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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bystro #44: Wer ist Swetlana Alexijewitsch?

    Bystro #44: Wer ist Swetlana Alexijewitsch?

    Als erste Vertreterin der belarussischen Literatur überhaupt erhielt die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch 2015 den Literaturnobelpreis – „für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“, wie es in der Begründung der Jury hieß. 

    Wie wurde die 1948 im westukrainischen Stanislaw geborene Alexijewitsch, die sich bis heute auch immer wieder zu politischen Entwicklungen äußert, zur Schriftstellerin? Wie hat sie ihre dokumentarische Prosa entwickelt? Welche Autoren haben sie geprägt? Auf diese und andere Fragen antwortet die Slawistin und Literaturwissenschaftlerin Nina Weller in einem Bystro.

    Русская Версия

    1. Wie wurde Swetlana Alexijewitsch zur Schriftstellerin? 

    Alexijewitsch hat schon als Schulmädchen Gedichte und Erzählungen geschrieben, die in Zeitschriften gedruckt, beziehungsweise im Radio gesendet wurden. Nach dem Studium der Journalistik in Minsk arbeitete sie als Korrespondentin kleiner Regionalzeitungen in den Gebieten Gomel und Brest und (wie ihre Eltern) als Lehrerin. Anfang der 1970er Jahre kehrte sie nach Minsk zurück und war ab 1976 für die Redaktion der Literaturzeitschrift des belarussischen Schriftstellerverbandes Njoman tätig. Sie erprobte damals unterschiedliche Gattungen, schrieb Erzählungen, Essays, Reportagen und entwickelte sukzessive ihre zwischen dokumentarischem und literarischem Schreiben angesiedelte Form. In ihrem ersten, aus Zensurgründen nie veröffentlichten, von ihr selbst als zu journalistisch empfundenen Buch Ja ujechal is derewni (dt. Ich bin aus dem Dorf weggegangen) thematisierte sie das dörfliche Leben, das auch ihre Kindheit sehr geprägt hatte. Bereits dieses Buch basierte auf Zeitzeugengesprächen. Zur besonderen Form des vielstimmigen Schreibens inspirierte sie der Schriftsteller und Menschenrechtler Ales Adamowitsch, der ihr Kollege bei Njoman war und der neben russischen Klassikern wie Dostojewski ihr wichtigstes Vorbild werden sollte. 

    2. Was ist der literarische, inhaltliche Kern ihres Schaffens?

    Alexijewitschs Schaffen kreist um das Alltagsleben des sowjetischen Menschen im Ausnahmezustand der historischen Katastrophen und im Zwielicht des utopischen Versprechens. In ihren Büchern collagiert sie Berichte, Erinnerungsfetzen, Gedanken gewöhnlicher Menschen zu ihren persönlichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, dem Afghanistankrieg, der Tschernobyl-Katastrophe und den gesellschaftlichen Umbrüchen in (post)sowjetischen Zeiten. Ihr Werk erzeugt eine „Geschichtsschreibung von unten“, jenseits der offiziellen sowjetischen Erzählungen von Heroismus und Patriotismus. Alle ihre Bücher basieren auf einer Vielzahl von Zeitzeugengesprächen, die Alexijewitsch unter Verzicht auf eine auktorial wertende Erzählerstimme zu einem chorischen Gesamtwerk komponiert, sodass die erzählende Zeugnisliteratur stets mehr als nur die Summe einzelner Stimmen ergibt. Es sind „kollektive Romane“, Roman-Oratorien, die von Schmerz und Leid erzählen und zugleich dem Vergessen entgegenwirken sollen. Sowohl in ihrer Methode der vielstimmigen dokumentarischen Prosa als auch in ihrem moralisch-humanistischen Anspruch an das Schreiben war Alexijewitsch von Anfang an nachhaltig von Ales Adamowitsch und Daniil Granin beeinflusst. 

    3. Welche Bücher gehören zu ihrem Hauptwerk?

    Die aus fünf Büchern bestehende Folge Golossa Utopii (Die Stimmen der Utopie) gilt als ihr Hauptwerk. Darin hat sie eine Chronik des tragischen 20. Jahrhunderts vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende der Sowjetunion erschrieben und ihre Form der Dokumentarprosa weiterentwickelt. Die Herangehensweise des vielstimmigen Erzählens setzte sie erstmals im Buch U woiny ne shenskoje lizo (Der Krieg hat kein weibliches Gesicht) ein. Es basiert auf Gesprächen mit Kriegsteilnehmerinnen und zeigte den bis dato verdrängten Blick von Frauen auf die zermürbende Kriegsrealität. Es konnte, wie auch Poslednije swideteli (Die letzten Zeugen) mit Erinnerungen an Kriegskindheiten, erst 1985 in zensierter Fassung erscheinen. In Zinkowyje maltschiki (Zinkjungen, 1989) wird vom Krieg der Sowjetunion in Afghanistan und seinen Folgen erzählt, in Tschernobylskaja molitwa. Chronika buduschtschewo (Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft, 1997) von den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe im Jahr 1986. Ein kollektives Gesamtbild des Lebens und Leidens im sowjetischen Kommunismus und der postsowjetischen Ära collagierte sie in ihrem Opus magnum Wremja sekond chend (Secondhand-Zeit, 2013). 

    4. Wie ist ihr Verhältnis zu Belarus? 

    Alexijewitsch kam in der sowjetischen Westukraine zur Welt. Ihre Mutter ist Ukrainerin, ihr Vater Belarusse. Nach dessen Militärdienst übersiedelte die Familie nach Belarus, wo sie die belarussische Staatsbürgerschaft annahm. Auch wenn Alexijewitsch ausschließlich auf Russisch schreibt und oft ihre Nähe zur russischen Kultur und zu einem kosmopolitischen Kontext betont, positioniert sie sich klar als Belarussin und belarussische (nicht russische) Autorin. Ihre breite Anerkennung als Vertreterin der belarussischen Literatur in Belarus und in der internationalen Welt erfolgte, wenn auch nicht unumstritten, spätestens mit der Verleihung des Literaturnobelpreises 2015. Noch 2013 hatte sie die belarussische Sprache in einem Interview mit der FAZ als „bäuerlich und literarisch unausgereift“ bezeichnet. Später nahm sie von ihren Äußerungen vehement Abstand und betonte die Gleichberechtigung des Belarussischen und Russischen als Literatursprachen im Kosmos einer mehrsprachigen belarussischen Literaturgeschichte. Den Belarussen gilt sie – wie seinerzeit der Schriftsteller Wassil Bykau – als moralische Stimme.

    5. Sie hat sich 2020 den Protesten in Belarus angeschlossen und musste daraufhin das Land verlassen. Ist sie immer noch politisch aktiv?

    In vielen Interviews zeigte sich Alexijewitsch 2020 überwältigt davon, wie viele Menschen in Belarus, über alle Generationen und sozialen und biografischen Hintergründe hinweg, für demokratische Werte, Menschenwürde und ein Ende der Diktatur auf die Straße gingen und trotz der massiven Gewalt seitens des Staates friedlich blieben. Sie gestand, einen derartigen Protestwillen dem belarussischen Volk nicht zugetraut zu haben. Umso entschiedener positionierte sie sich auf Seiten der Opposition und des Protests und äußerte öffentlich scharfe Kritik am Vorgehen Lukaschenkos. Im August 2020 wurde sie in die Führung des Koordinationsrates der Opposition berufen, der den Machtwechsel vorbereiten und begleiten sollte. Infolge dessen geriet sie selbst unter massiven Druck der staatlichen Behörden. Im September 2020 versuchten unbekannte Männer, sie in ihrer Privatwohnung einzuschüchtern, woraufhin sie zu einer Pressekonferenz direkt vor ihrer Wohnungstür einlud und Diplomaten aus mehreren Ländern sie zur Unterstützung in ihrer Wohnung besuchten. Ende September 2020 verließ sie Belarus und hat sich seither aus dem aktiven politischen Leben weitgehend zurückgezogen. Stattdessen arbeitet sie in Berlin an einem neuen Buch über die Ereignisse nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen, über die Proteste, ihre Niederschlagung und die Folgen für die belarussische Gesellschaft. 

    6. Sie hat auch einen eigenen Verlag ins Leben gerufen. Was ist das für ein Projekt?

    Den Pfljaŭmbaŭm-Verlag (belaruss. Пфляўмбаўм) gründete sie, nach langjähriger Vorarbeit, gemeinsam mit Alena Kaslowa, der jetzigen Verlagsleiterin. Das Verlagsprogramm umfasst ausschließlich Autorinnen, bisher in erster Linie belarussische, darunter auch jene, die bislang kaum oder gar nicht wahrgenommen wurden. „Wir schaffen eine eigene Frauenwelt mit ähnlichen Anschauungen. Die Männerwelt hat überhaupt keine Ahnung, dass diese Frauenwelt existiert“, sagte sie vor der deutschen Presse anlässlich der Verlagsvorstellung auf der Leipziger Buchmesse 2023. Zu den ersten Publikationen gehören etwa Gedichtbände der Dichterinnen Natallja Wischneŭskaja, Sinaida Bandaryna und Jaŭhenija Pfljaŭmbaŭm, der Namensgeberin des Verlages. Auch Werke von zeitgenössischen Schriftstellerinnen wie Tanja Skarynkina und Eva Viežnaviec, deren Roman Was suchst Du, Wolf? mit dem renommierten unabhängigen Jerzy Giedroyc-Preis in Belarus ausgezeichnet wurde, gehören zum Programm. Die Existenz solch eines Verlages gleicht in Zeiten der massiven Repressionen gegen unabhängige Verlage durch die Machthaber in Belarus einem kleinen Wunder. Inzwischen befindet sich der Verlag in Vilnius. 

     

    Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Nina Weller
    Veröffentlicht am 31.05.2023

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  • In einem Land zwischen Wald und Fluss

    In einem Land zwischen Wald und Fluss

    „Die meisten der heute verschwundenen belarussischen Dörfer liegen wunderschön in der Nähe von Wäldern und Flüssen, und ihre über 200 Jahre alten Namen sind von den Wörtern für Fluss, Sumpf oder Wald abgeleitet.“ So heißt es in einem Text für eine Ausstellung zu dem Fotoprojekt Zwischen Wald und Fluss, das die belarussische Fotografin Svetlana Yerkovich entwickelt und umgesetzt hat.

    Das Werk sei ein symbolisches Denkmal für ein figuratives Dorf mit seiner einzigartigen räumlichen Ausstrahlung, sagt Yerkovich, die heute in Schweden lebt. „Es ist ein Versuch, die für immer verlorene innere Landschaft meiner Kindheit wiederzugeben.“ Wir haben mit der Fotografin gesprochen und zeigen eine Auswahl an Bildern aus dem Projekt.

    Oblast Gomel, Januar 2016: „Walera lebt allein mit nur einem Nachbarn in einem Dorf. Er gibt zu, dass seine Trinkgewohnheiten sein Untergang sein werden. Weil er schon vor langer Zeit aufgehört hat, dafür zu bezahlen, ist sein Haus ohne Strom. Im Januar 2016 posiert er für mich in seinem Garten.“ / Foto © Svetlana Yerkovich

    dekoder: Wie ist das Fotoprojekt Between Forest and River entstanden?

    Svetlana Yerkovich: Einen großen und wichtigen Teil meiner Kindheit habe ich selbst sozusagen „zwischen Wald und Fluss“ verbracht, in einem kleinen Dorf im Nordosten von Belarus. Dieses Dorf lag mit seiner einzigen Straße tatsächlich zwischen einem Wald und einem Fluss. Aus dem Kosmos dieses Dorfes und der umliegenden Landschaft sind meine Wurzeln erwachsen. Dort habe ich als Kind Leben und Tod kennengelernt, den Kreislauf allen Lebens, die Schönheit der Natur und die Unergründlichkeit eines tiefhängenden Sternenhimmels. 

    Während ich aufwuchs, starben die Menschen oder zogen in die Stadt, am Ende war im Dorf fast niemand mehr übrig. Die Gemüsegärten überwucherten Unkraut und Bärenklau, die Apfelbäume alterten und Moos legte sich auf sie, die Häuser blickten mit leeren, zahnlosen Fenstern. 2010 machte ich einige Porträtaufnahmen von Menschen in diesem Dorf, dann zog ich nach Moskau. Und als ich 2012 beschloss, in ein anderes Land zu ziehen und dort wohl dauerhaft zu bleiben, wollte ich noch dieses Erinnerungsstück anfertigen, noch einmal diese Bilder sehen und festhalten, die eine derartige Bedeutung für mich haben. Daraus ist schließlich das Projekt entstanden.

    Wie lässt sich die kulturelle Bedeutung des Dorfes für Belarus erklären?

