Jetzt also aufatmen? Am Freitag vergangener Woche noch hatten die USA die NATO-Länder gewarnt, es gebe konkrete Kriegspläne Russlands, ein Angriff auf die Ukraine sei für Mittwoch, 16. Februar geplant – den der ukrainische Präsident Selensky prompt zum nationalen Feiertag erklärte. Die USA verlegten ihre Botschaft von Kiew nach Lwiw in der Westukraine, zahlreiche NATO-Länder, darunter auch Deutschland, forderten ihre Landsleute auf, die Ukraine zu verlassen.
Das Vorgehen löste eine Debatte aus, welche Strategie hinter solchen öffentlichen Warnungen der US-Geheimdienste steckt. Sollte es darum gehen, mit der Warnung vor einem Krieg eben diesen zu verhindern? Und ist die Strategie nun aufgegangen? Schon am Dienstag, noch vor dem Treffen von Bundeskanzler Olaf Scholz und Wladimir Putin in Moskau, gab es Entspannungssignale: Der russische Außenminister Lawrow sagte, man wolle Gespräche mit den USA und der NATO fortführen. Später, auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Scholz, betonte Putin, Russland sei „bereit, den Weg der Verhandlungen zu gehen“. Alles wieder gut also? Oder wird die russische militärische Bedrohung der Ukraine den Westen noch lange beschäftigen?
Alexander Baunow kommentiert auf Carnegie.ru das Vorgehen der USA und Russlands sowie die (vermeintliche) Entspannung.
Die Ankündigung eines fremden Krieges – für Biden war das eine günstige Strategie. Sollte es Krieg geben, hätte er Recht gehabt – wenn nicht, dann hat er Putin gestoppt. Gestoppt, ohne Zugeständnisse in prinzipiellen Fragen und – was für ihn wichtig ist – in Geschlossenheit mit den Verbündeten, im Namen des Westens als politisches Ganzes.
Es wäre falsch daraus zu schließen, dass es ihm gleichgültig wäre, ob Putin nun einmarschiert oder nicht. Wenn du einen Krieg gestoppt hast, bist du stark. Wenn nicht, bist du nicht stark genug. Wenn nun Russland in die Ukraine einmarschiert, wäre die Reaktion, die sich der Westen erlauben kann, für viele ungenügend und inadäquat für ein solch extremes Ereignis. Doch wenn Russland nicht einmarschiert, wird der Westen stark aussehen – er ist also in der Lage, einen Aggressor aufzuhalten. Das ist einer der Gründe dafür, warum mit solcher Überzeugung von einer unabwendbaren Aggression gesprochen wurde. Je unabwendbarer, desto ruhmreicher ein beliebiger anderer Ausgang.
Biden als Leader eines geeinten Westens
Eine Invasion scheint für den Westen tatsächlich wahrscheinlich. Und das betrifft nicht nur die plaktativen Schlagzeilen der Boulevardmedien, über die man sich ironisch äußern kann bis zum Abwinken. Aber die führenden Köpfe einflussreicher Staaten sind keine Boulevardblätter, sie mögen es nicht besonders, wenn man sich ironisch über sie erhebt, sie reißen sich nicht darum, zum Lacher zu werden. Doch genau das wäre die Wirkung der ungewöhnlich intensiven diplomatischen Aktivität und der nie gehörten Besorgtheit im Ton der Erklärungen, gäbe es dafür jenseits der Boulevard-Schlagzeilen keine ernste Grundlage.
Ein globales Spektakel von diesem Ausmaß mit dem Ziel Russland zu diffamieren, kann man sich nur schwer vorstellen. Denn auch Vertreter Frankreichs und Deutschlands sind mit von der Partie – und die reißen sich gewöhnlich nicht darum, Russland einfach so in ein schlechtes Licht zu rücken. Für die, die wollen, finden sich zahlreiche andere Gründe, von dem mittlerweile halb in Vergessenheit geratenen Nawalny bis hin zu neuen Cyberattacken.
Ähnliche stark war die mediale und politische Nervosität zum letzten Mal vor dem Einmarsch der amerikanischen Koalition in den Irak, allerdings waren seinerzeit die Vereinigten Staaten erst kurz zuvor Opfer des größten Terroranschlags der Weltgeschichte geworden. Frankreich und Deutschland gingen ihren eigenen Weg. Diesmal haben sich die vier Mächte – USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland – vielleicht nicht in einer Reihe aufgestellt, doch dafür als Gruppe gebündelt, mit Blick in dieselbe Richtung.
Für Biden ist es wichtig, nicht als einsamer Alarmist dazustehen, erst recht nicht als Mitschuldiger an der Eskalation, sondern als Leader eines geeinten Westens. Die geteilte Besorgtheit und die Zusammenarbeit mit anderen westlichen Staatschefs schützen ihn vor Anschuldigungen, falls sich die Aufregung als unbegründet herausstellt.
Truppenkonzentration als Instrument harter Diplomatie
Es ist durchaus denkbar, dass Moskau tatsächlich zu irgendeinem Zeitpunkt ein gewaltsames Vorgehen der Ukraine [im Donbass – dek] befürchtet hat – ermutigt durch den Wahlsieg Bidens, die aserbaidshanische Operation zur Rückholung Bergkarabachs, neue Waffen und so weiter. Als abschreckendes Signal wurden dann im vergangenen Frühling Truppen zusammengezogen und Richtung Ukraine geschickt.
Daraufhin stellte sich heraus, dass ein Zusammenziehen von Truppen Richtung Ukraine als Instrument harter Diplomatie funktioniert. Es kam zu einer Reihe intensiver, nicht geplanter Kontakte zwischen der neuen amerikanischen Regierung mit dem Kreml und einem Gipfeltreffen der Präsidenten, das andernfalls womöglich noch lange auf sich hätte warten lassen. Überhaupt rückte Russland vom Rand ins Zentrum der Agenda der neuen [Biden-]Administration.
Nachdem der Kreml mit der moderaten und kurzfristigen Konzentration von Truppen moderate Ergebnisse erzielt hatte, beschloss er den Wirkungsgrad dieses Instruments zu maximieren. Schon lange hatte Russland eine Beschwerdeliste angelegt, auf die der Westen in keiner Weise reagierte, ja, die er sogar als uninteressant und offensichtlich perspektivlos abtat. Und siehe da, es hatte sich ein Mittel gefunden, sodass er doch reagierte: Truppen in direkter Nähe zur Ukraine in einer solchen Menge und Zusammensetzung, dass es die Militärs für die Vorbereitung einer Invasion hielten.
Marschbereitschaft und Feldzug unterscheiden sich darin, dass beim ersten noch niemand irgendwohin marschiert und das auch nicht unbedingt tun muss. Doch fordert der Einsatz solch extremer Instrumente auch beeindruckende Ergebnisse. Wird die Bedrohung zurückgenommen, ohne dass überzeugende Ergebnisse erzielt wurden, bedeutet das, dass die Androhung von Gewalt als Druckmittel beim nächsten Mal nicht funktionieren wird. Deswegen muss es entweder zur Gewaltanwendung kommen oder es müssen beeindruckende Ergebnisse präsentiert werden. Oder man muss versuchen, mit den erreichten Ergebnissen zu beeindrucken. Bislang sind ein solches Ergebnis – abgesehen von der Wiederaufnahme einiger Themen: die einzigartig intensiven diplomatischen Kontakte.
Jetzt also aufatmen?
Ohne ein umfassendes diplomatisches Ergebnis und ohne den Entschluss zum gewaltsamen Vorgehen ist es nicht ausgeschlossen, dass Russland die Marschbereitschaft der Armee nahe der ukrainischen Grenze in eine ständige oder regelmäßig reaktivierbare Bedrohung verwandelt. Die würde der Ukraine mehr Schaden bringen als die westliche Hilfe Vorteile verschafft. Der Westen wird dadurch ebenfalls in Anspannung gehalten, sodass die Ukraine und der Westen letztlich zu größeren Kompromissen bereit sein könnten. Wenn nicht mit dem Schwert, dann also durch Zermürben.
Rund 30.000 Soldaten aus Russland nehmen laut Kalkulationen der NATO an dem Militärmanöver mit Namen Entschlossenheit der Union 2022 teil, das noch bis zum 20. Februar in Belarus stattfindet. Eine für ein Manöver ungewöhnlich hohe Zahl an Kampftruppen, die sogar aus dem Fernen Osten Russlands verlegt wurden. Dazu Luftabwehrsysteme, Raketen, die mit Atomwaffen bestückt werden können, und Kampfjets. Die russische Führung bestätigte, dass die Übung an fünf Orten im Nachbarland abgehalten wird, betonte aber, dass man sich in Bezug auf die Truppenstärke an die internationalen Vorgaben halten werde. Diese erlauben maximal 13.000 Soldaten. Internationale Militärexperten und Kritiker äußern Sorge darüber, dass der Kreml Belarus als Aufmarschgebiet für eine etwaige Invasion der Ukraine nutzen könnte. So wurde ein großes russisches Militärlager in der Nähe der Stadt Retschiza errichtet, rund 50 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. In Belarus wird mitunter befürchtet, dass die russischen Truppen auch nach der Übung im Land stationiert bleiben könnten. Eine Angst, die Alexander Lukaschenko zu zerstreuen versuchte, indem er sagte, dass die russischen Truppen nach Ende des Manövers das Land verlassen würden. Den Abzug würde er zusammen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin entscheiden. Für Ende der Woche ist ein Treffen der beiden Staatsführer angekündigt.
Der belarussische Politikanalyst Artyom Shraibman setzt sich in seinem Stück für die russische Online-Plattform Carnegie.ru mit möglichen politischen Konsequenzen des Manövers für Belarus auseinander. Dabei fragt er auch, welche Rolle die Staatsführung um Lukaschenko für den Kreml spielen würde, falls es zu einem Krieg kommen sollte.
Für das Regime in Belarus sind zwei extreme Szenarien unangenehm, die sich im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen ergeben könnten: ein Krieg und ein Waffenstillstand. Käme es zum Krieg, wäre man zu riskanten und wohl auch selbstzerstörerischen Zugeständnissen an den Kreml genötigt. Im zweiten Fall würde es schwierig werden, im Kreml Interesse für die zur Schau getragene antiwestliche Haltung zu wecken. Um die USA zu Zugeständnissen bezüglich der Sicherheitsgarantien zu bewegen, hat Moskau eine reale Drohkulisse für die Ukraine geschaffen, indem das Land von allen Seiten mit Truppen umstellt wird. Eine der Fronten dieser militärischen Diplomatie ist mittlerweile das Staatsgebiet von Belarus.
Vom Friedensstifter zum Vorposten
Alexander Lukaschenko fällt in diesem Geschehen nicht einfach nur die Rolle eines Statisten zu, sondern vorgeblich die des Initiators dieser Manöver, die bis zum 20. Februar in Belarus stattfinden. Er hatte als erster bereits Anfang Dezember von den bevorstehenden außerplanmäßigen Manövern gesprochen. Anschließend unterstrich er bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass er selbst die russischen Streitkräfte eingeladen habe. Man müsse die Verteidigung der Südflanke üben, da von der Ukraine eine Gefahr ausgehe. Bereits vor ihrem Beginn haben die Manöver die neue Rolle von Belarus in der Region verdeutlicht und auch den Kontrast zu den Träumen von einer osteuropäischen Schweiz, von denen die belarussische Regierung vor ein paar Jahren noch sprach.
