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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Warum die ukrainische Politik Tichanowskaja ignoriert

    Warum die ukrainische Politik Tichanowskaja ignoriert

    Die belarussische Opposition um Swetlana Tichanowskaja genießt eigentlich internationale Anerkennung: Die Politikerin hat sich im Juli 2021 mit US-Präsident Joe Biden im Weißen Haus getroffen, auch zahlreiche europäische Politiker haben die Oppositionelle empfangen. Nur die ukrainische Politik ignoriert demonstrativ sowohl Tichanowskaja als auch die anderen Vertreter der demokratischen Kräfte von Belarus. 

    Zwar sind belarus­si­sche Truppen bislang nicht di­rekt am rus­si­schen Krieg gegen die Ukraine be­tei­ligt, dennoch leistet das Regime Lukaschenko dem Kreml bedeutende Schüt­zen­hil­fe: Am 24. Februar 2022 wurde Belarus zu einem Durchgangshof für den russischen Überfall auf die Ukraine. Lukaschenko steht fest an der Seite des Kreml und unterstützt die russische Aggression mit Logistik, Militäraufklärung oder Dienstleistungen für die russische Armee. 

    Wäre es da für die ukrainische Führung nicht opportun, sich mit Tichanowskaja zu verbünden und gemeinsam mit der demokratischen Opposition das Regime Lukaschenko zu schwächen? 

    Nicht so einfach, meint der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch – und analysiert auf Reform.by denkbare Motive für die Kyjiwer Funkstille.

    Waleri Kowalewski, der Beauftragte für Außenpolitik im belarussischen Vereinigten Übergangskabinett, hat zwar indirekt, aber doch bestätigt: Die Ukraine stelle sich gegen eine Teilnahme von Swetlana Tichanowskaja und Vertretern der belarussischen Öffentlichkeit an internationalen Veranstaltungen. Was für eine Strategie verfolgt die ukrainische Führung mit einer solchen Politik?

    Wie Waleri Kowalewski auf dem TV-Sender Belsat sagte, wurde der Ablauf des Festakts anlässlich des 160. Jahrestags des Januaraufstands von Kastus Kalinouski in Warschau tatsächlich verändert: „Während der Vorbereitungen auf diese Veranstaltung erreichte uns die Information, dass es Einwände gegen Swetlana Tichanowskajas Auftritt sowie gegen die belarussische Flagge und den belarussischen Kranz gebe. Ganz offensichtlich wurde der ursprünglich geplante Ablauf verändert“, berichtete Kowalewski. 
    Dabei ging Kowalewski nicht ins Detail, wer genau sich gegen eine vollwertige Teilnahme der belarussischen Demokraten an dieser Jubiläumsfeier ausgesprochen hatte. Will man darauf die Antwort wissen, so genügt es, sich an Selenskys Ansprache zu erinnern, die bei der Zeremonie verlesen wurde. Der ukrainische Präsident sprach von vereinten Völkern im Kampf gegen den russischen Imperialismus. Doch die Belarussen wurden nicht erwähnt. Das ist natürlich kein Zufall, sondern bewusste Politik der ukrainischen Regierung. 

    Ukraine blockiert konsequent die Teilnahme von Swetlana Tichanowskaja und von Vertretern der belarussischen Zivilgesellschaft 

    Die Feierlichkeiten zum 160-jährigen Jubiläum des Januaraufstands und Kowalewskis Kommentar sind nicht die einzige Gelegenheit, sich die belarussisch-ukrainischen Beziehungen vor Augen zu führen. Mehrere nicht namentlich genannte europäische Diplomaten haben Nasha Niva erzählt, die Ukraine blockiere konsequent die Teilnahme von Swetlana Tichanowskaja, aber auch von Vertretern der belarussischen Zivilgesellschaft an gemeinsamen Veranstaltungen mit europäischen Ländern. Es handelt sich also nicht um einen Einzelfall, sondern um eine Strategie der ukrainischen Führung. 

    Olexander Mereshko, Vorsitzender des Ausschusses für Außenpolitik und interparlamentarische Zusammenarbeit der Werchowna Rada und Mitglied der Fraktion Sluha narodu, dementiert das: „Ich glaube nicht, dass die Ukraine Tichanowskajas Teilnahme an diplomatischen Veranstaltungen gezielt verhindert. Das ist vielmehr eine Frage des diplomatischen Protokolls. Für die Teilnahme an diplomatischen Veranstaltungen braucht man einen besonderen Status. Und es ist sehr ungewöhnlich, dass andere Personen als Repräsentanten von Staaten dabei sind“, meint er.

     Das ist vielmehr eine Frage des diplomatischen Protokolls

    Diese Erklärung überzeugt jedoch nicht. Im Juli 2021 hat das litauische Außenministerium die Demokratische Vertretung Belarus anerkannt und Tichanowskajas in Vilnius tätigem Team einen offiziellen Status verliehen. Das diplomatische Protokoll hindert die belarussischen demokratischen Kräfte nicht an Treffen mit US-Präsident Joe Biden und auch nicht an Terminen mit den höchsten Führungsriegen von Deutschland und Polen. Einzig das offizielle Kyjiw fühlt sich gestört und ignoriert schon lange demonstrativ sowohl Tichanowskaja als auch die anderen Vertreter der demokratischen Kräfte von Belarus. 

    Im ukrainischen Establishment bestehen heute in Bezug auf unser Land unterschiedliche Strömungen. Manche Politiker und Experten, etwa Alexander [sic!) Arestowytsch, sind der Meinung, Swetlana Tichanowskaja sei „die gesetzlich gewählte Präsidentin von Belarus“, und die in der Ukraine vorherrschende Haltung zur „Belarus-Frage“ füge sich in eine „Reihe sehr schwerer Fehler“. Manche Abgeordnete der Werchowna Rada, wie der bereits erwähnte Olexander Mereshko, finden, das legitime belarussische Organ, mit dem Kyjiw einen Dialog führen könnte, wäre am ehesten das Kalinouski-Regiment, das in die ukrainischen Streitkräfte eingegliedert ist. Tichanowskajas Position zu Russland und Putin sei „zu unklar“. 

    Die ukrainische Regierung mit Präsident Selensky an der Spitze lehnt den Kontakt zu Tichanowskaja genauso ab wie zu allen anderen Vertretern der belarussischen demokratischen Bewegung, die „Kalinouzy“ [Soldaten des Kalinouski-Regiments – dek] eingeschlossen. Zumindest auf offiziellem Parkett.
    Gleichzeitig setzt die ukrainische Regierung allem Anschein nach bis zu einem gewissen Grad den Dialog mit dem offiziellen Minsk fort. Das lässt sich aus Alexander Lukaschenkos Äußerung ableiten, die Ukraine habe ihm die Schließung eines Nichtangriffspakts vorgeschlagen. Weder Präsident Selensky noch das ukrainische Außenministerium haben diese Erklärung bestätigt, aber auch nicht dementiert. 

    Will die ukrainische Regierung vermeiden, Lukaschenko zum Kriegseintritt zu provozieren?

    Möglicherweise ist einer der Gründe dafür, Tichanowskaja und das Übergangskabinett zu ignorieren, dass die ukrainische Regierung Lukaschenko nicht zum Kriegseintritt provozieren will. Gleichzeitig gibt es aber das Kalinouski-Regiment, das das offizielle Minsk bestimmt nicht weniger, wenn nicht sogar noch mehr ärgert als alle demokratischen Kräfte zusammen. 

    Worin kann denn nun die Strategie von Selensky und seinem Team bestehen? Ist die Besänftigung des offiziellen Minsk wirklich das Hauptproblem?  

    Eine Reihe belarussischer Politologen findet diese Position der ukrainischen Führungsriege kurzsichtig, weil ohne unabhängiges Belarus keine Stabilisierung der Region möglich sei. Die Botschaft ist klar. Allerdings würde das Ende des Kriegs und auch ein Sieg der Ukraine nicht unbedingt bedeuten, dass Putins und Lukaschenkos Regime fallen. Ein definitiver Sieg für die Ukraine wäre eine Befreiung der von Russland okkupierten Gebiete. Weiterzugehen, in die Russische Föderation oder gar in Belarus einzumarschieren, Moskau oder Minsk zu stürmen, steht für die ukrainische Staatsmacht nicht zur Debatte. 
    Und deswegen sollte Kyjiw ein Szenario nicht ausschließen, in dem die Ukraine auch in Zukunft mit Putin und Lukaschenko als Nachbarn wird leben müssen, selbst wenn ihre Systeme vielleicht hinter einem „eisernen Vorhang“ verschwinden. Der übrigens nach Kriegsende womöglich gar nicht mehr so undurchlässig sein wird, einen Teil der wirtschaftlichen Sanktionen könnte der Westen dann durchaus aufheben. Selbst wenn diese Regime genauso repressiv, genauso unmenschlich bleiben – das sind eure Probleme, kann es aus Kyjiw dann heißen, und es ist nicht Sache der Ukrainer, sie zu lösen. Zudem wird das Minsker Regime, sollte durch eine Niederlage Moskaus die Unterstützung aus Russland wegfallen, gezwungen sein, zumindest kosmetische Änderungen vorzunehmen. 

    Das Kriegsende und auch ein Sieg der Ukraine bedeutet nicht unbedingt, dass Putins und Lukaschenkos Regime fallen

    Und weil Kyjiw seine Beziehung zu Lukaschenko also sowieso auf die eine oder andere Art wird pflegen müssen – wozu sollten sie es sich schon heute endgültig mit ihm verscherzen? Zumal er Belarus ja irgendwie doch unter Kontrolle hat. Und nicht auszuschließen ist, dass das auch weiterhin so bleibt.

    Wenn die Belarussen und die Ukrainer von der Besatzung ihrer Länder durch Russland sprechen, dann haben sie von dieser Okkupation unterschiedliche Vorstellungen. Für die Belarussen ist Lukaschenkos Regime ein Teil des russischen Okkupationskontingents. In den Augen der Ukrainer ist das belarussische Regime einfach nur in seiner Entscheidungsfreiheit eingeschränkt, weil auf seinem Territorium russische Truppen stationiert sind. Folgt man dieser Logik, so wird Lukaschenko, sobald die Russen weg sind, wieder zum politischen Subjekt, mit dem man verhandeln kann.
    Die ukrainische Interpretation dieses Sachverhalts ist auch für Lukaschenko selbst äußerst günstig, weil es ihn weitgehend aus der Verantwortung für die Beteiligung an der Aggression zieht. Dasselbe Narrativ promoten auch die Abgesandten des offiziellen Minsk in ihren raren Kontakten zum Westen. 

    Ukraine will das Problem lösen, wenn die Sieger feststehen und Dispositionen klar sind

    Wie es aussieht, beabsichtigt die ukrainische Regierung, die Lösung des Belarus-Problems auf „nach dem Krieg“ zu verschieben, wenn dann die Sieger feststehen und die endgültige Disposition klar ist. Und wenn klar ist, wie und zu wem man seine Beziehungen ausbauen muss. Zumindest solange Belarus nicht in diesen großangelegten Krieg eintritt, hat es Kyjiw offenbar nicht eilig, sich für eine der beiden Seiten im innerbelarussischen Konflikt zu entscheiden. In der Hoffnung, sich nach dem Sieg jenen zuzuwenden, die sich als stärker und einflussreicher erweisen. Im Grunde ist es simpel – wenn Lukaschenkos Regime untergeht, dann wird das Oberhaupt des neuen Belarus, egal ob Tichanowskaja oder jemand anders, selbst daran interessiert sein, ein Vertrauensverhältnis zur siegreichen Ukraine aufzubauen. Wenn Lukaschenko nicht untergeht – tja, dann muss man eben auf ihn oder seinen Nachfolger zugehen. Doch sogar in diesem Fall wird das für die Ukraine, so sie denn siegt und nicht verliert, viel einfacher sein als heute.  
    Ob diese Strategie vertretbar ist, ist eine andere Frage. Auch, welchen Einfluss diese Haltung der ukrainischen Regierung auf die belarussische politische Agenda hat. Doch die demonstrative Zurückweisung der belarussischen demokratischen Kräfte durch die ukrainische Regierung drängt einen dazu, genau diese Fragen durchzuspielen. 

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  • Heldenstadt Minsk

    Heldenstadt Minsk

    Nach wie vor beeindrucken die Bilder, die vom Sommer 2020 erzählen, als in Minsk Zehntausende auf die Straßen gegangen sind. Die weiß-rot-weißen Proteste spielten sich an einem Ort ab, der nach 1945 mit seinen überdimensionierten Plätzen und ausladenden Alleen als Musterstadt des Sozialismus inszeniert worden ist. In demographischer Hinsicht hatte Minsk als Millionenstadt den von den sowjetischen Planern vorgesehenen Rahmen allerdings bereits in den 1970er Jahren gesprengt. 
    Lange lag Minsk im Schatten seiner Vergangenheit als sowjetische Heldenstadt. Dabei hat die Stadt im Laufe ihrer tausendjährigen Geschichte bereits ungeahnte Metamorphosen von der altrussischen Burgsiedlung und litauischen Marktgemeinde über die zarische Gouvernementsstadt und das jüdische Schtetl vollzogen. Obgleich unter dem Lukaschenko-Regime Anklänge an die Sowjetzeit und der Kult um den Zweiten Weltkrieg heute wieder starke Relevanz erfahren, hat sich mittlerweile eine belarusische Metropole entwickelt, die zwischen sozialistischen Traditionen, europäischen Kulturmustern und den Insignien des herrschenden Autoritarismus changiert. 

    Der Obelisk, der für den sowjetischen Titel „Heldenstadt“ 1985 errichtet wurde. Er steht für den Kampf im Zweiten Weltkrieg. Im Sommer 2020 gab es auch dort Massenproteste gegen Machthaber Lukaschenko / Foto © Homoatrox, Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

    Die erste Erwähnung der Stadt „Menesk“ findet sich im Jahr 1067 ganz beiläufig am Rande der Schilderung einer Schlacht zwischen den Fürsten der Kiewer Rus. Die Rede war von einem Handelsumschlagplatz, der an das Flusssystem zwischen Ostsee und Schwarzem Meer angeschlossen war. 
    Wechselnde Herrschaftssysteme prägten fortan die Gestalt der Stadt und die Struktur der Bevölkerung. Im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts geriet sie in den Einflussbereich des Großfürstentums Litauen. Über den Katholizismus, dessen Spuren sich im Stadtbild noch heute an den Kirchengebäuden widerspiegeln, und über die Verleihung des Magdeburger Rechts im Jahre 1499 wurden der Stadt Traditionen der damaligen lateinischen Welt zuteil, und es konstituierte sich seither eine Marktgemeinde. In der ostslawischen Kanzleisprache des Großfürstentums lautete ihr Name noch „Mensk“1.  

    Russifizierung und sowjetisches Jerusalem

    Erst nach den Teilungen Polen-Litauens wurde die Stadt 1793 unter ihrer russischen Bezeichnung „Minsk“ ins Zarenreich eingegliedert. Sie geriet ins Zentrum des Ansiedlungsrayons für die jüdische Bevölkerung, die im Russländischen Imperium keine Freizügigkeit genoss. Damit bekam Minsk den Charakter eines jüdischen Schtetls. 
    Hatte der Handel vor dem Ersten Weltkrieg lediglich regionale Bedeutung, führte die sowjetische Industrialisierung dazu, dass Minsk für die ländliche Bevölkerung immer anziehender wurde: Waren bei der Volkszählung von 1897 noch 90.900 Einwohner registriert, zeigte die Statistik 1939 rund 230.000 Einwohner. Weil die Belarusen überwiegend als Bauern in den Dörfern lebten, stellte die Titularnation am Ende des 19. Jahrhunderts gerade einmal acht Prozent der Minsker Bevölkerung. Juden machten zu dieser Zeit noch über die Hälfte der Einwohnerschaft aus. Jüdische Unterschichten wanderten nach der Oktoberrevolution in die russischen Industriestädte ab, die belarusischen Bauern aber zogen nach Minsk, um sich der Zwangskollektivierung ihrer Höfe zu entziehen. 