    Die Besonderheit der belarussischen Dörfer im Vergleich zu anderen europäischen Ländern liegt in der Abwesenheit von Infrastruktur, in der stehengebliebenen Zeit, in der spürbaren Isolation von den Städten. Aus diesem Grund verlässt die Jugend diese wunderschönen Orte, zieht auf der Suche nach einem besseren Leben in die düsteren Städte, und es bleiben nur die Alten zurück, und jene, die es in der Stadt nicht geschafft haben. Oft kehren die Kinder in die verlassenen Elternhäuser zurück, wenn sie in der Stadt kein Glück hatten. Doch auch das ändert sich heute. Teilweise entstehen Wochenendhäuser mit hohen Zäunen, für diese neue Generation der Konsumenten und Anleger. Schaut man hinter einen solchen Zaun, sieht man gerade, rechtwinklig gepflasterte Wege, wie in der Stadt, Dekorationen aus Plastikflaschen, symmetrisch angeordnete Sträucher und Blumen. 

    Auf der anderen Seite findet man in der Nachbarschaft langsam verfallende Häuser, einsame alte Menschen, Plumpsklos, und zwei bis drei Mal in der Woche das begrenzte Angebot im Lebensmittelgeschäft auf Rädern. Und es gibt auch die Jugend, die das Dorf als Ort der Freiheit wählt, um größtmöglichen Abstand vom System zu finden. 

    Mir persönlich sind die zugewucherten, fast menschenleeren Fleckchen am nächsten, an denen die Menschen noch in enger Verbindung zur Natur leben. Manchmal trifft man noch auf heidnisch-christliche Bräuche, Volksmärchen und Lieder. Sie können völlig seltsam und einzigartig wirken, wie aus einer anderen Dimension.

    Wie lange haben Sie für das Projekt recherchiert?

    Im September 2012 unternahm ich die erste zielgerichtete Reise durch die Dörfer meiner Kindheit. Es wurde schnell klar, dass es in ganz Belarus eine Menge dieser Dörfer gibt – aussterbend, ohne einen einzigen Bewohner. Und dass diese in Dickicht und Gestrüpp versunkenen Dörfer tatsächlich die schönsten Orte des Landes sind. Also machte ich weiter, setzte meine Reisen fort, bis 2016. Ich war in allen sechs Gebieten des Landes unterwegs, orientierte mich zumeist an der Karte und wählte die kleinsten Straßen, die in Wäldern und Feldern endeten. Die genaue Anzahl der Dörfer, die ich besucht habe, kann ich nicht benennen, aber es waren sicher mehr als 50. Doch das spielt keine Rolle; viele sagen ohnehin, dass die Fotografien wie aus ein und demselben Dorf wirken, eine Art Collage. 

    Wie haben die Dorfbewohner auf Ihre Arbeit reagiert?

    Die Leute fragten natürlich, warum ich fotografiere. Und ich antwortete stets ehrlich und ernsthaft, erzählte von meinen Gefühlen und dass ich davon träume, ein Buch zu machen, um es meinen Großeltern zu widmen, und allen, die im Buch abgebildet sind. Mit einigen Leuten sprach ich viel, mit anderen nur wenig. Und einem alten Mann, der gerade Schnee von der Straße schaufelte, sagte ich nur, dass ich ihn sehr gern in dem tiefen Schnee mit der Schippe fotografieren würde, woraufhin er zustimmend nickte, sich bereitwillig und ernst in Pose stellte, ohne nur ein Wort zu erwidern.

    Manche leben ganz allein in ihrem Dorf und freuen sich einfach, dass sie mit jemandem sprechen können. Mir war es wichtig, nicht als „Mädchen aus der Stadt“ wahrgenommen zu werden, das eine Safari oder ethnografische Exkursion unternimmt. Ich kannte mich ja im dörflichen Umfeld bis ins kleinste Detail aus. Wir sprachen über Dinge, die uns gleichsam nah waren. Gleichzeitig teilte ich auch ehrlich meine Wahrnehmung von Schönheit und erzählte, warum mir gerade diese alte, zerrissene Strickjacke oder jenes Brennesseldickicht interessant, bedeutsam und schön vorkamen. So entstand auf Seiten der Fotografierten nicht nur Nähe, sondern auch Neugier. Das Gespräch gewann dadurch ein gutes Gleichgewicht zwischen Vertrauen und Geheimnis. Und das ist unabdingbar für ernsthaftes, konzentriertes Arbeiten, für meine Fotografien. 

    Wie sind Sie künstlerisch an das Projekt herangegangen?

    Am Anfang konnte ich nur schwerlich beschreiben, was ich eigentlich genau suche. Doch ich war überzeugt davon, dass alles in mir vibrieren würde, wenn ich das gesuchte Motiv schließlich erblicke, dass es mir nicht entgehen würde. Auf einigen Reisen begleitete mich mein jetziger Ehemann als Fahrer und Assistent, er ist ebenfalls Fotograf, aber unsere Arbeitsstile unterscheiden sich stark. Er stellte mir immer wieder dieselben Fragen: Warum fotografierst du diesen Menschen, den anderen aber nicht? Warum biegen wir hier ab, dort aber nicht? Genau erklären konnte ich das nicht, es war immer eine Reaktion auf bestimmte Merkmale des Menschen oder der Landschaft, die ich wahrnahm, es war Intuition. Nur auf diese Weise, intensiv meditierend, konnte ich dieses Bild, das ich schon so lange vor meinem inneren Auge hatte, erkennen und einfangen. Es ist nicht wirklich eine dokumentarische Geschichte, eher ein Kunstbild, das auf sorgfältig ausgewählten realen Begebenheiten beruht.

    Man könnte sagen, „Zwischen Wald und Fluss“ ist ein Zustand zwischen Himmel und Erde, in dem der Mensch in enger Beziehung mit der Natur lebt, die für viele der Porträtierten zudem die einzige Bezugsperson in ihrem Umfeld ist. Und in dieser Beziehung liegen Tiefe und Schönheit, Mystik, Freiheit und Kraft. Die abgebildete Zeit wiederum ist als Kategorie nicht so wichtig, deshalb habe ich mich dafür entschieden, mit einer Kombination aus Schwarzweiß und Farbe zu spielen. Außerdem hatte ich immer einen dünnen, weißen Vorhang dabei, den ich bei manchen Aufnahmen eingesetzt habe, was der Betrachter für sich nach Belieben interpretieren kann. 

    Mit den Fotos können sich sicher auch Menschen außerhalb von Belarus identifizieren?

    „Zwischen Wald und Fluss“ kann man sowohl in Belarus, als auch überall anders finden. Es ist ein Ort an einem Fluss, umgeben von schönem Dickicht, an dem ein Mensch ganz allein in seiner Stille mit den ewig existenziellen Fragen lebt, haust, hadert. So eine Gegend ist vielen Betrachtern in allen möglichen Ländern vertraut und nah, wie irgendeine verlassene Gegend an einem gegenüberliegenden Ufer, zu dem keine Brücke oder Fähre führt, und von dem alle Fragen als Echo zurückschallen.

    Oblast Grodno, Januar 2016 / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Mogiljow, Juli 2014: „Sina posiert in ihrem Haus, das buchstäblich auseinanderfällt. Als ich sie besuchte, säuberte sie gerade ihr Lieblingsessen – kleine, günstige Fische. Sie mag es, allein zu leben, und hat sich geweigert, zur Familie ihres Sohnes in einen größeren Ort zu ziehen. Ihr Sohn drohte ihr schließlich, dass er kommen und das Haus zerstören würde. Schlussendlich zog sie doch um.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Grodno, Januar 2016: „Michail lebt mit seiner Frau in einem Dorf im Wald westlich des Flusses Beresina in der Oblast Grodno. Die meisten anderen Häuser im Dorf stehen leer. Im Januar 2016 ist er unterwegs auf einem Spaziergang abseits des Dorfes entlang der nächsten Straße, was er tut, wenn er besonders unruhig oder gelangweilt ist. Es posiert auf einer Bank am Straßenrand, die er selbst gebaut hat.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Gomel, September 2012 / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Mogiljow, Juli 2012: „Wassili posiert im Sommer 2012 mit seinem Hund nahe seines Hauses in der Oblast Mogiljow. Sein Haus hat keine Fenster. Er sagt, die Tür sei gleichzeitig sein Fenster. Wassili lebt allein.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Grodno, Januar 2016: „Swetlana hat eine psychische Störung, ihre Schwester kümmert sich um sie. Sie leben allein in einem chutar (so nennt man ein alleinstehendes Haus, das nicht zu einem Dorf gehört) in der Oblast Grodno. Im Januar 2016 posiert sie mit ihrer geliebten Katze Lussja gegenüber ihres Hauses.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, Dezember 2015: „Ein verlassenes Haus in einem verlassenen Dorf in der Oblast Witebsk zerfällt in der Landschaft, die schnell überwuchert wird von unkontrolliert wachsendem giftigem Bärenklau. In Kontakt mit menschlicher Haut verursacht der Pflanzensaft in der Sonne schwere Verbrennungen.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, März 2013 / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Mogiljow, September 2012: „Wladimir posiert vor einem verlassenen Haus in seinem Dorf in der Oblast Mogiljow. Für einen besonderen Anlass trägt er seine Anzughose. Heute ist der Tag, an dem er mehrere Kilometer zum nächsten Dorf läuft, um seine Rente abzuholen. Er lebt allein in seinem Elternhaus, in dem er aufgewachsen ist, bevor er in die Stadt zog und dort heiratete. Er sagt, beides, seine Hochzeit und sein Leben in der Stadt, sei gescheitert, und schließlich konnte er nirgendwo mehr hin, außer in sein Elternhaus, das nach deren Tod verlassen war. Es gibt nur einen weiteren Einwohner im Dorf.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, März 2013 / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, September 2012: „Alexander lebt allein in dem Dorf Serp (dt. Sichel) in der Oblast Witebsk. Die beiden benachbarten Dörfer Serp und Molot (dt. Hammer) tragen die Namen dieser bedeutenden Sowjet-Symbole, die man mit harter Arbeit und guter Erne verbindet. Die Dörfer waren bis in die 1990er Jahre groß und lebendig. Heute leben dort nur noch ein paar Menschen und die Flächen zwischen den Häusern sind mit hohem Gras überwuchert.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Gomel, Januar 2016: Die beiden einzigen Nachbarn in einem Dorf in der Oblast Gomel / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Minsk, März 2014: „Frühling. Ein Baum, der vor einem verlassenen Haus umgestürzt ist, ringt um Leben und treibt aus in der warmen Frühlingssonne.“ Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, Dezember 2015: „Anatoli posiert vor seinem alten Holzhaus, das er versucht, vor Wind und Kälte zu schützen, indem er Ziegenhaut überall an die Außenwände nagelt. Anatoli lebt allein und hat viele Ziegen, die er nur Menschen zeigt, die nicht kleinlich sind. Ich habe seine Ziegen gesehen.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
     
    Oblast Mogiljow, September 2012 / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, Dezember 2015: „38 Prozent der Fläche von Belarus sind mit Wäldern bedeckt, und 14 Prozent sind Sümpfe. Sie sind die Lungen des Landes und wichtige Wasserressourcen, die die Flüsse speisen. Viele der verschwindenden belarussischen Dörfer liegen in Gebieten nahe Wäldern und Flüssen. Viele von ihnen haben über 200 Jahre alte Namen, die von den Worten ‚Fluss‘, ‚Sumpf‘ oder ‚Wald‘ abgeleitet sind. Es gibt mindestens 64 Sabolotje (dt. hinter dem Sumpf), 60 Salesje (dt. hinter dem Wald) und 61 Saretschje (dt. hinter dem Fluss).“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, März 2013: Radio- und Strommasten in der Oblast Witebsk / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, März 2013 / Foto © Svetlana Yerkovich
     
    Oblast Gomel, September 2012: „Ein verlassenes Haus in einem verlassenen Dorf in der Region Polesien verfällt. Es ist bis zu seinem zerstörten Dach überwuchert von Trauben. Im September 2012 schmeckten die Trauben reif und gut. Die Pflanze muss sorgfältig ausgewählt worden sein, um im belarussischen Klima wachsen zu können, das sich für den Anbau von Wein nicht eignet. Die Gegend ist heute ein Jagdrevier für Touristen und Reiche.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, März 2014: „Viktor lebt allein in seinem Haus in einem verschwindenden Dorf in der Oblast Witebsk. Er passt gut auf sein Haus auf, und er hat Hühner und einen Hahn. Im Frühling 2014 posiert er außerhalb seines Hauses neben dem Auto, von dem er noch hofft, es verkaufen zu können. Viktor ist überzeugt, dass die Bank, bei der er seit der Sowjetzeit seine Ersparnisse hat, ihn beklaut hat. Er schreibt erfolglos Beschwerden an unterschiedliche Behörden und Ministerien. Seine Nachbarn sagen, er erfinde Geschichten.“

    Fotografie: Svetlana Yerkovich
    Bildredaktion: Andy Heller

    Übersetzung: Tina Wünschmann
    Interview: ingo Petz
    Veröffentlicht am 19.05.2023

     

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  • Zukunftsflimmern in Belarus

    Zukunftsflimmern in Belarus

    Laut Verfassung steht in Belarus 2025 die nächste Präsidentschaftswahl an. Angesichts der Proteste nach der Wahl 2020 und der anschließenden Radikalisierung des Systems von Alexander Lukaschenko lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt allerdings nur schwer eine wirkliche Wahl vorstellen. Schließlich sind mittlerweile auch alle Oppositionsparteien in Belarus verboten, die Repressionen gehen ungebremst weiter. 