Bis 2020 hatte Lukaschenko die Verschärfung der Krise zwischen Russland und dem Westen ausgenutzt. Minsk balancierte zwischen den beiden Seiten, indem es für die eine Seite Risiken feilbot und der anderen Seite Möglichkeiten offerierte. 2020 brach dann der westliche Vektor ab, und Minsk hat jetzt weder Raum für diplomatische Schachzüge noch eine Wahl, wie es sich im Falle einer Eskalation in der Region verhalten kann. Ein neuer Versuch, sich von Moskau zu distanzieren, würde im Westen wohl kaum honoriert werden, in Russland träfe er, milde gesagt, auf Unverständnis.
Unter Experten und Politikern gab es viele Jahre Diskussionen darüber, wie autonom Lukaschenko sein werde, wenn sich die Gefahr eines echten Krieges abzeichnet: Folgt er gehorsam dem Willen des Kreml oder geht er in Widerstand, um seine Souveränität zu bewahren und sie allen zur Schau zu stellen? Anfang 2022 begann nun ein Experiment, das diese Debatte – und sei es vorübergehend – zugunsten der ersten These entscheidet. Niemand fragt sich jetzt noch, als was das belarussische Territorium zu betrachten ist: Es ist jetzt ganz und gar russisches Aufmarschgebiet. Und der Grad an Bedrohung von Seiten des belarussischen Hofes wird allein von einer Variablen bestimmt: ob der Kreml einen Krieg will.
Lukaschenkos undankbare Rolle in dem Spiel
Lukaschenko hat sich derweil keineswegs verändert. Es missfällt ihm, dass er nicht mehr als Herr der Lage im eigenen Land wahrgenommen wird. Es verletzt ihn allein schon der Gedanke, dass sowohl Kräfte im Ausland als auch die eigene Nomenklatura in ihm einen Vasallen Russlands und nicht des belarussischen Souveräns erkennen. Das ist schon an Kleinigkeiten erkennbar. Bei einer Sitzung mit den Silowiki fängt er plötzlich an, in Abwesenheit, aber sehr ausgiebig mit dem Anführer der vorletzten Oppositionsgeneration Senon Posnjak, zu streiten. Er argumentierte dabei, dass das derzeitige Regime keine Besatzung des Landes zulassen werde, woher die Gefahr auch kommen möge.
Washington versteht diesen Charakterzug Lukaschenkos und ärgert ihn damit, dass es durch einen ungenannten Mitarbeiter des Außenministeriums erklären lässt, der belarussische Diktator habe allem Anschein nach die Situation nicht mehr im Griff. Und: Wenn sich Minsk in einen Krieg mit der Ukraine verstricken würde, könne das zu einer Spaltung der belarussischen Eliten führen. Das sieht nicht nach dem Wunsch aus, Lukaschenko in die Schranken zu weisen, sondern eher nach einem Versuch, die manipulativen Spekulationen des Gegners zu durchkreuzen und Lukaschenko zu Selbständigkeit zu ermutigen. Parallel drohen die USA Minsk mit neuen Sanktionen wegen der möglichen Beteiligung an einer russischen Aggression gegen die Ukraine. Das ist keine leere Drohung: Wegen der geringen Bedeutung von Belarus für die Weltwirtschaft und einer Reihe bereits verhängter Sanktionspakete wäre es politisch einfacher, Sanktionen gegen Belarus auf ein iranisches Niveau zu schrauben als in gleicher Weise gegen Russland vorzugehen.
All diese Umstände, die Lukaschenko vielleicht erzürnen mögen, können jedoch nichts an einer weit unangenehmeren Tatsache ändern: Falls sich die Lage in der Region bis zum Äußersten eskaliert, dürfte der Kreml seine Pläne für das Territorium von Belarus nicht davon abhängig machen, was Lukaschenko dazu sagt.
Weder Krieg noch Frieden
Die Wahrscheinlichkeit eines echten Krieges in der Region abzuschätzen, ist eine undankbare Aufgabe. Doch selbst wenn es dazu kommen sollte, wird die belarussische Armee wohl kaum unmittelbar daran beteiligt sein. Die Ausnahme wäre hier, wenn es zu einem vollkommen apokalyptischen Szenario käme, bei dem die russischen Angriffe gegen die Ukraine von belarussischem Territorium aus geführt werden, und es als Antwort der Ukraine zu Raketenbeschuss und Sabotageaktionen kommt, von denen belarussische Militärangehörige oder Zivilisten betroffen wären.
Auf eigene Faust wird Lukaschenko in dem Konflikt sicherlich keine belarussischen Truppen einsetzen. Darauf ist Moskau aus militärischer Sicht nicht sonderlich angewiesen, doch gibt es gewichtige politische Gründe. All die 27 Jahre an der Macht hatte Lukaschenko seinen Wählern Ruhe und Frieden als wichtigste Leistung versprochen, die alle anderen Entbehrungen und Probleme rechtfertigt. Eine Beteiligung an einem Krieg, insbesondere gegen die Ukraine, wäre selbst einem beträchtlichen Teil der Anhänger Lukaschenkos schwer zu erklären, und den übrigen Belarussen umso schwerer. Lukaschenko ist mittlerweile ohnehin zu weit vom Höhepunkt seiner Legitimität entfernt, um sein wichtigstes politisches Kapital zu riskieren, nämlich den Frieden seiner loyalen Wähler.
Lukaschenkos jüngster Ansprache an das Volk und das Parlament zufolge ist ihm das sehr wohl bewusst. In seiner Rede fand sich viel militaristische Rhetorik, doch erklärte er auch auf die Frage einer Frau aus dem Saal, ob ihre Söhne im Ausland würden kämpfen müssen, dass die belarussische Armee dazu da sei, das Land auf dem eigenen Territorium zu verteidigen. „Wenn sie kommen, um uns umzubringen, werden wir uns volle Pulle wehren, auf unserem, wie auf fremdem Territorium. Von uns wird niemals ein Krieg ausgehen“, fügte er hinzu. Bei einer solchen Veranstaltung gibt es keine Fragen, die nicht vorab genehmigt wären, also wollte die Regierung, dass Lukaschenko die Gelegenheit für eine solche Antwort hat, um die zunehmenden Ängste in der Gesellschaft zu zerstreuen.
Die Grauzone dieses gelenkten Konflikts ist ideal, um Moskau ohne größere Verluste seine rhetorische Loyalität zu verkaufen. Falls der Konflikt zwischen Russland und den USA ohne Krieg, aber auch ohne einen Frieden gelöst wird, wenn also die Differenzen diplomatisch breitgeredet werden, könnte Lukaschenko daraus sogar Kapital schlagen. Für das Verhältnis von Minsk zum Westen würde das allerdings nichts Neues bedeuten. Die Hoffnungen auf eine Autonomie Lukaschenkos sind eh zerstoben, und dieser Ansehensverlust lässt sich in absehbarer Zukunft nicht korrigieren.
Im Verhältnis zu Moskau würde Lukaschenko allerdings zu einem Verbündeten, der in einem wichtigen Moment seine Pflicht in einem Bereich erfüllt hat, der für den Kreml von sakraler Bedeutung ist, nämlich bei der Sicherheit. Sollte das für Moskau nicht ein Anlass sein, bei den nächsten Kreditverhandlungen etwas großzügiger zu sein?
Gerät Tschetschenien außer Kontrolle? Das zunehmend aggressive Vorgehen von Republikchef Ramsan Kadyrow gegen seine Kritiker beherrscht derzeit die Schlagzeilen in unabhängigen russischen Medien. Den ehemaligen Richter Sajdi Jangulbajew und dessen Familie hat Kadyrow zu „Terroristen“ erklärt. Er sieht die beiden Söhne als Verаntwortliche hinter einem regimekritischen Telegram-Kanal.
Als „Terrorist“ bezeichnete Kadyrow außerdem auch den Menschenrechtler Igor Kaljapin, der die Familie nach der Flucht nach Nishni Nowgorod unterstützt hatte, und auch die Journalistin Elena Milashina. Milashina, die nach der 2006 ermordeten Anna Politkowskaja für die Novaya Gazeta über Tschetschenien berichtet, hat Russland aus Sicherheitsgründen nun verlassen. Zuletzt hatte sie in einer Recherche aufgedeckt, wie sich das tschetschenische Regime durch mehrere regimekritische Telegram-Kanäle herausgefordert fühle: Diese seien der „Feind Nummer 1“, den Kadyrow nicht mehr kontrollieren könne, schreibt Milashina.
Der tschetschenische Politiker Adam Delimchanow kündigte nun auf Tschetschenisch an, die Familie des in Misskredit geratenen Jangulbajew zu köpfen und drohte auch jenen, die seine Worte ins Russische übersetzen würden, mit „Feindschaft und Blutrache“. Delimchanow ist Mitglied der russischen Staatsduma und laut Medienberichten Cousin Kadyrows. Kreml-Sprecher Peskow jedoch fühlte sich nicht zuständig, die Äußerungen zu kommentieren, sondern verwies auf die Ethikkommission der Duma. Das Schweigen des Kreml zum Wüten Kadyrows lässt viele befürchten, dass Moskau jede Kontrolle über das tschetschenische Regime verloren hat. Dabei besorgt das Treiben Kadyrows viele, davon zeugt auch die Petition „Kadyrow soll zurücktreten“, die Oppositionspolitiker Ilja Jaschin startete und die bislang rund 195.000 Unterzeichner hat (Stand: 11.02.2022).
Seit dem Zweiten Tschetschenienkrieg (1999–2009) stufen Beobachter die islamische Teilrepublik Tschetschenien im russischen Nordkaukasus zunehmend als Staat im Staat ein, in dem das Moskauer Gewaltmonopol vielfach unwirksam sei. Auf Snob erklärt Konstantin Eggert, warum Putin auch jetzt in Tschetschenien ziemlich machtlos ist.
„Cops aus Texas stürmen in Chicago das Haus eines Bundesrichters und entführen seine Frau nach Dallas. Der Gouverneur von Texas kündigt an, jeden kalt zu machen, der den Bewohnern seines Bundesstaats etwas antut. Das Weiße Haus zieht vor, dem Ganzen keinen Glauben zu schenken.“
Dieses traurige Meme tauchte im Netz auf, fast unmittelbar nach der Nachricht, dass Sarema Mussajewa von der tschetschenischen Polizei entführt worden war. Die Ehefrau von Sajdi Jangulbajew, einem ehemaligen Richter am Obersten Gericht Tschetscheniens, wurde gewaltsam von Nishni Nowgorod nach Grosny gebracht. Es folgte eine nicht sehr überzeugende Anklage wegen Betrugs, sie bekam zwei Monate Haft. Die Söhne von Jangulbajew und Mussajewa sind dem tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow mit öffentlicher Kritik auf den Schlips getreten. Er behauptet, die Brüder Jangulbajew betrieben einen Telegram-Kanal, der die Vorgänge in Tschetschenien und die Regierung „beschmutze“. Ein Cousin von Kadyrow, Adam Delimchanow, der als Abgeordneter in der russischen Staatsduma sitzt, hat öffentlich gedroht, Mitglieder der Familie Jangulbajew zu köpfen. Dasselbe haben auch andere führende Beamte Tschetscheniens angekündigt.