    Von Relevanz für die belarusische Hauptstadt erwies sich die sowjetische Kulturpolitik der Indigenisierung (korenisazija), die die Einbindung der nationalen Minderheiten in das Projekt der Bolschewiki durch die Gewährung von Freiräumen im Bildungssektor zum Ziel hatte. Daher profitierten die säkularisierten Minsker Eliten in den 1920er Jahren noch von einem mehrsprachigen kulturellen Milieu aus Belarusisch, Jiddisch, Polnisch und Russisch. Der in den 1930er Jahren propagierte Sowjetpatriotismus stand dann aber wieder im Zeichen der Russifizierung. 
    Das Stadtwachstum führte in Minsk dazu, dass die Bevölkerungsmehrheit bis zum Zweiten Weltkrieg von den Belarusen übernommen wurde. Das jüdische Leben erlosch erst durch den Holocaust, nachdem die Nationalsozialisten die Stadt ab 1941 besetzten. Letzte Spuren verwischte der Antisemitismus im späten Stalinismus mit der Schließung der Synagoge und des jüdischen Theaters. 

    Der Plan für die sozialistische Musterstadt 

    Mit Stalins Programm der forcierten Industrialisierung begann für Minsk in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre eine Phase der radikalen Stadtsanierung. In bewusster Abkehr von der historisch gewachsenen kapitalistischen Stadt, deren Urbanität sich auf die Verdichtung von Gebäuden, Straßen und Plätzen gründete, hieß die Devise nunmehr aufgelockerte Bebauung und Verbesserung der Infrastruktur. Die Hauptstadt der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) sollte die Rolle eines Verwaltungs-, Industrie- und Kulturzentrums übernehmen und zudem einen sozialistischen Vorposten gegenüber dem kapitalistischen Westen bilden. 
    Dass die Minsker Bausubstanz im Zweiten Weltkrieg zu mehr als 70 Prozent zerstört worden war, bot den aus Moskau und Leningrad angereisten Planern die Chance, eine sozialistische Musterstadt zu errichten. Ein Wiederaufbau im eigentlichen Sinne wurde nicht angestrebt. Der Generalbebauungsplan von 1946 sah neben monumentalen Gebäuden im Zentrum ein System von radial-ringförmigen Hauptstraßen vor. Die Architektur sollte sowohl das Erbe der klassischen Antike als auch die volkstümliche belarusische Kunst widerspiegeln. In der Folge traten im Meinungsstreit der Architekten zwei Richtungen auf: Die eine setzte auf die Einfachheit der Formen und blieb dem Konstruktivismus der 1920er Jahre verpflichtet. Die andere orientierte sich an der dekorativen Pracht der Zarenzeit und gab dem Neoklassizismus Vorrang. Letztere gewann die Oberhand, weil ihre Auffassung dem Sozialistischen Realismus der Stalinzeit entsprach. 

    Der typisierte Plattenbau ergänzte am Stadtrand die neoklassizistischen Wohnpaläste des Minsker Zentrums / Foto © Andrey Bondar/Flickr unter CC BY SA 2.0

    Zwischen alter Bauernmetropole, Wohnpalästen und Plattenbauten 

    Allerdings leitete Chruschtschow bereits auf dem Baukongress von 1954 eine Wende ein. Seine Kampagne gegen den dekorativen Luxus der Stalin-Ära setzte auf Typenprojekte. Seitdem stand nicht mehr das gesamtstädtische Ensemble im Vordergrund, sondern der Mikrorayon – der fünfstöckige Mietshäuser mit Versorgungseinrichtungen zu einer Nachbarschaft kombinierte. Auf diese Weise ergänzte der typisierte Plattenbau am Stadtrand  die neoklassizistischen Wohnpaläste des Minsker Zentrums. Zugleich lebte ein Großteil der Bevölkerung bis in die sechziger Jahre noch in den hölzernen Gehöften der innerstädtischen Areale, die der Hauptstadt noch lange den Charakter einer Bauernmetropole verliehen.

    Das Scheitern des schönen Plans von der sozialistischen Stadt symbolisiert in Minsk kein anderer Ort so sehr wie der Zentrale Platz: Nicht einer der in zahlreichen Architekturwettbewerben vorgelegten Entwürfe ist je realisiert worden. Die Gründe dafür sind im Bereich der Interessengegensätze von Planungsbürokratie und Stadtökonomie zu suchen. Einerseits bestand zwischen dem belarusischen Architektenverband und der staatlichen Architekturverwaltung ein latentes Spannungsverhältnis. Andererseits zeigte sich, dass Infrastrukturprobleme wie etwa die Wasserversorgung viel drängender waren und gelöst werden mussten. 
    Heute wird der Zentrale Platz, der seit der Öffnung einer U-Bahn-Station im Jahre 1984 in Oktoberplatz umbenannt wurde, von einem postmodernen Kulturpalast ausgefüllt – der noch zu Sowjetzeiten geplant, aber erst in den 1990er Jahren unter Präsident Alexander Lukaschenko fertig gebaut worden war. Er ließ mit dem Palast der Unabhängigkeit gleich noch ein weiteres pompöses Gebäude in Minsk errichten, einen orientalisch anmutenden Bau an der Siegerallee, in dem er seit 2013 seinen Amtssitz hat. 

    Palast der Republik am Oktoberplatz in Minsk, Belarus / Foto © Julian Nyča/Wikimedia unter CC BY SA 4.0

    Das „Minsker Phänomen“ 

    In der BSSR hatte die Industrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg einen Verstädterungsprozess ausgelöst, der in der Hauptstadt zu einem explosiven Bevölkerungswachstum führte und den Begriff „Minsker Phänomen“ prägte. Für Zuzug sorgten besonders das Lastkraftwagenwerk (MAZ) und das Traktorenwerk (MTZ), die zu den sowjetischen Industriegiganten gehörten. Obgleich die Produktionspalette der Werke bereits 1956 begrenzt wurde, stieg die Einwohnerzahl zwischen den Volkszählungen von 1959 und 1989 immer noch um das Dreifache, von 509.500 auf 1.612.900. Die in den sechziger Jahren erzielte jährliche Wachstumsrate von 5,5 Prozent ist von keiner anderen sowjetischen Großstadt je erreicht worden. Trotz der Einführung eines rigiden Meldesystems, demzufolge eine Aufenthaltsberechtigung in der Stadt nur beim Nachweis von neun Quadratmetern Wohnfläche pro Person erteilt wurde, konnte der massenhafte, teils illegale, teils über einen Arbeitgeber oder eine Hochschule legitimierte Zuzug vom Land in die Stadt nicht verhindert werden. Weder der Wohnungsbau noch die Versorgung mit Geschäften und Dienstleistungsbetrieben kamen den gestiegenen Bedürfnissen nach. Dennoch waren die den Angeboten der sowjetischen Moderne folgenden Übersiedler bereit, ihre lokale Identität preiszugeben und sich an das russischsprachige Milieu der Hauptstadt zu akkulturieren. So gab es seit den siebziger Jahren in Minsk keine Schulen mit belarusischer Unterrichtssprache mehr. 

    Sowjetische Heldenstadt und Breshnews Widerwillen

    Als sich in der Breshnew-Ära abzeichnete, dass die Utopie der sozialistischen Stadt an der Lebensrealität zerbrach, wurde der Versuch unternommen, einen neuen Mythos für Minsk zu kreieren. Seit Mitte der sechziger Jahre vertrat die belarusische Parteiführung dem Moskauer Kreml gegenüber den selbstbewussten Anspruch, eine „Partisanenrepublik“ zu repräsentieren. In diesem Sinne wurde Minsk trotz der erlittenen nationalsozialistischen Besatzung als zehnte Stadt der Sowjetunion der Ehrentitel „Heldenstadt“ zugesprochen. Allerdings nahm Breshnew bestehende Unstimmigkeiten mit der belarusischen Führung zum Anlass, der Stadt die ihr gebührende Anerkennung erst 1978 offiziell zuteilwerden zu lassen: mit der Verleihung des Leninordens und der Goldener-Stern-Medaille. Neben der Stelle, an der 1985 der Obelisk der Heldenstadt errichtet wurde, ließ das Lukaschenko-Regime im Jahr 2014 das neue Museum für die Geschichte des Vaterländischen Krieges bauen. Insgesamt gesehen ist die Erinnerungskultur im Stadtbild immer noch sowjetisch geprägt. Bis heute blieben die Denkmäler des Staatsgründers Lenin und des Tscheka-Chefs Dsershinski vor den Gebäuden von Regierung und Staatssicherheit unangetastet. Auch von Urbanität war Ende des 20. Jahrhunderts noch wenig zu spüren. In der Dekade, die in Russland als „wilde Neunziger“ beschrieben wird, blieb Minsk als Millionenstadt noch post-sowjetische Provinz.



    Ein Fünftel aller Belarusen lebt in Minsk

    Von einer Transformation des Stadtbildes kann aber seit der Jahrtausendwende gesprochen werden. Im Sinne einer postsowjetischen Nationalstaatsbildung wurde eine Altstadt rekonstruiert, allen voran das zur Zarenzeit abgerissene Rathaus, das noch auf das Großfürstentum Litauen zurückging. Auch wurde der repräsentative Schwerpunkt der beiden zentralen Verkehrsachsen von der stalinistischen Magistrale im Zentrum zum postmodernen Boulevard am Swislatsch verlagert. Am äußeren Stadtring schießen in den Wohngebieten prächtige russisch-orthodoxe Kirchen aus dem Boden. Als Ausdruck einer verhaltenen Europäisierung sind in der Innenstadt Cafés und Bistros und in den Grünzonen Fahrradwege entstanden. Die zunehmende Automobilisierung und die zahlreichen Shopping-Malls am Stadtrand lassen sich als Sinnbilder einer Amerikanisierung deuten. 
    Auf den ersten Blick wirkt Minsk noch wie ein Museum der Sowjetunion: In städtebaulicher und architektonischer Hinsicht beeindrucken die Dimensionen der öffentlichen Räume und die Durchschlagskraft des Sozialistischen Realismus bis heute. Kaum ein Stadtzentrum weist so breite Straßen, so große Plätze und so viele neoklassizistisch-stalinzeitliche Gebäude auf wie dasjenige von Minsk. Doch auf den zweiten Blick kristallisiert sich entlang des Swislatsch eine neue Stadtsilhouette heraus, die von einer postmodernen Architektur und von Insignien eines Heldenkults konturiert wird, welcher sich in Denkmälern und Inschriften widerspiegelt. 

    Ansicht von Minsk um 1870 / Foto © gemeinfrei
    Ansicht von Minsk um 1870 / Foto © gemeinfrei

    In den letzten 30 Jahren hat sich auch die Einwohnerschaft der belarusischen Hauptstadt gewandelt: Ende 2019 wurde die Zahl von zwei Millionen überschritten, sodass Minsk in der Reihe der europäischen Großstädte nach Rom und vor Wien den zehnten Rang einnimmt. Sage und schreibe ein Fünftel aller belarusischen Staatsbürger lebt in der Hauptstadt. Die neue Generation entstammt einer postindustriellen Gesellschaft, die als urban bezeichnet werden darf, zumal die Republik Belarus den Verstädterungsgrad von 70 Prozent bereits im Jahr 2001 überschritt. Dabei unterliegt die Nutzung der gebauten Umwelt nicht nur der Erfindung nationaler Traditionen, sondern auch der Kreativität der Menschen. In der brutal niedergeschlagenen Protestbewegung von 2020 hatte Letzteres durch die Bevölkerung von Plätzen und Höfen einen beredten Ausdruck gefunden.


    ANMERKUNG DER REDAKTION:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


    1. Es handelte sich um eine Schreibweise, die bei der Kodifizierung der belarusischen Sprache am Anfang des 20. Jahrhunderts wieder populär werden sollte. Die auf die Emanzipation des Bürgertums zielenden Elemente wurden mit der Eingliederung von „Minsk“ in das Russländische Reich 1793 aber wieder unterdrückt. ↩︎

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  • Bystro #41: Warum konnte sich die Demokratie Anfang der 1990er Jahre in Belarus nicht durchsetzen?

    Bystro #41: Warum konnte sich die Demokratie Anfang der 1990er Jahre in Belarus nicht durchsetzen?

    1991 erklärte die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik ihre Unabhängigkeit. Wie alle anderen Sowjetrepubliken, die seit 1990 begonnen hatten, sich von der Sowjetunion loszusagen. Nur die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik hatte sich nicht unabhängig erklärt, lediglich ihre Souveränität festgestellt. Die neu entstandene Republik Belarus begab sich in das Abenteuer der parlamentarischen Demokratie, was aber schon bald wieder ein jähes Ende fand. 1994 – bei den ersten Präsidentschaftswahlen – wurde Alexander Lukaschenko ins Amt des Präsidenten gewählt. Er brachte das Land zurück auf einen autoritären Kurs. 

    War dieser Kurs unvermeidlich? Welche Faktoren haben dazu geführt, dass sich die belarussische Bevölkerung von einer demokratischen Entwicklung abgewandt hat? Hat die kurze Zeit der Demokratie dennoch Spuren hinterlassen, die sich beispielsweise im Selbstermächtigungsprozess der Proteste von 2020 gezeigt haben? In einem Bystro beantwortet der belarussische Historiker Viktor Schadurski diese und weitere Fragen. 
     

    Alexander Lukaschenko 2007 in Minsk / Foto © Imago/UPI Photo

    Русская версия

    1. Erlangte Belarus seine staatliche Souveränität 1991 eher durch die glückliche Fügung äußerer Umstände als durch den eigenen Willen zur Unabhängigkeit?

    Man darf natürlich die Selbstaufopferung vieler Generationen von Belarussen nicht kleinreden, die über Jahrhunderte hindurch für Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft haben. Allerdings muss man zugeben, dass eine deutliche Mehrheit der Einwohner der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik sich keine Zukunft außerhalb des „einen Sechstel der Erdoberfläche“ vorstellen konnte. Laut Umfragen aus dem Jahr 1990 waren damals nur zwölf Prozent der befragten Belarussen für eine staatliche Souveränität der Republik. Bei der Volksbefragung, die am 17. März 1991 in der gesamten Sowjetunion durchgeführt wurde, stimmten 82,7 Prozent  der belarussischen Teilnehmer für die Aufrechterhaltung der UdSSR und nur 16,1 Prozent dagegen. Das waren deutlich mehr Pro-UdSSR-Stimmen als in Russland oder der Ukraine. In der „Parade souveräner Staaten“, die 1988 begann, verabschiedete Belarus seine Unabhängigkeitserklärung erst am 27. Juli 1990, also nach der Ukraine und noch weiteren sieben Unionsrepubliken. Auf diese Weise machte sich die belarussische Regierung nicht nur später als die baltischen Länder, sondern auch später als Russland und die Ukraine auf den Weg in die staatliche Souveränität.

    Der Behauptung, Belarus habe seine Chance auf Unabhängigkeit in erster Linie günstigen äußeren Umständen zu verdanken gehabt – nämlich der Position seiner Nachbarländer, einschließlich Russland –, ist also durchaus zuzustimmen.

    2. Warum waren die Belarussen pro-sowjetischer bzw. pro-russischer als andere Völker der Sowjetunion?

    Eine schwere Belastungsprobe für die Entwicklung der belarussischen Nation war vor allem die aktive Politik der Russifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Politik sah nicht nur die Verankerung der russischen Sprache in Bildung, Kultur und Verwaltung vor, sondern auch eine zügige Industrialisierung der Unionsrepublik. Die Gründung neuer Automobilgiganten sorgte für ein rasantes Wachstum von Minsk und anderen belarussischen Städten und schuf die Voraussetzung für eine spürbare Verbesserung der Lebensqualität.  

    Bei der Unterdrückung des nationalen Selbstbewusstseins in der belarussischen Gesellschaft spielte die zentralisierte Kaderpolitik Moskaus eine wichtige Rolle, bei der alle wichtigen Ämter ausschließlich mit „von oben geprüften“ Beamten besetzt wurden. Die so genannte Partisanenelite, mit der man Namen wie Kirill Masurow und Pjotr Mascherow assoziierte, wurde Ende der 1970er durch Vertreter der Großindustrie ersetzt, für die die nationalen Besonderheiten der Belarussen eher ein Relikt aus der Vergangenheit waren als das geistige Fundament eines Volkes mit langen europäischen Traditionen.