    Für die Machthaber könnte eine Wahlinszenierung allerdings ein Mittel sein, der Exil-Opposition um Swetlana Tichanowskaja einen Bedeutungsverlust zuzufügen. Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski schaut für das Telegram-Medium Pozirk in die Zukunft und analysiert auch vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine, welche Rolle die Opposition bei der Wahl spielen könnte.

    Bereits 2020 hatte Alexander Lukaschenko herablassend erklärt, die „äußeren Feinde“ hätten nach „venezolanischem Szenario eine belarussische Guaidó gefunden“. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa sagte voraus, dass die Vereinigten Staaten genau wie Juan Guaidó auch Tichanowskaja „fallen lassen“ würden.

    Der Vergleich hinkt natürlich. Guaidó hat ein totales Fiasko erlebt. Die venezolanische Opposition hat ihre Übergangsregierung Ende letzten Jahres selbst beseitigt. Swetlana Tichanowskaja wird zwar von anderen Oppositionellen kritisiert (wobei Senon Posnjak ihr „im neuen Belarus“ gar Gefängnis prophezeit), doch sie können sie nicht vom Podest stoßen. Ihre persönliche Lage und die ihres Büros in Litauen stellt sich als recht stabil dar, niemand will sie von dort fortjagen.

    Die Kritiker Tichanowskajas sind zahlreich. In den unabhängigen Medien und den sozialen Netzwerken wird zu allem Überfluss jetzt auch noch die Frage breitgetreten, wie es mit ihrer Legitimität nach den Präsidentschaftswahlen 2025 aussehen wird.

    Der Herrscher will am Ruder bleiben, um seine Feinde zu ärgern

    Legitimität ist eine heikle Angelegenheit. Längst nicht jeder, der darüber streitet, versteht den Sinn dieses Begriffs. Kurz gefasst geht es um die freiwillige Anerkennung des Rechts auf Herrschaft einer Person durch die Bevölkerungsmehrheit. Im Falle von externer Legitimität wird dieses Recht durch das Ausland anerkannt.

    Nach den Wahlen von 2020 hat Lukaschenko, dem Wahlfälschungen vorgeworfen wurden, sowohl aus Sicht von Regimegegnern als auch aus Sicht des Westens seine Legitimität verloren. Tichanowskaja hingegen, die Daten der Plattform Golos zufolge mindestens drei Millionen beziehungsweise 56 Prozent der Stimmen errang, also de facto siegte, sahen viele im demokratischen Lager als legitime Anführerin des belarussischen Volkes. Die westlichen Staaten hatten es allerdings nicht eilig mit ihrer Anerkennung als legitim gewählte Präsidentin.

    Nach der Wahl im Jahr 2020 sahen viele im demokratischen Lager Swetlana Tichanowskaja als legitime Anführerin des belarussischen Volkes / Foto © Jakub Porzycki/NurPhoto/imago images
    Nach der Wahl im Jahr 2020 sahen viele im demokratischen Lager Swetlana Tichanowskaja als legitime Anführerin des belarussischen Volkes / Foto © Jakub Porzycki/NurPhoto/imago images

    Dabei wuchs in dem Maße, in dem die Niederlage des friedlichen Aufstands immer offensichtlicher wurde, unter den politisch aktiven Belarussen die Enttäuschung über Tichanowskaja und ihr Team, also gewissermaßen die Opposition 2.0 (die alte Opposition war schon 2020 kaum in Erscheinung getreten). In einer Umfrage von Chatham House aus dem Juli und August 2021 gaben nur 13 Prozent an, dass sie Tichanowskaja für würdig hielten, die belarussische Präsidentin zu werden (dabei konnten die Befragten zwischen verschiedenen Personen wählen: für Viktor Babariko sprachen sich 33 Prozent aus, für Lukaschenko 28 Prozent).

    Lukaschenko konnte zwar die Proteste zerschlagen, gewann dadurch aber nicht an Legitimität. Für den Westen ist er eine toxische Figur, ein Usurpator. Und jetzt ist er nach Ansicht vieler zudem noch jemand, der kein politisches Subjekt, sondern nur mehr eine Marionette Putins darstellt.

    Unabhängige Meinungsforscher (wie etwa im Rahmen von BEROC) stellen zwar einen gewissen Anstieg des Vertrauens in die Regierung fest. Doch betonen die Soziologen, dass bei den Umfrageergebnissen der Faktor Angst nicht zu unterschätzen sei. Also könnte es in Wirklichkeit sehr viel mehr Gegner des Regimes geben. Dabei zeigen die Umfragen zugleich, dass die Kernwählerschaft Lukaschenkos (die ja keine Angst haben muss, sich zu ihrer Loyalität zu bekennen) deutlich in der Minderheit ist.

    Die Gruppe der Unentschlossenen ist also größer geworden, doch sind das wohl eher Menschen, die sich in ihrem Schneckenhaus verkriechen, als solche, die mit der politischen Realität zufrieden sind. Die überzeugten Gegner des Regimes beißen sich derweil auf die Lippen und warten auf bessere Zeiten, ohne dabei freilich Lukaschenkos Recht zu regieren anzuerkennen.

    Um die Legitimität ist es für den Herrscher also schlecht bestellt. Was ihn jedoch nicht daran hinderte, bei seiner Rede zur Lage der Nation am 31. März Ansprüche auf eine weitere Amtszeit anzumelden: „Viele würden es gern sehen, wenn es Lukaschenko nicht mehr gibt. Und weil sie wollen, dass ich weg bin, werde ich das Gegenteil tun […]. Ich werde niemals eine lahme Ente sein …“

    Das Risiko, außen vor zu bleiben

    Es ist durchaus möglich, dass Lukaschenkos Gegner im Kontext des „Wahlkampfes“ 2025 de facto außen vor bleiben werden und ihn nicht daran hindern, eine weitere Amtszeit zu besiegeln. Ein Boykott wäre lediglich Ausdruck einer Position, dürfte das Regime aber nicht zu Fall bringen.

    Was wird dann aus Tichanowskajas Legitimität, die bereits heute für einen Teil des politisch aktiven Publikums nicht unumstritten ist? Tichanowskaja und ihr Berater Franak Wjatschorka sagen sinngemäß, wir Belarussen hätten 2020 den Zyklus der Wahlen verlassen, wodurch es keinen Sinn mehr habe, sich daran gebunden zu fühlen. Dahinter steht der Gedanke, dass ihre Mission erst mit einem Sieg der Demokratie in Belarus beendet sein wird.

    Es ist in der Tat unangemessen, das Problem von Tichanowskajas Legitimität mit den Wahlen 2025 in Verbindung zu bringen, sofern das Regime nicht fällt und im gleichen Geiste weitermacht. Ja, für einen Teil der Belarussen und der westlichen Politiker könnte das Jahr 2025 zu einer psychologischen Schwelle werden, was das Verhältnis zu Tichanowskaja angeht. Aber im Kern geht es um etwas anderes.

    Wenn im Kampf gegen die Diktatur Erfolge ausbleiben, dürften die Hoffnungen auf eine „Präsidentin Sweta“ und ihr Team in jedem Fall schwächer werden. Auf gleiche Weise war seinerzeit das Interesse an dem oppositionellen Teil des Obersten Sowjets erloschen, der Legitimität für sich beanspruchte und 1996 von Lukaschenko aufgelöst wurde. Jene Gruppe geächteter Abgeordneter wurde schlichtweg an den Rand gedrängt und übte keinen Einfluss mehr auf die Politik aus.

    Ein anderes Beispiel, das Pessimisten gerne anführen, ist das historische Schicksal der Rada der Belarussischen Volksrepublik (BNR), die zu einer rein symbolischen Instanz verkam. Und die erklärten Gegner beschwören eben Parallelen zu Guaidó herauf.

    Falls die Opposition 2.0 es nicht schafft

    Tichanowskaja und ihre Anhänger befinden sich allerdings in einer grundsätzlich anderen Lage als die Rada der BNR. Und auch der Vergleich mit Venezuela hinkt. In unserem Teil des Planeten entfaltet sich ein eigenes Szenario: Putin und Lukaschenko haben die zivilisierte demokratische Welt allzu dreist herausgefordert. Und jetzt werden sie vorsichtig, aber langsam, aber sicher von ihr erwürgt.

    Kyjiws Erfolge auf dem Schlachtfeld sind in der Lage, die Macht dieser beiden verhassten Regime zu unterwandern. Viele der Belarussen, die 2020 an den Protesten beteiligt waren, haben sich mit dem Triumph des Bösen nicht abgefunden und warten auf eine Gelegenheit, um wieder auf die Straße zu gehen. Diese Revolution könnte sehr viel weniger samten ausfallen. Mitunter fallen grausame Diktaturen augenblicklich.

    Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass es eine relativ lange Transformationsphase geben wird. Wie bei der nordkoreanischen Variante, wo die Zeit auf Jahrzehnte stillsteht. Und selbst die Variante, bei der Belarus von Russland geschluckt wird, ist heute keine unwahrscheinliche Wendung des Szenarios.

    Von Tichanowskaja und ihrem Team wird, wenn wir ehrlich sind, in diesem Strudel von globalen historischen Ereignissen nicht allzu viel abhängen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es das Beste wäre, sich entspannt zurückzulehnen und abzuwarten, bis die Leiche des Feindes vorbeischwimmt. Im Grunde hängt der Lauf der Geschichte von jedem einzelnen Menschen ab. Tichanowskaja wurde durch einen historischen Moment in riesige Höhen gehoben. Gleichzeitig ist sie aber auch nicht in der Situation, sich auf ihren Lorbeeren ausruhen zu können. Im demokratischen Milieu sollte es Konkurrenz geben. Es wäre allerdings unvernünftig, sich in innere Fehden zu verstricken und das zu zerstören, was Tichanowskaja und ihre Mitstreiter erreicht haben, und was heute das gemeinsame Kapital der demokratischen Bewegung ist.

    Dabei wage ich zu behaupten, dass es denen, die einen Fall des Regimes herbeisehnen, relativ egal sein dürfte, wer nun triumphierend in Minsk einzieht, Tichanowskaja im weißen Jeep oder, sagen wir, das Kalinouski-Regiment in schlammverdreckten Militärfahrzeugen.

    Die Zukunft liegt im Dunkeln und entspricht oft, allzu oft nicht den Erwartungen. Wenn die Opposition 2.0 scheitert, dann könnten im entscheidenden historischen Moment ganz andere Figuren an die Spitze katapultiert werden – Akteure, die wir jetzt noch gar nicht kennen. Ganz wie wir vor 2020 Tichanowskaja nicht kannten.

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  • Bystro #43: Wird Belaja Rus zur Einheitspartei im System Lukaschenko?

    Bystro #43: Wird Belaja Rus zur Einheitspartei im System Lukaschenko?

    Belaja Rus, deren Name sich auf die historische Bezeichnung belarussischer Gebiete bezieht, war ursprünglich als eine angebliche soziale Bewegung für die Staatspolitik Alexander Lukaschenkos gegründet worden. Nun hat sie sich als Partei konstituiert. 

    Warum dieser Schritt, ausgerechnet in diesem Jahr? Soll sie als Einheitspartei eine Rolle in der Umstrukturierung des belarussischen politischen Systems spielen? Wer ist ihr Vorsitzender? Und ist Lukaschenko wirklich daran interessiert, seine Macht zu teilen? Diese und weitere Fragen beantwortet der Politikwissenschaftler Kamil Kłysiński.