Ein Cousin Kadyrows, der als Abgeordneter in der russischen Staatsduma sitzt, hat öffentlich gedroht, Mitglieder der Familie Jangulbajew zu köpfen
Ein paar Tage später traf sich Wladimir Putin plötzlich mit Kadyrow, um sich – wie es im Kommuniqué hieß – einen Bericht über die sozial-ökonomische Entwicklung von Tschetschenien anzuhören. Dieser Anlass wirkt wenig glaubhaft. Es bleibt zu hoffen, dass die Diabetikerin Mussajewa nach Kadyrows Gespräch mit Putin doch noch unter einem geeigneten Vorwand aus der Haft entlassen wird und zu ihrer Familie fahren kann. Diese hat bereits das Land verlassen, ohne neue Probleme abzuwarten.
Wurzel dieses Problems ist ein Umstand, den Russland nicht offiziell zugeben kann
Die Probleme des Richters und seiner Familie können vielleicht durch Emigration gelöst werden, doch die Probleme Tschetscheniens – konkret die Machenschaften der tschetschenischen Regierung – lassen sich sich in absehbarer Zeit nicht aus der Welt schaffen. Die tschetschenischen Sicherheitskräfte handeln weiterhin außerhalb der russischen Verfassung und Gesetzgebung und verfolgen schon jetzt die Feinde von morgen.
Wurzel dieses Problems ist ein Umstand, den Russland nicht offiziell zugeben kann: Zu Beginn unseres Jahrhunderts hat die Föderalmacht den zweiten Krieg in Tschetschenien verloren. Wie das genau passiert ist, ist eigentlich auch klar: Die Familie des ehemaligen Muftis von Tschetschenien, Achmat Kadyrow, wechselte auf die Seite der russischen Zentralregierung und bekam im Gegenzug für die Gewährleistung von „Frieden und Stabilität“ (egal mit welchen Mitteln) die Republik zur freien Verfügung und eine fast vollständige staatliche Finanzierung. Verschiedenen Daten zufolge stammen mehr als 90 Prozent des Haushalts der Republik Tschetschenien aus zweckgebundenen Transfers aus dem föderalen russischen Staatshaushalt.
Dass ein solcher Zustand die Struktur des russischen Staates aushöhlt, versteht sich von selbst. Es führt zu Spannungen in anderen Regionen, die weniger Glück mit der Finanzierung haben. Es erzeugt innerhalb der Sicherheitskräfte die verschiedensten Stimmungen – von „Könnten wir doch nur auch so wie die Jungs in Tschetschenien!“ bis „Was erlauben sich die!“. Und schließlich fördert es die Feindseligkeit gegenüber dem Nordkaukasus unter jenen, die nicht die Muße haben, sich mit den Feinheiten von Politik und Geschichte zu befassen. Was wiederum sehr schlecht ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt eines zerfallenen Imperiums, das krankhaft nach einer neuen Identität sucht.
Die Entscheidung über diesen faktischen Sonderstatus der Republik Tschetschenien hat Wladimir Putin getroffen. Doch ihn zu ändern steht außerhalb seiner Macht, selbst wenn er es wollte. Zumal Kadyrow gegen jene kämpft, in denen auch der Kreml Feinde sieht – nämlich gegen die, die Korruption und Menschenrechtsverletzungen aufdecken. Also, solange Putin im Kreml ist, wird Kadyrow mit seiner Familie Tschetschenien regieren.
Die Entscheidung über den faktischen Sonderstatus der Republik Tschetschenien hat Wladimir Putin getroffen. Doch ihn zu ändern steht außerhalb seiner Macht
Doch Putins Zeit läuft irgendwann ab. In Russland wird es freie Parlamentswahlen geben, und gleich in der ersten Sitzung wird eine Abgeordnete aus Woronesh oder ein Abgeordneter aus Weliki Nowgorod das Wort ergreifen. Er oder sie wird fragen, warum die Woronesher oder Nowgoroder nicht genauso viel aus dem föderalen Haushalt überwiesen bekommen wie Tschetschenien? Das wird niemand schlüssig beantworten können. Weil man dann beginnen müsste, das ganze unter Putin aufgebaute Beziehungsgeflecht zwischen der Republik und dem föderalen Zentrum in Moskau zu demontieren. Sogar die legitimste und demokratischste Regierung wird hier vor jeglichen Maßnahmen zurückschrecken. Denn keiner kann die Folgen einschätzen, und wahrscheinlich wird keiner bereit sein, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Also werden sie versuchen, das Thema unter den Teppich zu kehren. Vielleicht sogar erfolgreich.
Leidtragende dabei sind die Bewohner Tschetscheniens, die unter modernem Recht leben wollen und nicht im Feudalismus. Von ihnen gibt es bestimmt viele. Auch für die Nachbarn Tschetscheniens ist es nicht leicht, für Inguschetien etwa.
Aber in nächster Zeit wird sich daran nichts ändern lassen. „Frieden in Tschetschenien“ ist genauso ein historisches Erbe Wladimir Putins wie „Krim nasch – die Krim gehört uns“. Damit müssen wir leben.
Am 27. Februar 2022 wird in Belarus ein Verfassungsreferendum stattfinden, von dem wohl nur die wenigsten glauben, dass es die präsidiale Macht Alexander Lukaschenkos entscheidend beschränken wird. Bei seiner alljährlichen „Rede an die Nationalversammlung und das belarussische Volk“, die Lukaschenko Ende Januar im Palast der Unabhängigkeit in Minsk hielt, schwörte der Autokrat die mehr als 2500 Parlamentarier, Politiker, Funktionäre und Gäste auch auf die anstehende Abstimmung und die zu erwartenden Änderungen im politischen System ein.
Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski hat sich die Rede für das Online-Medium Naviny.by genauestens angehört. In seinem Beitrag analysiert er, ob die Verfassungsreform überhaupt darauf ausgerichtet ist, Lukaschenkos eingeschlagenen Radikalisierungskurs einzudämmen und ob Opposition, Medien und Zivilgesellschaft entsprechend auf erleichterte Rahmenbedingungen hoffen können.
Seiner Rhetorik nach zu urteilen, sieht Lukaschenko die Lösung für die innenpolitische Krise und die gespaltene Gesellschaft in Belarus eindimensional: „Diese verrückten Unglaublichen“, wie er die Protestteilnehmer nannte, müssen sich der brutalen Gewalt des Regimes fügen.
Machtwechsel als Krankheit
Obwohl er Verfassungsänderungen immer als Demokratisierung bewarb, offenbarte sich seine tatsächliche Haltung zur Demokratie in der Aussage: „Wenn wir uns, so wie einige andere postsowjetische Staaten, dem Fieber der Machtwechsel ergäben [Hervorhebung des Autors], wenn wir ein politisches und ideologisches Zurückweichen zuließen, dann wäre ein unkontrollierbarer Sturzflug nicht mehr aufzuhalten.“ Also gilt der in Demokratien übliche Prozess des Machtwechsels als Anomalie, als Krankheit.
Der (aktuelle) Auftritt hat gezeigt, dass Lukaschenko nicht beabsichtigt, sein autoritäres System im Kern zu ändern. Das Publikum, das ihm zuhörte, bezeichnete er als Prototypen der zukünftigen Allbelarussischen Volksversammlung (WNS), an die er sich in Zukunft mit solchen Botschaften wenden wolle. Da stellt sich die Frage: War denn das Volk an der Zusammensetzung dieses Publikums beteiligt? Eine rhetorische Frage. Im Saal waren natürlich Beamte und erprobte Loyalisten versammelt, die eine breit aufgestellte Volksvertretung imitieren sollten. Ein Gesetz, das die Kompetenzen, den Entstehungsprozess und die Tätigkeiten der Allbelarussischen Volksversammlung festlegt, soll innerhalb eines Jahres nach dem Referendum verabschiedet werden. Man kann jedoch unschwer annehmen, dass dieses zu gründende Organ, das gemäß der neuen Verfassung mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet werden soll, auf genauso intransparente und volksferne Art zusammengeschustert wird.
Nie der richtige Zeitpunkt für den Rücktritt
Eigentlich geht es bei der Idee der Allbelarussischen Volksversammlung darum, die Bürger noch weiter vom Staat zu entfernen. Die aktuell regierende Elite will ein von den Willenserklärungen der Bevölkerung isoliertes politisches Konstrukt schaffen, das es ermöglicht, alle staatlichen Schlüsselfragen im intimen Kreis zu entscheiden. Wobei fast kein Zweifel besteht, dass Lukaschenko auch Vorsitzender der WNS sein wird (diese Option ist ausdrücklich in dem Verfassungsentwurf vorgesehen) und die beiden Ämter mindestens bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen 2025 zu behalten gedenkt.
Mit seiner Rede hat Lukaschenko zum wiederholten Mal thematisiert, wie lange er vorhat, im Amt zu bleiben. Und wieder ist er einer direkten Antwort ausgewichen: „Alles je nach Situation. Wenn sie uns einen Krieg anhängen – was soll es dann für Wahlen geben, wie soll ich da abdanken? Wenn’s sein muss, nehm ich eine MG, und gehe voran … Wenn alles ruhig bleibt, sei’s drum, wenn unser Volk friedlich lebt und sich entwickelt – jederzeit.“ Damit gibt Lukaschenko erstens de facto zu, dass die Lage in Belarus alles andere als stabil ist. Wenn er zweitens die unermüdliche Suche nach Feinden fortsetzt, die Dämonisierung der Opposition, der benachbarten NATO-Mitgliedsländer, der Ukraine und der USA, wenn er die Atmosphäre einer belagerten Burg weiter hochpeitscht (und speziell davon war seine Botschaft durchdrungen), dann wird er immer sagen können, jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt zu gehen.
Überhaupt strotzte Lukaschenkos gesamte Rede nur so von der Idee, er sei unersetzlich (oder gar von Gott erwählt). Als ob es ohne seine Entschlossenheit mit der MG in Händen im August 2020 am Höhepunkt der Proteste (die er Aufstand nennt) das Land gar nicht mehr gäbe: Die fünfte Kolonne hätte die Macht ergriffen und Belarus bereits dem Westen ausgeliefert (die NATO-Truppen „waren schon in Startposition“). Dieses Motiv – dass unter bedrohlichen Umständen ein erfahrener, starker Führer auf keinen Fall abdanken darf – wird er bestimmt weiter ausschlachten, zumal die Konfrontation mit dem Westen allem Anschein nach ernst werden und lang dauern wird. Und da eröffnet sich noch dazu die günstige Gelegenheit, dem Kreml zuzuspielen.
