach Hause. Es ist unsere Heimat, und wir haben das Recht dazu; ihr habt sie vielleicht gestohlen, aber nicht für lange Zeit. Wir können warten. Wir werden nicht dorthin gehen, um uns von euch einsperren zu lassen. Wir werden Belarus von hier aus aufbauen und bewahren – von außen, damit es leben und zu einer modernen, wachen, reifen und selbstbestimmten Gesellschaft werden kann, wenn die Zeit für unsere Rückkehr kommt. „Asgard ist kein Ort, Asgard ist, wo unsere Leute sind“, sagt Odin in einem dieser Marvel-Filme. Belarus ist so eine Art Asgard.
Wir werden Belarus von hier aus aufbauen und bewahren – von außen, damit es leben und zu einer modernen, wachen, reifen und selbstbestimmten Gesellschaft werden kann, wenn die Zeit für unsere Rückkehr kommt
Wie ist die Lage in Warschau und Polen für die emigrierten Belarussen?
Die Lage in Polen ist leider gespalten. Es gibt eine ganze Menge Leute, die uns verstehen und unterstützen. Aber ein großer Teil der polnischen Gesellschaft hat grundsätzlich etwas gegen Einwanderer und findet, dass sie entweder zurück in ihre Heimat müssen (egal, ob sie dort verhaftet oder getötet werden, solche Einzelheiten interessieren diese Leute nicht) oder die Drecksarbeit machen sollten – ihr seid ja schließlich Immigranten, oder? Was redet ihr da von guten Jobs – seid doch dankbar, dass ihr überhaupt hier sein dürft. Ich denke, der Krieg und die Tausenden von Kriegsflüchtlingen haben die Situation da sehr stark beeinflusst, und sie war vorher schon nicht besonders stabil. Also, da sind großartige Menschen, die wirklich helfen und wir sind dankbar für ihre Unterstützung und einfach dafür, dass sie da sind. Aber manchmal hat man auch schlicht Angst, im Bus oder auf der Straße auf Russisch oder Belarussisch mit der eigenen Mutter zu telefonieren. Das fühlt sich wirklich seltsam an.
Gibt es schon neue Pläne für weitere Kulturprojekte?
Klar, wenn unsere finanziellen und psychischen Möglichkeiten es erlauben, möchten wir die Ausstellung gern in andere Städte bringen, wo es viele Menschen aus Belarus gibt. Und wir hoffen, dass wir so etwas später auch zu anderen belarussischen Städten und Orten machen können, für diejenigen, die nicht aus Minsk sind. Wir planen schon, die Ausstellung in Vilnius zu zeigen und sind dabei, das ehemalige Restaurant „Minsk“ in Potsdam zu kontaktieren, das vor einiger Zeit als Kunsthaus wiedereröffnet wurde. Das scheint uns der ideale Ort für ein solches Projekt zu sein!
Belarus galt als „IT-Land“, der High-Tech-Sektor hatte sich rasant entwickelt. Er war der Stolz und die Hoffnung der belarussischen Wirtschaft. 2020 jedoch begann ein allgemeiner Niedergang, zunächst wegen Corona, dann wegen der Proteste, die nach den Präsidentschaftswahlen das ganze Land erfassten? Die IT-Experten waren daran aktiv beteiligt, leisteten technologische Hilfe, spendeten Gelder und nahmen an den Straßenprotesten teil.
In den Augen der Regierung waren damit aus Hoffnungsträgern Verräter geworden. Es wurden Stimmen laut, die eine Abschaffung der Privilegien für Residenten des belarussischen High-Tech-Parks (HTP) forderten. Die Lage verschärfte sich mit Beginn des Krieges in der Ukraine, in den das belarussische Regime bekanntlich involviert ist. Die Menschen hatten Angst vor einer Mobilmachung, es folgten neue Sanktionen. Einige internationale Partner beschlossen, künftig keine Aufträge mehr nach Belarus zu vergeben. Die belarussischen IT-Firmen, die früher prosperierten, begannen ihre Mitarbeiter umzusiedeln und ihre Head-Offices ins Ausland zu verlegen.
Wie sieht die Entwicklung in Belarus heute aus, warum und wohin wandern IT-Fachkräfte ab, und welche Zukunft hat der IT-Sektor? Ein Lagebericht von Anna Wolynez.
Entstehung der belarussischen IT-Branche und ihre Bedeutung für die belarussische Wirtschaft
Gewinnträchtig, erfolgreich und vielversprechend – das war in den letzten Jahren das Image des belarussischen IT- und High-Tech-Sektors. Ausgangspunkt waren Communities fähiger Ingenieure und Funktechniker und ihre in den 2000er Jahren gegründeten Firmen. Bald kamen die ersten Aufträge aus dem Ausland, die Branche setzte Steuererleichterungen für sich durch, und aus einigen Firmen wurden große internationale Unternehmen mit belarussischen Wurzeln, wie etwa Arkadi Dobkins Epam und Wiktor Kislys Wargaming.
Für alle Unternehmen, die im High-Tech-Park (HTP) registriert sind, besteht in Belarus seit 2018 ein System von Steuererleichterungen. Es gab viele Programme und Räume zur Unternehmensentwicklung, etwa den Startup-Hub Imaguru, in dem Startups entstanden, die später weltweit bekannt wurden. Und es gab einen eigenen Investorenverband für Risikobeteiligungen. Zu den IT-Startups aus Belarus gehört beispielsweise die Firma Masquerade Technologies. Die Foto-Editing-App MSQRD, die später von Facebook gekauft wurde, war ihr Produkt. Das Startup, das die Video-App Vochi entwickelte, wurde von Pinterest übernommen. Die Investitionen in PandaDoc, einen Dienstleister für Dokumentenmanagement, lagen bereits bei mehr als einer Milliarde Euro.
Die IT-Branche begann eine immer größere gesellschaftliche Rolle zu spielen. Crowdfunding-Plattformen sammelten Geld für soziale und kulturelle Projekte, für die der Staat keine Finanzen aufbrachte. Die IT-Community bedeutete eine äußerst wichtige Unterstützung für die karitative Medienplattform Imena („Namen“), über die Geld für soziale Organisationen gesammelt wurde, die Obdachlosen, Waisenkindern oder Menschen mit Behinderungen halfen. Im Land gab es jetzt mehr Menschen, die bereit waren, die Entwicklung der Gesellschaft finanziell zu unterstützen, etwa, indem sie beim Wettbewerb für soziale Innovationen Social Weekend als Mäzen auftraten oder andere soziale Projekte sponsorten.
Die belarussischen IT-Kräfte erwarben sich den Ruf, eine eigene soziale Gruppe zu sein
Unter den IT-Kräften gibt es sowohl ausgebildete Ingenieure als auch Geisteswissenschaftler. „2013 dachte man, die IT-Kräfte hätten Glück, weil sie zur Arbeit nach Amerika gehen können. Jetzt verdient man im IT-Bereich drei- bis vier mal so viel wie im belarussischen Durchschnitt, und das schon am Anfang der Karriere“, schreibt Gennadi Schupenko*. Er ist von einem Staatsunternehmen in die IT-Branche gewechselt und arbeitet seit 2016 in einer großen Outsourcing-Firma. „Allmählich hat sich die Meinung herausgebildet, dass man auch in Belarus viel Geld verdienen kann und man dafür nicht auswandern muss. Du bist ein normaler Büroangestellter und bekommst ein gutes Gehalt.“
Die belarussischen IT-Kräfte erwarben sich den Ruf, eine eigene soziale Gruppe zu sein: reiche, schicke, moderne junge Leute. Man ging davon aus, dass sie ihr Geld im Inland ausgeben und dadurch die Unterhaltungs- und Freizeitbranche, den Bau neuer Wohnungen und das Gesundheitssystem finanzieren würden.
Der IT-Sektor wuchs schnell: 2019 lag sein Anteil am BIP bei 6,5 Prozent. Das ist fast so viel wie die Anteile der in Belarus traditionellen Land- oder Forstwirtschaft. Das Wirtschaftsministerium hatte einen Anstieg des Anteils der IT-Branche am BIP auf 10 Prozent bis 2022/23 erwartet. Diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Erst kam die Pandemie, dann die Massenproteste von 2020 und 2021, an denen sich viele IT-Kräfte aktiv beteiligten. Und auch die Invasion Russlands in die Ukraine spielt eine Rolle.
Im ersten Quartal 2022 betrug der Anteil der IT-Branche am BIP 8,1 Prozent. Immerhin bleibt der IT-Sektor die einzige Branche, deren Anteil am BIP des Landes weiterhin zunimmt. Wenn auch, wie Experten vom Zentrum für Wirtschaftsforschung BEROC feststellen, nicht mehr so stark wie früher.
Logo der belarussischen „Cyberpartisanen“ / Screenshot
Wie und warum sich der IT-Sektor in Belarus verändert hat
2020 setzten Entwicklungen ein, die die IT-Wirtschaft veränderten: die Corona-Pandemie, durch die der Arbeitsmarkt einen Wandel erfuhr, und die Präsidentschaftswahlen mit den anschließenden Protesten. Während der Pandemie deckten Aktivisten aus dem IT-Bereich Problemfelder ab, mit denen der Staat nicht zurechtkam: Sie informierten die Menschen, sammelten Geld und Schutzausrüstungen für die Krankenhäuser.