    1. Wie kam es zur Gründung von Belaja Rus?

    Im Unterschied zu vielen anderen undemokratischen Machtapparaten stützt sich das belarussische Modell nicht auf eine Partei. Die Entwicklung eines Parteiensystems hat Alexander Lukaschenko in den 1990er Jahren bewusst unterbunden. Er fürchtete, ein solches System könnte die Position der belarussischen Nomenklatura zu sehr stärken, vor allem die mittleren und hohen Beamten in zentralen Regierungsbehörden und die lokalen Führungskräfte. Da die staatlichen Funktionäre ohne institutionelle Repräsentation ihre (Gruppen)Interessen nicht artikulieren und schon gar nicht voranbringen konnten, blieben sie vom Präsidenten als faktisch einzigem Machtzentrum im Staat abhängig. Im Bewusstsein ihrer schwachen Stellung gründete die belarussische Beamtenschaft 2004 in Grodno die Bewegung Belaja Rus. Nachdem sie überall im Land Strukturen aufgebaut hatte, wurde sie 2007 schließlich als gesellschaftliche Organisation registriert. Dabei machten ihre Gründer von Anfang an keinen Hehl daraus, dass sie letztlich eine politische Partei etablieren wollten, die den Präsidenten und seine Politik bedingungslos unterstützt.

    2. Welche Rolle spielt die Organisation im politischen System von Belarus?

    Die Belaja Rus entwickelte sich rasch zur größten und am stärksten verankerten gesellschaftlichen Organisation der belarussischen Nomenklatura. Damit war und ist sie eine Stütze des belarussischen Herrschaftssystems. Ihre circa 200.000 Mitglieder werden in sämtliche Wahlkommissionen berufen, von den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen bis hin zu den Kommunalwahlen. Zugleich werden die personellen Ressourcen und die Büroräume der Organisation für die Wahlkampagnen regimetreuer Kandidaten genutzt, insbesondere zur regelmäßigen Wiederwahl Lukaschenkos. Ein erheblicher Teil der Abgeordneten des belarussischen Parlaments gehört außerdem der Belaja Rus an, auch wenn dies nicht offiziell bekanntgemacht wird. Zudem haben die meisten Mitglieder gleichzeitig Staatsämter inne, was das Potenzial der Organisation noch weiter stärkt. Da auch regierungstreue Künstler und Wissenschaftler dazu gehören, kann sie viele soziale Projekte umsetzen, die in den staatlichen Medien beworben werden. Sie zielen vor allem auf gesellschaftliche Gruppen ab, die der Regierung besonders wichtig sind, etwa Veteranen des Zweiten Weltkriegs, Kinder und Jugendliche oder Bauern.

    3. Wer ist Oleg Romanow, der Vorsitzende von Belaja Rus?

    Oleg Romanow wurde im Juni 2022 zum Vorsitzenden von Belaja Rus ernannt und ist bereits der dritte Leiter seit der Gründung. Anders als seine Vorgänger Alexander Radkow und Gennadi Dawydko hat Romanow bis dahin keine hohe Position in der Machthierarchie innegehabt. Er ist Professor für Philosophie und war Rektor der Universität Polazk, die nicht zu den führenden belarussischen Hochschulen gehört. In Polazk blieb er als radikaler Vertreter der imperialen russischen Ideologie der Russki Mir im Gedächtnis, der hart gegen die meisten pro-belarussischen Hochschullehrer vorging. Er sorgte persönlich für die Entlassung regimekritischer Beschäftigter und bevorzugte diejenigen, die sich nach Russland orientierten und sogar die kulturelle und nationale Identität der Belarussen leugneten. Dass ein so rückhaltloser Befürworter der Annäherung an Russland zum Vorsitzenden der Belaja Rus aufsteigen konnte, hat vor allem mit der politischen Gesamtkonstellation zu tun, in der sich Belarus seit 2020 befindet. In diesem Jahr kam der Dialog mit dem Westen völlig zum Erliegen. Einzig von Russland, seinem zentralen Wirtschafts- und Handelspartner und politischen wie militärischen Verbündeten, wurde Lukaschenko weiterhin unterstützt.

    4. Warum hat Lukaschenko eine Einheitspartei immer abgelehnt?

    Es kennzeichnet Lukaschenkos Regierungsstil, dass er den Anspruch der Nomenklatura auf institutionelle Repräsentation abblockt. Seit seinem Amtsantritt als Präsident 1994 hat er immer wieder betont, er wolle direkt mit den Bürgern kommunizieren, ohne politische Parteien als seiner Ansicht nach unnötige „Zwischenglieder“. Dies ist ein ideologisches Grundmerkmal des belarussischen Autoritarismus, in dem der Präsident als wichtigster (wenn nicht einziger) Garant für die Sicherheit der Bürger gilt. Nichts fürchtet Lukaschenko mehr als den Aufstieg einer im Staatsapparat verankerten Herrschaftspartei, die in der Lage wäre, die Interessen der Elite zu artikulieren und zu fördern. Denn eine solche Partei könnte seine Position im Staatsgefüge auf lange Sicht schwächen. Deshalb hat sich in Belarus während Lukaschenkos fast dreißigjähriger, ununterbrochener Regierungszeit kein Parteiensystem entwickelt. Die meisten Abgeordneten im – ohnehin unbedeutenden – Parlament sind parteilose Vertreter gesellschaftlicher Organisationen. Auch die Belaja Rus trat als solche auf.

    5. Warum fand die Transformation von Belaja Rus in eine Partei ausgerechnet in diesem Jahr statt?

    Die Belaja Rus hat wiederholt versucht, sich als politische Partei aufzustellen, stieß dabei aber jedes Mal auf Lukaschenkos Widerstand. Der Gründungskongress am 18. März 2023 war nun offenbar der entscheidende Wendepunkt in ihrer fast sechzehnjährigen Geschichte. Im Zuge der laufenden Rekonstruktion des belarussischen politischen Systems konnte sich Belaja Rus als Partei konstituieren. Ende 2022 sorgte Lukaschenko dafür, dass nur mehr Parteien anerkannt werden, die die politische Strategie des Regimes akzeptieren und kündigte die Auflösung aller noch zugelassenen Oppositionsparteien an. Im Februar 2023 wurde dann ein Verifikationsverfahren auf Basis der neuen Gesetze initiiert. Für den Frühling 2024 ist der erste Kongress der Allbelarussischen Volksversammlung angesetzt, die im Zuge der Verfassungsänderung von 2022 als neues Regierungsorgan eingeführt wurde. Diese Pseudo-Volksvertretung soll aus Abgeordneten bestehen, die unter anderem von einzelnen politischen Gruppierungen ernannt werden. Daraus erklärt sich die Notwendigkeit, ein der Regierung bedingungslos untergeordnetes Parteiensystem zu schaffen.

    6. Welche Rolle wird die Partei im Machtgefüge von Belarus spielen?

    In den letzten zwei Jahren hat Lukaschenko mehrfach öffentlich angedeutet, dass er das chinesische Modell bevorzugen würde, bei dem der Präsident nicht vom Volk, sondern von einer Delegiertenversammlung gewählt wird. Dies ist offenbar die Folge der Massenproteste gegen die abermalige Fälschung der Ergebnisse nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020, die er zweifellos als traumatisch erlebt hat. Bislang versichert die Regierung, das gegenwärtige Verfahren zur Wahl des Staatsoberhaupts werde beibehalten. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass es irgendwann zu einer weiteren Verfassungsänderung kommt, bei der die Allbelarussische Volksversammlung mit zusätzlichen, entscheidenden Vollmachten ausgestattet wird. Allerdings hat Lukaschenkos Begeisterung für das chinesische Modell ihre Grenzen. Er möchte nach wie vor keine politische Partei hochkommen lassen, die ähnlich erfolgreich agieren könnte wie in China und in anderen autoritären Systemen, etwa im Nachbarland Russland. Bei seiner jährlichen Rede zur Nation am 31. März 2023 hat er solchen Bestrebungen eine entschiedene Absage erteilt. Die Belaja Rus wird somit – trotz der Ambitionen ihrer Vertreter – im sterilen neuen System nur eine regimetreue Partei unter mehreren sein.  

     

    Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Kamil Kłysiński
    Übersetzung: Anselm Bühling

    Veröffentlicht am 02.05.2023

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  • Meinst du, die Belarussen wollen Krieg?

    Meinst du, die Belarussen wollen Krieg?

    Kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine protestierten Belarussen trotz der massiven Repressionen in ihrem Land gegen die kriegerische Handlung des Kreml. Manche Belarussen beteiligten sich bei Sabotageakten an den Eisenbahnstrecken, die das russische Militär für den Transport von Technik und Gerät nutzte. In Umfragen schien sich immer wieder zu bestätigen, dass große Teile der belarussischen Gesellschaft gegen den Krieg in der Ukraine sind und vor allem gegen eine direkte Beteiligung von Seiten der belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko, der sich allerdings von Anfang in den Krieg verstrickte. 

    Wie sehen die Belarussen den Krieg heute? Wie beurteilen sie die angekündigte Stationierung russischer Atomwaffen in ihrem Land und das Verhältnis zum Westen? Solche Fragen sind nicht leicht zu beantworten, da es nur wenige aktuelle soziologische Daten aus Belarus gibt. Unabhängige Umfrage-Institute existieren nur im Exil. Zumindest Anhaltspunkte liefern jedoch die regelmäßigen Online-Interviews des britischen Thinktanks Chatham House unter der Leitung des Soziologen Ryhor Astapenia. In der aktuellen 15. Umfragerunde wurden im März 804 Personen befragt. Die Autoren der Studie weisen auf nicht vollständig korrigierbare Verzerrungen hin: zum einen durch den „Angst-Faktor“ in einem repressiv regierten Land wie Belarus, zum anderen dadurch, dass die Befragung nur online durchgeführt werden konnte.

    Igor Lenkewitsch von Reform.by hat sich die Umfrage von Chatham House angeschaut und ausgewertet.

    Chatham House hat die Ergebnisse einer Online-Umfrage unter dem Titel Die Werte der Belarussen und ihre Haltung zum Krieg veröffentlicht. Unsere Landsleute wollen weiterhin keinen Krieg führen. Die Versuche des Regimes, aus den Nachbarländern Feindbilder zu schmieden, haben keine nennenswerte Dividende erbracht. Aber auch der über ein Jahr andauernde Krieg, die Gräueltaten der russischen Besatzer und der Beschuss friedlicher ukrainischer Städte hatten keinen Einfluss auf die Haltung der Belarussen zu den Ereignissen rund um unser Land.

    Ein Krieg ohne Unterstützung

    Die meisten Belarussen (44 Prozent der Befragten) unterstützen nicht das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine. Ein weiteres Viertel tut sich mit einer Antwort schwer. 18 Prozent unterstützen es mit Bestimmtheit und 15 Prozent sagen, sie unterstützen es eher.

    Bezeichnend ist auch, wie die Unterstützung für die kriegerischen Handlungen Russlands in der Ukraine davon abhängt, welche Medien die Befragten bevorzugen. Anhand der Grafik wird deutlich, dass es nur beim Publikum staatlicher Medien mehr Unterstützer für das Vorgehen der russischen Streitkräfte gab als Gegner. 

    Dabei wollen die Belarussen keine unmittelbare Beteiligung an den kriegerischen Handlungen. Auf die Frage „Was sollte Belarus jetzt angesichts der Kriegshandlungen zwischen Russland und der Ukraine unternehmen?“ antworteten 30 Prozent, dass eine vollkommene Neutralität des Landes vonnöten sei, dass sämtliche ausländische Truppen von belarussischem Staatsgebiet abgezogen werden müssen, und dass man sich nicht zugunsten einer der Seiten äußern sollte. Weitere 30 Prozent sind dafür, Russland zwar zu unterstützen, sich aber an dem militärischen Konflikt nicht zu beteiligen. Sechs Prozent sind bereit, die Ukraine ohne einen Kriegsbeitritt von Belarus zu unterstützen. Und der Anteil derjenigen, die einen [aktiven – dek] Kriegseintritt auf einer der beiden Seiten wollen, liegt zusammengenommen bei wenigen Prozentpunkten.

    Wer wird siegen?

    Es sind allerdings nur relativ wenige, die an einen Sieg der Ukraine glauben, nämlich 15 Prozent. Eine Mehrheit jedoch (46 Prozent) ist der Ansicht, dass Russland siegen wird. Bemerkenswert ist, dass nach einem Jahr Krieg, nach dem Rückzug der russischen Streitkräfte von Kyjiw und Tschernihiw sowie ihrem Abzug aus Cherson sich die Meinung der Belarussen zu einem möglichen Sieger praktisch nicht verändert hat. Möglicherweise ist das eine Folge langjähriger Stereotype über die Macht und die Dimension Russlands und die Unbesiegbarkeit seiner Armee, die heute von der russischen und belarussischen Propaganda verstärkt verbreitet werden. Gleichzeitig tat sich ein beträchtlicher Teil der Befragten schwer, auf diese Frage zu antworten.

    Über die Hälfte der Belarussen treten für eine umgehende Beendigung des Krieges und für Friedensverhandlungen ein.
    Die meisten Nutzer nichtstaatlicher Medien sind derweil überzeugt, dass der Krieg erst dann beendet werden sollte, wenn die Ukraine ihre Ziele erreicht hat. Beim Publikum der staatlichen Medien ist der Anteil jener, die den Krieg erst dann beendet sehen wollen, wenn Russland seine Ziele erreicht hat, etwas geringer, nämlich 43 Prozent.