Echte Ideen zur Entwicklung fehlen dem Regime
Wobei die Redenschreiber sich offenbar bemüht haben, Ideen von Innovation und Entwicklung einzubauen, um den Redner nicht komplett rückschrittlich und reaktionär aussehen zu lassen. Allerdings mit wenig Erfolg. „Wir haben alle Möglichkeiten, Belarus zu einem sich dynamisch entwickelnden Land zu machen“, erklärte Lukaschenko. Doch hat er versucht eine Überarbeitung des Grundgesetzes, die das vom ersten Präsidenten geschaffene strenge und undemokratische System aufrechterhält, als politische Innovation zu verkaufen. Sogar in Bezug auf den kontrollierten Aufbau von Parteien (auf dessen Belebung sowohl der Kreml als auch ein Teil der Loyalisten gehofft hatten) verplapperte sich unser Staatsoberhaupt mit den Worten: „Wir werden diesen Prozess nicht forcieren.“
Desgleichen ließ er verlautbaren, dass in nächster Zeit ein Gesetz beschlossen werde, das definiert, was Zivilgesellschaft ist und was ihr Wesen, ihre Struktur ausmache. Doch die Formierung einer Zivilgesellschaft nach staatlichen Vorgaben ist per se Nonsens. Eine echte Zivilgesellschaft wächst von unten, auf Initiative der Bevölkerung. Noch dazu ist das wichtigste Ziel, wie ganz offen erklärt wurde, dass „die Basis der Zivilgesellschaft nicht schlafende Keimzellen nationaler Minderheiten werden, die 2020 das Land umstürzen wollten“. Mit anderen Worten, auf diesem durch die Repressionen verbrannten Feld sollen Attrappen geschaffen werden, GONGOs, die eine Zivilgesellschaft imitieren.
Kein Wort fiel zum Thema Wirtschaftsreformen. Im Gegenteil, Lukaschenko gab zu verstehen, dass er IT-ler und Unternehmer noch stärker in die Mangel nehmen kann – jene Berufsgruppen, die sich aktiv an den Protesten beteiligt hatten. Indessen sind es gerade diese fortschrittlichen Gesellschaftsschichten, die die Wirtschaft in Schwung bringen könnten. Aber wie wir sehen: Der Chef des Regimes will in erster Linie den Aufstand unterdrücken, wenn auch zum Schaden der wirtschaftlichen Entwicklung. Insofern sind Versprechungen dynamischer Transformationen schöne Worte und nichts dahinter. Faktisch opfert die Regierung, die um jeden Preis an der Macht bleiben will, die Entwicklung des Landes und versucht, jegliche Gegenstimmen in die Knie zu zwingen.
Am 2. Februar 2022 sprach die deutsche Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK) ein Sendeverbot für den Fernsehkanal RT DE aus. Am Tag darauf kündigte das russische Außenministerium „Gegenmaßnahmen“ an – die Schließung des Senders Deutsche Welle in Russland. Hintergründe dazu im Bystro von Daria Zakharova – in acht Fragen und Antworten.
1. Anfang Februar sprach die Rundfunkkommission ZAK ein Sendeverbot für RT DE aus. Wie hat alles angefangen?
RT DE war seit 2014 – zunächst unter dem Namen RT Deutsch – mit einer deutschsprachigen Newsseite und einzelnen Sendungen im Internet präsent. Im Sommer 2021 kündigte RT DE an, im deutschen Fernsehen senden zu wollen – und zwar über einen deutschsprachigen Kanal. Dazu – und auch für Live-Sendungen in Rundfunk, Fernsehen, Internet und in einer App – ist in Deutschland eine Sendelizenz nötig, das gilt für jedes Medium. Im Juni 2021 beantragte der Sender eine Sendelizenz in Luxemburg, der Antrag wurde jedoch abgelehnt. Die luxemburgische Medienaufsichtsbehörde verwies auf die Zuständigkeit Deutschlands, da man ja dort senden wolle. Daraufhin wandte sich RT DE an die Medienaufsicht in Serbien und erhielt im Dezember 2021 erfolgreich eine Sendelizenz. Unter Berufung auf diese serbische Genehmigung wollte RT DE den Sender in Deutschland betreiben: In der offiziellen Stellungnahme von RT DE heißt es, das Europäische Übereinkommen über den grenzüberschreitenden Rundfunk, das unter anderem auch von Deutschland und Serbien unterzeichnet wurde, gebe dem Sender das Recht, in beiden Ländern zu arbeiten.
2. Ende Dezember ging der Fernsehsender RT DE in Deutschland an den Start. Was geschah dann?
Bereits eine Woche nach dem Sendestart forderte die Medienanstalt Berlin-Brandenburg (MABB) den Satellitenbetreiber Eutelsat auf, die Ausstrahlung von RT DE einzustellen. Die MABB war der Ansicht, dass der Besitz einer serbischen Lizenz für RT DE eben „keine ausreichende Grundlage für die Ausstrahlung in Deutschland darstellt“, da der Produktionsstandort in Deutschland sei. Da es bei der Entscheidung um einen bundesweiten Sachverhalt ging, hat die Kommission zur Zulassung und Aufsicht (ZAK) den Fall geprüft und ihren Beschluss Anfang Februar mitgeteilt: RT DE muss sein Fernsehprogramm einstellen, und zwar über App, Internet und Satellit.
3. Nun hat RT DE aber eine serbische Lizenz – und verweist auf ein entsprechendes Abkommen zwischen Serbien und Deutschland. Warum hält die ZAK diese Lizenz nicht für ausreichend?
Die Rundfunkkommission ZAK geht davon aus, dass RT DE von Berlin aus sendet, wo es einen großen Standort mit mehr als 200 Mitarbeitern aufgebaut hat. Demnach müsste es eine deutsche Lizenz beantragen und diese innehaben, um senden zu dürfen. Da RT DE sein Impressum erst im Juni 2021 geändert hat und damals die Produktionsfirma in Berlin durch die TV Novosti in Moskau ersetzte, bestehen zumindest Zweifel am genauen Produktionsstandort.
RT DE wird zudem offiziell von der russischen Regierung finanziert. In Deutschland gilt aber das Prinzip der Staatsferne, das nach den Erfahrungen im Nationalsozialismus etabliert wurde: Laut Medienstaatsvertrag darf eine Zulassung nicht an staatliche Stellen im In- und Ausland gehen.
Sollte dieses Vorgehen über Serbien allerdings bewusst gewählt worden sein, um das im Medienstaatsvertrag geregelte Kriterium der Staatsferne zu umgehen, könnte es sich sogar um Rechtsmissbrauch handeln. RT DE widerspricht dem Umstand, vor allem aus Berlin-Adlershof zu senden, und hat nun die Möglichkeit, gerichtlich gegen die Entscheidung der ZAK vorzugehen.
4. Was genau sind denn die Unterschiede zwischen RT und der Deutschen Welle – die Sender sind doch beide aus Staatshaushalten finanziert?
Die Finanzierung beider Sender kommt jeweils aus dem Staatshaushalt, das ist richtig. Es gibt allerdings bedeutende strukturelle Unterschiede: Die Deutsche Welle ist kein staatlicher, sondern ein öffentlich-rechtlicher Auslandsssender, deswegen gibt es beispielsweise Aufsichtsgremien aus Zivilgesellschaft und Politik – während RT direkt dem Kreml unterstellt ist. Das hat Auswirkungen auf das operative Geschäft. Und es steht auch jeweils ein unterschiedliches journalistisches Selbstverständnis dahinter: RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan nannte RT in einem Interview mit lenta.ru von 2013 ein „Verteidigungsministerium“ des Kreml, „eine Waffe wie jede andere auch“. Die DW dagegen betont die journalistische Unabhängigkeit und Objektivität. Solche Unterschiede in der Haltung schlagen sich auch auf Inhalte nieder.
5. In Reaktion auf die Entscheidung hat Russland nun den deutschen Auslandssender Deutsche Welle verboten. Welche Sendemöglichkeiten genau hat die Deutsche Welle in Russland noch?
Laut der Pressemitteilung auf der Webseite des russischen Außenministeriums umfassen die Maßnahmen einen „Sendestopp der Deutschen Welle über Satellit und andere Mittel in der Russischen Föderation“, die „Annullierung der Akkreditierung für alle Mitarbeiter“ und die „Schließung der Korrespondentenstelle“ in Moskau. Zudem werde man prüfen, ob die Deutsche Welle die Funktion eines „ausländischen Agenten“ erfülle. Die Deutsche Welle hat kein russischsprachiges Satellitenprogramm, ein entsprechender Kanal ist nur per Stream und auf Youtube verfügbar. Allerdings werden die deutsch- und englischsprachigen Sendungen der Deutschen Welle von einigen russischen Satellitenbetreibern ausgestrahlt. Dies werden die Betreiber vermutlich einstellen. Auf ähnliche Weise wurde 2014 auf Druck des Kremls auch der unabhängige russische Fernsehsender Doshd vom Netz genommen.
6. Wie „symmetrisch“ sind diese Maßnahmen seitens Russlands?
Indem das russische Außenministerium die Schließung als „Gegenmaßnahme“ bezeichnet, legitimiert es RT DE gewissermaßen als Teil des russischen Staatsapparats. Wenn „Gegenmaßnahmen“ auf Ebene des Außenministeriums erfolgen, dann in der Regel im diplomatischen Bereich, etwa in Form von Ausweisung von Diplomaten, Gegensanktionen usw. Zweitens werden Journalisten von RT DE nicht daran gehindert, in Deutschland zu arbeiten – sie werden weiterhin an Veranstaltungen teilnehmen und vor Ort berichten können. Die Mitarbeiter der Deutschen Welle in Moskau dagegen verlieren ihre Akkreditierung – die in Russland notwendige Erlaubnis, um überhaupt als Journalisten zu arbeiten. Drittens wurde die Entscheidung in Deutschland von einer Regulierungsbehörde getroffen, in Russland jedoch von einem übergeordneten Ministerium. Viertens hatte RT DE tatsächlich keine deutsche Sendelizenz, während die Deutsche Welle seit 2015 ganz legal in Russland arbeitet. Und man darf auch den grundsätzlichen qualitativen Unterschied zwischen diesen beiden Sendern nicht vergessen: RT ist ein unmittelbar durch den Kreml finanzierter und kontrollierter Staatssender, während die Deutsche Welle, wie oben dargelegt, trotz staatlicher Finanzierung redaktionell unabhängig agiert.
7. Die RT-Journalistin Margo Zvereva sagte in der Pressekonferenz von Sergej Lawrow und Annalena Baerbock im Januar 2022 , dass russische Journalisten in Deutschland „massivem Druck und massiver Diskriminierung ausgesetzt“ seien. Ist das so?