    Einer besonders gründlichen Kontrolle durch den sowjetischen Ideologieapparat waren historische Forschungen und der Geschichtsunterricht über Belarus unterworfen. Zur Geschichte der belarussischen Gebiete bis 1917 wurde praktisch geschwiegen, während die Zeit des Großfürstentums Litauen und die Rzeczpospolita als Belagerung des belarussischen Volkes dargestellt wurden, das immer von einer Wiedervereinigung mit Moskau träumte.  

    3. Allen Hindernissen zum Trotz wurde Belarus jedoch zu einem souveränen Staat. Wie war das möglich?

    Wie bereits erwähnt, trugen zur Erlangung der belarussischen Unabhängigkeit äußere Umstände bei. Zugleich können äußere Umstände keine ernsthaften Veränderungen in einem Land herbeiführen, wenn nicht auch die nötigen inneren Faktoren vorliegen. Das große Glück der Belarussen war, dass sie durch ihre ganze Geschichte hindurch immer über eine kleine, aber sehr motivierte, national orientierte Elite verfügten. Diese Leute fanden zur richtigen Zeit und im richtigen Moment das Potenzial und die Möglichkeit, der Gesellschaft einen nationalen Handlungsplan anzubieten. So geschehen in den Jahren 1905 bis 1917 sowie in der Zeit der ersten Belarussifizierung in den 1920er Jahren. 1990 und 1991 gelang es den spärlichen national-demokratischen Kräften, vertreten vor allem durch die Belarussische Volksfront unter der Führung von Senon Posnjak, durch das amorphe, konservative belarussische Parlament – den Obersten Sowjet der XII. Legislaturperiode (1990–1995) –, äußerst wichtige Beschlüsse durchzuboxen, die für Belarus den Weg zur staatlichen Souveränität ebneten und die Bedingungen für Demokratisierungsprozesse und marktwirtschaftliche Reformen schufen.  

    Aktive Unterstützung bekamen die Demokratisierungsprozesse in Belarus durch die kreative Intelligenzija, durch Bildungspersonal, Kulturschaffende und Unternehmer. Auch in anderen Bevölkerungsschichten fand die Idee der Wiedergeburt der belarussischen Nation Anklang. Der staatlichen Bürokratie hingegen, die nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums bestehen blieb, waren Nationalisierungs- und Demokratisierungsentwicklungen größtenteils fremd.

    4. Hätte Belarus eine Chance auf eine weitere Demokratisierung gehabt?

    Die Anhänger des Wandels in der ersten Hälfte der 1990er Jahre hatten, wenn auch eine geringe, so doch eine Chance, dem Autoritarismus Einhalt zu gebieten. Eine verpasste Gelegenheit war laut Experten der Verzicht einiger demokratischer Abgeordneter auf außerordentliche Parlamentswahlen, bei denen aktivere und stärker national orientierte Vertreter der Gesellschaft hätten gewählt werden können. Der Oberste Sowjet der XII. Legislaturperiode wurde 1990 gebildet, als die UdSSR noch existierte und die Kommunistische Partei dominierte, weswegen darin vor allem Anhänger der alten Staatsmacht vertreten waren. 

    Im März 1994 verabschiedete der Oberste Sowjet eine Verfassung, die eine starke Position des Präsidenten in Belarus vorsah, die angesichts der schwach entwickelten politischen Kultur in der Bevölkerung und unreifer demokratischer Institutionen der Diktatur Tür und Tor öffnete. Die Praxis zeigt anschaulich, dass Länder mit einer parlamentarischen Regierung über eine starke Widerstandsfähigkeit gegen Autoritarismus verfügen. Meiner Meinung nach hat Belarus in der Zeit der parlamentarischen Republik nicht ausreichend materielle und moralische Unterstützung durch demokratische Staaten erfahren, die den jungen Staat damals vor allem als traditionelle „Einflusssphäre“ der Russischen Föderation wahrnahmen. 

    5. Warum konnte Alexander Lukaschenko nicht nur die demokratischen Kandidaten besiegen, sondern auch Vertreter der „Regierungspartei“?

    Der Zerfall der UdSSR führte zum Untergang des streng zentralisierten Wirtschaftssystems, die engen Handels- und Produktionsbeziehungen zwischen den Unionsrepubliken rissen ab. Belarus erlebte ein drastisches Waren- und Dienstleistungsdefizit, die Inflation stieg rasant, ebenso die Arbeitslosigkeit. Die Wirtschaftskrise wurde von einer nomenklatorischen Privatisierung begleitet, das heißt, die attraktivsten Objekte aus dem Staatseigentum gingen in den Besitz von Beamten und ihren Verwandten über. Diese negativen Phänomene brachte der Großteil der Bevölkerung mit zwiespältigen Demokratisierungsprozessen in Verbindung. Im gesellschaftlichen Bewusstsein wurden Demokratisierungsprozesse fortan nicht mit einer höheren Lebensqualität assoziiert, sondern eher umgekehrt, man sah in der Demokratisierung die Hauptgründe für die Wirtschaftskrise, für verstärkte Bürokratie und die wachsende Korruption.

    6. Wozu führte die Krise am Ende?

    Die Krise ließ in der Mehrheit der Gesellschaft den Ruf nach einer „starken Hand“ in Person des Präsidenten laut werden. Das belarussische Volk hatte keine Erfahrung mit den Bedingungen einer stabilen Demokratie und war sehr anfällig für Populismus. 

    Den Schmerz der Bevölkerung über den Verlust der sowjetischen Vergangenheit und ihre Sehnsucht nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen wurde von einer Gruppierung um den ehrgeizigen Alexander Lukaschenko geschickt aufgegriffen, indem sie sowohl die offizielle Regierung als auch die demokratischen Kandidaten scharf kritisierte. Anstelle eines konkreten, stichhaltigen Wahlprogramms wartete der Populist mit dem Slogan „Zurück in die UdSSR“ auf, der ihm mit 80,34 Prozent  der Stimmen einen klaren Sieg einbrachte.    

    7. Die belarussische Bevölkerung wählte Lukaschenko nicht nur, sondern unterstützte auch seinen Kurs der Rücknahme der Belarussifizierung. Wie kam es dazu?

    Im Vergleich zu anderen postsowjetischen autoritären Herrschern geht von Lukaschenko eine zusätzliche Gefahr aus, indem seine Politik auf die Zerstörung der national-kulturellen Grundlagen des belarussischen Staates abzielt. Eine seiner ersten Initiativen war eine Volksabstimmung im Mai 1995, bei der nebst drei anderen diese Frage gestellt wurde: „Sind Sie einverstanden damit, dass der Status der russischen Sprache jenem der belarussischen angeglichen wird?“ [das Belarussische war 1991 in den Rang der alleinigen Staatssprache erhoben worden – Anm. der Red.] 83,3 Prozent der Befragten stimmten der Initiative des Staatsoberhaupts zu. Die Mehrheit (75,1 Prozent ) war auch für die Änderung der Nationalsymbolik und eine stärkere Anbindung an Russland (83,3  Prozent).

    Obwohl die Mehrheit der Lukaschenko-Anhänger belarussischer Abstammung war, stellte die belarussische Sprache keinen hohen Wert für sie dar. Viele Landbewohner waren in die russischsprachigen Städte gezogen und hatten möglichst schnell den Stempel des „Kolchosbauern“ und „Dörflers“ loswerden wollen und versucht, Russisch zu sprechen. Viele ehemalige Landbewohner konnten sich jedoch die typische belarussische Aussprache und die gemischte Lexik nicht abgewöhnen und sprachen Trassjanka. Als dann Anfang der 1990er die aktive Belarussifizierung begann, verspürten sie keine Motivation, zur belarussischen Sprache zurückzukehren, weil das ihre langjährigen Bemühungen, sich einer russischsprachigen Umgebung anzupassen, zunichte gemacht und wieder Aufwand bedeutet hätte. 

    Man muss betonen, dass Lukaschenkos populistischen Kurs auch viele demokratisch gestimmte Wähler unterstützten, die sich in der ersten Zeit von ihm weismachen ließen, dass die Zweisprachigkeit nicht zu einer Benachteiligung der belarussischen Sprache, sondern zur Demokratisierung der Sprachenpolitik führen würde. 

    8. Welche Rolle spielten demokratische Errungenschaften aus der parlamentarischen Zeit für die weitere Entwicklung von Belarus?

    Im November 1996 etablierte Lukaschenko im Zuge einer sogenannten Volksabstimmung, die genau genommen ein Staatsstreich war, eine personengebundene Diktatur. In Belarus wurde ein politischer Kurs eingeschlagen, der ein Erlahmen aller wichtigen Sphären des gesellschaftlichen Lebens mit sich brachte. Gleichzeitig leistete die belarussische Gesellschaft, gestützt auf demokratische Errungenschaften aus der Zeit der parlamentarischen Republik und auf die Hilfe demokratischer Länder, relativ erfolgreich Widerstand gegen die Konsolidierung des Autoritarismus und sein Abgleiten in Richtung Totalitarismus. Dieser Widerstand fand sowohl in der Politik als auch in Wirtschaft, Bildung und Kultur statt. So schritt trotz der Abneigung des Regenten gegen die Privatwirtschaft ein langsamer, aber stetiger Ausbau der Klein- und Mittelbetriebe voran, es wurden weiterhin moderne Technologien aus wirtschaftlich entwickelten Ländern importiert, und aus dem Ausland kam beachtliche humanitäre und technische Hilfe herein.           

    Als jedoch 2020 die Balance, die zwischen der bröckelnden autoritären Gruppierung und der aufsteigenden belarussischen Gesellschaft bestand, in rasendem Tempo zerstört wurde, musste die Diktatur, um ihr Fortbestehen zu sichern, zu totalitären Methoden greifen.   

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Viktor Schadurski
    Übersetzung aus dem Russischen: Ruth Altenhofer
    Veröffentlicht am 26.01.2023

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    Lukaschenko auf den Spuren des Totalitarismus

  • Lukaschenko auf den Spuren des Totalitarismus

    Lukaschenko auf den Spuren des Totalitarismus

    Alexander Lukaschenko wird schon länger nachgesagt, dass er in Belarus eine Art sowjetische Diktatur errichtet habe. Trotz der Repressionen, mit denen er Medien, Zivilgesellschaft und Opposition seit spätestens 1995 zu unterdrücken begann, hatte Lukaschenko allerdings eher eine Autokratie geschaffen, in der es gewisse Freiheiten für die Gesellschaft gab. 

    Seit den Protesten im Jahr 2020, der darauffolgenden brutalen Repressionswelle und infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat Lukaschenko sein System deutlich radikalisiert. Bringt er seinen Apparat womöglich sukzessive, aber konsequent auf den Weg des Totalitarismus? Der belarussische Politanalyst Artyom Shraibman zeigt auf, wo das Regime bereits totalitäre Züge angenommen hat und wo es sich (noch) vom klassischen Totalitarismus unterscheidet.

    Русская Версия

    Übertönt von dem Grollen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, vollzieht sich beinahe ungehört und unbemerkt von der Welt ein weiterer Prozess, der auf diese Art in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr vorgekommen ist. Das Regime von Alexander Lukaschenko, das die Massenproteste von 2020 überlebt hat und die volle Unterstützung Russlands genießt, hat aufgehört, ein klassisches autoritäres System zu sein, und nimmt immer mehr Züge eines Totalitarismus nach sowjetischem Vorbild an.

    Es sei gesagt, dass der Weg von der Autokratie in den Totalitarismus ein langer ist und Lukaschenko noch weit entfernt ist vom „Ideal“ – einem Staat wie zum Beispiel dem kommunistischen China oder Nordkorea. Aber ein paar unverkennbare Schritte in diese Richtung haben die belarussischen Machthaber bereits getan. Und es ist unklar, was – abgesehen von einer militärischen Niederlage Russlands – diesen Trend aufhalten könnte.

    Repressionen sind für manche Sicherheitsbehörden Routine

    Sowohl für die belarussischen Bürger als auch für die internationalen Medien ist die sichtbarste Dimension bei diesem Prozess das Ausmaß und die Systematik der Repressionen. Bis 2020 setzten Lukaschenko und seine Silowiki die Repressionen eher punktuell und präventiv ein. Unter ständiger Überwachung und dem Druck der Behörden standen vor allem die prominentesten Aktivisten der Straßenproteste, ein paar oppositionelle Medien und für den Staat potentiell gefährliche Gruppen wie Fußballfans oder Anarchisten. Strafverfahren gegen die Opposition waren eher die Ausnahme als die Regel. Die Zahl der politischen Gefangenen belief sich bis 2020 selbst zu Spitzenzeiten auf einige Dutzend. Folter oder Misshandlungen an Häftlingen waren eher Exzesse einzelner Beschäftigter als systematische Praxis.

    Nach 2020 änderte sich alles. Die Repressionen drangen in alle Bereiche des Lebens und wurden nicht nur gebräuchlich, sondern zur Routine, ja zur Hauptbeschäftigung mancher Strafverfolgungsbehörden. Der Mechanismus hat sich verselbständigt, die Behörden stehen in Konkurrenz – der Erfolg eines Silowik wird daran gemessen, wie viele Oppositionelle er oder seine Abteilung ausfindig gemacht und bestraft hat.

    Die Zahl allein der von Menschenrechtsorganisationen anerkannten politischen Gefangenen geht auf die anderthalbtausend zu. Die tatsächliche Zahl dürfte viel höher liegen, denn die Angehörigen von Inhaftierten und Verurteilten haben oft Angst, das anzuzeigen, um die Lage der Opfer nicht zusätzlich zu erschweren. Für politische Gefangene gelten inoffiziell besondere Haftbedingungen – in überfüllten Zellen, ohne Freigang, ohne Post, ohne Bettwäsche, mit eingeschränktem Recht auf Korrespondenz und Medikamente. Die Praxis, Verhaftete zu foltern und zu schlagen, um sie zu zwingen, ihr Mobiltelefon zu entsperren oder vor der Kamera ein Geständnis abzulegen, setzt sich seit August 2020 unverändert fort. Die Behörden setzen Gesichtserkennungstechnologien ein und verhaften gezielt jeden, den sie auf den Aufnahmen von den Protesten 2020 ausmachen können.

    Verboten sind mittlerweile nicht nur die Tätigkeit als oppositioneller Aktivist und bei den unabhängigen Medien, sondern auch das Kommentieren dieser Medien (das wird als Beihilfe zum Extremismus gewertet) sowie das Abonnieren ihrer Seiten in den sozialen Netzwerken oder Telegram-Kanälen. In den letzten Monaten kommen die Silowiki immer häufiger zu Angehörigen von Polithäftlingen, politischen Emigranten oder belarussischen Freiwilligen, die auf der Seite der Ukraine kämpfen. Außerdem hat die belarussische Gesetzgebung die sowjetische Norm wieder zum Leben erweckt, laut der man politischen Flüchtlingen die Staatsbürgerschaft entziehen darf.

    Die Propagandisten sagen Konzerte ab und ordnen Festnahmen an

    Die Liste der neuen repressiven Praktiken ließe sich noch endlos fortsetzen, aber die Evolution hin zum totalitären Staat nach sowjetischem Vorbild äußert sich nicht nur in Brutalität und Terror. Schließlich haben nach dem Tod Josef Stalins die Brutalität und der repressive Charakter des Sowjetregimes stark abgenommen, aber es hat deshalb nicht aufgehört, totalitär zu sein. Die heutigen belarussischen Silowiki übertreffen, was das angeht, sogar ihre Meister aus dem sowjetischen KGB.