    Insgesamt ist zu konstatieren, dass sich die Polarisierung der belarussischen Gesellschaft fortsetzt. Doch auch wenn sich die Haltung zum Krieg bei Anhängern und Gegnern des Regimes unterscheidet, möchte keine der beiden Gruppen eine unmittelbare belarussische Beteiligung am Krieg. Auf welcher Seite die Sympathien der Befragten auch liegen mögen, die Vorstellung, dass Belarus sich unmittelbar am Krieg beteiligen sollte, ist nach wie vor nur marginal verbreitet.

    Mit Atomwaffen oder ohne?

    Bei den Antworten auf diese Frage hat es keinerlei nennenswerte Veränderungen gegeben. Die überwiegende Mehrheit der Belarussen, nach wie vor 74 Prozent, steht einer Stationierung von Atomwaffen in unserem Land ablehnend gegenüber.

    Der Anteil der Befürworter dieser Idee hat sich seit August vergangenen Jahres leicht erhöht – von 19 auf 25 Prozent. Das ist wohl auf den systematischen Einsatz der staatlichen Propaganda zurückzuführen, die die Stimmung mit angeblich vorhandenen Bedrohungen an unseren Grenzen anheizt.

    Allerdings ist selbst bei den Anhängern des Regimes (dem Publikum der staatlichen Medien) eine Mehrheit gegen die Stationierung von Atomwaffen in Belarus.

    Mit wem werden wir Freunde sein?

    Interessant ist auch, dass sich ungeachtet der Anstrengungen der Propaganda die Haltung der Belarussen zu den Nachbarländern praktisch nicht verändert hat.

    Die überwiegende Mehrheit der Befragten ist der Ukraine, Polen, Litauen und den Ländern der EU gegenüber nach wie vor positiv oder sehr positiv eingestellt. Am schlechtesten ist das Verhältnis zu den USA, allerdings sind auch hier jene, die diesem Staat ablehnend gegenüberstehen, in der Minderheit.

    Was die außenpolitischen Präferenzen der Belarussen angeht, so sind die ebenfalls seit August 2022 praktisch unverändert geblieben. Für ein geopolitisches Bündnis mit der EU treten 14 Prozent der Befragten ein, und für ein Bündnis mit Russland 38 Prozent. 23 Prozent sind überzeugt, dass Belarus sich besser aus allen möglichen geopolitischen Bündnissen heraushalten sollte.

    Auf die Frage „Welche Art von Bündnis mit Russland ist für Sie am ehesten akzeptabel?“ sprachen sich 34 Prozent für eine Freihandelszone aus. Im August 2022 hatte ein gleicher Anteil der Befragten diese Antwort gewählt. Anhänger eines Beitritts von Belarus zur Russischen Föderation gibt es nach wie vor wenige, insgesamt vier Prozent. Mehr als ein Drittel der Befragten befürworten einen gemeinsamen Wirtschaftsraum ohne politische Vereinigung.

    Die Studie zeigt insgesamt, dass die Präferenzen in der belarussischen Gesellschaft im vergangenen Jahr unverändert geblieben sind – obwohl die Propaganda mehr Druck macht, das Regime die Ukraine und den Westen als Feindbild darstellt und schon mehrere Monate eine Kriegshysterie geschürt wird. Es ist nicht gelungen, die Haltung der Belarussen zum Krieg oder ihren Nachbarn zu ändern. Und die vom Regime gepredigte Konzeption einer von Feinden belagerten Festung hat in den Herzen der meisten Bürger unseres Landes keine Unterstützung gefunden.

    Gleichzeitig haben weder der anhaltende Krieg noch die Verbrechen der russischen Streitkräfte die Haltung der Belarussen zum Geschehen grundlegend verändert – ebenso wenig der Beschuss ukrainischer Städte, das Sterben friedlicher Zivilisten und die militaristische Rhetorik des Regimes. Die überwiegende Mehrheit hofft anscheinend weiter darauf, dass all diese Ereignisse keine ernsten Auswirkungen auf ihr Alltagsleben haben werden. So zu tun, als würde nichts geschehen, ist jedoch nicht die beste Reaktion auf die Veränderungen, die sich derzeit in der Welt vollziehen.

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  • Bystro #42: Wie groß ist die Wirtschaftskrise in Belarus?

    Bystro #42: Wie groß ist die Wirtschaftskrise in Belarus?

    Im Zuge der Repressionen und der Gewalt, mit der Alexander Lukaschenko seit den historischen Protesten von 2020 gegen Medien, Zivilgesellschaft, Aktivisten und Opposition vorgeht, hat die EU sechs Sanktionspakete gegen die belarussische Führung verabschiedet. Auch der russische Krieg gegen die Ukraine hat für die belarussische Wirtschaft enorme Auswirkungen, unter anderem, weil der für Belarus wichtige ukrainische Absatzmarkt weggebrochen ist oder weil Russland von massiven Sanktionen betroffen ist.  

    Kann die russische Führung dennoch die wirtschaftliche Unterstützung für Lukaschenko fortsetzen? Welche Auswirkungen haben die westlichen Sanktionen auf Belarus? Ist ein Kollaps der belarussischen Wirtschaft denkbar? Diese und andere Fragen beantworten Robert Kirchner und Justina Budginaite-Froehly vom German Economic Team (GET) in einem Bystro.

    1. Wie ist es aktuell um die belarussische Wirtschaft bestellt?

    Die belarussische Wirtschaft ist im letzten Jahr um 4,7 Prozent geschrumpft. Damit hat das Land den schwersten Einbruch seit den 1990er Jahren erlitten und wurde auf das Produktionsniveau von 2012 zurückgeworfen. Die Prognosen für 2023 reichen von einem weiteren – wenngleich geringeren – Rückgang bis zu einem leichten Wachstum. Alle Sektoren außer der Landwirtschaft entwickeln sich negativ. Sogar der Sektor für Informations- und Kommunikationstechnik, der traditionell als Wachstumstreiber der Wirtschaft galt, schrumpft derzeit massiv.
    Die Struktur des Außenhandels hat sich ebenfalls drastisch verändert. Die Exporte in die EU sind sanktionsbedingt massiv eingebrochen (minus 75 Prozent), während die Exporte in die GUS-Staaten (hauptsächlich Russland) deutlich zugenommen haben. Auf der Import-Seite ist ein genereller Rückgang zu beobachten, was zum begrenzten Angebot an Waren und sogar zur Verknappung einiger Produkte führt.
    Nach offiziellen Zahlen ist die Arbeitslosigkeit niedrig (4,5 Prozent im Jahr 2022) und geht wegen der nach Februar 2022 deutlich zugenommenen Emigration sogar zurück; allerdings sind diese Zahlen mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln.
    Als Konsequenz der genannten Entwicklungen schrumpft der Lebensstandard der belarussischen Bevölkerung. Das verfügbare Einkommen sinkt aufgrund der weiterhin hohen Inflation. Die Reallöhne in einigen staatlichen Unternehmen sind zu Kriegsbeginn um rund 40 Prozent gesunken, haben sich aber später wieder stabilisiert. Auch der Konsum sinkt infolge der fallenden Einkommen.

    2. Wie reagiert die belarussische Staatsführung auf die Krise?

    Die belarussische Staatsführung versucht, die wirtschaftliche Situation zu stabilisieren, weil davon die sozio-politische Stabilität des Landes stark abhängt. Hierbei werden aber meist administrative Maßnahmen gewählt, die häufig weitere Probleme nach sich ziehen.
    Im Oktober 2022 wurden umfassende Preiskontrollen eingeführt, mit dem Ziel, die hohe Inflation einzudämmen. Die Maßnahmen haben kurzfristig geholfen, das offizielle Inflationsziel von 6 Prozent wurde jedoch nicht erreicht und bleibt auch für 2023 unrealistisch. Während die Zentralbanken weltweit auf hohe Inflation mit Zinsanhebungen reagieren, wurde dies in Belarus nicht in Betracht gezogen – der Zinssatz liegt aktuell bei 11 Prozent und wurde unlängst sogar gesenkt. Zudem hat die Regierung finanzielle Unterstützung für große staatliche Banken und staatliche Industrieunternehmen bereitgestellt. Mit Kapitalverkehrskontrollen wird versucht, die außenwirtschaftliche Stabilität zu erhalten und den Wechselkurs zu stabilisieren. Ein Kontrollmechanismus für Unternehmen mit Kapitalanteilen aus sogenannten unfreundlichen Ländern wurde eingeführt, um den Exodus von Unternehmen aus dem Land zu stoppen. 
    Kürzlich wurde auch ein Importsubstitutionsprogramm gestartet, das den Kauf belarussischer Produkte vorsieht und so die Produktion im Lande zu stimulieren versucht, um ausbleibende Importe zu ersetzen. 

    3. Können freie Unternehmer unter den aktuellen Bedingungen noch existieren?

    Der stark steigende, repressive Einfluss des Staates auf die Wirtschaft erhöht das unternehmerische Risiko erheblich. Viele ausländische Unternehmen, die auf dem belarussischen Markt tätig waren, haben daher ihre Tätigkeit eingestellt bzw. deutlich reduziert. Generell leiden die belarussischen Unternehmen unter erheblichen Imageschäden, sie sind aus Sicht ihrer ausländischen Geschäftspartner „toxisch“ geworden. Dies verschlechtert das Geschäftsklima deutlich und führt oft zur Aufgabe bestehender oder künftiger Kooperation. Auch die Finanzsanktionen erschweren den internationalen Handel.  
    Die Unternehmensgewinne sind deutlich geringer als in den Vorjahren, und die Unternehmensverschuldung ist relativ hoch. Zudem berichten private Unternehmen über einen gestiegenen Abgabendruck seitens des Fiskus. Darüber hinaus gab es im Jahr 2022 einen deutlichen Lageraufbau bei den Unternehmen aufgrund der Absatzschwierigkeiten, und einen erheblichen Abfluss von Unternehmenseinlagen bei den Banken. Insgesamt also sehr schwierige Rahmenbedingungen, die sich im Jahresverlauf verschlechterten.

    4. Inwieweit zeigen die westlichen Sanktionen Wirkung?

    Die westlichen Sanktionen betreffen den Handel, den Finanzbereich (Banken und Staat) sowie einzelne Personen und Unternehmen. Die Wirkung der Handelssanktionen ist sicher nicht schockartig, aber durchaus spürbar. Belarus hat seine profitabelsten Exportmärkte in den EU-Mitgliedstaaten und in der Ukraine für Kalidünger, raffinierte Ölprodukte und Holzerzeugnisse verloren. Wie viele der Güter sich umlenken lassen, und vor allem zu welchen Kosten, ist aufgrund der nicht zugänglichen Daten nicht genau erkennbar.  
    Eine wichtige Rolle spielen auch die Finanzsanktionen. Einige Banken wurden vom SWIFT-System ausgeschlossen, die Goldreserven der Nationalbank und Geschäfte mit ihr wurden in der EU blockiert, wodurch letztendlich ein „Default“ von Belarus eintrat: Das Land konnte also seine vertraglich eingegangenen Verbindlichkeiten in Fremdwährung bei der Bedienung von staatlichen Schulden nicht begleichen. Hinzu kommen „over-compliance“-Effekte im Bankensektor, die Schwierigkeiten bei der Abwicklung der Transaktionen auch für diejenigen belarussischen Banken bereiten, die nicht direkt von den Sanktionen betroffen sind. Dies hat wiederum Rückwirkungen auf die zugrundeliegenden Warentransaktionen – wenn es keine Zahlung gibt, wird auch nichts geliefert.
    Der durch zusätzliche Sanktionen im Logistikbereich blockierte Zugang zu den baltischen Häfen für die Exporte aus Belarus (z. B. Kalidünger) hat negative Auswirkungen auf die Industrieproduktion, die sich seit Februar 2022 im Sinkflug befindet. In der Summe ist der anfangs genannte Einbruch der Wirtschaft vor allem auf die Sanktionen zurückzuführen. 