RT DE hatte tatsächlich gewisse Probleme, in Deutschland zu senden. Bereits vor dem jetzigen Ausstrahlungsverbot aufgrund der fehlenden Lizenz wurde der Youtube-Kanal von RT DE wegen der „Verbreitung von Falschnachrichten zur Coronaviruspandemie“ gesperrt. Diese Sperrung war allerdings eine Entscheidung des US-Konzerns und nicht der deutschen Rechtsprechung. Solche Maßnahmen hindern die Journalisten von RT DE außerdem nicht daran, sich grundsätzlich frei im Land zu bewegen, an Veranstaltungen und auch an Pressekonferenzen teilzunehmen und darüber zu berichten – etwa auf der Website des Senders. Im Unterschied dazu musste die Deutsche Welle nun ihr Büro in Moskau komplett schließen und die Journalisten verloren ihre Akkreditierung.
8. Es wird immer wieder davor gewarnt, dass über RT DE gerade in der deutschen Querdenker-Szene großen Anklang fände. Wie groß ist der Einfluss von RT DE tatsächlich?
Der russische Staatskanal ist allgemein beliebt bei verschiedenen rechten und linken Kreisen in Deutschland. Abgeordnete der AfD und – seltener – der Linken erscheinen oft auf den Seiten und Bildschirmen staatlicher und regierungsnaher russischer Medien. In den Beiträgen unterstützen sie in der Regel die Politik Putins und die Annexion der Krim. RT DE äußert sich oft skandalös und populistisch-propagandistisch. Diese Sprache findet bei vielen radikalen und marginalisierten Kreisen in Deutschland Anklang. Der Youtube-Kanal von RT DE scheint sich relativ großer Beliebtheit zu erfreuen. Zum Zeitpunkt der Sperrung im September 2021 wurden die meisten Videos mehr als 100.000 angeschaut. Es ist jedoch schwierig, die Popularität von RT DE objektiv zu bewerten – dem Sender wird oft vorgeworfen, die Zahlen künstlich nach oben zu schrauben. So veröffentlichte das Team von Alexej Nawalny eine detaillierte Untersuchung über die große Anzahl von Bots in den Kommentaren und Zuschauerzahlen der RT-Kanäle.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Das deutsche Sendeverbot für das TV-Angebot von RT DE hat das russische Außenministerium zu einer „Gegenmaßnahme“ bewogen: Dem deutschen Auslandssender Deutsche Welle (DW) wurde die Lizenz entzogen, das DW-Büro in Moskau ist inzwischen geschlossen, die Journalisten dort verlieren ihre Akkreditierung – das heißt, die in Russland notwendige Erlaubnis, im Land als Journalisten zu arbeiten. Außerdem wurde ein Verfahren eingeleitet, die Deutsche Welle auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ zu setzen. Dies bedeutet neben einer Stigmatisierung als vermeintlich feindlich gesinntes Medium auch zahlreiche bürokratische Hürden.
In Deutschland wiederum, darauf verweisen nun zahlreiche Medienjournalisten oder auch NGOs wie etwa Reporter ohne Grenzen, können RT-Journalisten weiterhin im Land ihrer Arbeit nachgehen und online publizieren, RT hat die Möglichkeit vor Gericht gegen die Entscheidung vorzugehen oder eine deutsche Lizenz zu beantragen (RT DE hat nur eine serbische, die die Rundfunkkommission ZAK nicht anerkannte). Ein ungleiches Spiel?
In Russland wird die Debatte um RT DE von Anfang an hauptsächlich in Staatsmedien geführt. Staatliche und kremlnahe Stimmen verteidigen das Vorgehen Russlands als „notwendige Gegenmaßnahme“ und kritisieren, dass Deutschland mit zweierlei Maß messe, da es sich selbst beim Vorgehen gegen RT DE als intolerant gegenüber abweichenden Meinungen zeige.
Unabhängige russische Medien dagegen ordnen die „Gegenmaßnahme“ gegen die Deutsche Welle vor allem in das generell zunehmend restriktive Vorgehen gegen unabhängige Akteure und auch Medien in Russland ein, das vor allem seit den Solidaritätsprotesten für den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im Frühjahr 2021 stark zugenommen hat.
RT DE vs. Deutsche Welle: Ein ungleiches Spiel? dekoder bringt Auszüge aus der Debatte in russischen Medien.
Echo Moskwy/Telegram: Zensur unter der Maske „unabhängiger Aufsichtsbehörden“
Echo Moskwy bringt in seiner Rubrik Blogy („aus den Blogs“) einen Post des Telegram-Kanals Meister. Der Autor kritisiert zwar die Antwort Moskaus – spricht aber dennoch von „Zensur“ in westlichen Medien:
[bilingbox]Moskaus Antwort bezüglich DW ist natürlich nicht ideal, diese Entscheidung ist auch weit weg von den Prinzipien der Meinungs- und Pressefreiheit. Aber dennoch ist sie eine erzwungene Reaktion, die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit fußt, das in den internationalen Beziehungen vorherrschend ist. Und sie ist in jedem Fall besser als wenn man sich bei uns als Reaktion auf die Maßnahmen gegen RT DE bloß empört und keine eigentliche Reaktion gezeigt hätte. Aber hier ist es wichtig, wer angefangen hat – diese konkrete Episode der Verschärfung hat nicht Russland begonnen.
Wird es die letzte bleiben? Das weiß der Herr allein, aber es ist zu befürchten, dass es weiter geht: Die Intoleranz gegenüber alternativen Meinungen und denen, die diese aussprechen, wird zum Teil der politischen Kultur in den Ländern, die noch bis vor Kurzem für sich beansprucht haben, die Standards in puncto Demokratie und Meinungsfreiheit zu setzen. Genauer gesagt tun sie das auch weiterhin, allerdings schwindet die Grundlage dafür immer weiter, so sehr man sich auch bemüht, die Zensur unter der Maske „unabhängiger Aufsichtsbehörden“ zu verstecken. Der Westen hat es letzten Endes immer verstanden, Brücken und Kanäle zu schaffen, zwischen zivilgesellschaftlichen und kommerziellen Organisationen und den [westlichen – dek] Staaten, wenn es die Aufgaben erforderten. Dass man jetzt erstaunt ist, wenn Moskau plötzlich die gleichen Methoden anwendet, wirkt etwas befremdlich. ~~~
Ответное решение Москвы в отношении DW сложно назвать идеальным, оно тоже далеко от принципов свободы слова и СМИ, но, все же, это вынужденное ответное решение, принятое исходя из принципа взаимности, доминирующего в международных отношениях. И оно в любом случае лучше, чем если бы у нас в ответ на меры против RT DE просто повозмущались бы, не отреагировав по сути.
Но здесь очень важно именно то, кто начал первым, и вот конкретно данный виток обострения начала не Россия.
Станет ли он последним? Бог знает, но есть большие опасения, что нет: нетерпимость к альтернативному мнению и тем, кто это мнение высказывает, становится частью политической культуры стран, еще недавно претендовавших на то, чтобы задавать стандарты в области демократии и свободы слова. Точнее говоря, претендуют они и сейчас, но вот оснований для этого все меньше, как ни прячь цензуру под маску деятельности «независимых надзорных структур». В конечном счете, оперативно перебрасывать мостики и связи от общественных и коммерческих организаций к государствам, когда это требуется для обоснования тех или иных решений, Запад тоже умел всегда, и удивление от того, что Москва начала использовать те же методы выглядит несколько странно.[/bilingbox]
Novaya Gazeta: „Agentengesetz – ein universeller Knüppel“
Die Novaya Gazeta zitiert die Medienjuristin Galina Arapowa, die als sogenannte „ausländische Agentin“ gelistet ist und für die russische NGO Zentrum für Medienrechte arbeitet, das ebenfalls als „ausländischer Agent“ gilt. Ihr gibt vor allem zu denken, dass das russische Außenministerium ein Verfahren eingeleitet hat, die DW ebenfalls auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ zu setzen.
[bilingbox]
[Die Sanktionen gegen DW] wären nicht es der erste Fall, in dem ein ausländisches Medium zum „ausländischen Agenten“ erklärt wird. Das geschah bereits mit Meduza, The Insider und Radio Svoboda, die de-jure alle in anderen Ländern [und nicht in Russland – dek] registriert sind. Überhaupt ist das Gesetz so formuliert, dass prinzipiell jede im Ausland registrierte juristische Person mit ausländischem Geld zum „ausländischen Agenten“ erklärt werden kann. Deshalb ist das so ein universeller Knüppel. Theoretisch könnte man ihn sogar gegen die Sorbonne anwenden, denn es handelt sich ebenfalls um eine ausländische juristische Person (da ist ja nicht Rede von ausländischen Medien), die über ausländisches Geld verfügt und öffentlich Informationen verbreitet.
Wichtig ist etwas anderes: Es wird im Klartext gesagt, dass die mögliche Aufnahme der Deutschen Welle ins Register der „ausländischen Agenten“ eine Gegenmaßnahme dafür ist, dass RT in Deutschland angegangen wurde. Es wird gar nicht versucht, eine politische Anwendung des Gesetzes zu verschleiern. Das Gesetz ist demnach nicht für alle gleich: Seine Anwendung folgt nicht juristischen, sondern politischen Zielen.~~~
Нельзя сказать, что это <санкции против DW> может стать первым случаем, когда иностранное СМИ признают «иностранным агентом». То же происходило с «Медузой»*, The Insider*, «Радио Свобода»**. Де-юре они все зарегистрированы в других государствах. Вообще закон сформулирован таким образом, что он дает возможность признать иностранным агентом любое зарегистрированное в другом государстве юридическое лицо, которое имеет иностранные деньги. Получается, что это такая очень универсальная дубинка. Теоретически ее можно использовать даже против университета Сорбонны, потому что это тоже иностранное юридическое лицо (там же не говорится — иностранное СМИ), у которого есть иностранные деньги и которое распространяет публичную информацию.
Важно другое: прямым текстом говорится, что возможное включение Deutsche Welle в реестр иноагентов — это ответное действие за то, что RT обидели в Германии. Нет даже попыток прикрыть политическое применение нормы закона. Получается, что закон не один для всех: его применяют не в законных, а в политических целях.[/bilingbox]
In der Novaya Gazeta beschreibt Kirill Martynow den „Start einer großen Kampagne zur Verdrängung von Youtube vom russischen Markt“ – für die auch der Wirbel um RT DE herangezogen werde.