    Ein weiteres wichtiges Element des Übergangs zu totalitären Praktiken ist das aktive Einbeziehen von regimenahen Aktivisten in die Repressionen. Die Behörden sind dazu übergegangen, regelmäßig Verlage, Buchhandlungen, Ausstellungen und Museen zu schließen, Konzerte und Festivals abzusagen, Unternehmer, Reiseleiter und Musiker festzunehmen und Kulturstätten umzubenennen, nachdem Vertreter der neuen regierungsfreundlichen „Zivilgesellschaft“ sich in ihren Artikeln oder in den sozialen Netzwerken darüber beschwert haben.

    Gleich inoffiziellen ideologischen Inspektoren überwachen diese Leute – meist Blogger und TV-Propagandisten – alles, was in der Kultursphäre passiert, und weisen die Silowiki auf Anzeichen von Illoyalität hin. Solche Aktivisten werden auch eingesetzt, um Druck auf westliche Diplomaten auszuüben, wenn sie an Gerichtsverfahren gegen politische Gefangene teilnehmen oder den Opfern der stalinistischen Repressionen gedenken wollen – dann tauchen stets ein paar lautstarke Propagandisten auf, die versuchen, sie außer sich zu bringen und zu groben Handlungen zu provozieren. Manchmal gehen den Verhaftungen wie zu Sowjetzeiten Hetzjagden in den staatlichen Medien voraus.

    Die Bürokratie tritt in der Rolle der Machtpartei auf

    Im Gegensatz zu klassischen totalitären Regimes gibt es in Belarus keine Machtpartei. Das scheint Lukaschenkos prinzipielle Position zu sein, der seine politische Karriere als Opponent der sowjetischen Kommunisten in den Jahren der Perestroika begann und gesehen hat, wie allergisch die Menschen auf den Parteiapparat reagieren, insbesondere angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs. Die Rolle der Machtpartei ist im heutigen Belarus der kollektiven Bürokratie überlassen.

    Seit Anfang des vergangenen Jahres ist in der Verfassung ein neues Organ verankert – die Allbelarussische Volksversammlung (WNS). Einmal im Jahr kommen 1200 Beamte, lokale „Abgeordnete“ und Protegés von regierungsnahen Organisationen zusammen – dem Nachfolger des Komsomol, Veteranenverbänden und Gewerkschaften. Dieses Gremium, das sich aus bewährten Mitgliedern zusammensetzt und auf das die Wählerinnen und Wähler keinerlei Einfluss nehmen können, erinnert stark an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in der UdSSR. Die WNS wird künftig in der Lage sein, jede Entscheidung eines anderen Regierungsorgans (außer der Gerichte) außer Kraft zu setzen, einschließlich der Erlasse von zukünftigen Präsidenten und Gesetze, die das Parlament beschließt. Die WNS wird die zentrale Wahlkommission stellen, die wichtigsten Richter ernennen und das letzte Wort bei Impeachment-Verfahren haben. Eines der wichtigsten Befugnisse der WNS ist das Recht, die Ergebnisse von Präsidentschaftswahlen innerhalb von fünf Tagen nach ihrer Verkündigung für „illegitim“ zu erklären – ohne Angabe von Gründen, einfach, weil dem bürokratischen Apparat der Sieger nicht gefällt.

    Lukaschenko plant offenbar, die WNS als Vorsitzender des Präsidiums anzuführen (ein Organ, das an das einstige Politbüro erinnert) und auf diese Weise seinen Nachfolger zu kontrollieren, insofern er sich überhaupt irgendwann zu einem Machttransit entschließt. Bis dahin erlaubt es die Verfassung Lukaschenko – und zwar nur ihm – diese zwei Ämter auf sich zu vereinen. Nachdem die neue Verfassung beschlossen war, erklärte Lukaschenko bereits zweimal, man hätte die direkten Präsidentschaftswahlen insgesamt abschaffen und die Ernennung des Präsidenten der WNS überlassen sollen, damit die Gesellschaft nicht durch die ständigen Wahlkämpfe destabilisiert würde. Lukaschenko bezog sich dabei zwar nicht auf die sowjetische, sondern auf die chinesische Erfahrung, aber auch das ist eine Annäherung an die Verfassungsordnung totalitärer kommunistischer Regime.

    Die sowjetische Verfassung zementierte das Machtmonopol der KPdSU. Lukaschenko ist noch nicht so weit gegangen – unter anderem weil er keine eigene Partei hat. Aber im neuen Parteiengesetz, das in den nächsten Monaten verabschiedet werden soll, will die Regierung Parteien verbieten, deren Ideologie vom durch die WNS vorgegebenen Kurs abweicht. Mit anderen Worten, eine Versammlung von Beamten und regierungsnahen Aktivisten wird den ideologischen Rahmen für die Realpolitik im Land festlegen. Auf die Verabschiedung dieses Gesetzes wird eine Neuregistrierung der Parteien folgen, die mit ziemlicher Sicherheit keine der oppositionellen Parteien überstehen wird.

    Das Land ist offen, die sozialen Netzwerke nicht abgeschaltet. Aber wie lange noch?

    Das Fehlen einer klaren und mobilisierenden Ideologie ist heute im Wesentlichen das, was das belarussische Regime vom klassischen Totalitarismus unterscheidet. Lukaschenko versucht seit Anfang der 2000er, eine eigene belarussische Ideologie zu formulieren, aber er ist in diesem Punkt nach mehrfacher eigener Aussage gescheitert. Doch das Fehlen einer Doktrin wie der kommunistischen oder der Chuch’e-Ideologie in Nordkorea, eines religiösen Fundamentalismus oder Faschismus hindert das belarussische Regime nicht daran, sowjetische Praktiken der ideologischen Kontrolle zum Leben zu erwecken. Nur dass die Treue gegenüber ideologischen Dogmen in diesem System durch die politische Loyalität ersetzt wird.

    Seit kurzem existiert in Belarus ein System von persönlichen Charakteristiken, die bei einem Arbeitswechsel und Hochschulzulassungen entscheidend sind. In dieser Charakteristik muss der frühere Arbeitgeber oder die Schule angeben, ob die Person bei einer Protestaktivität aufgefallen ist und wie sie zur „Verfassungsordnung“ steht. Bei einem negativen Eintrag darf derjenige weder auf eine Anstellung im Staatssektor hoffen noch in einem größeren privaten Unternehmen. Diese Loyalitätsprüfung kann auch für viele Kulturschaffende, Lehrer oder Ärzte kritisch werden, weil der Staat in diesen Bereichen dominiert. Neben den staatlichen Unternehmen gibt es jetzt auch in vielen großen Privatunternehmen „Kommissare“ – KGB-Mitarbeiter, die als Vize-Direktoren dafür sorgen, dass in der Firma keine Oppositionellen arbeiten und keine „zweifelhaften“ Subunternehmen engagiert werden, zum Beispiel im Werbebereich. Auf diese Weise werden die ehemaligen Protestierenden, wenn sie irgendwann den Sicherheitsdiensten aufgefallen sind, nicht nur wegen der akuten Gefahr von Repressionen in die Emigration gezwungen, sondern weil sie faktisch nicht mehr arbeiten dürfen. Die Abwanderung von qualifizierten Ärzten ist, laut zahlreichen Berichten aus Belarus, zu einem ernstzunehmenden Problem für diesen Bereich geworden und jene, die auf hochwertige medizinische Versorgung angewiesen sind.

    Ein weiterer wichtiger Unterschied zum klassischen Totalitarismus ist, dass Lukaschenko bisher nicht vorhat, Belarus hinter einem eisernen Vorhang abzuschotten. Die Unzufriedenen können gehen. Trotz der Sperrung aller unabhängigen Medien sind im Land die gängigen globalen sozialen Netzwerke und Online-Plattformen wie Facebook, YouTube, Twitter und Telegram weiterhin aktiv.

    Es ist unsicher, ob diese Schlupflöcher noch lange existieren. Die Bewegung hin zum Totalitarismus ist keine Laune, sondern eine für Lukaschenko organische Reaktion auf die Turbulenzen der letzten Jahre. Sein Regime ist dem Wesen nach die Brut des Sowjetsystems, er bezeichnet sich selbst offen als Sowjetmenschen. Die teilweise Rückkehr zu sowjetischen Praktiken ist die krisenbedingte Rückkehr des Regimes zu seiner politischen DNA. Solange sich die Krise nur verschärft, gibt es keinen Anlass zu denken, dass die Rückwärtsbewegung aufhören wird. Vorausgesetzt, Lukaschenkos wichtigster Gönner, der Kreml, verliert nicht die Ressourcen und den Willen, ihn weiterhin zu unterhalten.

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  • Kampf der Oppositionen

    Kampf der Oppositionen

    2020 traten, für viele unerwartet, neue politische Anführer und Aktivisten in Belarus auf den Plan, die umgehend mit dem Label „Opposition 2.0“ versehen wurden. Die alte Garde, die sich jahrzehntelang auf den Moment des Umbruchs vorbereitet hatte, war mehr oder weniger aus dem Spiel.

    Allerdings konnten auch die neuen Anführer nicht erreichen, dass die Proteste sich durchsetzen und zu einem politischen Wandel führen. Viele Vertreter der Opposition, der alten wie der neuen, kamen ins Gefängnis oder wurden ins Ausland vertrieben.

    Zwei Jahre später scheint es, als ob die neue Opposition in die gleiche Falle tappt wie die alte: Sie wird von Fehden und Skandalen erschüttert. Vor allem hat sie keinen Einfluss auf das Geschehen in Belarus selbst. Die Umfragewerte für die Teams der demokratischen Kräfte im Ausland sinken. Es besteht die Gefahr, dass sie sich zerreiben wie einst ihre Vorgänger. Was aber ist mit der alten Opposition? Wie sehen die Aussichten der neuen Opposition aus? Diesen und anderen Fragen geht der Politanalyst Alexander Klaskowski nach.

    Русская Версия

    Die stürmischen Ereignisse des Jahres 2020 führten dazu, dass in Belarus eine neue Opposition entstand. Die alte Garde der ideellen Opponenten des Regimes, die viele Jahre lang davon geredet hatte, dass eine revolutionäre Situation unabdingbar sei, war auf paradoxe Weise in jenem historischen Moment, da die Massen erwachten, praktisch aus dem Spiel. Allerdings gelang es auch den neuen Anführern nicht, für einen Sieg der Proteste zu sorgen.

    Ist die alte Opposition politisch noch am Leben? Hat sie eine Chance, im Kampf gegen das Regime von Lukaschenko das Wort zu führen, in einem Kampf, bei dem die Aussichten nach der Erstickung der Proteste erneut unklar sind?

    Das Regime hat die alte Opposition schrittweise marginalisiert

    Der Urtypus einer demokratischen Revolution in Belarus war die gegen Ende der Sowjetunion in den Jahren der Perestroika entstandene Belarussische Volksfront (BNF), die nach Vorbild der Bewegungen geschaffen wurde, die in den baltischen Ländern für eine Loslösung von der UdSSR kämpften. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit gab es keinen Präsidenten, und das Parlament, der Oberste Sowjet, war relativ pluralistisch (damals wurden bei Wahlen noch die Stimmen gezählt). Dort saß auch die zwar nicht große, doch energische Fraktion der BNF um ihren Anführer Senon Posnjak. 

    Die Volksfront büßte allerdings allmählich ihre Popularität ein. Vielen Belarussen, deren Bewusstsein einer starken Russifizierung unterworfen war, erschien das von der Volksfront vorgelegte Programm zur nationalen Wiedergeburt zu radikal. Ein beträchtlicher Teil der Wählerschaft empfand bald Nostalgie für die UdSSR, was von dem talentierten Populisten Lukaschenko ausgenutzt wurde, der 1994 bei den ersten Präsidentschaftswahlen an die Macht kam. 

    Unterdessen war Anfang der 1990er Jahre angesichts der relativ liberalen Haltung der Regierung ein ganzes Spektrum politischer Parteien entstanden. Einigen Parteien gelang es, sich offiziell registrieren zu lassen, bis zu dem Punkt, da das erstarkte autoritäre Regime von Lukaschenko diesen Prozess wieder einfror (seit 1999 wurde vom Justizministerium keine einzige neue Partei registriert).

    Das Regime war da noch nicht so brutal wie jetzt. Es bandelte von Zeit zu Zeit mit dem Westen an. Die Oppositionsparteien wurden zwar diskriminiert, konnten aber legal agieren. Sie konnten Versammlungen abhalten, ihre Kandidaten nominieren und Wahlkampf machen.

    Für die Opposition war es jedoch nicht möglich, die Machthaber durch einen Urnengang abzulösen. Zum einen hatte Lukaschenko einstweilen noch einen breiten Rückhalt bei den Wählern. Er konnte einen Anstieg des Lebensstandards gewährleisten, der nach postsowjetischen Maßstäben nicht schlecht war (und das in vielem durch die finanzielle und wirtschaftliche Hilfe Moskaus). Die Masse der durchschnittlichen Belarussen war dem Führer dankbar für Speck und Schnaps.

    Zweitens schanzte sich die Regierung bei den Wahlen Stimmen zu; dafür wurden die Wahlkommissionen mit den „eigenen Leuten“ besetzt. Und mit jedem Wahlgang nahmen die Fälschungen (die sich unter anderem durch unabhängige Sozialforschung ermessen lassen) immer größere Dimensionen an.

    Drittens wurden Opponenten Lukaschenkos systematisch in ein Ghetto getrieben, durch Propaganda und Repressionen (die damals noch dosiert waren). Sie wurden als Loser und Agenten des Westens diffamiert.

    Kurzum, die Opposition, die später die „alte Opposition“ genannt wurde, wurde schrittweise marginalisiert. Innerhalb der Opposition nahmen die Streitigkeiten zu. Deswegen brachte sie im Frühjahr 2020 sogar die eigenen „Primaries“ zum Scheitern, den Prozess zur Festlegung eines gemeinsamen Kandidaten, der der Gegenkandidat Lukaschenkos werden sollte.

    Die Präsidentschaftswahlen, die für den 9. August 2020 angesetzt waren, hätten grau und blutleer sein können, doch warfen plötzlich neue Figuren dem Führer den Fehdehandschuh hin, Figuren ohne eine Aura aus Niederlagen und Skandalen: der Blogger Sergej Tichanowski, der ehemalige Banker Viktor Babariko und der ehemalige Leiter des Hightech-Parks Waleri Zepkalo.

    Als man Tichanowski (und dann Babariko) verhaftete, zog unerwartet Swetlana Tichanowskaja, die Frau des Bloggers, mit in den Kampf. Diese Frau, die gestern noch Hausfrau gewesen war, machte einen phänomenalen Wahlkampf. Ihre Gestalt verkörperte die Hoffnungen auf einen Wandel. Also stimmten Millionen für Tichanowskaja. Sie hat, mittelbar erlangten Daten zufolge, de facto über den Führer gesiegt.

    Die Zentrale Wahlkommission verkündete jedoch einen Sieg Lukaschenkos mit 80 Prozent der Stimmen. Die massenhaften spontanen Proteste empörter Verfechter von Veränderungen wurden brutal unterdrückt. Tichanowskaja wurde in die Emigration gezwungen, ein Teil ihrer Mitstreiter ebenfalls, ein anderer Teil wanderte ins Gefängnis.

    Innerhalb des Landes wird jetzt alles Lebendige niedergebrannt

    Die neuen Anführerinnen konnten den friedlichen Aufstand jedoch nicht wirklich leiten, sie hatten keine Strategie. Wenn man jedoch genauer hinschaut, hatte auch die alte, klassische Opposition nie eine wirksame Strategie. In ihren Kreisen herrschte folgende stereotype Vorstellung: Wenn hunderttausend Protestierende auf die Straße gehen, wird die Miliz auf die Seite des Volkes wechseln, und die Sache ist geritzt – das Regime stürzt.

    2020 kamen jedoch mehrere hunderttausend Menschen zu den Kundgebungen. Dennoch gewannen die wohltrainierten und gut ausgerüsteten Sicherheitskräfte mit ihren von der Propaganda gewaschenen Hirnen die Oberhand. Lukaschenko fand Gefallen an der Gewalt und machte sie zu seinem wichtigsten politischen Instrument. Jetzt steckt die neue Opposition in der gleichen Sackgasse, in der die alte gesteckt hat: Gegen Gewalt helfen keine Pillen.