Während des Präsidentschaftswahlkampfes halfen IT-Kräfte, eine alternative Stimmenauszählung zu organisieren, und schufen die Plattform Golos („Stimme“), die Wahlfälschungen aufzeigte. Mit der App Marsch koordinierten sich die Protestierenden. Mitarbeiter und Besitzer von IT-Firmen halfen enttäuschten Bediensteten von Sicherheitsbehörden, in den IT-Bereich zu wechseln, und sammelten über zwei Millionen US-Dollar, um Opfern von Repressionen zu helfen.
Eine eigene Erwähnung verdienen die High-Tech-Spezialisten, die sich unter der Bezeichnung Cyberpartisanen zusammengeschlossen haben und Lukaschenko seit 2020 Widerstand leisten. Sie haben staatliche Internetseiten gehackt und dienstliche Informationen der Sicherheitsbehörden geleakt. Derzeit umfasst die Gruppe rund 60 Personen, die an der Entwicklung und dem Betrieb einer „Partisanenversion“ von Telegram arbeiten. Darüber hinaus sind die Cyberpartisanen aktiv am „Gleiskrieg“ beteiligt, bei dem Belarussen den Transport russischen Kriegsgeräts über belarussisches Territorium in die Ukraine zu verhindern versuchen.
Nicht nur über ihre Struktur, sondern auch auf individueller Ebene spielte die IT-Community eine Rolle bei den Protesten. Viele aus der IT-Szene nahmen persönlich an den Demonstrationen teil. „IT-Kräfte und Einzelunternehmer gehörten zur Avantgarde der Proteste von 2020. Ich habe eigenhändig den High-Tech-Park aufgebaut und die Entwicklung der Einzelunternehmer gefördert. Warum gehen die jetzt alle auf die Straße?“, sagte Lukaschenko verständnislos.
Viele von ihnen wurden verprügelt, festgenommen und verhaftet. Die Geschichte des Projektmanagers Witali Jaroschtschik* ist hier symptomatisch. Nach dem 10. August 2020 hat er mehrere Tage im Okrestina-Gefängnis verbracht, wo Menschen gefoltert wurden. Dann gab es mehrere Gerichtsverfahren wegen administrativer Vergehen. Seine Konten wurden eingefroren, weil er über die Stiftung BY_help Geldstrafen von Opfern der Repressionen bezahlt hatte. Im Strafverfahren gegen die Stiftung wurde Witali zum Zeugen gemacht. Zuerst versteckte er sich, 2021 verließ er schließlich das Land. Das alles hat sich stark auf seine Arbeit ausgewirkt: „Meine Produktivität sank um rund 80 Prozent. Von Ende April bis August 2021 habe ich kaum richtig gearbeitet. Ich brauchte fast ein Jahr, um auszuwandern und wieder Fuß zu fassen“, sagt Witali.
Nicht nur Einzelpersonen wanderten ab, sondern auch ganze Firmen. Eines der ersten Unternehmen, das seinen Standort ins Ausland verlegte (nachdem dessen Topmanager festgenommen wurden), war das Startup PandaDoc. „Es ist unmöglich, in einem Land innovativ zu sein, in dem deine Mitarbeiter jederzeit in Geiselhaft genommen werden können“, sagt Nikita Mikado, der Gründer von PandaDoc, ganz offen.
Belarus verliert im weltweiten wie auch im regionalen Ranking der Startup-Ökosysteme zielstrebig Punkte. Mit Beginn des Krieges in der Ukraine verschlechterte sich die Lage weiter. Noch mehr Menschen wanderten aus; die wichtigsten Gründe waren die Furcht vor Kriegshandlungen und die vor einer Mobilisierung in Belarus. In Polen wurden im Mai 2022 mehr Visa für IT-Kräfte als humanitäre Visa ausgestellt. Die meisten Firmen wollen zumindest einen Teil ihrer Teams ins Ausland verlegen, laut einer Umfrage im April 2022 bei fast 200 Firmen 74 Prozent der Unternehmen. Im November 2021 waren es noch 52 Prozent. 57 Prozent (früher 68 Prozent) der Firmen hatten ihren Sitz in Minsk .
„Der Krieg hat eine zweite Auswanderungswelle losgetreten. Ein Bekannter von mir wollte nicht gehen, nicht einmal, als er wegen der Proteste strafrechtlich verfolgt wurde. Nach dem Beginn des Krieges jedoch sagte er, hier sei nichts Gutes zu erwarten … Jetzt ist er in Polen“, erzählt der IT-Fachmann Andrej Tester bei einem mittelgroßen Outsourcing-Unternehmen. „Es gab eine Welle kurzfristiger Emigration: Die Menschen gingen mit dem Gefühl „bloß weg hier“ und kamen dann zurück; ein Teil von ihnen bereitet jetzt jedoch einen langfristigen Umzug vor.” Andrej selbst bleibt in Belarus, wegen der Familie und der Kinder.
Ein anderes Beispiel ist die Grafik-Programmiererin Maja* von der Firma Wargaming. Maja arbeitet seit anderthalb Jahren in der IT und plant, in die EU auszuwandern, weil die Situation in Belarus ihr Angst macht. „Sätze wie ’man muss sich den IT-Sektor vornehmen’ jagen mir Angst ein. Es gibt Gerüchte, dass ein Gesetz in Vorbereitung ist, das die Ausreise von Bürgern einschränkt. Das könnte auch IT-Kräfte betreffen. Wir wollen in Freiheit Geld verdienen und leben“, sagt sie. Die vielsagenden Zahlen: Die Netto-Abwanderung von Mitarbeitern aus dem belarussischen IT-Sektor belief sich allein in den ersten sieben Monaten 2022 auf über 10.000.
Wohin der belarussische IT-Sektor zieht
Die Firmen verlegen ihre Büros nach Polen, Litauen, Estland, Georgien, Usbekistan. Darunter sind Giganten wie EPAM, IBA, Wargaming, A1Q1, Startups wie Flo und Wannaby und viele andere. Angesichts der großen Nachfrage nach IT-Spezialisten helfen die Nachbarländer oft bei der Verlegung des Firmensitzes. In der Ukraine wurde das komplizierte Verfahren zum Erhalt einer Aufenthaltserlaubnis vereinfacht. Dorthin sind Hunderte, wenn nicht Tausende ausgewandert. Nach dem Beginn des Krieges sind viele wieder weitergezogen.
Polen begann im September 2020, über das Programm Poland.Business.Harbor (PBH) Arbeitsvisa an IT-Kräfte zu erteilen, die Belarus verlassen wollen. Dadurch haben nach Angaben des polnischen Außenministeriums 44.000 Belarussen ein PBH-Visum zur Umsiedlung von Fachkräften und ihren Familien erhalten. Auch in Litauen und Lettland wurden Büros belarussischer Firmen eröffnet. Im litauischen Ministerium für Wirtschaft und Innovation fanden im März 2022 mit 60 (vorwiegend belarussischen) Firmen Verhandlungen über eine Ansiedlung statt.
Und die, die geblieben sind?
„Nach unseren Beobachtungen behalten die IT-Firmen in Belarus ihren Status als juristische Person und ihren Entwicklungsstandort, verlegen aber reihenweise das Top-Management und die Mitarbeiter. Ein Grund für eine vollständige Verlegung kann die Weigerung sämtlicher westlicher Kunden sein, die Zusammenarbeit fortzuführen, oder eine Abschaffung der Privilegien für Residenten des HTP”, sagt Jelisaweta Kapitanowa, Leiterin der Vereinigung Belarus IT Companies Club.
Ausländische Firmen lehnen die Zusammenarbeit mit Firmen in Belarus wegen der hohen Risiken ab, angefangen von der potenziellen Verhaftung von Mitarbeitern bis hin zu Sanktionen. Wegen der Sanktionen gegen Belarus sind die Geldflüsse beschränkt, das Finanzsystem ist instabiler geworden. In der Praxis kann das aussehen wie ein banales Zugriffsverbot auf ein Projekt von belarussischem Territorium aus. Darunter leidet die Branche, und die Regierung versucht, den Sektor zu erhalten und die IT-Firmen auf den Binnenmarkt auszurichten.
Manche Unternehmen sind aber auch zufrieden mit den Arbeitsbedingungen in Belarus: „Die Risiken sind nicht höher als in anderen Ländern, sie sind akzeptabel. Die Gesetze werden ständig besser angepasst, der Verwaltungsaufwand wird vereinfacht. Das Einzige, was gleich geblieben ist: Man kann schwer etwas erreichen, wenn man mit staatlichen Stellen aneckt“, meint Dmitri Nor, Direktor von SkySoft, einem kleinen Webentwickler. „Die Bedingungen für Unternehmen waren bei uns immer recht gut. Es gibt aber eine Nuance: Man muss jetzt Gesetze einhalten und Steuern zahlen. Früher ging es nicht so streng zu, und wer dazu nicht bereit ist, muss jetzt vielleicht dichtmachen.“
Was wird aus dem belarussischen IT-Sektor?
„Die nähere Zukunft von Belarus als Unternehmensstandort ist äußerst traurig“, sagt in einem Interview der Unternehmer und Risikoinvestor Juri Melnitschek, der die App Mams.me entwickelt hat. Zum High-Tech-Park meint Juri, dass dessen steuertechnische Attraktivität sinke. Allerdings würden viele Unternehmen ihren Standort dort beibehalten: Der HTP umfasst über 1.000 Firmen.