    5. Inwieweit fängt Russland die Wirkung der Sanktionen ab?

    Wegen der Sanktionen hat der Handel zwischen Belarus und Russland deutlich zugenommen. Obwohl beide Länder keine Daten zu den gehandelten Warenmengen veröffentlichen, kann man sehen, dass der wertmäßige Handelsumsatz merklich zugenommen hat. Allerdings bedeutet dies für Belarus keine vollständige Kompensation der Verluste durch den Wegfall der Märkte in Europa und der Ukraine. 
    Belarus ist auch auf die Hilfe Russlands bei der Reorganisation der Transporte von belarussischem Kalidünger und anderer sanktionierter Waren auf Drittmärkte angewiesen. Diese Exporte wurden durch russische Häfen und auf die russische Eisenbahninfrastruktur umgelenkt. Russland hat Minsk auch einen Kredit für Maßnahmen zur Importsubstitution gewährt. Zudem wurden Vereinbarungen mit Russland über die Beibehaltung von Sondertarifen für Energielieferungen für Belarus getroffen. 
    Darüber hinaus hat Minsk ein Dokument zur Ausweitung der Integration mit Russland unterzeichnet, dass es belarussischen Produzenten ermöglicht, ihre Ölprodukte auf dem russischen Markt zu den gleichen Bedingungen zu verkaufen wie russische Unternehmen. Dadurch wird der belarussische Staatshaushalt im laufenden Jahr 600 Millionen US-Dollar an Subventionen einnehmen. Durch solche Schritte verflechtet sich Belarus wirtschaftlich immer stärker mit Russland. 

    6. Kann Russland Belarus´ Wirtschaft auch langfristig unterstützen?

    Russland unterstützt Belarus schon seit langem über vielfältige Instrumente, neben den Energiepreissubventionen zum Beispiel über langfristige Kredite. Dies wird tendenziell zunehmen, da Belarus von internationalen Finanzmärkten abgeschnitten ist und von den wichtigsten Ratingagenturen auf „Default“ herabgestuft wurde, das heißt ein Zahlungsausfall festgestellt wurde. Dementsprechend steigt auch der Einfluss Russlands, zum Beispiel wenn es um die Verschiebung von Schuldenrückzahlungen geht. Man kann davon ausgehen, dass Russland langfristige Ziele in Belarus hat. Allerdings basieren sie nicht auf der Sorge um das Wohlergehen von Belarus, sondern um die weitere – vor allem politische – Einflussnahme auf das Nachbarland.  
    Die Unterstützung durch Russland ist dabei mit hohen politischen Kosten für Belarus verbunden. Die Integrationsprozesse des Unionsstaates schreiten voran. Es gibt neue Initiativen zur Vertiefung der Zusammenarbeit in den Bereichen Industrie, Landwirtschaft, Verkehr und Kernenergie. Außerdem haben sich Russland und Belarus über eine weitere Vereinheitlichung des Steuer- und Zollrechts verständigt, die der russischen Steuerverwaltung Zugang zu den Transaktionen sämtlicher belarussischer Steuerzahler verschafft. In der Praxis wird dies also die Unterordnung des belarussischen Systems unter das russische bedeuten. Manche sprechen dementsprechend von einer „schleichenden Okkupation“ von Belarus durch Russland in allen öffentlichen Bereichen. 

    7. Ist ein Kollaps der belarussischen Wirtschaft denkbar?

    Ich denke, der Begriff „Kollaps“ weckt falsche Erwartungen und sollte vermieden werden. Gleiches gilt zur Lage in Russland, wo nach Kriegsbeginn und den folgenden Sanktionen viele Beobachter von einem schnellen Kollaps ausgingen, der bekanntermaßen nicht eingetreten ist. Die aktuelle Lage und der Ausblick sind eher durch ein langsames „Dahinsiechen“ gekennzeichnet, also eine Situation der Stagnation ohne Aussicht auf neue Wachstumstreiber. Zunehmend hängt die belarussische Wirtschaft von der Lage der russischen Wirtschaft ab, deswegen sind die Entwicklungen in Russland von großer Bedeutung auch für Belarus. Die sich anbahnenden Probleme durch die im Vorjahr eingeführten Ölsanktionen werden sich indirekt zweifellos auch auf Belarus auswirken. 
    Darüber hinaus wird die Lage der belarussischen Wirtschaft davon abhängen, ob eventuell weitere Sanktionen gegen das Land in der Zukunft verhängt werden. Andererseits zeigt die bisherige Erfahrung aber auch, dass sanktionierte Länder fähig sind, sich an Sanktionen anzupassen und sie teilweise zu umgehen. Belarus findet immer noch Käufer für seine von der EU sanktionierten Produkte wie Kalidünger und Ölprodukte zum Beispiel in China, Brasilien und Indien. Hier wird zu beobachten sein, ob der Westen stärker als bisher das Thema „Sanktionsumgehung“ auf die Tagesordnung setzt.

     

    Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Justina Budginaite-Froehly und Robert Kirchner
    Veröffentlicht am 21.03.2023

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  • „Hat es in Belarus wirklich einen Wertewandel gegeben?“

    „Hat es in Belarus wirklich einen Wertewandel gegeben?“

    Auch bei den historischen Protesten im Jahr 2020 in Belarus waren immer wieder Regenbogenfahnen zu sehen. Den politischen Selbstermächtigungsprozess unterstützten Menschen unterschiedlichen Alters, aus den verschiedensten Berufen und den unterschiedlichsten sozialen Gruppen. So war auch die durchaus aktive LGBT-Szene des Landes dabei, die in den vergangenen 15 Jahren sich und ihren Anliegen als Teil der Zivilgesellschaft immer mehr Gehör verschafft hat. 

    Homosexualität wird in Belarus seit 1994 nicht mehr per Gesetz verfolgt und geahndet, stößt in weiten Teilen der konservativen Gesellschaft aber immer noch vielerorts auf Ablehnung. So kommt es nicht nur durch die Vertreter des Systems Alexander Lukaschenko immer wieder zu öffentlichen Beleidigungen, sondern auch zu Anfeindungen durch Aktivisten konservativer oppositioneller Gruppen. Der LGBT-Aktivist Andrej Sawalei nimmt dies zum Anlass, sich in einer Kolumne für das Online-Medium KYKY ordentlich Luft zu machen. Dabei fordert er, dass auch die neue demokratische Bewegung echte Toleranz gegenüber der LGBT-Community noch lernen müsse. 

    Vor langer Zeit, 2017, war ich mit meiner Freund:in Gleb Kowalskaja mal auf der Suche nach unwiderlegbaren Belegen, dass es in Belarus Homophobie gibt. Das war eine ganz schön mühselige Angelegenheit.

    Damals konnten sich nur wenige anständige öffentliche Figuren eine homophobe Rhetorik erlauben, etwa Pawel Sewerinez und Eduard Paltschys (sie sind heute politische Gefangene). Und auch unter den Vertreter:innen des Regimeapparats waren nicht allzu häufig Adepten einer offenen Homophobie anzutreffen: Beiden Seiten erschien es vor fünf Jahren nicht comme il faut. Für die groben Ausfälle von Schunewitsch im Stile eines homophoben Gandalf musste sich [der damalige Außenminister] Makei sogar entschuldigen. Von ihm stammt auch das meiner Meinung nach LGBT-freundlichste Zitat aller Politiker in der gesamten Geschichte des unabhängigen Belarus: „Das Thema der traditionellen Familie und der Minderheitenrechte ist sehr wichtig und nicht alles ist da eindeutig.“

    Aber wie heißt es so schön: Ich bin nicht homophob, aber …

    Damals kamen Gleb und ich bei einer Literpulle Tschernihiwske zu dem Schluss, dass der deutlichste Beleg für ein homophobes Belarus in einem Doppelmord auf der Grundlage von Hass bestehen würde, den wir begehen, indem wir uns gegenseitig Messer ins Herz stießen. Am helllichten Tag, auf dem Höhepunkt der Herbst-Verkaufsmesse für Kartoffeln und rote Beete in der Traktorenfabrik.

    Es schien, als wäre es nur so möglich, die wirkliche Dimension des Problems in unserem Land offenzulegen, wo die Existenz von Homophobie nicht nur von sowjetoiden Bürokratenärschen und regimetreuen Richter:innen geleugnet wird: Die weigern sich, das Motiv Homophobie bei offensichtlich durch Hass begründete Verbrechen zu erkennen. Das geschieht aber auch bei demokratisch gesinnten Personen des öffentlichen Lebens.

    Bemerkenswert ist, dass damals auch die Bitte laut wurde, den Begriff „homophob“ nicht auf sie anzuwenden – als sei das etwas Beleidigendes, oder etwas, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun hätte. Dass das „Brandmal homophob“ unerwünscht war, spiegelte in gewissem Maße das Bedürfnis wider, das Einzigartige an der eigenen Position zu unterstreichen, die keineswegs zu Gewalt aufrufe und nicht konservativ oder veraltet sei. Die sogar im Gegenteil sehr fortschrittlich und weitsichtig sei. Man akzeptiere einfach nicht die „Propaganda“, dass „uns fremde Werte“ aufgenötigt werden oder überhaupt unsere Seelen vor der Sünde „bewahrt“ würden. Diesen ganzen Schwachsinn. Aber wie heißt es so schön: Ich bin nicht homophob, aber …

    Unterdessen aber scheinen Vertreter des Regimes wie auch Verfechter demokratischer Vorstellungen mitunter zu denken, dass sie durch homophobe Ausfälle aller Art nichts zu verlieren haben. Sei es die Erniedrigung von Schwulen, mit dem der Protest im Telegram-Kanal des kriminalitäts- und korruptionsbekämpfenden GUBOPIK diskreditiert wurde, oder aber die zauberhafte Werbesprache von Stepan Putilo („schwule Looser“), der damit gewissermaßen andeutete, dass es etwas angenehmer sei, schwule Angehörige der OMON zu hassen, als OMON-Mitglieder „normaler Orientierung“. Oder andere homophobe „Scherze“ von durchaus anständigen Leuten, die uns – statt uns LGBT-Menschen als gleich anzuerkennen – instrumentalisieren und dämonisieren, indem wir zu Feinden, widerlichen Monstern oder Sündenböcken gemacht werden.

    Solche homophoben Ausfälle mögen zwar sehr bequem sein, doch bringen sie der hellen Seite der Macht, den Jedis, nicht die erwartete Dividende, und können dies per definitionem auch nicht: Diese schmutzigen Tricks nützen schließlich allein den dunklen Siths und können den Jedi ihr Karma nur verderben.

    Das Bestreben, Schwule zu erniedrigen, kann die Lage regimetreuer Gestalten schon nicht mehr verschlechtern (die haben eh nichts zu verlieren). Die progressive prodemokratische Bewegung aber hat jedes Plus für ihr Karma bitter nötig. Und wenn man es dort unterlässt, öffentlich die Ehre und Würde von LGBT-Menschen als unverrückbare Größe anzuerkennen, wird man keine Punkte sammeln. Im Gegenteil: Sie werden von uns keine große Unterstützung bekommen. Und wenn man denn der Propaganda glaubt, dann könnte die widerliche Schwulenlobby in der Tat ganz humorlos den teuflischen Plänen der Fünften Kolonne Vorschub leisten.

    Echte Toleranz muss sich in der Praxis erweisen

    Wenn meine Freunde aus der Ukraine auf Insta Stories schreiben: „Ihr Schwuchteln, was macht ihr da!“, wobei sie sich an die russischen Besatzer wenden, die ihre Städte vernichten und unschuldige Menschen umbringen, muss ich mich sehr zurückhalten. Denn das folgt dem Motto: „jetzt ist nicht die Zeit dafür“, „erst besiegen wir den Feind, dann kümmern wir uns um die Homophobie“, „verwässere nicht die Agenda“ … Und das ist ein Fehler. Den gleichen Fehler habe ich 2020 gemacht, als ich meine LGBT-Agenda hintenanstellte, um unsere „gemeinsame belarussische“ Agenda nicht aufzuweichen (, ach die arme).

    Doch wenn unsere gemeinsame Agenda derart wackelig ist, dass sie durch ein Foto von einer Demonstration in Minsk verwässert wird, auf dem sich junge Frauen unter einer weiß-rot-weißen Flagge vor belarussischen Soldaten im Hintergrund küssen, dann stimmt vielleicht irgendwas mit dieser Agenda nicht?

    Putin schickt seine Truppen ins Nachbarland und verkündet von der Tribüne herab, dass sie angeblich die traditionellen Traditionen und hochwertvollsten Werte vor eben diesen Schwuchteln schützten, die gemeinerweise wollen, dass es ein Elternteil eins gibt und ein Elternteil zwei gibt. 

    Es kommt zu einer fundamentalen Auswechselung der Begriffe und dadurch zur Manipulation. Und dieses Durcheinander muss entwirrt werden, man muss klarmachen, wer „diese Schwuchteln“ sind. Wo ist der Unterschied zwischen dem Ruf „Für euch, ihr Schwuchteln!“ bei Bachmut, wenn eine Rakete auf die Besatzer abgeschossen wird, die gekommen sind, dein Haus zu zerstören, und dem Ruf „Da kommen die Schwuchteln“, bevor man einem Unbekannten, der am Sonntagmorgen aus einem Schwulenclub in Minsk kommt, ins Gesicht schlägt, und dem abfälligen „Arschficker kommen hier nicht rein“ aus dem Mund von Schunewitsch?