    Unterdessen befahl Lukaschenko eine Neuregistrierung der Parteien, was praktisch eine Auflösung der alten Oppositionsprofile bedeutet. Es ist ein neues Parteiengesetz in Arbeit, dem zufolge nur zutiefst loyale Parteien auf die politische Bühne gelassen werden, als Attrappen.

    Formal bestehen die Parteien der alten Opposition – unter anderem die Vereinigte Bürgerpartei (OGP), die Partei der BNF, die Belarussische Sozialdemokratische Partei (Hramada) (BSDP) und Gerechte Welt – zwar noch, doch de facto sind sie in einer Atmosphäre des absoluten Terrors gelähmt.

    Der wohl letzte Versuch, legal eine öffentliche Aktion zu veranstalten, war der Antrag der Partei der Grünen vom April, den traditionellen Gedenkmarsch Tschernobylski schljach abzuhalten. Wie vorherzusehen, wurde er von den Behörden abgelehnt. Wer auf nicht genehmigte Veranstaltungen geht, landet mit Sicherheit im Gefängnis.

    Einige Anführer der traditionellen Opposition, die sich den Protesten von 2020 angeschlossen haben, wurden zu wahrhaft stalinistischen Freiheitsstrafen verurteilt: der Christdemokrat Pawel Sewerinez zu sieben Jahren, der Sozialdemokrat Nikolaj Statkewitsch zu 14 Jahren. Der Leiter der Partei der BNF, Grigori Kostussew, erhielt zehn Jahre, nachdem er der „Verschwörung zum Zwecke der Machtergreifung“ beschuldigt worden war.

    Heute wird jede Aktivität im Land, die nicht unter der Kontrolle des Staates steht, kriminalisiert: Rühr dich und erhebe deine Stimme gegen das Regime, und schon wanderst du ins Gefängnis, wegen Volksverhetzung, „Beleidigung der Regierung“, „Extremismus“, „Vorbereitung von Massenunruhen“ oder nach irgendeinem anderen fadenscheinigen Paragrafen des Strafgesetzbuches.

    Ein Beispiel hierfür ist die OGP, die versucht hatte, in gewissem Maße aktiv zu bleiben. Daraufhin wurde die gesamte Parteispitze verhaftet. Anfang November erhielt Parteichef Nikolaj Koslow zweieinhalb Jahre Straflager. Formal wegen Beteiligung an einem Protestmarsch im August 2020, in Wirklichkeit jedoch, weil er versucht hatte, unter den aktuellen harten Bedingungen das Parteileben in Gang zu bringen. Vor kurzem ist Koslow von einem Parteitag als Vorsitzender wiedergewählt worden, aber das ist ein rein symbolischer Schritt. Aus dem Gefängnis heraus wird er die Partei nicht führen können. Und was genau soll er eigentlich leiten? Alle sitzen mucksmäuschenstill herum.

    Andere Vertreter der alten Opposition waren gezwungen, sich vor dem Damoklesschwert der Repressionen ins Ausland zu retten. So befindet sich der Vorsitzende der BSDP, Igor Borissow, jetzt mit seiner Familie in Belgien. Die meisten emigrierten nach Litauen und Polen. Dabei schloss sich ein Teil der alten Oppositionsgarde in der Emigration Strukturen der neuen Opposition an. Einige werden sogar als graue Eminenzen betrachtet. Auf jeden Fall konnten die politischen Neulinge eindeutig die organisatorische und sonstige Erfahrung von Leuten gebrauchen, die sich dem Regime schon viele Jahre entgegenstellen.

    Im Team von Tichanowskaja arbeiten die Vertreter der OGP Alexander Dobrowolski, Anatoli Lebedko und Anna Krassulina. Olga Kowalkowa von der Belarussischen Christdemokratie ist eine der prominenten Figuren des Koordinationsrates, der als Urparlament eines zukünftigen Belarus betrachtet wird. Dem Anführer der Bewegung für die Freiheit, Juri Gubarewitsch, wurde im Vereinigten Übergangskabinett, einer Art Exilregierung, die Aufgabe anvertraut, die „Kaderreserven für ein neues Belarus auszubilden“.

    Protestveranstaltung gegen Lukaschenko am 23. August 2020, Minsk, Belarus / Foto © Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

    Wird Lukaschenko von einer Opposition 3.0 überwunden werden?

    Die alte Opposition liegt also zum Teil am Boden und ist nicht mehr dabei. Zum Teil ist sie gewissermaßen in der „Opposition 2.0“ aufgegangen. Gleichzeitig sind die Vorstellungen der alten Garde nicht verschwunden. Ein markantes visuelles Symbol der Proteste 2020 ist das Meer der historischen weiß-rot-weißen Flaggen. Die Bestrebungen der BNF und anderer oppositioneller Gruppen der „ersten Welle“, die das nationale Bewusstsein stärken wollten, haben Früchte getragen.

    Vertreter der alten Opposition hatten Tichanowskaja und die anderen politischen Neulinge von 2020 anfangs kritisiert, weil die Plattform schwammig sei, weil man Referenzen Richtung Moskau mache, weil man der Frage aus dem Weg gehe, wem die Krim gehört, weil man sich nicht genug um das Belarussische und das historische und kulturelle Erbe der Nation kümmere. Die neue Opposition formuliert jetzt immer deutlicher Parolen von einer nationalen Wiedergeburt, einem Widerstand gegen die imperialistische Politik des Kreml und einem europäischen Weg. Man tastet also auf der Suche nach Rückhalt das ideelle Fundament ab, das de facto von der traditionellen Opposition gelegt wurde. Allerdings tappte die neue Opposition in die gleiche Falle wie die alte. In den letzten Monaten 2022 wird die nach 2020 entstandene politische Diaspora von Fehden und Skandalen erschüttert.

    Kritiker sind der Ansicht, dass das Team von Tichanowskaja den ganzen Kuchen will, sich gegen die Bildung einer starken Koalition wendet, zu wenig transparent ist und keine klare, überzeugende Strategie hat. Einige Mitglieder ihres Teams versuchen, die berechtigte Kritik und die Recherchen unabhängiger Medien als Wühlarbeit des Regimes und seiner Geheimdienste hinzustellen.

    Das größte Problem besteht darin, dass die politische Diaspora keine Hebel in der Hand hat, um auf das Geschehen in Belarus selbst Einfluss zu nehmen. Der politische Terror, den das Regime entfesselt hat, wirkt. Lukaschenko hat mit seinen barbarischen Methoden die Lage im Land betoniert.

    Schwer zu sagen, wie lang dieser Alptraum andauern wird, aber es bleibt eine Tatsache: Die Massen zu einem Aufstand gegen das Regime zu mobilisieren (das nach Ansicht einer Reihe von Politologen in eine totalitäre Phase getreten ist) ist heute undenkbar. Also hängen sämtliche Strategien seiner Opponenten in der Luft. Viele Anhänger von Veränderungswünschen sind frustriert. Die Umfragewerte der Teams der demokratischen Kräfte im Ausland gehen zurück. Dort riskiert man, sich in Streitereien zu verheddern, in eine Imitation stürmischer Aktivität abzugleiten und letztendlich marginalisiert zu werden, wie es einst mit der alten Opposition geschah.

    Natürlich wird das Regime von Lukaschenko nicht ewig währen. Aber auch das Mandat und der Vertrauensvorschuss für Tichanowskaja, ihr Team und für die ganze neue Opposition sind nicht auf ewig. Und wenn sie die Herausforderungen nicht bewältigt, dann könnte es sein, dass im Moment des Wandels nicht sie an der Spitze steht, sondern ganz andere, deren Namen wir heute noch nicht kennen. Wahrscheinlich wird es eine Opposition 3.0 geben, die letztendlich nicht mehr Opposition, sondern Regierung sein wird.

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  • „Der Fotoapparat war für mich eine Art Eintrittskarte in diese Welt des Mystischen“

    „Der Fotoapparat war für mich eine Art Eintrittskarte in diese Welt des Mystischen“

    Zehn Jahre ist der belarussische Fotograf Siarhej Leskiec durch seine Heimat gereist, hat recherchiert und fotografiert. So ist ein besonderes Projekt entstanden, das sich mit dem archaischen Heilritus des Flüsterns beschäftigt. Das Projekt und das daraus entstandene Buch haben in Belarus und in der belarussischen Exil-Gemeinschaft sehr viel Aufmerksamkeit erfahren. So ist sogar ein Theaterstück auf Grundlage von Leskiec’ Recherchen entstanden, das von den Kupalaucy auf die Bühne gebracht wurde, dem Ensemble, das von den ehemaligen Angestellten des Janka Kupala-Theaters nach ihrer Entlassung infolge der Proteste 2020 gegründet worden war. Das Stück feierte in Stuttgart im November 2022 Premiere.

    Wir haben Siarhej Leskiec zu seiner Arbeit und zur Tradition des Flüsterns befragt und zeigen dazu eine Auswahl an Bildern aus dem Projekt.

    Belarussisches Original

    Während der Behandlung / Foto © Siarhej Leskiec
    Während der Behandlung / Foto © Siarhej Leskiec
    dekoder: Ihr neuestes Fotoprojekt trägt den Titel Flüstern, auf Belarussisch Schept. Worum geht es in dem Projekt?

    Siarhej Leskiec: Dieses Projekt beschäftigt sich mit der sehr alten und verschlossenen Tradition der Heilkunde. Es geht um die Menschen, die dieses Wissen pflegen. Dem Glauben nach besitzen sie alle die höhere göttliche Gabe, Menschen mit Worten und Handlungen zu heilen. Als wäre es nichts Übernatürliches, spricht der Heiler im Flüsterton geheimnisvolle Worte und heilt damit Menschen und auch Haustiere, zum Beispiel Kühe und Pferde. Die Gabe wird immer an die übernächste Generation weitergegeben, von der Großmutter auf die Enkelin, vom Großvater auf den Enkel. Diese Tradition ist fast ohne Unterbrechung aus der Tiefe der Jahrhunderte und Jahrtausende bis zu uns heute durchgedrungen. Diese Tradition ist nie abgebrochen, trotz des jahrtausendelangen Drucks seitens der christlichen Kirche, der Inquisition, des sowjetischen Atheismus und der Repressionen. Das hat mich inspiriert, denn viele bei uns haben schon von dieser Tradition gehört oder sind ihr begegnet, aber noch niemand hat je diese Menschen fotografiert.

    Der Fotoapparat war für mich eine Art Eintrittskarte in diese Welt des Geheimnisvollen und Mystischen. Dank der Kamera bekam ich Zugang zu dieser verschwindenden Welt meiner Ahnen. Ich konnte mit eigenen Augen sehen, wovon ich vorher nur in anthropologischen und ethnografischen Büchern gelesen hatte.

    Wie sind Sie auf diese Art des Heilens aufmerksam geworden?

    Auf die eine oder andere Weise stammen wir Belarussen alle aus dem Dorf und sind dort tief verwurzelt, das ist wie ein genetisches Gedächtnis. Selbst in der Bezeichnung liegt eine tiefere Bedeutung. Babka nennen wir unsere eigene Großmutter, aber auch die Heilerin. Jeder kann eine Geschichte davon erzählen. Wenn zum Beispiel ein kleines Kind schlecht schläft, nachts schreit und die ganze Zeit weint, dann gibt man ihm ein bisschen von dem Wasser zu trinken, das der Heiler mit seinen Worten beflüstert hat. Häufiger behandeln sie Ausrenkungen, Zerrungen, Infektionskrankheiten (Ausschlag, Wundrose), oder sie versuchen, bei Unfruchtbarkeit zu helfen.

    Ich selbst hatte schon als Kind davon gehört und gewusst, aber es nie mit eigenen Augen gesehen. Als ich dann zum ersten Mal eine solche Frau besuchte, war ich so aufgeregt, dass ich gar nicht fotografieren konnte. Ich brauchte einige Jahre für die Vorbereitung und das Eintauchen in dieses Thema. Ich habe unheimlich viel gelesen, bin herumgefahren und habe gesucht, wieder und wieder. Und eines Tages gelang es mir dann schließlich, mit dieser ersten Heilerin zu sprechen und ein Porträt von ihr zu machen. Ich wollte eigentlich schon nach Hause fahren, als zu dieser Heilerin Patienten zur Behandlung kamen und mir erlaubten, dabei zu sein. Stellen Sie sich vor, zwei Jahre sitzt du nur da und liest Bücher, und dann kommt der Moment, in dem man dir erlaubt, das zu sehen, was für andere tabu ist. Das war auf eine Art, so seltsam das klingen mag, meine Initiation. Danach war alles einfacher, ich traf öfter die richtigen Leute, und alle waren bereit zu Gesprächen. Denn ich war nicht mehr nur ein neugieriger Mensch, sondern trug schon etwas von ihrem Wissen in mir. 

    Was passiert beim Flüstern genau?

    Wie sie heilen, kann man jemandem, der in der rationalen Welt lebt, nur schwer erklären. Es folgt keiner Logik und auch nicht dem Verständnis der modernen Medizin und Wissenschaft. Die Heiler leben bis heute in einer mystisch-poetischen Welt, einer Welt der Märchen und Legenden, wie unsere Vorfahren sie kannten. Für sie basiert jedes Verständnis der Umwelt auf Empfindungen und Gefühlen.

    Früher wurde die Tradition stets an die übernächste Generation weitergegeben, vom Großvater zum Enkel. Der Nachfolger musste der Älteste oder der Jüngste sein, nie der Mittlere. Er musste ein gutes Gedächtnis und einen anständigen Charakter haben, Mitgefühl und den Wunsch, anderen zu helfen. Der zukünftige Heiler wurde von früher Jugend an ausgebildet, ab dem Alter von sieben bis zwölf Jahren. In diesem Alter hat der Mensch ein kristallklares Gedächtnis, was er hört, merkt er sich sein Leben lang. Erst kurz vor dem Tod übergab der alte Heiler dann seine Gabe, ohne die das gesamte Wissen nutzlos wäre. Es gab auch eine andere Kategorie von Heilern, die ihre Gabe nicht durch Erbfolge bekamen, sondern von der Natur. Sie waren mächtiger. Diese Menschen erhielten ihre heilenden Kräfte und Worte im Schlaf, von höheren Mächten.

    Wie heilen sie also? Meistens spricht der Heiler flüsternd seine Gebete über Wasser, das er aus dem Brunnen geholt hat. Danach muss der Kranke dieses Wasser trinken oder sein Gesicht damit waschen. Einige Heiler sprechen die Worte auch direkt über dem Patienten. 

    Es gibt zahlreiche und sehr vielfältige Methoden. Hautausschlag zum Beispiel wird mit Kondenswasser von der Fensterscheibe eingerieben. Dabei werden natürlich die notwendigen Worte geflüstert. Wundrose, eine Infektionskrankheit, wird in der Regel so behandelt: Man legt ein rotes Tuch auf die betroffene Hautstelle und rollt aus Leinenfasern kleine Kügelchen, die man beim Sprechen der Gebete über diesem roten Tuch verbrennt. Bei einigen Krankheiten werden zur Behandlung auch Kräuter eingesetzt. Sie werden entweder als Tee getrunken, in Form einer Tinktur verabreicht oder angezündet, sodass der Qualm die Kranken umhüllt. 

    Ist diese Tradition in ganz Belarus verbreitet?

    Die Tradition verschwindet so schnell wie das Dorf. Schon heute sind diese Bräuche nicht mehr überall gleich stark verbreitet. Im Westen von Belarus zum Beispiel, wo die katholische Bevölkerung überwiegt, gibt es sehr wenige Träger dieser Tradition. Der Katholizismus hat dort gut „gewirkt“. Stärker ist die Heilkunde in den Grenzregionen erhalten, zum Beispiel auf dem Gebiet Palessiens. Dort trifft man noch Heiler an. Früher gab es fast in jedem größeren Dorf eine solche Person. 

    In den Städten gibt es heute wie überall auf der Welt Vertreter des modernen Neoschamanismus und Heilpraktiker, doch das hat mit unserer Tradition überhaupt nichts gemein. 