Was, außer Geld, verliert Belarus noch? Humankapital. Die besten Spezialisten wandern ab, ist aus den IT-Firmen zu hören. „Belarus gilt momentan als wenig aussichtsreicher und instabiler Standort. Schade um die Anfänger, die Startups, es gibt weniger Möglichkeiten und die Bedingungen sind schlechter. Auf dem Markt sind nur noch wenige gute Organisationen vertreten. Die Zukunft der belarussischen IT-Wirtschaft ist zerstört, und zwar, wie es derzeit aussieht, unumkehrbar“, meint Ilja*, der seit 2019 im IT-Bereich als Programmierer und als Manager in der Filiale eines großen russischen Unternehmens arbeitet.
Der Wert der Abwandernden liege nicht nur in ihren beruflichen Qualitäten, ist Irina* überzeugt; sie ist leitende Kommunikationsexpertin in einer belarussischen Outsourcing- und IT-Firma. „Das sind Menschen, die sehr viel in ihre Bildung und Entwicklung investiert haben. Denkende Menschen, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Avantgarde in Belarus“, sagt sie.
Rund 41 Prozent der IT-Kräfte sind abgewandert, und in einer Umfrage, die die Redaktion des Fachportals Dev.by im Sommer 2022 unter 5175 Personen durchgeführt hat, gaben weitere 25 Prozent an, dies zu planen. Unterdessen arbeiten die Belarussen im Ausland daran, sich zusammenzuschließen, eine Wirtschafts-Diaspora aufzubauen, die nach einem Machtwechsel in Belarus dorthin zurückkehren könnte.
„Wie sind jetzt die Tendenzen? Alle ziehen aus Belarus ab, verlagern ihre Aktiva“, sagt Jaroslaw Lichatschewski, Begründer des Startups Deepdee und einer der Gründer der Stiftung BYSOL, die Opfer der Repressionen unterstützt. „Die Produktorientierung [Startups, die ein eigenes Produkt herstellen; – A.W.] ist zerstört. Niemand, der bei klarem Verstand ist, investiert jetzt in eine belarussische Firma. Das Gleiche gilt für das Outsourcing: Viele Kunden sind nicht bereit, mit Teams in Belarus zusammenzuarbeiten. Die belarussische IT-Branche wird sich – wie die Kultur, der Journalismus und das gesellschaftliche Leben – jetzt im Ausland regenerieren und entwickeln [müssen]. Die Frage ist nur, ob wir als Community bestehen bleiben oder uns in den neuen Ländern in alle Winde zerstreuen.”
* die Namen der in diesem Beitrag genannten Personen, die in Belarus leben oder sich um die Sicherheit ihrer Familien sorgen, wurden geändert oder verkürzt.
In der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1937 ermordete die sowjetische Geheimpolizei im belarussischen Minsk 132 Menschen, darunter viele Dichter, Schriftsteller und Intellektuelle. Seit ein paar Jahren hat sich in Belarus rund um dieses einschneidende Ereignis, an dem sich auch Fragen der belarussischen Identität, Kultur und der Repressionen unter Alexander Lukaschenko entzünden, eine neue Erinnerungskultur entwickelt, nicht als staatliche Initiative, sondern als Bewegung von unten.
Wie gestaltet sich diese Erinnerungskultur? Wie ist sie entstanden? Was geschah in der späten Oktobernacht von 1937? Warum hatte es der sowjetische Staat explizit auf die nationale Elite von Belarus abgesehen? Die Historikerin Iryna Kashtalian gibt in einem Bystro Antworten auf diese und andere Fragen.
1. Was versteht man unter der Nacht der erschossenen Dichter?
In der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1937 wurden in Minsk, im Keller des NKWD-Gefängnisses und in der Pischtschalauski-Burg, 132 Menschen erschossen und die Leichen anschließend in Kurapaty vergraben. Es waren keine einfachen Sowjetbürger, die erschossen wurden, sondern viele bekannte Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wissenschaft, darunter auch 22 Dichter und Schriftsteller. Eine solch gleichzeitige Massenhinrichtung der belarussischen nationalen Elite hatte es zuvor noch nicht gegeben. Daher erhielt dieses tragische Datum im Großen Terror der 1930er Jahre später die Bezeichnung Nacht der erschossenen Dichter.
Anfang 1937 hatte der NKWD der BSSR die Existenz eines „Vereinigten antisowjetischen Untergrunds“ erdacht. Im September wurde dann auf höchster Regierungsebene der UdSSR eine Liste mit 103 Personen unterzeichnet, die unter diesem Vorwand zur Todesstrafe verurteilt wurden. Lokale NKWD-Beamte ergänzten die Liste noch. Zudem wurden auch Familienmitglieder der meisten in dieser Nacht zum Tode Verurteilten mit Repressionen belegt. Schon Anfang August waren mehrere Zehntausend konfiszierte Manuskripte belarussischer Literaten, die als „Volksfeinde“ eingestuft waren, vernichtet worden. Auch in Belarus ist der Verlust eines Großteils der nationalen Elite der 1920er und 1930er Jahre sowie ihres literarischen Vermächtnisses in der historisch multinationalen belarussischen Kultur bis heute spürbar.
2. Warum hatte es die Sowjetmacht vor allem auf die kulturelle Elite abgesehen?
In den 1920er Jahren hatte die Sowjetmacht den Literaturschaffenden gewisse künstlerische Freiheiten zugestanden, damit sie im Rahmen der Korenisazija-Politik die proletarische Kultur entwickelten. Mit der Abkehr von dieser Politik zu Beginn der 1930er Jahre wurden populäre Vertreter der denkenden Elite zur Gefahr für den Staat, der die Gesellschaft vollständig zu kontrollieren bestrebt war. So entledigte man sich ihrer auch in dieser furchtbaren Nacht, in der bekannte Dichter und Prosaautoren, Übersetzer und Kritiker umgebracht wurden.
Unter ihnen war der Dichter Izi Charyk, ein aktives Mitglied der Bewegung Poale Zion, Redakteur der jüdischen Zeitschrift Shtern, Autor von 13 jiddischsprachigen Büchern, verurteilt als „Mitglied einer trotzkistisch-sinowjewistischen Organisation“. Ebenfalls ermordet wurde Platon Halawatsch, führendes Mitglied der Literaturvereinigung Maladnjak und der Belarussischen Assoziation proletarischer Schriftsteller. Nach seiner Festnahme im August 1937 gestand er unter Folter seine „Schuld“ und wurde als „Organisator einer terroristischen Gruppe“ und für „Durchführung deutsch-faschistischer Aktivitäten“ verurteilt. Die Ehefrauen der beiden erhielten jeweils acht Jahre Lagerhaft als „Familienmitglied eines Vaterlandsverräters“ und wurden ins Lager des NKWD nach Karaganda gebracht.
3. Wann erfuhr die belarussische Gesellschaft von den Morden an der Intelligenz? Welche Reaktionen gab es?
Nicht nur die Gesellschaft, auch die Angehörigen der Erschossenen erfuhren die Wahrheit erst Jahrzehnte später. In der Sowjetzeit wurde in den Familien nur mit Vorsicht über ein solches Verschwinden von Angehörigen gesprochen. Viele Jahre lang hatten die überlebenden Zeugen der sowjetischen Verbrechen Angst von ihren Erfahrungen zu erzählen, aus Furcht, alles könnte sich mit ihren Verwandten wiederholen. Selbst nach dem XX. Parteitag der KPdSU, auf dem der Stalinkult verurteilt und die Rehabilitierung der Unschuldigen beschlossen wurde, schwieg man offiziell über die Erschießung als Todesursache. Nika Wetschar, Ehefrau des Schriftstellers Platon Halawatsch, erhielt 1956 eine Bescheinigung, ihr Mann sei 1944 im Lager an Herzstillstand gestorben. Zugang zu den Archiven des KGB erhielten die Angehörigen erst in den 1990er Jahren.
Anstoß für die Auseinandersetzung mit den Ereignissen dieser schwarzen Nacht lieferte 1988 die Erschließung des Ortes Kurapaty bei Minsk als Ort der Massenerschießungen während der stalinschen Repressionen von 1937 bis 1941. Leanid Marakou, Neffe des erschossenen Dichters und Übersetzers Walery Marakou, widmete sich, beeindruckt von der Geschichte seines Onkels, jahrelang der Aufarbeitung der Geschichte der Repressionsopfer und schrieb sogar das Buch, Nur eine Nacht [Tolki adna notsch, Minsk, 2006], das Ausschnitte aus dem Werk der Ermordeten und Zeitzeugenberichte über ihre letzten Lebenstage versammelt.
4. Wie ist das Gedenken zur Nacht der erschossenen Dichter entstanden?
Seit dem 29. Oktober 2017 organisieren die Bewahrer des Gedenkortes Kurapaty die Aktion Nacht der erschossenen Dichter. Heute ist dieses Datum von den Belarussen als der Tag anerkannt, an dem repressierter Kulturschaffender gedacht wird. Jährlich finden dann Veranstaltungen statt: Gedenkaktionen, literarisch-musikalische Abende, bei denen die Namen und Werke der Ermordeten gelesen und biografische Vorträge gehalten werden. Ebenso wurde eine Reihe kreativer Projekte zum Thema initiiert, so etwa das Musikalbum(Ne)rasstraljanyja [Die (Un)Erschossenen] des Portals TuzinFM.by, das auf Gedichten von zwölf erschossenen Dichtern basiert.