[bilingbox]Im Kampf gegen Youtube als wichtigste unabhängige Medienplattform in Russland bereitet die Medienaufsicht Roskomnadsor ein neues Paket mit „wirtschaftlichen Maßnahmen“ vor, das ein Verbot der Monetarisierung von Videos für Blogger beinhaltet. Formal begründet werden diese Maßnahmen mit den „feindlichen Tätigkeiten“ der amerikanischen Social-Media-Plattform in Bezug auf den deutschsprachigen Kanal von RT. ~~~
Параллельно для борьбы с YouTube как главной независимой медиаплощадкой в стране Роскомнадзор готовит новый пакет «экономических мер», включающих запрет на монетизацию роликов для блогеров. Формально причиной для этих мер являются «недружественные действия» американской соцсети в отношении немецкоязычного канала RT.[/bilingbox]
Das Vorgehen gegen die DW ähnelt dem Druck und den Maßnahmen, denen zahlreiche unabhängige Medien in Russland spätestens seit dem vergangenen Jahr verstärkt ausgesetzt sind. Denn in Russlands Medienlandschaft gibt es mehrere durchaus kritische Stimmen. Lew Rubinstein erinnert in einem Facebook-Solidaritäts-Post an die Sonderstellung, die die Deutsche Welle zu Zeiten der Sowjetunion noch hatte:
[bilingbox]
Nachdem ich an einem regnerischen Tag im September 1974 mit einigen Freunden die Beljajewski-Brache verließ, wo wir gerade die Niederwalzung der Bulldozer-Ausstellung miterlebt hatten, haben wir unterwegs zu einem Freund noch Wein und etwas zu essen gekauft. Wir waren natürlich aufgeregt und gespannt und wollten unsere eigenen unmittelbaren Eindrücke mit den Berichten der ausländischen Journalisten über das Ereignis vergleichen, das sich später als epochal erweisen sollte.
Wir schalteten das Radio ein haben sofort etwas gefunden: Ein Radiosender informierte über das Ereignis – dieser Sender war die Deutsche Welle.~~~
Когда в один из дождливых дней сентября 1974 года, я и несколько моих друзей ушли с Беляевского пустыря, где только что на наших глазах случился форменный погром Бульдозерной выставки, мы, купив по дороге вина и какой-то еды, заехали к нашему общему другу. Мы, разумеется, были возбуждены и взволнованы, и мы очень хотели сопоставить собственные непосредственные впечатления со свидетельствами тех иностранных журналистов, которые в изрядном количестве тоже присутствовали при этом событии , оказавшемся впоследствии эпохальным.
Мы включили радио и стали искать. И сразу же нашли. Одна из радиостанций во всех подробностях рассказывала об этом событии. Этой радиостанцией была «Немецкая волна»[/bilingbox]
Alexej Wenediktow, Chefredakteur des Radiosenders Echo Moskwy, hält in der -Sendung Budem nabljudat die Entscheidung der deutschen Rundfunkkommission ZAK für ähnlich problematisch wie schon den Twitterban Trumps (den in Russland viele liberale Stimmen kritisierten) – und die „Gegenmaßnahme“ des russischen Außenministeriums gleichwohl für die Reaktion eines „rachedurstigen Halbstarken“.
[bilingbox]
Wenediktow: Die Reaktion war zu erwarten. Noch einmal: Meine Position dazu habe ich schon oft in Diskussionen mit Maria Sacharowa, Margarita Simonjan und Kollegen aus dem Ausland dargelegt. All diese außergerichtlichen Verfahren, alle Verbote von Medien durch außergerichtliche Verfahren sind schlechte Beispiele, und es spielt keine Rolle, wer es tut. Der deutsche Staat, der russische … Der russische ist mir wichtig, weil ich in ihm lebe. Es ist mein Staat, mein Land. Deshalb ist es für mich schmerzhaft. Wenn aber Deutschland oder die Ukraine oder die USA so etwas tun – wie etwa Twitter mit Trump – habe ich dieselbe Position: Sie haben die Gesetze gebrochen – bring sie vor Gericht. Diese Lizenzgeschichte, natürlich ist es hinterhältig. Ich meine RT, denn RT hat wirklich, ohne eine deutsche Lizenz zu bekommen [RT hatte nie eine deutsche Lizenz beantragt – dek], eine serbische bekommen. Es gibt ein Abkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen, das vom Deutschen Bundestag und Serbien ratifiziert wurde. Aber dies ist eine juristische Geschichte. Wenn Sie der Meinung sind, dass der Sender illegal sendet, gehen Sie vor Gericht. Dasselbe gilt für die Deutsche Welle: Wenn Sie denken, dass die illegal sendet … Die hat aber eine russische Lizenz, hatte … Ist das Rache? Wie sieht denn der russische Staat aus, wenn er sich als rachedurstiger Halbstarker gibt?
Buntman: Nun, so sieht er aus.
Wenediktow: […] Das sieht nach kleinlicher Rache aus. Abgesehen davon gehe ich davon aus, dass, wenn es eine Beschwerde über die Ausstrahlung von RT in Deutschland gibt, man sich an die deutschen Gerichte wendet. An europäische Gerichte.
~~~
А. Венедиктов ― В ответ был ожидаемый. Я даже, извините, как-то все было предугадано. Еще раз. Моя позиция в этом, я уже неоднократно говорил и в спорах и с Марией Захаровой, и Маргаритой Симоньян, с коллегами из-за рубежа. Все, что внесудебная процедура, все запреты на медиа по внесудебным процедурам – это плохо. Это плохой пример и неважно, кто это делает. Германское государство. Российское государство важно, потому что я в нем живу. Это мое государство, моя страна. Поэтому мне болезненно, что здесь. Но когда это делает Германия или Украина или Штаты, твиттер с Трампом, пожалуйста, все видят, у меня одна и та же позиция: нарушили законы – по суду. Это история с лицензией, она конечно лукавая. Я имею в виду с RT, потому что RT действительно, не получив лицензию немецкую, получило сербскую. Существует конвенция по трансграничному вещанию, которая ратифицирована германским Бундестагом и Сербией. Но это судебная история. Если вы считаете, что они вещают незаконно – в суд. И то же самое: если вы считаете, что «Deutsche Welle» вещает незаконно, но у нее есть лицензия российская, была. Это называется месть? Как выглядит российское государство мстительным шпаненком?
С. Бунтман ― Ну так и выглядит.
А. Венедиктов ― […] Выглядит мелкой местью. Притом, понимаю, что если есть претензии по вещанию RT в Германии — в германские суды. В европейские суды.[/bilingbox]
Mitte Dezember hatte Russland in einem Schreiben unter anderem ein Ende der Ausdehnung der NATO gefordert und auch einen Truppenabzug aus Ländern, die bis 1997 nicht Teil des Bündnisses waren. Ende vergangener Woche kamen die schriftlichen Antworten und fielen aus wie erwartet: Weder die NATO noch die USA können Russland die gewünschten Sicherheitsgarantien geben.
Unterdessen verlieh Putin im Telefonat mit dem französischen Präsidenten Macron den russischen Forderungen nochmal Nachdruck. Beide Länder erklärten sich zudem bereit, die Minsk II-Gespräche im Normandie-Format fortzusetzen. Der russische Außenminister Lawrow forderte ähnliche Garantien auch von der OSZE. Angesichts der hohen Konzentration russischer Truppen an den Grenzen zur Ukraine, auch in Belarus und auf der Halbinsel Krim, die Russland 2014 angliederte, stockten einzelne NATO-Mitgliedsländer ihre Truppen in Osteuropa auf, auch US-Präsident Biden kündigte an, das US-Militärkontingent aufzustocken.
Gleichzeitig warnte der ukrainische Präsident Selensky vor Panikmache und betonte, dass die Kriegsgefahr nicht größer sei als zuvor. Auch Nikolaj Patruschew, Chef des russischen Sicherheitsrats, sagte der Agentur Interfax zufolge: „Wir wollen keinen Krieg, wir brauchen ihn überhaupt nicht.“
Und nun? Dimitri Trenin, Direktor des Moskauer Carnegie Center, sieht im Interview mit Kommersant – das er noch vor den Antworten der USA und der NATO gab – zwei mögliche Szenarien: ein eher rationales und eines, das auf Eskalation setzt.
Jelena Tschernenko: Stehen wir kurz vor einem bewaffneten Konflikt?
Dimitri Trenin: Wenn wir von einer kurzfristigen Perspektive sprechen, vom nächsten Monat, dann glaube ich nicht. Was die langfristige Perspektive angeht, hätte ich Fragen an beide Seiten.
Die Frage an an den Westen wäre: Wird die Führung in Kiew, – seien es einzelne Abteilungen oder auch Akteure, die außerhalb ihrer Kontrolle stehen und mit Schattenfiguren zusammenarbeiten –, eine Provokation starten, um Russland in einen Krieg hineinzuziehen? Die Antwort auf diese Frage ist eher nein. Ein solches Szenario würde den Verantwortlichen in Kiew nicht sonderlich nützen. Denn eine solche Provokation kann nur mit einer Niederlage der ukrainischen Streitkräfte enden.
Alles wird davon abhängen, wie der Oberbefehlshaber – der Präsident der Russischen Föderation – das einschätzt, was da vor unseren Augen geschieht
Das Ausmaß der Niederlage könnte für die Ukraine unterschiedlich stark ausfallen. Aber egal, wie hoch der Preis dieses Sieges für Russland wäre, er könnte den kolossalen Schlag nicht wettmachen, den eine Niederlage der Ukraine der Reputation der Biden-Regierung versetzen würde – vor allem innerhalb der USA. Nach Afghanistan zum zweiten Mal einen prominenten regionalen Verbündeten zu verlieren, wäre für sie gerade innenpolitisch äußerst gefährlich. Hinzu kommt der ganze NATO-Kontext und das amerikanische Renommee in der Welt. Denn auch Länder wie China oder der Iran verfolgen die Situation ganz genau.
Mit anderen Worten, Sie halten das georgische Szenario für unwahrscheinlich?
Ja, ich habe den Eindruck, dass die Amerikaner genügend Kontrolle über die ukrainische Regierung und die dortigen Akteure haben.
Und welche Frage haben Sie an Russland?
Ich glaube, alles wird davon abhängen, wie der Oberbefehlshaber – der Präsident der Russischen Föderation – das einschätzt, was da vor unseren Augen geschieht. Und hier gibt es in der Tat viele Fragen, denn wir können nicht wissen, was genau Wladimir Putin sich dabei denkt. Welchen Plan verfolgt er? Was ist seine Strategie? Welche Optionen sieht er? Das lässt sich von außen sehr schwer beurteilen.
Wie könnte sich die Lage entwickeln?
Die erste Option wäre wohl recht logisch: Man erklärt, dass wir nie wirklich mit alldem (der Nicht-Erweiterung der NATO und so weiter – Anm. Kommersant) gerechnet haben – wir sind ja nicht blöd, wir verstehen das völlig, aber wir mussten endlich aus der Sackgasse heraus, diesen ganzen westlichen politisch-diplomatischen und militärischen Klüngel aufmischen, vor allem in Washington, und wollten den Ernst unserer Absichten demonstrieren – und haben ja auch etwas erreicht. Erstens haben sie unsere Vorschläge nicht grundweg zurückgewiesen, sondern darauf reagiert, sie haben sich sogar bereit erklärt, unsere Vorschläge schriftlich zu beantworten, und das bedeutet de facto, dass sie unsere Sorgen und Forderungen ernst nehmen.