    Wo liegen die Wurzeln dieser Heilpraxis, und wie konnte sie die Zeit der Sowjetunion überdauern?

    Man kann heute kaum mehr sagen, in welcher Zeit der Ursprung liegt. Wissenschaftler verorten ihn in der ursprünglichen Magie des Wortes, sehen in dieser Heilmethode eine der ersten Formen der Folklore. Der Ursprung liegt also in der Zeit, in der das Wort selbst entstand und seine sozusagen magischen Kräfte erlangte. Als der Mensch begann, seine Umgebung zu benennen und zu bezeichnen. 

    In dieser oder anderer Form gab es in allen Völkern in einem bestimmten Entwicklungsstadium Heiler, also Menschen, die dabei halfen, mentale, geistige und körperliche Gesundheit zu erlangen. Während zum Beispiel in Europa die Inquisition diese Menschen weitgehend umgebracht hat, war in unserer Region die Kirche milder eingestellt. Dadurch konnte die Tradition über die tausendjährige Herrschaft des Christentums hinweg bewahrt werden. Als die sowjetische Ideologie an die Macht kam, setzte sich der Druck fort. Die Heiler waren denselben Repressionen wie die Priester ausgesetzt, wurden nach Sibirien deportiert. 

    Das führte aber nicht zum Abbruch der Tradition, sie fand einfach unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und wurde geheim gehalten. Die Behandlungen wurden nachts vorgenommen, damit niemand davon erfuhr. Mir ist zu Ohren gekommen, dass beispielsweise ein Kommunist heimlich zu einer Heilerin ging, um einen giftigen Schlangenbiss behandeln zu lassen, da es nicht möglich war, da kein Krankenhaus in Reichweite war. Das war für beide Seiten gefährlich. Die Heilerin konnte verhaftet werden, der Kommunist konnte seinen Status und seine Arbeit verlieren. 

    Viele Nachkommen weigerten sich, die göttliche Gabe zu übernehmen. Denn natürlich war die damalige Jugend gegenüber solchen Kenntnissen eher skeptisch. Auch das hat zum langsamen Verschwinden der Tradition beigetragen. 

    Alles in allem hat die Sowjetmacht ein System errichtet, das zum katastrophalen Verschwinden des belarussischen Dorfes führte. Während 1970 noch 75 Prozent der belarussischen Bevölkerung in Dörfern lebte, sind es heute nur noch 25 Prozent, und auch diese Zahl sinkt weiterhin.

    Wie sind Sie fotografisch an das Projekt herangegangen?

    Das mag vielleicht unglaublich klingen, aber die visuelle Sprache hat sich während der Arbeit am Projekt von selbst entwickelt. Ich wollte im Mittelformat arbeiten und habe zu Beginn noch Buntfilm verwendet. Die Digitalkamera hielt ich hier für überflüssig. Doch nach einigen Expeditionen waren die Filme einfach leer geblieben, ohne ein einziges Bild. Magie also …

    Beim nächsten Mal verwendete ich Schwarzweißfilm und entwickelte die Negative selbst, mit allen chemischen Prozessen. Das kam mir wie eine besondere Alchimie vor, ein Spiel mit den Sinnen. Meine fotografische Magie hält die Magie der Heilerinnen fest. Das Licht in den Dorfhäusern ist zudem oft sehr schwach, sodass die Arbeit mit Schwarzweißfilm einfacher war. Es gab auch einen lustigen Vorfall: Verwandte hatten mich gebeten, etwas besprochenes Wasser mitzubringen. Auf dem Heimweg verwechselte ich vor Müdigkeit die Flaschen, füllte meinen Verwandten meine Chemikalien zum Film-Entwickeln ein und verwendete das Heilwasser dann zum Entwickeln der Negative. So liegen die geheimnisvollen Gebete nun als unsichtbare Schicht über den Porträtfotos. 

    Wie reagieren die Ausstellungsbesucher in Belarus auf das Projekt?

    Die Reaktion der Belarussen hat mich schlichtweg schockiert. Ein solches Maß an Aufmerksamkeit bin ich nicht gewohnt. Die Buchveröffentlichung war für mich ein Abenteuer. Ich bin ja kein Schriftsteller, sondern habe einfach meine Eindrücke des Gehörten und Gesehenen auf Papier festgehalten. Zehn Jahre Reisen, Recherchen, Entdeckungen. Die gesamte Auflage des Buchs war innerhalb von sechs Monaten ausverkauft.

    Auch die Ausstellung sorgte für viele erfreuliche Momente. Wir mussten fünf Lesungen machen, weil immer wieder Leute in der Galerie anriefen und nachfragten. Wir mussten sogar Voranmeldungen aufnehmen, weil nicht genug Platz für alle Interessierten war. Die Ausstellung wurde drei Mal verlängert, sie war letztlich drei Monate lang zu sehen. Doch auch nach Ende der Ausstellung rufen die Leute noch in der Galerie an und wünschen sich weitere Lesungen.

    Das ist aber alles gar nicht so sehr mein Verdienst, sondern vielmehr das meiner Heldinnen, ihres Schicksals, ihrer Bestimmung. Manche Leute lasen das Buch und kamen dann in die Ausstellung, um die Porträts zu betrachten, bei anderen war es umgekehrt, sie kauften das Buch nach der Ausstellung. Hier kommt wieder das genetische Gedächtnis ins Spiel, viele hatten von den Heilerinnen gehört, manche hatten welche in der Verwandtschaft, aber niemand kannte die Geheimnisse der Tradition. Mein Buch und die Ausstellung haben Einblick in die vergessene und verschwindende mystische Welt der belarussischen Heiltradition eröffnet. Wahrscheinlich war das der Grund für den Erfolg.
     

    Das Frauenkreuz und die Flüsterin Babka Fedora. Jedes Jahr werden an dem Kreuz Stoffe und Ruschniki geopfert. Nach einem Jahr werden sie verbrannt und neue aufgehängt. Dies ist ein Heil- und Opferritual, das dafür sorgen soll, dass das ganze Dorf von schrecklichen Krankheiten verschont bleibt / Foto © Siarhej Leskiec
    Pferdehaar im Haus einer Heilerin / Foto © Siarhej Leskiec
    Pferdehaar im Haus einer Heilerin / Foto © Siarhej Leskiec
    links: Eines der Heilungsrituale besteht darin, durch eine Baum- oder Tierhöhle zu klettern, eine Höhle, die an der Grenze zwischen Wald und Feld gegraben wurde / rechts: Wandas Großmutter stammte aus einem alten Hexengeschlecht. Doch ihre Mutter gab diese Tradition auf und praktizierte nur noch Heilung. Ihre Tochter führt die Tradition ihrer Mutter im Alter von 92 Jahren fort / Fotos © Siarhej Leskiec
    Holzglut in einer Tasse. Durch die Glut wird Wasser gefiltert oder ein in der Kirche gesegnetes Kraut wird in die Glut geworfen, mit dem Rauch wird die kranke Person geräuchert / Foto © Siarhej Leskiec
    Elenas Großmutter flüstert Zaubersprüche. Sie trägt mehrere Kreuze und Amulette auf der Brust, die ihrer Meinung nach ihre Heilkraft verstärken / Foto © Siarhej Leskiec
    Brotopfer für ein Erntejahr (Pilze, Beeren). Eine der Heilerinnen zeigt, was sie tut. Auf einem Tuch bringt sie ein Stück Brot dar und legt es auf eine Lichtung / Foto © Siarhej Leskiec
    Ein toter „Drachen“, häufiger eine Elster, als Talisman gegen die Umtriebe eines Hausmeisters (ein Geist, der im Hof lebt) / Foto © Siarhej Leskiec
    Ein toter „Drachen“, häufiger eine Elster, als Talisman gegen die Umtriebe eines Hausmeisters (ein Geist, der im Hof lebt) / Foto © Siarhej Leskiec
     
    links: Großmutter Anna lebt in Podlasie (was seit 1945 zu Polen gehört), sieht sich aber als orthodoxe Belarussin. Die Heilworte, so sagt sie, seien ihr von den verstorbenen Heiligen Kuzma und Demjan beigebracht worden / rechts: Heilerin mit neun unterschiedlichen Ähren. Es gehört zu ihrer Familientradition, auf Kupalle neun unterschiedliche Ähren zu sammeln und sie in der Kirche zu weihen. Sie helfen ihr bei der Heilung von Kranken / Fotos © Siarhej Leskiec
    Papier mit Beschwörungsformeln. In verschiedenen Traditionen werden sie verbrannt und geräuchert, oder sie werden in Wasser eingeweicht und das Wasser dann getrunken, womit der Mensch die Worte in sich aufnehmen soll / Foto © Siarhej Leskiec
    Laut Legende ist der Sumpf vom Teufel erschaffen worden, der die Samen des Lebens aus dem Mund Gottes nahm, woraufhin diese zu wachsen begannen und der Teufel sie ausspucken musste. Deswegen ist der Sumpf also das Gegenteil von Frieden und Harmonie – ursprüngliches Chaos. Dorthin verbannen die Heilerinnen alle Krankheiten. Dort wohnt nach ihrer Vorstellung der Teufel und dort haben Krankheiten ihren Ursprung / Foto © Siarhej Leskiec
    Direkt am Haus der Flüsterin Elena befindet sich der Dedowa Gora, der Berg der Ahnen, wo die Einheimischen seit jeher Kupalle feiern. Wissenschaftler meinen, dass ein Ort mit solch einem Namen in der Vergangenheit ein heidnischer Tempel gewesen sei / Foto © Siarhej Leskiec
    links: Mütterchen Elena zeigt die Kräuter, die sie zum Heilen verwendet / rechts: Eine der wenigen Heilerinnen, die – so wird es überliefert – Epilepsie bei Kindern heilen konnte / Fotos © Siarhej Leskiec
    Der Wald ist seit Jahrtausenden Nahrungsgeber und Lebensraum der Belarussen. Deswegen kommt er so oft in Märchen, Bylinas und Beschwörungen vor / Foto © Siarhej Leskiec
    Die Buchstaben der Heiligen Drei Könige gelten in der Heiltradition als Talisman. Kreide gilt als heiliges Attribut und kann zur Heilung und zum Hexenaustreiben verwendet werden / Foto © Siarhej Leskiec
    links: „Die andere Welt ist nicht darstellbar oder beschreibbar, sondern ist ein Spiegelbild unserer eigenen.“ / rechts: Mütterchen Elena – Gott, so erzählt sie, sei ihr im Traum erschienen und habe ihr Worte gegeben, um Menschen und Tiere zu heilen / Fotos © Siarhej Leskiec
    Sumpf. Federn einer weißen Taube, die von einem Raubvogel gerissen wurde / Foto © Siarhej Leskiec
    Sumpf. Federn einer weißen Taube, die von einem Raubvogel gerissen wurde / Foto © Siarhej Leskiec

    Fotos: Siarhej Leskiec
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Tina Wünschmann
    Veröffentlicht am 03.01.2023

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  • Gefängnis oder Emigration, das ist hier die Frage

    Gefängnis oder Emigration, das ist hier die Frage

    Unter schwierigen politischen Bedingungen konnte sich die belarussische Kultur in den vergangenen 20 Jahren bedeutende Freiräume erobern, die zwar immer wieder von den Machthabern mit punktuellen Repressionen attackiert wurden, die aber trotz der feindlichen Umgebung erstaunlich lebendig und wandlungsfähig waren. Das Theater, die Musik, Literatur und Kunst konnten auf diese Weise wichtige Impulse setzen. Seit den Protesten im Jahr 2020 und der darauffolgenden Repressionswelle, die bis heute andauert, hat Kultur in Belarus abseits staatlicher Kontrolle kaum noch eine Überlebenschance. Viele Künstler und Kulturschaffende wurden inhaftiert, ihre Kunst verboten, viele haben das Land verlassen und versuchen nun im Exil, ihre künstlerische Arbeit aufrechtzuerhalten. Andere haben sich trotz allem entschieden, in ihrer Heimat zu bleiben. 

    Der bekannte Autor Alexey Strelnicov hat für den russischsprachigen dekoder mit zahlreichen Kulturschaffenden über die aktuelle Lage der Kultur und das Leben im Exil gesprochen. Strelnicov hat sich mit seinen Texten zum zeitgenössischen belarussischen Theater einen Namen gemacht, er lebte bis zuletzt in Belarus und inszenierte dort in Privatwohnungen kleine Theateraufführungen. Es ist einer der letzten Texte von Strelnicov, den wir nun auf Deutsch zugänglich machen. Alexey Strelnicov verstarb unerwartet am 17. Dezember 2022. Er wurde nur 39 Jahre alt. 

    Русская Версия

    Nach Wahlen gab es jedes Mal eine kulturelle Emigration

    „Als wir in Warschau das erste Konzert nach der Pause spielten, sah ich die gesamte Minsker Clique. Und da waren die Grenzen (wegen Corona – Anm. der Red.) noch dicht! Dieselben Typen, die in Minsk die ganze Zeit Backstage abgehangen hatten, waren auch da. Das war wie ein Schock für mich: Menschen, die gerade erst ausgereist waren, hatten das Bedürfnis nach einer Verbindung zur Heimat“, sagt einer der bekanntesten belarussischen Musiker, Lavon Volski. 

    Bereits seit 2006 standen Volskis Musikprojekte mal unter starkem Druck der Regierung, mal wurden sie wegen seiner politischen Haltung rundweg verboten. Aber an Repressionen solcher Ausmaße wie jetzt kann er sich nicht erinnern. Als klar wurde, dass es kein einziges Format gibt, mit dem er in Belarus noch auftreten könnte, ging Volski ins Ausland, wo er von seinen Fans bereits erwartet wurde.

    Im Ausland Fuß zu fassen, gelingt längst nicht jedem. „Alle pfeifen drauf, ob du geflüchtet bist oder nicht, die Frage ist, wie gut deine Arbeit ist“, sagt der Dramaturg und Kunstmanager Nikolaj Cholesin, der sich seit 2011 erzwungenermaßen im Exil befindet und das Belarus Free Theatre leitet. Die Ausrichtung darauf, dass ein belarussisches Kulturprodukt nachgefragt wird, wenn es gut gemacht ist, hat Erfolg. Das Free Theatre spricht aktuelle Themen in einer modernen Sprache an. Die Künstler treten jetzt bei den wichtigsten Festivals auf. Und lange schafften sie es sogar, ihre Stücke heimlich in Minsk zu zeigen.

    In nächster Zeit werden sie wohl kaum in der Heimat auftreten können. In dem Dokumentarfilm Courage des Regisseurs Aliaksei Paluyan wird gezeigt, wie schwer die Entscheidung zur Ausreise selbst für jene war, die schon lange im Untergrund waren und meinten, sie seien auf alles vorbereitet. Nach der Premiere verließ der gesamte belarussische Teil des Filmteams das Land.

    Als das Ensemble des Janka-Kupala-Theaters, des führenden Theaters in Belarus, wegen eines öffentlichen Protests Ende August 2020 nahezu vollständig entlassen wurde, war der Satz zu hören: „Ein weiteres Theater ist jetzt frei.“ Ein großer Teil der entlassenen Künstler arbeitete weiterhin zusammen und nannte sich „freie Kupalianer“. In Belarus konnten ihre Arbeiten nur als Aufzeichnung oder online gezeigt werden. Und auch wenn jetzt jede ihrer Premieren von sehr viel mehr Zuschauern „besucht“ wird, als der größte Theatersaal fassen könnte, ist ihnen keine Möglichkeit geblieben, vollwertig in der Heimat zu arbeiten.

    Dafür werden dem neuen unabhängigen Theater diese Möglichkeiten im Ausland geboten. Das Theater beteiligt sich an Experimentalgruppen, erhält Stipendien, arbeitet an neuen Stücken und zeigt sie auf Festivals. Mithilfe belarussischer Emigranten ist es gelungen, im Ausland vollwertige nationale Kulturprozesse in Gang zu setzen. Es werden Bücher verlegt, Theaterstücke inszeniert, und es finden Ausstellungen und Konzerte statt.