Die Ereignisse des August 2020 weckten in Belarus das Interesse am Thema der stalinschen Repressionen in einer breiteren Bevölkerungsschicht, die mit dem Lukaschenko-Regime unzufrieden war. Viele früher eher inaktive Bürger:innen interessierten sich plötzlich für die Geschichte der Repressionen und besuchten zum Beispiel die Vorträge in den Hinterhöfen von Minsk. Das Publikum wollte mehr über die inoffizielle Geschichte des Landes erfahren, in erster Linie über historische Parallelen bei der staatlichen Gewaltanwendung, aber auch über die belarussische Kultur des 20. Jahrhunderts als Quelle für Stolz und Leid. Viele aktive Menschen emigrierten nach 2020 aus Belarus, für sie ist der Tag heute ein Schlüsseldatum, um ihre Solidarität zu zeigen und der eigenen Identität Ausdruck zu verleihen.
5. Wie geht der belarussische Staat mit den Verbrechen um?
In der kurzen Periode von 1991 bis zum Machtantritt Lukaschenkos gab es ein großes Interesse an der Fixierung kommunistischer Verbrechen, Erinnerungstafeln für die Opfer der Repressionen wurden aufgestellt, die Spezialarchive öffneten zumindest teilweise. Nach 1994 kam es zu einem Rückfall bezüglich der sowjetischen Vergangenheit. Die jetzige offizielle Geschichtspolitik zielt nicht ab auf kritische Aufarbeitung und es gibt eine deutliche Verzerrung zwischen der Erinnerung an die Opfer des Stalinismus im Vergleich zu denen des Zweiten Weltkrieges.
In der offiziellen Bildung findet das Thema wenig Erwähnung. Die Namen der erschossenen Dichter sind im Literaturlehrbuch der zehnten Klasse erwähnt, das Schaffen des Schriftstellers Michas Sarezki wird bearbeitet, doch es liegt kein Akzent auf dem Datum 29. Oktober. Im Geschichtslehrbuch der neunten Klasse wird Kurapaty erwähnt, doch die Opferzahlen sind bedeutend niedriger angegeben und andere Orte von Massenhinrichtungen werden nicht genannt.
Schon vor 2020 versuchte die Regierung, der Gesellschaft die Kontrolle über Kurapaty zu entziehen, jedoch nicht zum Zweck der Vermittlung, sondern um die politische Aktivität der Bürger zu ersticken und totzuschweigen. Heute kümmert sich der Staat selbst nicht um diesen Ort, doch die Bewahrer der Gedenkstätte werden gezielt unterdrückt, auch für den Versuch, vor Ort an die Nacht der erschossenen Dichter zu erinnern. Insgesamt bleibt die Verantwortung für die Erinnerung an dieses Thema also Sache der Zivilgesellschaft.
6. Welche Gedenkveranstaltungen und -aktionen gibt es 2022?
Im vergangenen Jahr gab es mehr als 40 Veranstaltungen im Kontext der Nacht der erschossenen Dichter, in 38 Städten weltweit. In diesem Jahr finden die Aktionen vor dem Hintergrund eines Krieges und nicht endender Repressionen in Belarus statt. Dennoch gibt es sie wieder, in zahlreichen Ländern der Welt, auf verschiedenen Kontinenten, in denen die belarussische Diaspora lebt. Auf der Webseite nochpaetau.com kann man sich darüber informieren. Dort stehen auch viele Materialien über die repressierten Poeten zur Verfügung – Musik, Vorträge und mehr. Die Organisatoren offerieren allen Interessierten Beteiligungsmöglichkeiten: von der individuellen Beschäftigung mit Quellen zum Thema bis hin zur Durchführung eigener Gedenkveranstaltungen in verschiedenen Formaten.
Eine große Veranstaltung der belarussischen Diaspora-Organisation in Deutschland Razam findet in der Stadtbibliothek Bremen statt. Dort kann man sich an Diskussionen belarussischer und deutscher Experten zu den politischen Repressionen in Belarus im 20. und 21. Jahrhundert beteiligen, über den Widerstand der belarussischen Literatur gegen Krieg und Repression sprechen und bei einem Konzert belarussische Lieder hören. In Białystok und Warschau finden Präsentationen des neuen Buches (Ne)rasstraljanyja [Die (Un)Erschossenen] statt, das den ermordeten Schriftstellern der 1930er Jahre gewidmet ist.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Alexander Lukaschenko behauptet seit Beginn des russischen Angriffskrieges immer wieder, dass die Ukraine und auch die NATO einen Angriff auf Belarus planen würden. Genau dies hat der belarussische Machthaber nun auch vordergründig angeführt, um die Aufstellung einer gemeinsamen regionalen Truppe mit Russland auf den Weg zu bringen. Mittlerweile sollen bereits rund 9000 russische Soldaten in Belarus angekommen sein. Die neu geschaffene Einheit soll an der Grenze zur Ukraine stationiert werden. Zudem laufen Vorbereitungen, den Zivilschutz zu bewaffnen und Bunkeranlagen im ganzen Land auszurüsten. Auch gibt es immer wieder Hinweise, dass Lukaschenko doch planen könnte, seine Armee aufzustocken. In den vergangenen Wochen hat die Staatsführung auch immer wieder Treffen mit seinen Sicherheitsbehörden abgehalten. Trotz dieser Drohgebärden hat Lukaschenko immer wieder dementiert, in den Krieg gegen die Ukraine mit eigenen Truppen aktiv eingreifen zu wollen. Könnten diese Entwicklungen jedoch ein Hinweis darauf sein, dass Putin und seine Armee den Druck auf den widerwilligen Nachbarn erhöht haben, um ihn doch zum Eingreifen zu zwingen? In jedem Fall sind dies alles auch Zeichen dafür, dass Lukaschenkos Macht durch den Kreml offensichtlich untergraben und damit ausgehöhlt wird.
Wie souverän kann der belarussische Machthaber überhaupt noch agieren? Ist er mittlerweile ein Getriebener der Umstände, in die er sich vor allem seit 2020 selbst manövriert hat? Was bedeutet dies für die Unabhängigkeit von Belarus? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich der belarussische Politanalyst Waleri Karbalewitsch in seinem Beitrag für das Online-MediumSN Plus. Dies tut er vor dem Hintergrund der Bekanntgabe des Friedensnobelpreises, der unter anderem an den belarussischen Menschenrechtler Ales Bjaljazki geht – dem als Häftling Lukaschenkos eine besondere Rolle im Spiel um die Macht zufallen könnte.
Beinahe unbemerkt ging das in diesem Jahr achte Treffen von Lukaschenko und Putin über die Bühne. Diesmal in Sankt Petersburg, am Rande eines informellen GUS-Gipfeltreffens, das zeitlich mit Putins 70. Geburtstag abgestimmt worden war. Die eher ephemere GUS hat als Organisation ihre Bedeutung längst eingebüßt. Und um die Oberhäupter der postsowjetischen Staaten zu versammeln, muss Moskau erfinderisch werden. So werden die Präsidenten der GUS-Länder zu Feierlichkeiten eingeladen, etwa zum Tag des Sieges. Und die werden dann zu informellen Gipfeltreffen erklärt. Jetzt haben sie sich also ausgedacht, Putins runden Geburtstag als Anlass zu nehmen. Womit eine Absage wie eine demonstrative Respektlosigkeit gegenüber dem russischen Präsidenten aussieht. (Diesmal sind übrigens die Präsidenten von Kirgistan und Moldau nicht angereist.)
Die Gespräche zwischen Lukaschenko und Putin dauerten rund eine Stunde. Vermutlich war es eine Fortsetzung ihrer kürzlich nicht zu Ende gebrachten Diskussion in Sotschi. Inzwischen ist etwas für die belarussisch-russischen Beziehungen sehr Wichtiges passiert: Moskau hat Belarus für seine Verluste durch das russische Steuermanöver eine Kompensation in Form einer „Rückerstattungsakzise“ für belarussische Raffinerien zugesagt.
Im Gegenzug stimmte Minsk einer Vereinheitlichung der Steuergesetze mit Russland zu, wogegen sich die belarussische Führung jahrelang gewehrt hatte. Aus einer Reihe von Gründen: Erstens bedeuten jegliche Veränderungen im Steuersystem eine Erschütterung wirtschaftlicher Subjekte und der Wirtschaft insgesamt. Zweitens ist anzunehmen, dass die Steuergesetze nach russischem Vorbild vereinheitlicht werden. Dass Russland seine Steuern an die belarussischen Bestimmungen anpasst, ist schwer vorstellbar. All das bedeutet, dass Belarus der Möglichkeit beraubt wird, selbständig seine eigenen Steuern für die steigenden Preise und Akzisen zu erheben. Steuerpolitik ist ein wichtiger Bestandteil der wirtschaftlichen Souveränität eines jeden Staates. Zugunsten Russlands gibt Belarus diese jetzt auf. Außerdem wird ein supranationaler Ausschuss für Steuerangelegenheiten eingerichtet, der diesen ganzen Prozess beobachten und kontrollieren soll. Wodurch Russland auf die gesamte Steuerdatenbank von Belarus, auf alle belarussischen Steuerzahler, Zugriff erhält. Der Preis dafür sind 500 Millionen US-Dollar pro Jahr, die Belarus von Russland als Kompensation für das Steuermanöver erhält. Für den Verzicht auf einen bedeutenden Teil der wirtschaftlichen Souveränität ist das nicht viel.