    Ihr werdet überrascht sein: Es gibt da offen gestanden keine Grenze! In jeder dieser Situationen werden LGBT-Menschen dämonisiert oder als etwas Negatives oder Widerliches markiert. In jeder dieser Situationen wird Gewalt legitimiert, weil es angeblich einen Grund gibt, sich „zu schützen“. Dabei muss man verstehen, dass „Schwuchteln“ vollkommen abstrakte, stereotype Gestalten sein können. Oder es sind einfach von Propaganda-Idioten erfundene Horrorgeschichten. Die Opfer dieser von Homophobie genährten Gewalt hingegen sind ganz real. Man hat uns weismachen wollen, dass ein Überfall auf Belarus vorbereitet wurde und „sie“ gezwungen waren, einen Präventivschlag zu führen. Genau so hat der Mörder von Michail Pischtschewski vor Gericht erklärt, dass er eine Bedrohung wahrgenommen habe und gezwungen gewesen sei, sich zu verteidigen. Dabei holte er weit zu einem „Präventivschlag“ gegen einen Kiefer aus, der dazu führte, dass Mischa 20 Prozent seines Gehirns entfernt werden mussten, dass er 16 Monate im Koma lag und dass er schließlich starb.

    Solange wir uns nicht bewusst machen, dass Homophobie tatsächlich das Böse, Krieg und Zerstörung in sich trägt, solange wir Versuche weißwaschen, die eigenen Werte mit Hass gegen Mitmenschen zu „verteidigen“, wird unsere Agenda marode und leicht zu verwässern sein.

    Uns wurde von der Kindheit an gesagt, die Belaruss:innen seien sehr tolerant. Aber seien wir ehrlich: Es ist sehr leicht, abstrakt „andere“ Menschen zu respektieren, ohne tatsächlich mit ihnen in Berührung zu kommen – wenn diese „anderen“ im öffentlichen Raum praktisch nicht vorhanden sind. Öffentlich erkennbare LGBT-Menschen lassen sich landesweit an einer Hand abzählen, und selbst in Minsk begegnet man nur selten Menschen mit einer anderen Hautfarbe als der weißen …

    Echte Toleranz, nämlich die Respekt vor unseren Unterschieden, muss sich in der Praxis erweisen, wenn einem im Freundeskreis nämlich nicht die Ohren dröhnen von Scherzen mit Anflügen von Antisemitismus, Islamophobie, Frauenhass oder Homophobie. Wenn Schwarze auf der Straße nicht von Passant:innen angegafft werden. Es bedeutet nicht, dass man plötzlich alle „anderen“ dieser Welt mögen muss. Man kann die Würde eines Menschen selbst dann respektieren, wenn man diese oder jene Werte anderer nicht teilt oder sie gar letztendlich nicht versteht. Man muss nur einem Menschen schlicht das Recht zubilligen, er oder sie selbst zu sein, auch wenn jemand einem vielleicht nicht gefällt. Und die Antwort auf die Frage, warum einem dieser konkrete Mensch nicht gefällt, wird einem sehr viel Interessantes offenbaren, nämlich über sich selbst.

    Wenn ich vor 2020 in den sozialen Netzwerken in den eher seltenen Beiträgen über LGBT homophobe Kommentare las, dachte ich für mich: „Nun, das sind wohl im Grunde Lukaschisten. Es kann ja nicht sein, dass Leute nach Demokratie streben und dann sowas schreiben.“ Nach 2020 wurden solche LGBT-Beiträge noch seltener, doch die Zahl der homophob Kommentierenden blieb gleich, und viele von ihnen schmücken sich mit dem Pahonja und mit weiß-rot-weiß.

    Und ich frage mich: Hat es in Belarus wirklich einen Wertewandel gegeben? Werden in einem neuen Belarus wirklich neue Institutionen ein neues Niveau an Respekt für die Bürger:innen des Landes zeigen? Oder gibt es bei der Rhetorik von „manchmal geht es nicht um Gesetze“ [Zitat von Lukaschenko gegenüber Strafverfolgern im Kontext der Proteste von 2020 – dek] und „zuerst Demokratie, dann alles andere“ doch einen gemeinsamen Nenner, nämlich den fehlenden Respekt für die Rechte von LGBT-Menschen?

    Der Diktator kann auf seine Bürger:innen pfeifen und sie zutiefst erniedrigen, weil seine Macht auf Angst und Terror beruht, und weil die Menschen nichts als Figuren auf einem Schachbrett sind. Innerhalb der Bewegung für ein freies Belarus aber muss jede und jeder respektiert werden, und zwar nicht irgendwann nach dem Sieg einer Revolution, sondern konkret, hier und jetzt.

    Wenn man sich unsere Unterstützung sichert, könnte ein Schritt hin zu einer solchen Solidarität getan werden, einer Solidarität, für die bei unseren Demonstrationen Flaggen sämtlicher Coleur von Bedeutung sind. Weil hinter jeder dieser Flaggen Menschen stehen, und weil die Flagge für uns konkret einen riesigen Wert darstellt. Und in unseren Reihen werden die Werte gegenseitig respektiert, oder?

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  • Welchen Preis hat der Krieg für Belarus?

    Welchen Preis hat der Krieg für Belarus?

    Das kürzlich veröffentlichte „offizielle Strategiepapier“, in dem die schrittweise Einverleibung von Belarus bis 2030 durch Russland skizziert wird, scheint weiteres Unheil für Alexander Lukaschenko zu bedeuten. Auch wenn viele der darin enthaltenen Pläne alles andere als neu sind. Die Integration von Belarus in den Unionsstaat wird vor allem seit 2021 auf wirtschaftlicher und militärischer Ebene mit Nachdruck umgesetzt. Entsprechend zurückhaltend äußerte sich der belarussischen Machthaber zu dem bekannt gewordenen Papier: „Russland hat seine eigene Strategie, so auch in Bezug auf Belarus – um mit seinen Brüdern in Frieden und Freundschaft zu leben.“ Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine vor einem Jahr, der gerade am Anfang auch vom belarussischen Territorium aus geführt wurde, sehen nicht wenige Analysten die Souveränität von Belarus ohnehin als höchst gefährdet an. Lukaschenko hat sein Land seit den historischen Protesten von 2020 in eine Situation manövriert, in der es aus dem Zugriff von Russland kaum noch ein Entrinnen zu geben scheint.

    Was bedeutet diese Situation und insgesamt der Krieg, in den sich Lukaschenko heillos verstrickt hat, für Belarus und die Zukunft des Landes? Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski zieht ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion für das Online-Medium Pozirk umfassend Bilanz.

    Vor einem Jahr hat Russland versucht, von belarussischem Territorium aus Kiew einzunehmen. Der am Morgen des 24. Februar begonnene „Blitzkrieg“ wuchs sich zu einem langwierigen Krieg aus, der zur Gefahr für Russland wurde und in dem Lukaschenkos Regime sich als Unterstützer des Aggressors wiederfand. Trotz allem gelingt es dem belarussischen Präsidenten aber bislang, einer Entsendung eigener Truppen in den Kampf gegen die Ukrainer auszuweichen.

    Darüber hinaus hat die belarussische Regierung sogar einigen finanziellen Gewinn aus dem Status des einzigen Verbündeten der Russischen Föderation gezogen. Der Preis dafür ist im Gegenzug jedoch die immer stärkere wirtschaftliche und politische Bindung an den Kreml

    Die Wirtschaft hält stand, doch der Preis ist die immer größere Abhängigkeit von Moskau

    Der westliche politische Mainstream neigt zu der Einschätzung, dass Lukaschenko die Eigenständigkeit praktisch verspielt hat und vollständig zur Marionette Moskaus geworden ist. Dem Anführer des belarussischen Regimes selbst ist das unangenehm, er versucht, sich als potentieller Friedensstifter darzustellen.

    Heute zeichnet sich ab, dass Belarus dank russischer Unterstützung die Auswirkungen der westlichen Sanktionen für die Kriegsbeteiligung abmildern konnte. Die apokalyptischen Prognosen einer Reihe von Experten sind nicht eingetreten: Das BIP fiel im vergangenen Jahr nur um 4,7 Prozent. Das ist unangenehm, aber längst keine Katastrophe für das Regime, ein wirtschaftlicher Spielraum bleibt erhalten. Staatsbeamte prahlen mit einem „historisch hohen“ Außenhandelsüberschuss von etwa 4,5 Milliarden Dollar.

    Minsk erhält von 2023 bis 2025 günstiges Gas (128,52 USD pro 1000 Kubikmeter) – früher mussten in der Weihnachtszeit stets aufs Neue Preiskämpfe geführt werden. Außerdem wurden Steuererleichterungen für die Erdölraffinerien (deren Rentabilität sich dadurch erhöht) sowie ein Aufschub der Schuldenrückzahlungen erwirkt. 

    Lukaschenko klammerte sich euphorisch an die Idee der Importsubstitution. Belarus erhielt in diesem Kontext einen Kredit in Höhe von 105 Milliarden Russischer Rubel (1,3 Milliarden Euro). Dafür bietet Minsk beispielsweise seine Mikroelektronikprodukte an und ist gar bereit, Kampfflugzeuge vom Typ Su-25 zu produzieren. 

    Belarussische Mikrochips, das gibt Lukaschenko zu, sind im weltweiten Produktvergleich ziemlich klobig. Doch Moskau ist durch die Sanktionen und den Weggang westlicher Firmen im Moment nicht in der Position, die Nase zu rümpfen. Deshalb nehmen die russischen Nachbarn viele belarussische Waren – sowohl für den militärischen, als auch für den zivilen Bedarf – mit Kusshand.

    Dank Moskau konnte Belarus einen Teil seines Exports retten, nachdem ein ordentliches Stück des Handels mit Europa und der gesamte Handel mit der Ukraine weggefallen waren. Kalium geht zum Beispiel nun nach China, auf dem Landweg und per Schiff über Russland. Minsk wurde sogar großzügig ein Liegeplatz im Hafen Bronka bei Sankt Petersburg zugesprochen. 

    Doch all das geschieht zum Preis einer stärkeren Abhängigkeit von Russland, mit dem bereits mehr als 60 Prozent des Außenhandels laufen. Auch die Abhängigkeit im Transitbereich erhöht sich fatal. Minsk muss 28 Unionsprojekte umsetzen, die auf eine stärkere, auch institutionelle, Anbindung der belarussischen Wirtschaft an die russische abzielen. 

    Der Krieg hat dem Prozess der „Unionsintegration“ die Sporen gegeben, an dessen Ende die Einverleibung droht. Auch für eine neue belarussische Regierung würde es höchst kompliziert, diese Schlinge zu lösen. 

    In Belarus walten russische Generäle

    Besonders traurig steht es um die militärische Souveränität und die Außenpolitik (von der vielgepriesenen Multivektoralität ist kaum noch etwas geblieben). Lukaschenko bleibt zwar Oberbefehlshaber der Streitkräfte, faktisch walten auf belarussischem Territorium jedoch russische Generäle. Unter dem Vorwand des Aufbaus einer gemeinsamen regionalen Armee-Einheit holen diese russischen Generäle jetzt ihre „Mobilisierten“ nach Belarus, um morgen (vielleicht nicht direkt morgen, die Formation einer Angriffstruppe braucht Zeit) wieder einen Angriff auf die Ukraine von Norden her zu starten.

    Unabhängige Analytiker sind sich einig, dass der belarussische Präsident, sollte Wladimir Putin ihm die entscheidende Frage stellen, die eigene Armee in den Krieg schicken würde, ob er will oder nicht. Damit kann man gleichzeitig die gängige These anzweifeln, der Kreml würde Belarus in dieser Frage ohnehin schon in den Schwitzkasten nehmen wollen. Wenn er das wirklich wollte, hätte er es schon längst getan. 
    Putin demonstriert seinen Standpunkt offen: Im Dezember flog er nach Minsk, machte viele teure Geschenke finanzieller und wirtschaftlicher Natur. Das erweckt nicht gerade den Anschein eines weiteren Konflikts zwischen den Erbverbündeten. Zu Konfliktzeiten hat Moskau den Geldhahn zugedreht. 

    Vermutlich konnte Lukaschenko seinem Moskauer Gegenüber bislang überzeugend vermitteln, dass Belarus besser als Aufmarschgebiet, Truppenübungsplatz und Lieferant dringend nötiger Produkte dienen kann, anstatt die belarussischen Spezialeinsatzkräfte (andere kampfbereite Einheiten gibt es kaum) an der ukrainischen Front in Hackfleisch zu verwandeln. Und außerdem, lieber Wolodja, schützen wir deine Spezialoperation davor, dass das niederträchtige NATO-Messer im Rücken landet! Ein Kriegseintritt, ganz ehrlich, könnte auch die innenpolitische Situation auf unserer kleinen Insel der Stabilität kippen lassen. 