    Die Künstler versuchen, sich selbständig an die neuen Realitäten anzupassen. Eine Schauspielerin des Kupala-Theaters erinnert sich an ihre Ausreise nach Polen: „Mein Ziel war es vor allem, bei meiner belarussischen Identität zu bleiben. Wo sonst könnte ich sie noch bewahren? In Belarus ist das jetzt ein Verbrechen. Hier aber gibt es noch Chancen und Möglichkeiten.“

    Jenen, denen es gelungen ist, sich zu etablieren, die ihr Publikum und ihre Auftrittsmöglichkeiten gefunden haben, mag das Leben im Ausland wie eine lange Dienstreise erscheinen. Viele sind noch nicht so weit, die Emigration als solche zu akzeptieren.

    Bühne gegen Kloschüsseln getauscht …

    Jene, die nicht vorhatten, das Land zu verlassen, sondern zwangsläufig emigrierten, standen nun vor der drängenden Frage der Selbstfindung.

    In einer schwierigen Situation sind jetzt jene, die in die Ukraine emigriert waren und dann vor dem Krieg nach Polen flohen. Sie wurden zwar als Flüchtende ins Land gelassen, standen aber de facto als Bürger eines Staates da, der an der Aggression beteiligt ist. Viele hatten Probleme, Dokumente zu bekommen.

    Kulturschaffende sehen sich in der Emigration gezwungen, sich irgendeinen anderen Beruf zu suchen. Dmitry Gajdel, Schauspieler und Puppentheaterregisseur, hat in Polen den Beruf eines Heizungsmonteurs erlernt. „Mir wird oft gesagt, dass ich wohl die Bühne gegen die Kloschüssel getauscht habe. Ich war ein Großer und bin jetzt ein kleiner Malocher. Mir gefällt’s aber. Ist doch toll, sein Leben von Grund auf zu ändern. Überhaupt denke ich, dass man sein Leben sehr viel häufiger ändern sollte,“ meint Dmitry.

    Konzerte für die belarussische Diaspora — Lavon Volski in den USA / Foto © Darja Muraschka
    Konzerte für die belarussische Diaspora — Lavon Volski in den USA / Foto © Darja Muraschka

    Der Theaterschauspieler Alexander Ratko aus Hrodna wurde im ganzen Land berühmt, als er sich vor der OMON rettete, indem er durch den Njoman (dt. Memel) schwamm. Er wanderte nach Litauen aus, erhielt dort ein Künstlerstipendium, studiert Schauspiel an der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Vilnius und wirkt an Inszenierungen des Russischen Theaters Litauens mit. Er gehört zu jenen, die einen Platz in ihrem Bereich gefunden haben. Aber es fällt ihm schwer, sich an das Leben in der neuen Umgebung anzupassen. „Ich wohne mitten in der Altstadt. Ich habe jetzt nicht die Probleme, die ich in Belarus hätte haben können. Also bitte: Genieße die Stadt, geh ins Theater, ins Museum. Aber! Es bringt nicht die Freude, die es bringen könnte.“ In einem ähnlichen Zustand sind viele, die unerwartet gezwungen waren, das Land zu verlassen: eine unbekannte Sprache, ein Publikum, das man nicht kennt, Heimweh, die Aufgabe, im fortgeschrittenen Alter eine Karriere ganz neu anzufangen …

    „Wenn ein Künstler auswandert, und umso mehr, wenn er dazu gezwungen wird, dann findet er nur selten seinen Platz. Das erfordert nicht nur Superkräfte, sondern auch die entsprechenden Marktbedingungen“, kommentiert Sergej Budkin, Leiter des Belarusian Council for Culture, die Schwierigkeiten für Kunstschaffende, sich im Ausland einzurichten.

    Leichter fällt es jenen, die mental darauf vorbereitet sind. Die Schauspielerin Kristina Drobysch fand sich in einem Projekt wieder, das Bücher und Filme ins Belarussische vertont. Sie weiß aber um die Notwendigkeit, sich am neuen Wohnort einzuleben. „Mir ist klar, dass es trotzdem zu einer gewissen Integration kommen wird. Es geht darum, Respekt für das Land zu zeigen, das mich aufnahm. Man muss die Sprache lernen und versuchen, die örtliche Kultur zu verstehen.“

    In den sozialen Netzwerken zählt sie bis heute die Tage, die seit ihrer Vertreibung aus dem Kupala-Theater vergangen sind. Jeder versucht auf seine Weise, eine Verbindung zur Heimat aufrechtzuerhalten. „Aus Belarus kannst du nicht weglaufen“, sagt Alhierd Bacharevič. „Das ist wie ein Fluch, wie ein Omen!“

    In einer Situation, da aufgrund drohender Repressionen und durch den Krieg ganz viele Gemeinschaften oder informelle Vereinigungen in noch kleinere Scherben zerschlagen sind, setzen die Koordinationsstrukturen der belarussischen Aktivisten die Prioritäten wie folgt: Als Erstes muss für Kulturschaffende eine sichere Umgebung geschaffen werden; zweitens sollen Möglichkeiten gefunden werden, wie sie in ihrem Beruf weiterarbeiten können; drittens sollen für jene, die sich an neue Umstände anpassen müssen, Anpassungsmöglichkeiten organisiert werden; und viertens muss langfristig ein Netzwerk aufgebaut werden, das Chancen auf künstlerische Entwicklung bietet.

    Auf der Internetseite des Belarusian Council for Culture können Künstler ihre Projekte relativ formlos einreichen. Über hundert Projekte wurden gefördert. Und für die angekündigte „Woche der belarussischen Kultur in der Welt“ sind sogar 120 Anträge eingegangen.

    Nicht bleiben können, nicht fortgehen können

    „Ich unterteile Kulturschaffende nicht in solche, die ausgewandert sind, und solche, die bleiben. Sie alle zusammen schaffen einen gemeinsamen Kulturraum und arbeiten für ein gemeinsames Ziel“, meint der Leiter des Council for Culture, Sergej Budkin.

    Die Kreativen, die in Belarus geblieben sind, haben keine große Wahl. Dutzende Kulturschaffende sind nach wie vor im Gefängnis. Die Regierung unternimmt alles, um jene, die geblieben sind, einzuschüchtern, ihnen das Recht auf Protest und auf eine von der „staatlichen“ abweichende Position zu nehmen. Nicht alle haben die Möglichkeit auszuwandern, viele müssen weiterhin in offiziellen Kulturinstitutionen arbeiten und dabei versuchen, sich selbst gegenüber ehrlich zu bleiben.

    Viele Schriftsteller, Kritiker und Kunsthistoriker nutzen die Möglichkeit, mit westlichen Kollegen zusammenzuarbeiten. Einige griffen auf ihre pädagogische Ausbildung zurück und wechselten zur Online-Nachhilfe oder in eine Privatschule. Allerdings sind bis September 2022 fast sämtliche Privatschulen in Belarus geschlossen worden.

    In Belarus gibt es jetzt wieder das Phänomen, dass im Untergrund Filme gezeigt, Theaterstücke aufgeführt und Konzerte gespielt werden, die alle nur schwer aufzuspüren sind und über die erst irgendwann später offen gesprochen werden kann. Daher können wir hier und jetzt keine Einzelheiten erzählen. Meist bestehen die Teilnehmer darauf, nirgendwo erwähnt zu werden. „Uns erzählen Zuschauer, ihnen werde bei unseren Aufführungen bewusst, dass man ihnen die Freiheit nicht nehmen kann“, sagt einer der Organisatoren von Untergrundveranstaltungen.

    Untergrundkultur ohne Grenzen

    Die Belarussen, die durch Grenzen getrennt sind, streben jetzt danach, ihre Identität zu wahren. Kunstprojekte erlauben es ihnen, sich in der Emigration als Belarussen zu erkennen zu geben, den Belarussen, die ihre Heimat verlassen haben, eine Stimme zu verleihen, sie im Weltmeer der Emigration sichtbar zu machen. Ob die belarussische Kultur im Ausland eine Exilkultur sein wird oder ein Katalysator für Veränderungen innerhalb des Landes, wird sich erst später zeigen. 

    In welcher Richtung sich dieser Prozess entwickeln wird, lässt sich daran feststellen, dass die Europäer jetzt nach belarussischer Kunst verlangen. Der bekannte Schriftsteller Alhierd Bacharevič sagt: „In letzter Zeit ändern sich die Beziehungen zwischen dem Westen und Osteuropa. Langsam, aber unaufhaltbar entdeckt die Welt für sich auch unsere „blutigen Länder“. Gleichgültigkeit wird jetzt von Interesse abgelöst, von Versuchen zu verstehen, wer wir wirklich sind. Früher hat der Westen ausschließlich mit Russland gesprochen, über unsere Köpfe hinweg. Jetzt sind wir auf den kulturellen und politischen Landkarten vorhanden“, resümiert Bacharevič.

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    Warum das System Lukaschenko abermals die Todesstrafe verschärft

    Das Repräsentantenhaus des belarussischen Parlaments verabschiedete vergangene Woche in erster Lesung Änderungen zu Artikel 356 (2) des Strafgesetzbuches, „um eine abschreckende Wirkung auf destruktive Elemente zu erzielen und um einen entschlossenen Kampf gegen den Verrat am Staat zu demonstrieren“. Demnach können nun Staatsbedienstete und Militärangehörige, die wegen Landesverrats vor Gericht kommen, zum Tode verurteilt werden. Belarus ist das einzige europäische Land, das noch die Todesstrafe vollstreckt. 

    Bereits im Mai dieses Jahres war die gesetzliche Grundlage für die Anwendung der Todesstrafe ausgeweitet worden, und zwar für die Planung eines Anschlags oder den „Versuch eines terroristischen Akts“. Warum nun die neuerliche Verschärfung? Darüber wird in den belarussischen Medien debattiert. Wir bringen eine Auswahl an vier Experten- und Medienstimmen. 

    Der Menschenrechsanwalt Andrei Poluda sagte Gazeta.by, dass die neuerliche Verschärfung der Todesstrafe im Zusammenhang mit komplexen Stimmungsveränderungen in der Gesellschaft zu sehen sei. Die Machthaber würden diese einzuhegen versuchen:

    „… Damals betrafen sie [die Änderungen im Strafgesetzbuch zur Todesstrafe] breitere Bevölkerungsteile und waren unter anderem eine Reaktion auf Antikriegsaktionen von belarussischen Bürgern, insbesondere der Schienenpartisanen. Jetzt können wir die Tendenz beobachten, dass es um des Herrschers Leute geht, wie sich die Vertreter der Bürokratie und die Militärs in Belarus selbst gern nennen.


    Die Regierung meint nach wie vor, dass eine Verschärfung der Gesetze als abschreckendes Mittel wirksam sein kann, als Prophylaxe gegen bestimmte Handlungen der Bürger. Diese gravierenden Gesetzesänderungen sind ein deutliches Zeichen dafür, wie tiefgreifend und weit verbreitet die Prozesse sind, die in unserer Gesellschaft vor sich gehen. Es ist offensichtlich, dass diese Prozesse dem derzeitigen Regime in Belarus ganz und gar nicht gefallen.


    Jetzt, da es keine Möglichkeit gibt, in Belarus wissenschaftlich fundierte Umfragen zu machen, sind Informationen für uns vielfach nicht zugänglich und nicht sichtbar, und wir können die Prozesse nicht bis ins Letzte verstehen …
    Über viele Jahre hinweg aber haben Menschenrechtler Alarm geschlagen, dass die Existenz der Todesstrafe und ihre Anwendung nicht nur jene betrifft, die wegen Mordes verurteilt wurden.“

    Der Telegram-Kanal Reflexija i reakzija (dt. Reflexionen und Reaktionen) – der politische Prozesse in Belarus anonym analysiert und begleitet – betont in einem Beitrag ein grundsätzliches Problem bei autoritären Systemen: die fehlende Transparenz bei Entscheidungsprozessen. Dies mache Einschätzungen – wie aktuell in Bezug auf die Todesstrafe – schwierig. Auf Grundlage der historischen Erfahrung vom Ende der UdSSR läge aber die Vermutung nahe, dass sich das System Lukaschenko auf noch stärkere Verwerfungen in der belarussischen Gesellschaft vorbereite:

    „… Während alle damit beschäftigt sind, Details aus dem Büro von Tichanowskaja zu diskutieren, selbst die kleinsten, oder aber Äußerungen westlicher Stakeholder zu den Aussichten auf einen Waffenstillstand, ist völlig unklar, was innerhalb der Regime Russlands und Belarus’ vor sich geht.

    Es gibt viele vereinzelte Leaks, doch mit großer Genauigkeit ein Gesamtbild zu zeichnen, ist problematisch. Die wichtigsten Entscheidungszentren sind nicht öffentlich und hermetisch abgeschottet; all der Dreck, der unter den Teppich gekehrt werden kann, bleibt dort.

    Psychologisch wird die Situation wie folgt wahrgenommen: „Bei uns wird alles immer schlimmer – und die waren ein Monolith und sind es immer noch“. Obwohl das natürlich nicht sein kann, weil die Dynamik der sozialen Systeme derart strukturiert ist, dass alle Akteure sich auf die eine oder andere Art in diese oder jene Richtung entwickeln. Wenn eine solche Transformation nicht sichtbar ist, bedeutet das nicht, dass sie nicht geschieht.

    Mit der UdSSR ging es zu Ende, als sie schlicht und einfach kein Geld mehr auf dem Konto hatte, um die ganze Maschine am Laufen zu halten. Man konnte zwar vorhersagen, wohin der Wind uns trägt, aber das genaue Datum und die Ereignisse vorherzusagen, ohne über Insiderinformationen zu verfügen, ohne das gesamte Bild zu sehen, war und ist unmöglich. 

    Dass aber das Regime in Belarus (das in Russland bislang noch nicht) sich auf die schlimmsten Szenarien vorbereitet, lässt Gedanken heranwehen, wie denn der verdeckte Teil des Bildes tatsächlich aussieht.“

    Der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch sieht in seinem Kommentar für das Online-Medium Reform.by die Angst der belarussischen Machthaber nicht nur vor neuen Protesten als Treiber für die Verschärfungen der Todesstrafe, sondern auch die Angst des Systems vor dem System selbst. Indem sich beispielsweise die Unzufriedenheit der eigenen Leute im Staatsapparat und Militär an einem bestimmten Punkt gegen die Machtzentrale richten könnte:

    „… Auf den ersten Blick könnten sich die Änderungen im Strafgesetzbuch gegen politische Gegner des Regimes richten. Allerdings wird laut Informationen des Ermittlungskomitees, dem die Untersuchungen in den Strafverfahren gegen Swetlana Tichanowskaja, Pawel Latuschko, Olga Kowalkowa, Sergej Dylewski und Marija Moros oblag, von diesen fünf nur Tichanowskaja Landesverrat vorgeworfen. Auch wenn sie niemals Staatsämter innehatte …

    Es werden auch Grundlagen für die Zukunft gelegt. Wenn es zu Geschehnissen wie 2020 kommt, dürften Staatsbeamte und Silowiki sich hundertmal überlegen, ob sie die Seite wechseln. Denn die Strafe bei einer Niederlage könnte grausam sein. Das Regime verfolgt eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Gestern noch war es um eine ‚wegweisende Möhre‘ für Militärangehörige gegangen, etwa in Form einer Privatisierung von Mietwohnungen nach 25 Dienstjahren. Doch es scheint, als reiche Zuckerbrot allein nicht mehr aus, um Loyalität zu sicherzustellen. Die Änderungen im Strafgesetzbuch holen die Peitsche hervor, als Strafe für Verrat …

    Das Regime versucht, alle einzuschüchtern, sowohl Opponenten als auch Unterstützer. Um den Gedanken, man könnte das Staatsschiff möglicherweise verlassen, bereits im Keim zu ersticken. Das bedeutet, dass das Regime selbst jenen nicht mehr vertraut, die sich innerhalb des Systems bewegen. Und um die zu ‚überzeugen‘, braucht es jetzt auch die Peitsche. Vielleicht auch, weil das Zuckerbrot immer knapper wird.“

    Der ehemalige belarussische Diplomat und Politanalyst Pawel Sljunkin sieht in der Verschärfung der Todesstrafe im Gespräch mit dem russischen Medium The Insider eine Verbindung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine

    „Als Verrat würde hier gewertet werden, wenn jemand auf die Seite der Ukraine wechselt oder sich in Gefangenschaft begibt, oder sich vielleicht weigert zu kämpfen. Diese Gesetzesänderung wird sowohl Militärs wie auch Zivilpersonen betreffen. Dass es diese Änderung gibt, ist ein Anzeichen, dass das staatliche System auf etwas vorbereitet wird. Für die Staatsbeamten wird sie eingeführt, damit die nicht die Seiten wechseln und keine Spaltung innerhalb des staatlichen Systems provozieren.