Vor einem Jahr, als von den Bündnispartnern 28 Programme der wirtschaftlichen Integration beschlossen wurden, wurde ihr Inhalt von Experten diskutiert. Viele waren der Meinung, sie seien nichts als leere Deklarationen. Möglicherweise wäre es dabei auch geblieben, wäre es nicht zum Krieg und einer verschärften internationalen Isolierung von Belarus gekommen. Jetzt aber, angesichts dieser Verflechtungen, opfert Lukaschenkos Regime im Kampf ums Überleben Stück für Stück immer mehr Teile seiner staatlichen Souveränität.
Der Kampf um die Preise
Am 6. Oktober hielt Lukaschenko eine Sitzung zum Thema Preispolitik und Inflation ab. Am selben Tag unterschrieb er die Direktive Nr. 10 „Über die Unzulässigkeit von Preiserhöhungen“, in der festgelegt ist, dass Personen, die die Forderungen dieses Dokuments missachten, zur Verantwortung zu ziehen sind bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung.
Das Thema Preise ist in Belarus seit Lukaschenkos Amtsantritt aktuell. Seine gesamte Regierungszeit hindurch kämpft er gegen die Preissteigerungen. Doch mit sehr kümmerlichen Ergebnissen. Die Inflationsrate in Belarus war in den letzten 30 Jahren eine der weltweit höchsten. Dass diese Direktive in wirtschaftlicher Hinsicht sinnlos ist, ist klar. Längst ist bewiesen, dass der Kampf gegen die Preiserhöhungen mit administrativen Methoden nicht effektiv ist. Weil er mehr Schaden als Nutzen bringt und zur Warenverknappung und Zerstörung der Unternehmensstrukturen führen kann. Zudem ist die Inflation heute ein globales Problem – eine Folge der Covid-Pandemie und der wachsenden Preise für Energie und Lebensmittel aufgrund des russischen Kriegs gegen die Ukraine.
Zweifellos ist der Erlass dieser Direktive ein politischer Akt. Den Lukaschenko schon oft unternommen hat: Es ist ein Versuch, zum Wirtschaftspopulismus zurückzukehren. Doch in den letzten Jahren ist im Land zu viel passiert, als dass er mit so primitiven Tricks sein Image aufbessern könnte. Man sollte hier aber auch beachten, wie konsequent Lukaschenko auf eine Mobilmachungsökonomie setzt. Es herrscht ein Kampf gegen das Unternehmertum, die Arbeitsbedingungen für Gewerbetreibende und für Anbieter im Agrotourismus werden immer schlechter. Lukaschenko ordnete die Mobilisierung von Studenten und Schülern für die landwirtschaftliche Arbeit an, verlangte ein Verbot der freien Wohnsitzwahl innerhalb des Landes für Verwaltungsbeamte und Fachkräfte. Denn das Jahr 2020 hat gezeigt, dass die Marktwirtschaft eine sozialpolitische Schicht hervorbringt, die für den Fortbestand der Diktatur eine echte Bedrohung darstellt.
Der zweite belarussische Nobelpreis
Vor zehn Jahren noch hätten die Belarussen nicht einmal davon träumen können. Aber heute haben sie den zweiten Nobelpreisträger innerhalb von sieben Jahren. Der prominente Menschenrechtler Ales Bjaljazki wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Gewissermaßen erfährt die Welt dank des Nobelpreises von Belarus.
Der Sprecher des belarussischen Außenministeriums, Anatoli Glas, ließ sogleich verlauten, dass der Friedensnobelpreis politisiert worden sei. Ein seltsamer Vorwurf. Denn von allen Nobelpreisen ist er der einzige, mit deutlich politischem Subtext. Wie soll man schließlich außerhalb des politischen Raums für Frieden kämpfen? Krieg und Frieden sind die zentralen politischen Herausforderungen der Gegenwart. Daher kann ein Friedenspreis per se nicht unpolitisch sein.
Der Krieg in der Ukraine spielte in diesem Jahr eine wichtige Rolle bei der Nominierung, wie auch die Vorsitzende des Nobelkomitees, Berit Reiss-Andersen, bestätigte. Den Friedenspreis zu vergeben und dabei diesen großen Krieg in Europa seit 1945 zu ignorieren, der die ganze Welt erschüttert, wäre unlogisch. Die Preisträger mussten irgendwie damit zu tun haben. Andererseits: Während dieses erbarmungslosen Krieges Kandidaten für einen Friedensnobelpreis zu finden, ist nicht gerade einfach.
Das Nobelkomitee entschied sich gegen eine Auszeichnung von Politikern, obwohl unter den Nominierten auch Wolodymyr Selensky, Alexej Nawalny und Swetlana Tichanowskaja waren. Die Lösung war, den Preis an Menschenrechtler bzw. Menschenrechtsorganisationen der drei am Krieg beteiligten Länder zu vergeben – was in der Ukraine für Unmut sorgte: Warum werden Vertreter der angreifenden Länder genauso ausgezeichnet wie jene, die die Opfer der Aggressionen repräsentieren?
Während in Russland und der Ukraine Organisationen geehrt wurden (Memorial und Center for Civil Liberties), fiel die Wahl in Belarus auf eine konkrete Person: Ales Bjaljazki. Obwohl man auch da das Menschenrechtszentrum Wjasna hätte auswählen können, dessen Leiter der belarussische Preisträger ist. Vermutlich wurde diese Entscheidung von mehreren Faktoren beeinflusst: Vor allem ist daran zu erinnern, dass Ales Bjaljazki schon fünf Mal für den Friedensnobelpreis nominiert war. Das heißt, er hatte diesbezüglich eine lange Geschichte. Der zweite wichtige Faktor war, dass Bjaljazki derzeit zusammen mit seinen Wjasna-Anhängern hinter Gittern sitzt. Noch dazu bereits zum zweiten Mal. Jetzt „winkt“ ihm eine saftige Lagerhaft (die Verhandlung liegt noch vor ihm). Er ist als politischer Häftling und Gewissensgefangener anerkannt.
Zudem sei darauf verwiesen, dass dieser Nobelpreis für Belarus ein Nachhall des Kataklysmus von 2020 ist. Die damaligen Proteste waren eine Zeitlang das größte Medienereignis weltweit. Daher kann man es auch so sehen, dass diese Auszeichnung jene Zehn- und Hunderttausende Belarussen erkämpft haben, die vor zwei Jahren monatelang auf die Straße gingen. Der Preis für Bjaljazki, der hinter Gittern sitzt, sollte die internationale Aufmerksamkeit auf die über tausend politischen Häftlinge in Belarus lenken.
Was die Reaktion der Regierungen betrifft: Viele meinten, das Nobelkomitee bringe mit dieser Auswahl das belarussische Regime in eine schwierige Situation. Nach dem Motto: Es sei ihm unangenehm, dass sich ein Nobelpreisträger in Haft befindet. Aber auch eine Entlassung wäre peinlich, denn das würde ja aussehen, als ließe Lukaschenko sich von der internationalen Gemeinschaft moralisch unter Druck setzen. Vielleicht stimmt das ja. Vielleicht ist aber auch alles viel einfacher.
Denn Lukaschenko hat plötzlich einen sehr wichtigen politischen Gefangenen. Den kann er als teure Ware einsetzen und vom Westen ein stattliches Lösegeld verlangen.
Die Aufregung war groß, als Alexander Lukaschenko nach einem neuerlichen Treffen mit Wladimir Putin in Sankt Petersburg ankündigte, einen regionalen Truppenverband zusammen mit dem russischen Militär aufstellen zu wollen. Würde der belarussische Machthaber, nachdem er sich über Monate offensichtlich dem Druck des Kreml entzogen hat, doch eigene Truppen in den Angriffskrieg gegen die Ukraine entsenden?
Der belarussische Verteidigungsminister Viktor Chrenin versuchte, den Sorgen und Befürchtungen, gerade von ukrainischer Seite, Wind aus den Segeln zu nehmen. Er sagte: „Wir wollen nicht gegen Litauer kämpfen, oder Polen, oder Ukrainer.“ Allerdings senden die belarussischen Machthaber seit Monaten widersprüchliche Signale, denn Lukaschenko unterstützt den russischen Krieg nicht nur mit seiner aggressiven Rhetorik, die der des Kreml in vielerlei Hinsicht ähnelt, sondern auch, indem Russland das belarussische Territorium bis heute für den Abschuss von Raketen in Richtung Ukraine nutzt.
Die Ankündigung einer gemeinsamen Truppe hielt Lukaschenko, wie man es von ihm kennt, recht schwammig. Was aber steckt hinter dieser Ankündigung? Wie ist sie zu bewerten? Welche Taktik verfolgt Lukaschenko? Und ist sie gleichzusetzen mit einer Entsendung eigener Truppen in die Ukraine? In einem Telegram-Beitrag gibt der belarussische Politanalyst Wadim Mosheiko Antworten auf diese Fragen.
Die Verlegung von Truppen ist kein Angriff. Die Alarmisten helfen Putin, der mit verschiedenen demonstrativen Aktionen versucht, sein „Das ist kein Bluff“ zu untermauern.
Die Angriffe auf ukrainische Städte, Wohnhäuser und Infrastruktur mit zivilen Opfern, das ist zwar immer furchtbar, aber auch nicht neu oder überraschend. Das ist eine Taktik, die Russland bereits eingesetzt hat, und die nichts am Verlauf des Krieges geändert hat.