    Natürlich kann Putin, dessen Rationalismuslevel viele Analytiker bis zum 24. Februar 2022 stark überschätzten, diese Argumente jederzeit vom Tisch wischen und seinem Verbündeten sagen: Nein, Bruder, genug der Umschweife und genug im Hinterland herumgedrückt! Wir gehen gemeinsam in die entscheidende Schlacht! Und Lukaschenko hat immer weniger Ressourcen, sich dem imperialen Draufgänger zu widersetzen. 

    Der Opposition fehlen starke Hebel, dem Regime die Manövrierfähigkeit

    Auch die politische Opposition, die seit den Ereignissen 2020 ihre Geschäfte im Ausland führt, hat kaum Möglichkeiten, einen belarussischen Kriegseintritt abzuwenden. Von den Möglichkeiten, einen Regimewechsel zu bewirken, ganz zu schweigen. 

    Unter den Bedingungen der irrsinnigen Repressionen, in einer von unmäßiger Angst gezeichneten Gesellschaft, ist es unrealistisch, einen Partisanenkampf zu führen oder den Plan Peramoha [dt. Sieg] umzusetzen. Das gibt auch das Übergangskabinett von Swetlana Tichanowskaja zu. Das belarussische Freiwilligenkorps Kastus Kalinouski, das auf Kiews Seite kämpft, verspricht, später auch das eigene Land von der Diktatur zu befreien. Doch aus heutiger Sicht ist das eine poröse und nebulöse Perspektive.

    Dabei ist offensichtlich, dass das Kalinouski-Korps nicht nur die belarussische Ehre auf dem Schlachtfeld gegen das Imperium rettet, sondern bereits zum politischen Phänomen geworden ist. Das Gerangel um die Sympathie des Korps (der politische Veteran Senon Posnjak will im Verbund mit dem Korps ein neues Zentrum der Opposition, den „Sicherheitsrat“, gründen) droht die Spannungen in der politischen Emigration nur zu vergrößern. Kiew seinerseits spielt mit dem Korps und ignoriert Tichanowskaja faktisch. Lukaschenko wiederum versucht diese Realpolitik der ukrainischen Regierung auszunutzen, um sein eigenes Spiel mit ihr zu spielen (vor Kurzem ließ er versehentlich einen geheimen Nichtangriffspakt durchblicken). Doch auch der Kreml überwacht dieses Spiel und ließ dem gerissenen belarussischen Partner aus dem Mund des Außenministers Sergej Lawrow eine verdeckte Notiz zukommen. 

    Die Knute des Kreml, das Etikett des Ko-Aggressors, aber auch der politische Terror im eigenen Land (den der Führer nicht beenden mag), begrenzen die Manövrierfähigkeit des Minsker Regimes in Richtung Westen. Wenngleich einige in Europa (erwähnt sei hier der kürzliche Besuch des ungarischen Außenministers Péter Szijjártó in Minsk) eine Sondierung des Feldes nicht ablehnen. Doch die Zeiten, in denen Lukaschenko die geopolitische Schaukel flott anschob, sind vorbei. Die Schwelle zum Westen liegt für den toxischen belarussischen Regenten momentan außerordentlich hoch. 

    Der Kriegsausgang kann ein Fenster für Veränderungen öffnen

    Wenngleich dieser Krieg für viele unerwartet hereingebrochen ist, nähert sich Lukaschenkos langjähriges Spiel mit dem Imperium einem vorhersehbaren Finale. Er hat sich im imperialen Casino glattweg verzockt. Der Krieg wurde dabei zu einem mächtigen Katalysator für den zerstörerischen Prozess der schleichenden Einverleibung, vergrößerte die Kluft zwischen dem belarussischen Zarenregime und der demokratischen Welt.

    Darüber hinaus hat die Reputation der Belarussen, deren Image durch die starken Proteste 2020 aufgewertet worden war, stark gelitten, das Verhältnis der Ukrainer zu ihnen hat sich verschlechtert, im Ausland ist Diskriminierung zu beobachten. Dank verdienen Tichanowskajas Team und andere demokratische Kräfte, die zeigen, dass Lukaschenkos Regime nicht mit dem belarussischen Volk gleichzusetzen ist. 

    Der Herrscher aber, auch wenn ihn wohl das Gespenst von Den Haag plagt, beweist auch in der aktuellen Situation der höheren Gewalt virtuosen Einfallsreichtum. Sollte Putins Regime durch eine Niederlage in der Ukraine ins Wanken geraten, wird sein Verbündeter wohl versuchen, sich so weit wie möglich von der leckgeschlagenen russischen Titanic zu entfernen. Ein Sieg der Ukraine würde auch ein Fenster für einen Regimewechsel in Belarus eröffnen. Denn das Regime stützt sich nur auf zwei Dinge – die schrecklichen Repressionen und Moskau. Wird Moskau schwächer, leiden auch die Ressourcen der belarussischen Diktatur. 

    Doch der Ausgang dieses Krieges ist bislang schwer vorhersehbar. Das erste blutige Jahr hat geendet, das zweite verspricht bislang, nicht weniger blutig zu werden.

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  • „Was gibt es denn hier schon zu fotografieren?“

    „Was gibt es denn hier schon zu fotografieren?“

    „In Belarus, meinem Heimatland“, sagt Alexandra Soldatova, „lieben es die Menschen, wenn alles ordentlich, sauber und schön aussieht.“ Die Fotografin und Künstlerin beschloss, sich auf die Suche nach den Ursprüngen dieser Tatsache zu machen. Sie begann, durch die belarussische Provinz zu reisen. Zwei Jahre hat diese Reise schließlich gedauert. Dabei stieß sie auf Bushaltestellen und Findlinge, die offenbar von lokalen Bewohnern mit Blumen, Tieren oder mit Frühlingsszenen bemalt worden waren. So entstand das Fotoprojekt It must be beautiful

    Wir haben Alexandra Soldatova zu diesem Projekt befragt. Zudem zeigen wir eine Auswahl an Bildern.

    Fotos © Alexandra Soldatova
    Fotos © Alexandra Soldatova

    dekoder: Worum geht es in dem Projekt It must be beautiful?

    Alexandra Soldatova: Die Straßen in der Peripherie des Landes sind typische Un-Orte, einerseits interessieren sie niemanden, andererseits gehören sie formal jemandem, der dort für Ordnung, Instandhaltung, Pflege sorgen muss. Kurz gesagt, in diesem Projekt geht es darum, wie die allgemeinen Gewohnheiten und die Mentalität der Belarussen Ausdruck finden in kollektiver naiver Kunst. Diese Kunst entsteht an Orten, die für mich eine Metapher für Belarus als Land auf der Karte des modernen Europa darstellen,  – eine Kreuzung, ein Begegnungsort für Fremde aus verschiedenen Kulturen und Traditionen.

    Wie ist die Idee zum Projekt entstanden?

    2012 fuhr ich in die Oblast Witebsk und fotografierte beim staatlichen Erntefestival Doshinki. Diese große Feier ist sehr beliebt bei den offiziellen  Landesvertretern. Zunächst wusste ich nicht so recht, was ich dort konkret tun und fotografieren würde. Und wie zu erwarten, war es eine sehr seltsame Kombination aus Mähdrescherfahrern in strengen, schwarzen Anzügen, einer aus Würsten gelegten Karte des Landes, tanzenden Kindern und einer großen Zahl Menschen, die Essen und Getränke zu ergattern versuchten. Solche Feste findet man tatsächlich in vielen Ländern, mit gewisser Variation im nationalen Kolorit.

    Wirklich fasziniert haben mich damals die frischgestrichenen, rosafarbenen Hausfassaden an der Hauptstraße. Auch die Straße, die in die Kleinstadt führte, war „frisch zurechtgemacht“, die Haltestellen waren geputzt, die Abfalleimer sorgfältig gestrichen, und an einigen Stellen waren Skulpturen aus Stroh aufgestellt worden. Damals begann ich, Haltstellen zu fotografieren, und wenn mich Leute fragten, warum ich sie fotografiere, antwortete ich: „Weil es schön ist.“

    Findet man diese bemalten Bushaltestellen im ganzen Land?

    Wie ich später herausfand, stammten einige Malereien noch aus den 1980er Jahren, sie blieben an den alten Haltestellen erhalten – die waren aus Beton. Im Umland von Minsk und anderen großen Städten sind diese Haltestellen schon vor langer Zeit gegen moderne Varianten aus Metall oder Kunststoff ausgetauscht worden. Die Blumen- und Tiermotive, die mich interessieren, findet man eher in der Peripherie von Belarus, sodass ich einige Zeit im Auto verbringen musste – aber das hat mir Spaß gemacht.

    Zuerst fuhr ich ein paar Landstraßen ab, die zu den Orten führen, an denen schon einmal Doshinki stattgefunden haben. Später gab es einige Zufallsfunde während touristischer Ausflüge mit der Familie. Und bis heute bekomme ich noch Tipps von Freunden, wo etwas zu finden ist.

    Was erzählen uns diese Objekte vom Leben in der belarussischen Provinz und den ästhetischen Vorlieben, die Umgebung zu schmücken?

    Einerseits neigen die Belarussen dazu, auch die kleinste Sehenswürdigkeit herauszustellen, da unser Land auf dem Gebiet an einer historischen Wegkreuzung liegt und viele Male zerstört worden ist. Heute müssen wir tatsächlich um alles kämpfen, was Aufmerksamkeit weckt.

    Andererseits gibt es in der Provinz nicht gerade viele Museen, Kulturveranstaltungen und Ausdrucksmöglichkeiten, den Menschen ist es aber wichtig, wie andere sie sehen. Wenn Sie in ein belarussisches Dorf kommen, wird man mit aller Kraft versuchen, Ihnen „irgendetwas Schönes“ zu zeigen. So entstehen rosafarbene Gartenzäune, Palmen aus Bierflaschen und Schwäne aus Reifen. 

    Die Malereien an den Haltestellen und auf Findlingen sind vermutlich auf ähnliche Weise entstanden. Jemand in der Institution, die für die Straße zuständig war, wollte wohl, dass es in seinem Abschnitt schön aussieht. Dann setzte es der angestellte Dorfkünstler oder ein Mitarbeiter, der malen konnte, so um, wie er es selbst für schön hielt. Und das geschah häufig, in ganz verschiedenen Gebieten des Landes. Die in gewisser Art naiven Malereien haben keinen gemeinsamen Autor oder eine Gruppe, die das konzipiert hat, und doch ähneln sie sich im Stil. In gewisser Weise sind diese Malereien ein Produkt des Kulturraumes. Und aus diesem Grund fotografiere ich sie.

    Haben Sie jemals einen der Menschen getroffen, die eine Haltestelle bemalt haben?

    Ich hatte keine Gelegenheit, die Künstler oder wenigstens die Restauratoren der Bilder zu treffen. Die wenigen lokalen Bewohner, die ich beim Warten auf den Bus antreffe, gehen in der Regel zur Seite, nicken verständnisvoll und sagen: „Richtig, fotografieren Sie nur, hier ist es schön“. Das ist sehr ungewöhnlich für Belarus, denn wenn ich eine Straße oder ein Feld fotografiere, höre ich meistens die Frage: „Was gibt es denn hier schon zu fotografieren?“ Aber hier haben sich die Leute vorwiegend gefreut, dass ich gerade diesen Ort ausgewählt hatte. 

    Wie sind Sie fotografisch an das Projekt herangegangen?

    Aus fotografischer Sicht war It must be beautiful ein unkompliziertes Projekt. Die Aufnahmen sind maximal ruhig, klassische Landschaft mit einem Objekt darin. Ich verwende ein mittleres Format, eine große Kamera, mit der man nicht schnell fotografieren kann und die dazu einlädt, das Bild aufmerksam zu betrachten. In den meisten Fällen fügen sich die Malereien an den Haltestellen oder Findlingen scheinbar fließend in die umgebende Landschaft ein, werden ein Teil von ihr, heben sich aber gleichzeitig auch von ihr ab. Natürlich suche ich solche Wechselbeziehungen, doch wichtiger für mich ist das Phänomen festzuhalten, da in der heutigen Zeit solche Dinge sehr schnell und unbemerkt verschwinden können.

    Wie reagieren Ausstellungsbesucher auf Ihr Projekt?

    Dieses Projekt wurde in vielen Ländern gezeigt, aber ich hatte keine einzige Offline-Ausstellung in Belarus, daher kann ich nicht sicher sagen, wie die normalen Leute reagieren würden. Ich kann nur vermuten, dass sich das wohl nicht so sehr von der Reaktion der Leute in Deutschland, England oder Russland unterscheiden würde, wo wir das Projekt gezeigt haben. Der eine findet es ungewöhnlich, irgendetwas überraschend treffend, jemand hält die Verschönerung der Landschaft für überflüssig, und ich freue mich jedes Mal, wenn jemand über meine Fotografien sagt: „Das ist schön“.

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