Zweitens haben sie eingewilligt, über für uns wichtige Themen zu sprechen, die sie früher ignoriert haben. Zum Beispiel soll es Verhandlungen über ein Moratorium für die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen geben. Früher wollten sie überhaupt nichts davon wissen, jetzt wollen sie von sich aus darüber verhandeln. Außerdem sind sie jetzt bereit, über eine Einschränkung von Manövern in der Nähe unseres Staatsgebiets zu sprechen, all diese Marine- und Luftwaffenübungen, einschließlich der Simulation von Atomraketenstarts. Wir haben ihnen früher mehrfach gegenseitige Zurückhaltung auf diesem Gebiet angeboten, aber erst jetzt hören sie uns zu. Auch auf andere russische Initiativen gibt es eine Reaktion.
Der Westen ist zum ersten Mal seit den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung bereit, mit Russland über die Sicherheit in Europa zu sprechen
Die russischen Forderungen wurden so entschieden vorgebracht, um die westlichen Mächte, allen voran die USA, zu Sicherheitsgarantien zu bewegen, die für uns akzeptabel sind.
Es war für uns nicht nur wichtig, die Situation an unseren westlichen Grenzen zu entspannen, sondern auch, den Westen dazu zu bringen, endlich mit uns über Fragen der europäischen Sicherheit zu sprechen.
Das ist bereits durch die Tatsache geschehen, dass ein Dialog in Gang gekommen ist. Der Westen ist zum ersten Mal seit den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung bereit, mit Russland über die Sicherheit in Europa zu sprechen. Zwischen 1999 und 2021 hing diese Sicherheit vom Good oder Bad Will der USA ab, mit der NATO als ihrem Hauptinstrument. Jetzt verhandeln die USA und die NATO die europäische Sicherheit – genau wie in Zeiten von Jalta und Helsinki – mit Russland, und dadurch steht diese Sicherheit jetzt auf zwei Pfeilern statt auf einem.
Kann man davon ausgehen, dass der Westen und vor allem die USA in diesem Szenario dazu bereit wären, erheblichen Druck auf die Ukraine auszuüben, damit sie das Minsker Abkommen erfüllt?
Das hoffe ich sehr, aber davon ausgehen würde ich nicht. Die Vereinbarungen von Minsk sind ein diplomatischer Sieg für Russland, der auf dem militärischen Sieg aufbaut, den die Rebellen und die sie unterstützenden Kräfte über die ukrainische Armee im Februar 2015 errungen haben. Ich bin mir nicht sicher, ob die USA verstehen, dass der Schlüssel, die Situation um die Ukraine zu entspannen, in der Erfüllung des Minsker Abkommens liegt, aber genau so ist es.
Der schwelende Konflikt im Donbass ist der beste formale Vorwand, um weiter Druck auf Moskau auszuüben
Im Prinzip lassen sich die Vereinbarungen noch umsetzen. Man könnte den Donbass immer noch unter den darin formulierten Bedingungen in die Ukraine reintegrieren, wonach die Rechte der Bewohner dieser Regionen gewährleistet und die territoriale Unversehrtheit der Ukraine in durch Russland anerkannten Grenzen bewahrt würden. Aber bisher sehe ich keine Bereitschaft Washingtons, Kiew dazu zu bringen, das Minsker Abkommen zu erfüllen.
Der schwelende Konflikt im Donbass ist der beste formale Vorwand, um weiter Druck auf Moskau auszuüben. In den letzten Jahren zielt die Politik in Washington darauf ab, den Druck auf Russland zu erhöhen – und die Ukraine ist nur einer ihrer Hebel. Wenn ich die Strategie des Westens richtig verstehe, dann wird dieser Druck seinen Höhepunkt erreichen, wenn in Russland der Prozess des Machttransfers beginnt. In einer Konfrontation mit China brauchen die Amerikaner ein gefügigeres Russland. Aber das ist ein lang- und kein kurzfristiges Ziel.
Okay, das ist die erste Variante – kräftig aufmischen und nehmen, was man kriegt.
Ja, hier kann man sich in Erinnerung rufen, dass Politik die Kunst des Möglichen ist, und noch viele andere Argumente vorbringen, die für diese Variante sprechen.
Die zweite Variante bedeutet, dass tatsächlich alles sehr ernst ist und wir uns bereits an einem Punkt befinden, an dem eine neue russische Politik die alte allmählich verdrängt. In meinem Buch New Balance of Power habe ich geschrieben, dass die russische Außenpolitik – sowohl unter Jelzin als auch unter Putin, einschließlich der Medwedew-Periode – auf den Schultern der Politik Gorbatschows steht. Es geht auf die eine oder andere Weise um eine Fortsetzung der Integration in die westliche Welt, um das Finden eines eigenen Platzes darin, um die Suche nach einem Gleichgewicht der Interessen in den Beziehungen zu den USA und anderen Ländern des Westens, wobei der Fokus auf der Zusammenarbeit liegt.
Was, wenn der Bruch mit dem Westen Wirklichkeit wird? Was, wenn Russland am Ende dazu übergeht, ein vollkommen anderes außen- und innenpolitisches Projekt zu verwirklichen?
Aber was, wenn dieser Kurs jetzt radikal revidiert wird? Und das betrifft nicht nur die Außenpolitik, sondern die Richtung, in die Russland sich insgesamt bewegt. Was, wenn wir die Periode hinter uns lassen, in der das wichtigste Ziel die Integration in eine geeinte Welt war, wenn auch zu eigenen Bedingungen? Was, wenn der Bruch mit dem Westen Wirklichkeit wird, von dem Präsident Putin gesprochen hat, als er auf die Aussicht amerikanischer „Sanktionen aus der Hölle“ reagierte? Was, wenn Russland am Ende dazu übergeht, ein vollkommen anderes außen- und innenpolitisches (auch wirtschaftliches, gesellschaftliches und ideologisches) Projekt zu verwirklichen?
Vielleicht ist man bereits dabei, ein gesondertes „russisches Projekt“ aufzubauen, das nicht mehr darauf abzielt, sich in eine Welt einzuordnen, in der der Westen wenn nicht die dominierende, so doch immer noch die führende Rolle spielt?
Im Fall eines Bruchs mit dem Westen könnte Russland in weitaus engere Beziehungen mit bedeutenden nichteuropäischen Ländern treten, Bündnisse eingehen mit Ländern wie China, aber auch mit dem Iran und den Kontrahenten der USA in der westlichen Hemisphäre – Venezuela, Kuba und Nicaragua. In diesem Fall könnte Moskau anfangen, das zu tun, was man ihm im Westen gerne vorwirft.
Sie sprechen von der Errichtung von Einflusszonen?
Davon, und von dem Recht auf Gewaltanwendung, um unliebsame Regime zu beseitigen. Die USA haben zum Beispiel im Irak einen Diktator gestürzt. Sie haben dort zwar keine Massenvernichtungswaffen gefunden, aber im Großen und Ganzen ist man im Westen der Meinung, dass sie trotzdem etwas Gutes getan haben, weil der Diktator weg ist.
Und jetzt stelle ich fest, dass die russischen Diplomaten, allen voran der Außenminister, immer öfter den Begriff „Regime“ verwenden, wenn sie von der ukrainischen Regierung sprechen. Ein Regime ist etwas Unrechtmäßiges. Wenigstens aus moralisch-ethischer Sicht. Und wenn die Regierung illegitim ist, warum dann nicht den gesunden Kräften helfen, sie zu stürzen?
Russland könnte Donezk und Luhansk anerkennen und sie als einen oder zwei Staaten in den Unionsstaat von Russland und Belarus aufnehmen
Ich habe das Gefühl, dass Russland nach einem neuen Ankerpunkt für den postsowjetischen Raum sucht. Hier sind verschiedene Varianten denkbar, zum Beispiel, ein erweiterter Begriff des Unionsstaates durch den Einschluss neuer Gebiete. Nehmen wir an, die russische Regierung kommt zu dem Schluss, dass das Minsker Abkommen nicht realisiert werden kann, dann könnten sie die selbsternannten Republiken Donezk und Luhansk anerkennen und sie als einen oder zwei Staaten in den Unionsstaat von Russland und Belarus aufnehmen. Hypothetisch gesehen könnten sie auch Abchasien und Südossetien dieser Union anschließen.
Das bezieht sich auf den Fall, dass Russland mit dem, was ihm nicht gefällt, bricht und nach dem Prinzip zu handeln beginnt: „Wenn es nicht im Guten geht, dann eben mit Gewalt.“ Die USA werden da nicht viel ausrichten können, in einen direkten Konflikt mit Russland werden sie nicht treten.
Sie haben zwei sehr unterschiedliche Szenarien beschrieben. Wenn man eine Analogie zum Schach zieht, ist die erste Variante ein raffiniertes Spiel mit im Voraus durchdachten Zügen und einkalkulierten Risiken. Während bei der zweiten Variante einer der Spieler das Brett mitsamt den Figuren einfach vom Tisch schleudert.
Ganz genau.
Aber welches Szenario wird nun umgesetzt?
Das weiß ich nicht. Diese Frage kann in unserem Land nur einer beantworten. Aber beide Szenarien haben ihren Preis und sind mit bekannten Risiken verbunden. Im ersten Fall geht es um einen Verlust der Reputation – sowohl auf internationaler Ebene als auch innerhalb des Landes. Nimmt Russland von seinen Forderungen Abstand, die es als „absoluten Imperativ“ formuliert hat, dann kann man ihm vorwerfen, geblufft zu haben. Großmächte bluffen nicht. Wenn Russland blufft, verliert es an Status in der Welt. Aber selbst wenn ein Teil der Bevölkerung das negativ aufnimmt, ist das nicht besonders schlimm. Innerhalb des Landes ist die Staatsmacht stark genug. Es wäre eher Russlands internationaler Ruf, der darunter leiden würde, man würde es in Zukunft weniger ernst nehmen. Aber überleben kann man das.
Beide Szenarien haben ihren Preis und sind mit bekannten Risiken verbunden
Das zweite Szenario, das auf militärische Stärke setzt, bringt einen schwerwiegenden Bruch der Beziehungen mit sich, auch innerhalb des Landes. Es wischt die Hoffnungen eines kleinen, aber einflussreichen Teils der russischen Elite vom Tisch, der immer noch darauf wartet, dass sich das Verhältnis zum Westen endlich normalisiert. In seiner radikalen Version – wie es einige westliche Analysezentren beschreiben – würde dieses Szenario auch für breitere Bevölkerungsschichten Russlands zu einer Belastungsprobe werden. Die Rede ist vom Szenario einer „Besetzung der Ukraine“.
Sie meinen, wenn es nicht bei der Anerkennung der Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Luhansk bleibt?
Ja, wenn die russische Regierung zu dem Schluss kommt, dass die einzige Garantie dafür, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt und auf ihrem Territorium keine US-Raketen stationiert werden, in der unmittelbaren Kontrolle der Ukraine durch Russland besteht oder in der Installierung einer moskautreuen Regierung in Kiew. So oder so würde dieses Szenario ganz anders aussehen als die Krim, wo kein einziger Schuss fiel und niemand verletzt wurde.
Halten Sie dieses Szenario für auch nur irgendwie wahrscheinlich?
Eher nicht. Es brächte enorm viele negative Folgen mit sich, beträchtliche menschliche und finanzielle Verluste.
Also ist es das Worst-Case-Szenario?