Lukaschenkos Erklärungen folgten der absolut gleichen Logik. Seine „Aufstellung eines gemeinsamen regionalen Truppenverbands“ sind sehr allgemeine Worte, die letztendlich eine Verlegung unterschiedlicher Kräfte beschreiben, mehr aber auch nicht. Von einem Einmarsch der belarussischen Armee war keine Rede; eine Aufstellung ist kein Angriff.
Die einzig konkrete Ankündigung (und auch die eine recht mickrige) war das Versprechen, dass „in nächster Zeit“ russische Soldaten in Belarus aufgenommen und dort stationiert werden, „nicht in großer Zahl“, aber auch „nicht nur tausend Mann“. Auch das ist leider nichts Neues: Seit Beginn des Krieges ziehen sowieso russische Militärangehörige nach Belarus, und zwar zu dem Zeitpunkt und in der Stärke, wie es ihnen beliebt, und das Regime Lukaschenko gewährt ihnen dabei logistische Unterstützung. Hier verweise ich erneut auf meine Drei Prinzipien, die Lukaschenkos Verhalten im Krieg beschreiben:
1) Wenn ein Stillhalten von Lukaschenko ausreicht, damit der Kremlvon Belarus aus agieren kann, dann bekommen und machen die Russen, was sie wollen und wann sie es wollen. Um beispielsweise Flugzeuge der russischen Luftwaffe in den belarussischen Luftraum zu lassen, damit sie die Ukraine angreifen, reicht es, wenn Lukaschenko nicht stört. Das Gleiche gilt für die Ankunft russischer Raketenwerfer, mit denen ukrainische Städte beschossen werden. Die werden so oft und zu dem Zeitpunkt eintreffen, wie es Russland beliebt, und so lange, wie Russland über ausreichend Ausrüstung und Munitionsvorräte verfügt. Unabhängig davon, ob sich derzeit solche russische Streitkräfte in Belarus befinden, was Lukaschenko gesagt hat, oder ob Kyjiw das KabinettTichanowskaja anerkennen wird und so weiter.
2) Wenn von Lukaschenko eine technische Unterstützung verlangt wird, die seine politische Position nicht gefährdet, dann wird er dem Kreml bei allem behilflich sein. Das betrifft die gesamte Logistik, angefangen bei den Flughäfen über die Straßen und Gleisverbindungen, die Behandlung verletzter russischer Soldaten in belarussischen Krankenhäusern bis hin zur Reparatur russischen Kriegsgeräts in belarussischen Fabriken und Werkstätten. Für Minsk würde das alles keine größere Schuld und keine zusätzlichen Sanktionen bedeuten, und es würde an der öffentlichen Meinung in Belarus oder der Ukraine nichts Wesentliches ändern.
3) Falls von Lukaschenko konkrete Entscheidungen im militärischen Bereich verlangt werden, ohne die die Dinge nicht in Gang kämen, dann würde er sie nicht treffen und nichts würde geschehen. Ohne einen Befehl des Oberkommandos (und des Oberkommandierenden Lukaschenko) werden die Offiziere der belarussischen Streitkräfte nicht dazu übergehen, auf Befehle aus Moskau zu hören und einen Angriff unternehmen. Ohne Lukaschenkos Befehl werden die belarussischen Mehrfachraketenwerfer vom Typ Polones keinen Beschuss der Ukraine beginnen. Und ohne einen Befehl von Lukaschenko wird es keine Mobilmachung geben. Das bedeutet natürlich nicht, dass eine Eskalation von Seiten Lukaschenkos grundsätzlich ausgeschlossen ist. Doch seine Angst, sich Russland entgegenzustellen ist, gepaart mit seinem Unwillen, noch tiefer in den Krieg hineingezogen zu werden, wobei er sich die eigene Grube immer tiefer gräbt (indem er die ohnehin überaus hohe Abhängigkeit von Russland weiter vergrößert).
* * *
Wenn jetzt irgendwann ein paar Tausend russische Soldaten in Belarus eintreffen sollten, wäre das nichts Gutes. Es wäre aber auch nichts Neues und würde weder am Verlauf des Krieges noch an der Position von Lukaschenko oder Belarus etwas ändern.
Auf solche Dinge muss natürlich auf diplomatischer Ebene und bei der NATO reagiert werden, es ist ein Schritt in eine schlechte Richtung, der unbedingt zu bedenken ist. Aber die belarussische Armee wird hier und jetzt nicht in den Krieg eintreten, also sind auch panische Rufe wie „Ein Wolf, ein Wolf!“ unangebracht.
Der belarussische Menschenrechtler Ales Bjaljazki wird mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Kurz nach Bekanntgabe durch das Nobelkomitee in Oslo äußerte sich die belarusissche Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch dazu auf Pozirk, dem neuen Telegram-Portal des liquidierten Naviny.by.
Der Belarusse Ales Bjaljazki wird zusammen mit den Menschenrechtsorganisationen Center for Civil Liberties (Ukraine) und Memorial (Russland) ausgezeichnet.
[bilingbox]Bjaljazki ist für mich eine mythologische Figur des belarussischen Kampfes. Er hat es verdient – das ist noch zu wenig gesagt. Das ist schon lange sein Preis.
Was die von ihm gegründete Menschenrechtsorganisation Wjasna gemacht hat und unter den gegenwärtigen Umständen weiter tut, ist in seinem Geiste, nach seiner Philosophie. Das freut mich sehr.
Ich weiß, dass Ales [in Haft – dek] ernsthaft erkrankt ist. Wir alle müssen darüber sprechen, dass er in Freiheit sein sollte, mit seinem Volk. Was die Staatsmacht mit ihm anstellen wird, ist schwer vorstellbar, aber ein solcher Mensch darf nicht im Gefängnis sein, das ist eine Erniedrigung sowohl für das Volk als auch für die Staatsmacht selbst, falls sie das versteht.~~~— Считаю Беляцкого мифологической фигурой белорусской борьбы. Заслужил — этого мало сказать. Это уже давно его премия, — сказала лауреат Нобелевской премии по литературе Светлана Алексиевич. — То, что сделала и делает в этих условиях созданная им «Вясна», — это в его духе, в его философии. Я очень рада.
Алексиевич сомневается, что после этого Беляцкого выпустят из тюрьмы.
— Знаю, что Алесь серьезно болен. Мы все должны говорить о том, что ему нужно быть на свободе, со своим народом, — считает Алексиевич. — Что сделает с ним власть, трудно представить, но такой человек не может быть в тюрьме — это унижение и народа, и самой власти, если она это понимает.[/bilingbox]
Original und russische Übersetzung vom 07.10.2022; Übersetzung aus dem Russischen: dekoder-Redaktion Veröffentlicht am 07.10.2022
Sergej Bruschko (1958–2000) gehörte zu den bekanntesten Fotojournalisten seiner Heimat Belarus. Mit seiner Arbeit dokumentierte er nicht nur die Zeit des großen Umbruchs in der Zeit von Perestroika und Glasnost, er prägte sie mit seinen charaktervollen Fotografien, die Geschichten aus jener Zeit erzählen – Geschichten von Leid, Angst, Unabhängigkeit, Hoffnung und von der Kraft des Aufbruchs. Nikolaj Chalesin, der als Redakteur mit Bruschko zusammenarbeitete und später das Belarus Free Theatre gründete, urteilt: „Jede seiner Arbeiten ist eine komplette Geschichte, jedes Porträt ein Charakter, jedes Foto stellt eine ganze Epoche dar. Ich bin nicht prätentiös – es war unser Schicksal, an einem solchen Wendepunkt zu leben, an dem alles wichtig ist.“
Bruschko prägte aber nicht nur den belarussischen Fotojournalismus, sondern auch den Lebensweg seines Sohnes. Dimitri Bruschko trat schließlich in die Fußstapfen seines Vaters und wurde selbst Fotograf und Bildredakteur. Er hat es sich auch zur Aufgabe gemacht, die Arbeit seines Vaters nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. So hat er aus dem umfangreichen Archiv ein Buch mit Fotos von Sergej Bruschko zusammengestellt, von denen dekoder eine Auswahl zeigt. Zudem haben wir Dimitri Bruschko befragt – über die Arbeit seines Vaters, über den Unabhängigkeitskampf der Belarussen, über Zeiten, die alles verändern können.
dekoder: Warum haben Sie das Buch, das dem fotografischen Werk Ihres Vaters gewidmet ist, Smena (dt. Wechsel)genannt?
Dimitri Bruschko: Zunächst ist Smena ein Zeichen der Anerkennung für die Redaktion der belarussischsprachigen Zeitung Tschyrwonaja Smena, eine der progressiven und liberalen Redaktionen in Belarus zu Zeiten der Perestroika. Mein Vater hat in jenen Jahren, von denen in dem Buch erzählt wird, dort gearbeitet. Im Alltag wurde die Zeitung zwar Tschyrwonka, die Rote, genannt. Für den Kontext jener Zeit, für eine Erzählung über die Epoche, die Belarus die Unabhängigkeit schenkte, ist jedoch das Wort Smena wichtiger. Denn es bedeutet im Belarussischen wie im Russischen „Wechsel“, „Veränderung“ und bezeichnet den Zustand des Wandels, den es Ende der 1980er Jahre und Anfang der 1990er Jahre im gerade neu entstandenen Belarus gab. Damals erfolgten Veränderungsprozesse im Aufbau des Staates, ein Generationswechsel in der Verwaltung des Landes wie auch im Wirtschaftssystem; das Land öffnete sich zum ersten Mal dem Westen. Diese Zeit lässt sich als eine Ära des Umbruchs bezeichnen, in der die belarussische Geschichte eine ganz neue Wendung nahm.