    90 Prozent der Belarussen wollen nicht, dass ihre Armee sich an dem Krieg beteiligt, und Lukaschenko ist bewusst, welche Risiken ein solcher Schritt mit sich bringen würde: Selbst in den loyalsten Bevölkerungsteilen könnte es dann Leute geben, die damit nicht einverstanden sind. Wie also mit denen umgehen? Sie müssen eingeschüchtert werden. Und genau hierzu wurde die Aussicht auf die Todesstrafe geschaffen.

    Mit der Armee ist es das Gleiche: Sie wollen nicht kämpfen, sie haben nicht das Gefühl, dass das ihr Krieg ist, und sie rennen nicht, wie viele russische Mobilisierte, zu den Rekrutierungsstellen. Sie wissen, was sie dort erwartet. Niemand will für die imperialen Kriegsambitionen Russlands sterben, und für Lukaschenko will auch niemand sterben. Lukaschenko ist das sehr wohl bewusst, und er versorgt sie mit einer Alternative, und zwar nicht mit ein paar Jahren Gefängnis, sondern mit der Todesstrafe. Das ist ein Zeichen, dass sämtliche staatlichen Institutionen darauf vorbereitet werden, dass ein solcher Moment kommen könnte. Es bedeutet nicht, dass der Entschluss feststeht, die Armee loszuschicken. Sie wissen aber genau, dass so etwas möglich ist. Und bereiten sich darauf vor.“

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  • Nächster Halt: BSSR 2.0

    Nächster Halt: BSSR 2.0

    Seitdem die belarussischen Machthaber im Sommer 2020 begannen, zunächst die Proteste auf den Straßen mit Gewalt niederzuschlagen und schließlich mit aller Schärfe gegen Protestierende und Andersdenkende vorzugehen, wird in Gesellschaft und Medien diskutiert, inwiefern sich das politische System von Alexander Lukaschenko verstärkt sowjetischen und totalitären Methoden und Strukturen annähert. 

    Für einen Beitrag des Online-Mediums Reform.by analysiert der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch anhand der Kategorien „Freiheiten“, „Politisches System“, „Marktwirtschaft“ und „Ideologie“, inwieweit eine zunehmende Sowjetisierung tatsächlich festgestellt werden kann.

    Freiheiten

    Die Meinungsfreiheit ist in Belarus abgeschafft. Da gibt es nichts zu diskutieren, man braucht nur zu wissen, dass aktuell 32 belarussische Journalisten im Gefängnis sitzen. Unabhängige Medien werden „extremistischen Vereinigungen“ gleichgestellt und blockiert. Wer ihre Inhalte verbreitet, riskiert eine Ordnungshaft oder Schlimmeres. In Sachen Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit herrschen in Belarus längst wieder sowjetische Zeiten. Und zwar bei Weitem nicht die „vegetarischsten“.

    Die Repressionsmaschine läuft in Belarus sogar besser als in der UdSSR. Allein schon, weil es viel mehr Möglichkeiten gibt, Opponenten aufzuspüren. Die Digitalisierung hat nicht nur neue Instrumente für den Kampf gegen repressive Regime gebracht, sondern auch neue Instrumente zur Verfolgung von Andersdenkenden. Für die Sicherheitsdienste ist es heute viel einfacher als früher, große Menschenmengen zu kontrollieren. Und das tun sie, indem sie die Bevölkerung seit über zwei Jahren unermüdlich und flächendeckend einschüchtern. Die Pläne der Machthaber geben klar zu verstehen, dass die Repressionen nur noch zunehmen werden.

    Noch sind die Grenzen nicht geschlossen. Im Gegenteil, das Regime versucht, möglichst viele Unzufriedene aus dem Land zu drängen. So haben das schon die Bolschewiki nach dem Oktoberumsturz 1917 gemacht: In den ersten Jahren nach der Machtergreifung hinderten sie ihre politischen Gegner nicht daran, das Land zu verlassen, oder verbannten sie sogar. Erst später gingen sie dazu über, Andersdenkende physisch zu vernichten.

    Noch werden politische Gegner nicht erschossen. Auch wenn gewisse Schritte in diese Richtung schon unternommen wurden – in unserem Land steht auf die „Vorbereitung eines terroristischen Akts“ die Todesstrafe. Wobei die großzügige Auslegung des Begriffs „Terrorakt“ nahelegt, dass diese Maßnahme auch gegen Regimekritiker eingesetzt werden kann.

    Belarus steht der UdSSR in Sachen Unterdrückung von Andersdenkenden also kaum nach. Sucht man in der sowjetischen Geschichte nach Analogien, so könnte man die heutigen Ereignisse vorbehaltlich einiger Einschränkungen mit dem Ende der Belarussifizierung in den 1930er Jahren und der Zeit nach dem Anschluss von West-Belarus an die BSSR vergleichen. Es findet eine sukzessive Säuberung der Gesellschaft statt. Ihr werden die Spielregeln eines totalitären Staates aufgezwungen.

    Das politische System

    Das heutige Belarus hat ein anderes politisches System und andere Institutionen als die Belarussische Sowjetrepublik (BSSR). Um nur ein Beispiel zu nennen: Artikel 6 der sowjetischen Verfassung von 1977 proklamierte die Rolle der Kommunistischen Partei als „führende und lenkende Kraft der sowjetischen Gesellschaft, den Kern ihres politischen Systems, des Staates und der öffentlichen Organisationen“. Die Verfassung der BSSR führte unter derselben Ziffer einen analogen Artikel. Die heutige belarussische Verfassung sieht demgegenüber ein Mehrparteiensystem vor und stellt klar: „Die Ideologie politischer Parteien, religiöser oder anderer öffentlicher Vereinigungen oder gesellschaftlicher Gruppen darf den Bürgern nicht vorgeschrieben werden.“

    Allerdings enthielt auch die Verfassung der UdSSR viele demokratische Leitsätze. Zum Beispiel garantierte Artikel 47 den Bürgern der Sowjetunion „die Freiheit des wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Schaffens“. Das hinderte die Zensurbehörde jedoch nicht daran, Bücher, Filme, Theaterstücke und andere künstlerische Werke zu verbieten, die der Partei aus irgendwelchen Gründen missfielen.

    Zwischen einer Deklaration und der realen Sachlage liegt manchmal ein unüberwindbarer Graben. Sowohl dem Grundgesetz der BSSR als auch der heutigen belarussischen Verfassung zufolge gehört die Macht dem Volk. Auch in der BSSR fanden Wahlen statt, nur ohne Wahlmöglichkeiten. In Belarus sind die Wahlmöglichkeiten zwar formal vorhanden, aber jeder Versuch, sie in die Tat umzusetzen, endet so, wie wir es 2010 und 2020 gesehen haben. Auch wenn die Aussage „Es kommt nicht darauf an, wie gewählt wurde, es kommt darauf an, wie ausgezählt wird“ nicht von Josef Stalin stammt, sondern von Napoleon III., ändert das nichts an ihrem Sinn. Eine reale Demokratie gab es weder in der BSSR, noch gibt es sie im heutigen Belarus.

    Unübersehbar ist auch der Versuch der belarussischen Regierung, die Staatsverwaltung nach dem Vorbild der Parteitage der KPdSU zu gestalten, indem sie ähnliche Funktionen und Befugnisse auf die Allbelarussische Volksversammlung überträgt.

    Der Rhetorik der Entscheidungsträger nach zu urteilen, versteht man da oben selbst noch nicht, wie dieses durch die jüngsten Verfassungsänderungen geschaffene Organ genau funktionieren soll. Aber Alexander Lukaschenko vergleicht die Volksversammlung ohne Umschweife mit den Zusammenkünften der KPdSU: „Diese Dokumente sind in ihrer Bedeutung vergleichbar mit den Entscheidungen des Parteitags der Kommunistischen Partei“, erklärt Lukaschenko. Wo ist da der Unterschied zur „führenden und lenkenden Kraft“? Der Vorschlag, Parteien zu liquidieren, die vom Kurs der Volksversammlung abweichen, verwandelt zudem die politischen Akteure trotz ihrer formalen Existenz in unbedeutendes Beiwerk.

    Auch wenn sich das politische System in Belarus nach wie vor von dem der BSSR unterscheidet, wurde mit der Allbelarussischen Volksversammlung ein großer Schritt zurück in die Vergangenheit gemacht.

    Marktwirtschaft

    Die freie Marktwirtschaft ist eine der letzten Bastionen im Widerstand gegen eine Rückkehr in die Sowjetrepublik. Noch hält sie den zahlreichen Angriffen stand, etwa dem kürzlich von Lukaschenko verhängten Moratorium auf Preiserhöhungen und dem daran anschließenden Dekret über die staatliche Preisregulierung. Der Versuch, das Problem auf administrativem Weg zu lösen, steht im Widerspruch zur freien Marktwirtschaft. Nicht, dass es uns komplett in die Zeit des staatlichen Preiskomitees beim Ministerrat der UdSSR zurückversetzen würde, das für die Preisgestaltung und die Disziplinierung dieses Bereichs verantwortlich war. Aber es ist (durchaus) ein Schlag gegen die Marktwirtschaft, die Unternehmen, die auf dem belarussischen Markt tätig sind, und gegen die Verbraucher, die den Rückgang des Warenangebots in den Geschäften bereits zu spüren bekommen.

    Das Entscheidende ist aber, dass man ein Gleichheitszeichen zwischen der Marktwirtschaft und dem Privateigentum setzen kann, vor dem die belarussischen Behörden ohnehin keinen Respekt haben. „Niemand soll sich einbilden, dass Privateigentum heilig wäre“ – so formulierte jüngst Alexander Lukaschenko seine diesbezügliche Haltung. Die Regierung ist stolz darauf, dass es in Belarus keine umfassende Privatisierung gab oder geben wird. Sie ist überzeugt von den Vorzügen des Staatseigentums und beschlagnahmt Konzerne von Privateigentümern, wie es bei Motovelo oder dem Metallwalzwerk in Miory der Fall war. Sie kämpft unermüdlich gegen Zwischenhändler und „dickwanstige“ Geschäftsleute und beweist damit ihr Unverständnis und ihre Ablehnung marktwirtschaftlicher Dynamiken.

    Noch wurde die freie Marktwirtschaft in Belarus nicht abgeschafft. Aber das Regime macht ihretwegen nicht viel Federlesen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Druck auf die Unternehmer noch zunehmen wird, sollte sich die wirtschaftliche Situation weiter zuspitzen. Auf ihrem Weg zurück in die BSSR wird die Macht das opfern, was ihrer Meinung nach am wertlosesten ist.

    Ideologie

    Eine klare Ideologie hat die heutige Regierung im Gegensatz zur Kommunistischen Partei in der BSSR bisher nicht. Aber wir hörten bereits von Alexander Lukaschenko, dass noch keine bessere Ideologie als die marxistisch-leninistische erfunden worden sei. Die Ideen, die man heute den Menschen anbiete, fänden „weder in ihren Seelen noch in ihren Herzen Anklang“

    Während unsere russischen Nachbarn bei der Formulierung der „Werte, Faktoren und Strukturen, die Russland zugrunde liegen“ zwischen X und Y schwanken, tasten auch die belarussischen Ideologen nach den Grundfesten. Darunter finden sich die bereits erwähnte „Wiedervereinigung von West-Belarus mit der BSSR", der Sieg im Zweiten Weltkrieg, der Genozid am belarussischen Volk und die gesellschaftliche Bedeutung des Oktoberumsturzes der Bolschewiki. Das wäre wohl alles, was bisher deutlich zu hören war.

    Es ist bezeichnend, dass diese Konzepte nicht über die Geschichte der BSSR hinausreichen. Die Sowjetzeit spielt die zentrale Rolle. Auch das ist ein Grund, von einer Rückkehr in die BSSR zu sprechen, deren Geschichte unlösbar mit der sowjetischen und russischen verwoben war. Alle anderen Epochen werden im Schnelldurchlauf durchgenommen und eingedampft auf die „jahrhundertelange Sklaverei des belarussischen Volkes und seinen Wunsch nach Befreiung aus dem polnisch-litauischen Joch“. Der zentrale Dreh- und Angelpunkt der aktuell entstehenden Ideologie ist die BSSR.

    Die totalitären Praktiken innerhalb der Gesellschaft nehmen erst Fahrt auf. Noch unterschreiben Arbeitskollektive keine Appelle an die Behörden, „Volksfeinde“ aufs Schärfste zu verurteilen. Und doch gibt es bestimmte Verschiebungen in diese Richtung. Es finden Versammlungen statt, bei denen Regierungsvertreter die aktuelle Politik erklären und die Bedrohungen erörtern, denen Belarus von allen Seiten ausgeliefert sei. Der Staat beginnt bereits, eine Beteiligung der Öffentlichkeit einzufordern. Bisher genügte es, bei solchen Versammlungen still die Zeit abzusitzen – was an sich schon an die späte BSSR erinnert. Aufrufe von Arbeitskollektiven und Verbänden, zu „bestrafen“ und „nicht davonkommen zu lassen“, wären lediglich der nächste Schritt in den Totalitarismus.

    Die Rückkehr in die BSSR ist nicht einfach nur eine hübsche Redewendung. Der Ruck in diese Richtung lässt sich in vielen Bereichen beobachten. In einigen von ihnen – zum Beispiel bei der Beschränkung ziviler und politischer Rechte – ist der Prozess bereits sehr weit fortgeschritten. Bei der Umgestaltung des politischen Systems und in der Wirtschaft macht sich der Rückschritt noch nicht so deutlich bemerkbar, aber bestimmte Tendenzen weisen darauf hin, dass die Machthaber für die Entwicklung des Landes einen Kurs eingeschlagen haben, der in vielem in die nahe Vergangenheit weist.

    Die Fallgeschwindigkeit ist gleich 

    Es ist freilich nicht die Rede davon, dass die Regierung einfach alle Institutionen und Praktiken des Sowok kopieren würde. In ihrem Streben zurück in die UdSSR träumt die russische genauso wie die belarussische Führung von einer Sowjetunion 2.0, mit Raketen und Waschpulver. Mit geistigen Klammern und einem relativ akzeptablen annehmbaren Lebensstandard. Im Detail gibt es kleine Unterschiede in dem, was in den Köpfen der Initiatoren vorgeht. Deswegen gibt es in Russland noch etwas mehr wirtschaftliche Freiheit. Aber alles in allem ist das Ziel eine UdSSR, die den Kalten Krieg gewinnen kann. Ausgehend von dieser Prämisse wird klar, dass die politischen Freiheiten als Erstes weichen müssen. Und genau das beobachten wir in der Praxis. In der Politik ist die Rückkehr in die Vergangenheit eine vollendete Tatsache.

    Wirtschaftliche Freiheiten wird es geben dürfen, solange sie den Staatsinteressen nicht im Wege stehen. Der Druck auf sie ist ebenfalls unvermeidlich, aber in ihrem Bestreben, die Bevölkerung mit Waschmittel zu versorgen, werden ihn die Regierenden sparsam dosieren und die Erschütterungen möglichst gering halten. Die Stärke des Drucks wird von der Kompetenz derjenigen abhängen, die Entscheidungen treffen. Wobei der Totalitarismus unausweichlich in alle gesellschaftlichen Bereiche vordringen wird. Wie schnell das gehen wird, ist wiederum abhängig von den wirtschaftlichen Erfolgen oder Misserfolgen der Machthaber.

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