Wie ist die Idee zu dem Buch entstanden?
Ungefähr 2017 fingen die lukaschenkotreuen Propagandisten in den staatlichen Medien an, davon zu reden, dass das unabhängige Belarus 1994 aus den Ruinen der UdSSR entstanden sei. Aber niemand sprach von den Gründen für den Zusammenbruch des Imperiums und dass das Land die Unabhängigkeit schon 1991 erlangt hatte. Die Propagandisten versuchen bis heute, jede Erinnerung aus der Geschichte zu streichen, die nicht mit der Herrschaft Lukaschenkos verknüpft ist.
Ich habe versucht, Bücher und Projekte zu finden, die über die Jahre 1988 bis 1994 berichten könnten, habe aber kein einziges finden können. Ich fand da Ausschnitte aus alten Zeitungen und ein paar Kulturprojekte, aber damit lässt sich der Gesamteindruck nicht wiedergeben. Deshalb beschloss ich, einen Fotoband zu machen, und zwar kein Album aus wohlkomponierten Fotografien in perfektem Licht, sondern ein Buch über eine Zeit, in der ein ganz neues Land entstand und die mein Vater mit seinen Fotos dokumentiert hat. Ich wollte, dass die Sprache des Narrativs dem Zeitungsstil nahekam, weil die Zeitungen damals die Informationsquelle waren, die für die Menschen am leichtesten zugänglich war. Deshalb weist das Buch viele Gestaltungselemente einer Zeitung auf. Anstelle von Texten mit Erläuterungen zur Zeit der Perestroika wollte ich lieber eine Reihe von Interviews und Erinnerungen über die Ereignisse und den Geist jener Zeit. Selbst die Farbe des Papiers sollte an den warmen Ton von Zeitungspapier erinnern.
Wie wurde Ihr Vater zum Foto-Chronisten einer Zeit, die nicht nur für Belarus so folgenreich war? Hatte das damals mit Glasnost zu tun?
Mein Vater wollte, nachdem er die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, Geologe werden. Ihm fehlte bei den Zensuren lediglich ein einziger Punkt, um es auf die Universität zu schaffen, deshalb ging er auf eine Fachschule, um Fotograf zu werden. Später kam er zu einer regionalen Zeitung in Soligorsk, wollte aber unbedingt zu einer großen Zeitung und schickte seine Fotografien an überregionale Zeitungen in der Belarussischen SSR.
Man wurde auf ihn aufmerksam und bot ihm bei der Tschyrwonaja Smena in Minsk eine Stelle an. Minsk war zwar die Hauptstadt, aber auch verschlossen: Man konnte dort nur dann arbeiten, wenn man Bewohner der Stadt war oder eine Genehmigung einer Komsomol-Organisation hatte, die den Neuankömmling dann mit einer Wohnung zu versorgen hatte. Mein Vater erhielt beim Komsomol eine Absage und musste sich mit Hilfe von Schmiergeldern eine Meldebescheinigung in Minsk besorgen. Danach erst konnte er eine Stelle als Fotokorrespondent antreten.
Als er seine Arbeit begann, war die Zeit von Perestroika und Glasnost schon angebrochen. Allerdings war es noch zu früh, von Meinungsfreiheit zu sprechen. Alle Zeitungen befanden sich im Besitz des Staates und unterlagen der Zensur. Man konnte nicht einfach mit einer Geschichte über Wohnungsprobleme von Arbeitern oder zu wenig Schuhen in den Geschäften kommen. Solche Berichte mussten mit den Gremien der Kommunistischen Partei abgesprochen werden, was nicht immer gelang. Mitunter konnte man sich selbst bei einem ideologisch abgesicherten Thema eine Rüge der Parteileitung einhandeln. Ich erinnere mich, wie mein Vater zum Gespräch mit den Parteibürokraten vorgeladen wurde. Und zwar wegen eines Fotos von den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges am 9. Mai, auf dem ein mit Orden dekorierter Veteran zu sehen war, der Bier trank. Diese Aufnahme passte einfach nicht zum Bild des Siegers in der staatlichen Propaganda.
Ihr Vater hat auch die menschlichen Folgen von Tschernobyl in den Vordergrund seiner Arbeit gestellt. War es damals womöglich etwas Neues, die Menschen als Individuen zu sehen?
Mein Vater war ein logisch denkender Mensch und er verstand sehr wohl die Dimensionen der Tragödie, die die Republik ereilt hatte. Für ihn war das keine Katastrophe aus technischem Versagen, sondern ein menschliches Drama. Er hatte einen beträchtlichen Teil seines Lebens auf dem Land gelebt und kannte die Psychologie der Menschen dort recht gut. In Belarus waren [von Tschernobyl] vor allem Dörfer und ihre Bewohner betroffen. Das Schicksal wollte es, dass ihm gerade in dieser Zeit klar wurde, dass die Fotografie seine Berufung ist. Er verstand die Tragödie der Menschen, und er hatte die Möglichkeit, dieses Thema mit seinen Fotos zu bearbeiten, weil er damals einen Ausweis als sowjetischer Fotokorrespondent in der Tasche hatte. Als Anhänger humanistischer Fotografie hat er dieses Thema einfach aufgreifen müssen.
War Ihr Vater jemand, der die Unabhängigkeit von Belarus unterstützt hat?
Natürlich hatte er seine Meinung zu den Ereignissen, die er fotografierte. Er war ein Verfechter der belarussischen Unabhängigkeit und dachte, dass nur die Bürger des eigenen Landes es zu einem prosperierenden Staat aufbauen können. Diese Ansicht mag vielleicht etwas naiv erscheinen, aber bei der Wahl zwischen Romantik und Pragmatismus hat er sich für das Erstere entschieden. Bei der Präsidentschaftswahl 1994 gab er seine Stimme Stanislaw Schuschkewitsch; er dachte, dass nur ein kluger und anständiger Mensch das Land lenken sollte. Die nächste Präsidentschaftswahl im Jahr 2001 hat er nicht mehr erlebt, war aber überzeugt, dass Lukaschenko entweder die Wahl verliert oder nach seiner zweiten Amtszeit abtritt. Die Wirklichkeit zeigt, dass es für den Willen zu herrschen keine Grenzen des Anstands gibt.
Wurden Sie durch Ihren Vater dazu inspiriert, selbst als Fotograf festzuhalten, wie die Belarussen auch unter Lukaschenko für ihre politische Emanzipation gekämpft haben?
Die Fotografien meines Vaters waren für mich ein Geschichtslehrbuch, in dem es keine Propaganda gab. In den Archiven befindet sich nicht nur eine Auswahl seiner besten Fotografien, sondern auch Arbeiten, durch die man verstehen kann, was während der Perestroika und in den ersten Jahren der Unabhängigkeit tatsächlich vor sich ging. Im Grunde war sein Archiv eine Art Grundlage für meine Entwicklung, nicht nur als Fotograf, sondern auch als Mensch. Die Fotografien an sich geben noch keine direkte Antwort darauf, was gut und was schlecht ist. Sie bringen einen aber dazu, Fragen zu stellen und die Antworten in sich selbst zu suchen.
Was haben Sie sonst von Ihrem Vater für die Arbeit als Fotograf gelernt?
Ich erinnere mich an zwei Regeln meines Vaters, die ich auch bei meiner Arbeit zu beherzigen versuche. Erstens: Bei der Arbeit muss man einen kühlen Kopf bewahren, aber das Herz sprechen lassen – auf keinen Fall umgekehrt. Das hat mir geholfen, in den schwierigsten Situationen von 2020 zu überleben. Als ich nämlich nicht nur die dramatischen Ereignisse um mich herum fotografieren wollte, sondern auch sehen musste, wie ich mit meiner Ausrüstung heil aus den Demonstrationen in der Stadt herauskomme; die glichen eher Kämpfen, bei denen auch Jagd auf Journalisten und ihre Fotoausrüstungen gemacht wurde. Die zweite Regel lautete: Fotografiere die Gerüche. Damit die Bilder nach Gefühlen riechen, nach Freiheit, Angst oder nach Hoffnung.
Auch beim neuerlichen Treffen in Sotschi demonstrierte Alexander Lukaschenko wieder einmal laut seine Loyalität gegenüber Russland. Wie bei den letzten Aufeinandertreffen folgte der belarussische Machthaber dabei auch den gängigen Narrativen des Kreml. Er forderte „Respekt“ von den westlichen Staaten. Zudem sagte er: „Niemand hält Erniedrigungen aus.“ Was die beiden Staatsführer besprochen oder womöglich beschlossen haben, blieb hinter verschlossenen Türen.
Klar dürfte sein, dass Putin weiterhin versucht, Druck auf Lukaschenko auszuüben, Russland noch aktiver im Angriffskrieg gegen die Ukraine zu unterstützen. Bisher konnte sich Lukaschenko erfolgreich dagegen wehren, eigene Truppen in den Krieg zu schicken. Mit der „Teilmobilmachung“, die Russlands Führung vollzieht, dürfte der Druck auf den belarussischen Machthaber jedoch nochmals zunehmen.
Wie realistisch ist eine Mobilmachung in Belarus? Würde diese Lukaschenko nicht in seiner eigenen Macht gefährden? Welche Möglichkeiten hat Putin noch, Lukaschenko in die Verpflichtung zu nehmen? In einem Beitrag für das Online-Medium Naviny gibt der Journalist Alexander Klaskowski auf diese und andere Fragen Antworten.
Lukaschenko konnte es auch diesmal nicht lassen, seinen politischen Opponenten eins auszuwischen, die versuchen, „eine Brücke zu schlagen“ zwischen der Mobilmachung in Russland und der Möglichkeit, dass etwas Ähnliches in Belarus geschehen könnte.
„Wir planen keine Mobilmachung. Das ist eine Lüge“, sagte der Führer des Regimes am 23. September in der Gedenkstätte Chatyn.
Tatsächlich sind die Belarussen nicht wegen der Rhetorik der Oppositionsführer alarmiert, sondern wegen der offensichtlich engen Bindung zwischen Kreml und Minsk im militärischen Bereich. Und das umso mehr, da Lukaschenko noch vor ein paar Tagen betont hatte: „[…] wir haben gemeinsame Streitkräfte, faktisch“.
Belarussische Eliteeinheiten hätten kaum eine Chance gegen ukrainische Kämpfer
Die Frage, ob Lukaschenko mit seinen Truppen in den Krieg gegen die Ukraine eintritt, wird mittlerweile wie ein Sakrament behandelt. Noch weicht der Führer des Regimes dem geschickt aus, was verständlich ist.
Die August-Umfrage von Chatham House ergab: Nur drei Prozent der Befragten meinen, Belarus solle sich auf der Seite Russlands an den Kriegshandlungen beteiligen. Das ist weniger als die statistische Fehlerwahrscheinlichkeit der Stichprobe (3,5 Prozent). Und das bedeutet, dass sogar eine Mehrheit von Lukaschenkos Kernwählerschaft eine solche Idee nicht unterstützt.
Die Belarussen glauben auch nicht an eine starke Moral ihrer Armee, falls diese in die Ukraine geschickt wird. Nur 18 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass sich ihre Landsleute in Uniform aktiv an dem Krieg gegen die Nachbarn im Süden beteiligen würden. Hier einige andere Antworten: „würden sich weigern zu kämpfen oder Befehle auszuführen, würden die Waffen niederlegen“ (20 Prozent), „würden auf jede erdenkliche Weise aus dem Kriegsgebiet fliehen“ (17 Prozent), „würden ihren Armeedienst quittieren“ (14 Prozent), „würden sich den ukrainischen Soldaten ergeben“ (8 Prozent).
Die Stimmung in der Armee selbst können wir nur indirekt beurteilen. Da aber, wie es in einer landläufigen Redewendung heißt, Armee und Volk eins sind, können wir annehmen, dass es unter den Militärs nicht allzu viele gibt, die bereitwillig den Kopf hinhalten würden, wenn die ukrainischen Geschosse fliegen (oder wenn einen die Rakete eines amerikanischen HIMARS in Stücke reißen kann).
Diese Umfragewerte werden sicherlich auf Lukaschenkos Tisch landen. Die nicht veröffentlichten Befragungen „seiner“ Soziologen, davon können wir ausgehen, liefern wohl ähnliche Zahlen. Außerdem funktioniert der Instinkt des Regimeführers. Er versteht sehr gut, dass eine Beteiligung seiner Armee an diesem Krieg ein äußerst hartes Schicksal für ihn als Politiker besiegeln würde.
Die Zinksärge, die aus der Ukraine zurückkommen, könnten selbst jene zu Protesten motivieren, die solchen stets ferngeblieben waren. Und selbst die „Prachtkerle“ des Führers (so hatte er liebevoll die Sicherheitskräfte genannt, die die Proteste von 2020 niederschlugen), die sich wie der Terminator vorkommen, wenn sie ungestraft unbewaffnete Bürger mit anderen Ansichten zusammenprügeln, werden kaum von der Rolle als Kanonenfutter begeistert sein.
Für die ukrainischen Krieger, die im realen Kampf abgehärtet wurden und dabei auch ihre Häuser, ihre Mütter, ihre Frauen und Kinder verteidigen, dürfte es nur eine Frage der Technik sein, Eliteeinheiten der belarussischen Streitkräfte, von denen es nur wenige gibt und die kaum echten Pulverdampf gerochen haben, zu zermalmen. Lukaschenko würde so die Kräfte verlieren, die er unter anderem für den Einsatz gegen Aufstände [im eigenen Land] getrimmt hat. Seine Wählerschaft würde noch stärker zusammenschrumpfen, und die Lage im Innern wäre so wackelig wie ein alter Hocker.
Putin kann es sich nicht leisten, seinen letzten Verbündeten unter Druck zu setzen
Lukaschenko dürfte wissen, dass es für Russland in diesem Krieg wohl keinen glänzenden Sieg geben wird. Im Großen und Ganzen zeichnet sich für Russland ein kapitaler, historischer Reinfall ab. Und jetzt ist es wohl höchste Zeit, für den mit dem Imperium verstrickten Verbündeten darüber nachzudenken, wie man dieser Titanic entkommen kann.
Wladimir Putin ist sichtbar außer Rand und Band; er versucht va banque zu spielen. Dabei lautet die Prognose vieler Experten, dass die Mobilmachung wenig Wirkung zeigen wird: Zum einen könnte die nötige Anzahl der Eingezogenen nicht erreicht werden (viele Russen mögen zwar das Imperium mit einem Gläschen vor dem Fernseher unterstützen, entziehen sich aber, wie wir jetzt deutlich sehen, auf jede erdenkliche Weise der „heiligen Pflicht“). Zweitens ist die Kampffähigkeit der eilig zusammengewürfelten Einheiten sehr fraglich.
Also könnte für Putin die Versuchung, auf die Kräfte des Verbündeten zurückzugreifen, größer werden. Allerdings ist es nicht sicher, dass es gelingen wird, den Verbündeten in dieser Hinsicht derart unter Druck zu setzen. Und es ist unklar, ob solch ein starker Druck überhaupt erzeugt werden kann.
Zum einen betont Lukaschenko als Ausrede die Notwendigkeit, mit seinen Streitkräften einen Schutzschild gegen die NATO zu gewährleisten. Ansonsten könnte die NATO schließlich den russischen Brüdern in den Rücken fallen. Und Putin, der in Verschwörungsnarrativen denkt, könnte dieser Mythenerzählung zumindest teilweise Glauben schenken.
Zweitens dürften die Strategen im Kreml schon rein rechnerisch erkennen, dass der einigermaßen kampffähige Teil der belarussischen Armee nicht groß ist (die Eliteeinheiten der Sondereinsatzkräfte zählen nur einige Tausend Kämpfer). Diese Handvoll wäre nicht in der Lage, einen wesentlichen Einfluss auf den Kriegsverlauf zu bewirken.
Drittens könnte Putin (noch) nicht gewillt sein, seinen letzten Verbündeten übers Knie zu brechen. Und dass sich Lukaschenko wiederum noch stärker vor einer direkten Kriegsbeteiligung drücken wird, ist offenkundig.
Jeder ist sich selbst der Nächste
Im Zusammenhang mit den „Referenden“ in den besetzten Gebieten der Ukraine entwickelt sich allerdings ein neuer Kontext. Es ist offensichtlich, dass diese Territorien zu russischen Gebieten erklärt werden. Und dann könnte der belarussische Verbündete aufgefordert werden, die Grenzen des „Unionsstaates“ zu schützen.
Allerdings ist dies im Vertrag von 1999 über die Gründung des Unionsstaates, dieses dünnen Scheingebildes einer „brüderlichen Integration“, sehr vage formuliert: „Die Mitgliedsstaaten gewährleisten die territoriale Integrität des Unionsstaates“. Wie genau das gewährleistet wird, lässt sich unterschiedlich auslegen. Und Minsk wird es wahrscheinlich vorziehen, diese Verteidigung als Bereitschaft zu definieren, einen Dolchstoß in den Rücken der russischen Brüder durch die NATO zu verhindern. Einfacher gesagt: Unsere Truppen sitzen sicher auf ihrem Allerwertesten.
Natürlich gibt es auch die Verpflichtungen im Rahmen der OVKS. Doch erstens sind auch die Regelungen im Vertrag über kollektive Sicherheit schwammig formuliert: Im Falle einer Aggression gegen einen der Vertragsstaaten „gewähren [die anderen] diesem die notwendige Hilfe, einschließlich militärische“.
Lukaschenkos Regime leistet aber jetzt schon, wenn man es genau betrachtet, eine solche militärische Hilfe: Die Russen können für den Krieg belarussisches Territorium, die Infrastruktur, Krankenhäuser und so weiter nutzen. Und damit reicht es. Wie hieß es doch in jenem alten Lied: Auf mehr solltest du nicht hoffen. Zweitens hat die OVKS bereits bei den Ereignissen in Kirgistan und Armenien ihre Kraftlosigkeit offenbart. Und im Falle Armeniens hatte beispielsweise vor allem Moskau eine Willenslähmung gezeigt. Und auch Minsk hat es nicht eilig, sich hinter Jerewan zu stellen, weil es mit Baku lukrative Geschäftsbeziehungen unterhält. Kurzum: Alles loser Tabak. Das postsowjetische Bündniswesen erweist sich bei genauerer Prüfung als verfault, prinzipienlos und opportunistisch. Auch wenn sich Lukaschenko im Kontext dieses Krieges immer unwohler fühlt, ist es also alles andere als sicher, dass die belarussischen Truppen noch in den Krieg eintreten. Der listige Fuchs wird vor allem sein politisches Überleben im Sinn haben.