Das kommt darauf an. Für die einen wäre es gut, für die anderen schlecht. Meiner Ansicht nach birgt es ein kolossales Risiko für Russland selbst.
Ihrem Buch nach zu schließen sehen Sie in der NATO-Osterweiterung keine so große Bedrohung für Russland. Verstehe ich Sie richtig?
Für die militärische Balance und das „Gleichgewicht des Schreckens“ ist eine Ausweitung der NATO unter anderem auf die Ukraine keine Bedrohung. Wenn die USA ihre Raketen bei Charkow stationieren, verschaffen sie sich keinen signifikanten militärisch-strategischen Vorteil gegenüber der Russischen Föderation.
Aber was ist mit der verkürzten Flugzeit, mit den berühmten „fünf bis sieben Minuten bis Moskau“?
Das widerspricht sich nicht. Denn was würde in dieser Situation passieren? Russland würde auf seinen U-Booten Hyperschallraketen stationieren, Zirkon zum Beispiel, und damit die US-Küste entlangfahren, womit es sich dieselbe Flugzeit bis zu den wichtigsten amerikanischen Zielen sichern würde. Das Gleichgewicht des Schreckens bliebe erhalten, nur eben auf höherem, gefährlicherem Niveau.
Ich halte eine NATO-Erweiterung, was die militärische Sicherheit angeht, tatsächlich nicht für eine so ernste Bedrohung
Auch eine US-Einheit in Polen oder ein NATO-Bataillon im Baltikum können Russlands Sicherheit nicht ernsthaft bedrohen. Das Einzige, was Russland Probleme bereiten könnte, sind amerikanische Raketen-Abwehrsysteme in Rumänien und Polen. Alles andere ist nicht wirklich bedrohlich. Insofern halte ich eine NATO-Erweiterung, was die militärische Sicherheit angeht, tatsächlich nicht für eine so ernste Bedrohung.
Aber es gibt noch einen anderen Aspekt: Ein Land, das NATO-Mitglied wird, durchläuft eine tiefgreifende Umprogrammierung, die alle Bereiche des Lebens betrifft. Es passiert eine politische und ideologische Transformation. Solange die Ukraine nicht in der NATO ist, besteht immer noch die Möglichkeit, dass das Land als Ganzes oder teilweise beschließt, dass Dinge wie Slawentum, Russki Mir und so weiter doch wichtig sind, und die Beziehungen zu Russland können sich normalisieren, eine Annäherung ist möglich. Zumindest aus Moskaus Sicht bleibt diese Möglichkeit bestehen. Aber wenn das Land der NATO beitritt, dann ist der Zug abgefahren. In diesem Sinn existiert also sehr wohl eine Bedrohung, bloß ist es keine militärische, sondern eine geopolitische und geokulturelle.
Übrigens haben der Oberbefehlshaber und die militärisch-politische Führung unseres Landes, wenn man den offiziellen Mitteilungen glauben will, hierzu ganz andere Vorstellungen, die unbedingt zu berücksichtigen sind.
Russland hat dem Westen im Fall einer Absage an seine Forderungen mit einer „militärischen Reaktion“ gedroht. Was kann, abgesehen von dem, was Sie schon erwähnt haben, damit gemeint sein?
Wenn das Prozedere der Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk sich so entwickelt wie in Abchasien, dann könnten dort russische Truppen stationiert werden, Militärstützpunkte. Aber ich glaube, der Großteil der kriegstechnischen Reaktion wird in der Stationierung von Waffensystemen an Orten bestehen, wo bisher keine sind.
Zum Beispiel?
Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass Russland, wenn es in militärischer Hinsicht in Europa unzufrieden wäre, zusätzliche Iskander-Raketen in Kaliningrad positionieren könnte. Die Oblast Kaliningrad galt als Aufmarschgebiet an vorderster Front, von dem aus Russland jedem Widersacher drohen könnte. Doch Kaliningrad ist physisch getrennt vom restlichen russischen Territorium, dort etwas hinzuliefern und die Verbindung aufrechtzuerhalten ist besonders in Zeiten einer Feindschaft mit dem Westen ziemlich schwierig. Es geht, aber es ist nicht einfach.
Es gibt aber auch globale Szenarien – zum Beispiel eine engere Zusammenarbeit mit China
Viel einfacher ist es, etwas im freundlich gesinnten Belarus zu stationieren, auf dem Territorium eines Bündnispartners, wo es bisher keine russischen Stützpunkte und Raketen gibt, schon gar keine Atomraketen. Noch dazu, wo der belarussische Präsident …
… das von sich aus anbietet?
Ja, er hat ein feines politisches Gespür und ist bereit, der Russischen Föderation zu einem unausgesprochenen, aber erahnbaren Preis diese Möglichkeit zu bieten. Das ist eine Option.
Es gibt aber auch globale Szenarien – zum Beispiel eine engere Zusammenarbeit mit China, eine Koordination zwischen Moskau und Peking im militärischen Bereich, eine aktivere militärtechnische Kooperation zwischen beiden Ländern. Möglich ist im Hinblick auf militärische Fragen auch eine Annäherung an den Iran. Anlässlich der Krise rund um die Ukraine hat der russische Präsident auch mit den Staatsoberhäuptern Venezuelas und Kubas telefoniert.
Das heißt, Russland könnte den USA in einem potenziellen Konflikt mit China in die Quere kommen.
Ja, natürlich, auch das ist denkbar. Im Grunde wäre das die normale Vorgehensweise. Länder, die sich feindlich gegenüberstehen, so wie aktuell Russland und die USA, setzen sich gegenseitig unter Druck. So ist es nun mal. Nicht mit Überzeugung oder Argumenten, sondern mit Gewalt, wenn auch nicht unbedingt mit militärischer. Die Amerikaner haben, abgesehen von ihrem militärischen Potenzial, große finanz-ökonomische Macht und setzen diesen Hebel immer stärker gegen Russland ein. Russland hingegen ist vor allem in geopolitischer, energetischer, militärischer und kriegstechnischer Hinsicht stark.
Es gibt Mutmaßungen, Russland könnte Raketen in Venezuela und auf Kuba stationieren.
Wenn Moskau anfängt, die USA von Lateinamerika aus zu bedrängen, dann reagieren die USA in Europa, wo es eine ganze Reihe Länder gibt, die einer Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen auf ihren Gebieten bereitwillig zustimmen würden. Was würde das Russland bringen?
Was ist passiert, dass Sie und ich plötzlich über solche aufwühlenden Szenarien sprechen? Was ist denn plötzlich los mit der Welt?
Die Welt bewegt sich auf hochgefährlichen Wegen, aber wohin? Das kann ich nicht sagen. Die Geschichte zeigt uns sehr deutlich: Nach einem schweren Kampf – egal ob nach einem „heißen“ oder einem „kalten“ Krieg – bleibt eine Verliererseite zurück, die in ihrem Stolz verletzt ist und ihre Souveränität nicht aufgeben will.
Ich glaube dieser Moment ist gekommen, in dem die Verliererseite des Kalten Krieges Respekt fordert
Wenn diese Verliererseite nicht zu Bedingungen, die auch sie zufriedenstellen, in ein neues Sicherheitssystem eingebunden wird, dann erstarkt sie in 20 bis 30 Jahren wieder und fordert Respekt für ihre nationalen Interessen ein.
Und dieser Moment ist jetzt gekommen?
Ja, ich glaube, der ist gekommen. 30 Jahre hat es gebraucht. Die Sieger des Kalten Krieges dachten erst, Russland habe seine frühere Bedeutsamkeit eingebüßt, und verloren ihr Interesse. Niemand wollte sich so recht mit der schwierigen Aufgabe seiner Integration in die westliche Welt befassen. Zudem wäre für eine solche Integration die Zustimmung der westlichen Länder, vor allem der USA, zu einer maßgeblichen Beschränkung ihres eigenen Einflusses notwendig gewesen, dazu, Russland ein entscheidendes Stimmrecht zu gewähren. Die USA waren dazu nicht bereit. Sie teilen ihre Vormachtstellung und ihr entscheidendes Stimmrecht nicht einmal mit ihren nächsten Verbündeten. Das letzte Wort muss immer Washington haben. Zu den vom Westen vorgeschlagenen Bedingungen einer ungleichen Partnerschaft wollte Russland selbst nicht in die transatlantische Zone integriert werden. Was damals aber sowieso niemanden störte – die russische Wirtschaft war schwach, die demografische Entwicklung rückläufig, das politische System instabil, und man hielt noch ein paar mehr Zusammenbrüche für möglich. Daher musste man da auch …
… keine großen Umstände machen?
Genau. Die Haltung gegenüber Russland hat sich nach der Krim und vor allem seit Beginn des Syrien-Einsatzes verändert. Sie erinnern sich, davor hatte US-Präsident Barack Obama Russland als „Regionalmacht“ bezeichnet. Aber dann haben alle gesehen, dass Russland sich nicht nur als Subjekt in internationalen Beziehungen erholt hat, sondern auch weit jenseits der eigenen Staatsgrenzen handeln kann.
Ich glaube, wir steuern auf eine schwere Krise in den Beziehungen zu
Doch sofort liefen die Handlungen Moskaus den Interessen des Westens zuwider, Russland wurde als Gegner wahrgenommen, den man bestrafen und mit Druck, vor allem mit Sanktionen, auf seinen Platz verweisen müsse. Entgegenkommen oder Zugeständnisse an Russland wurden als Besänftigung eines Aggressors gedeutet. Der Westen, der seine eigene Schwäche spürte, war insgesamt viel weniger bereit, Kompromisse zu schließen und sich mit anderen, sagen wir, konkurrierenden oder sogar feindlichen Regimen an einen Tisch zu setzen und auf Augenhöhe zu verhandeln. Seit dem Zerfall der Sowjetunion verhandelt der Westen mit niemandem mehr auf Augenhöhe – nicht einmal mit China.
Man kann den Westen auch verstehen, er macht eine ziemlich schwierige Entwicklungsphase durch, und es geht ja tatsächlich um den Niedergang der westlichen Dominanz und langfristig seiner Führungsrolle in der Welt. Das ist für den Westen schwer. Ich glaube, wir steuern auf eine schwere Krise in den Beziehungen zu. Eine gewisse Klarheit kann wahrscheinlich nach einem ernsthaften Kräftemessen in verschiedenen Regionen und in verschiedenen funktionellen Bereichen erzielt werden. Am Verhandlungstisch lässt sich das alles nicht lösen, aber dort kann man das erreichte Ergebnis dokumentieren und ausgestalten. So wird eine neue Weltordnung entstehen.
„Wir brauchen eine neue Verfassung, dazu müssen wir aber ein Referendum abhalten.“ Das sagte Alexander Lukaschenko Mitte August 2020. Die Proteste nach der gefälschten Präsidentschaftswahl in Belarus befanden sich damals auf dem Höhepunkt. Den autoritären Machthabern schien die Kontrolle zu entgleiten, die Lukaschenko anderthalb Jahre nach den Protesten nun wieder in der Hand hält. Dennoch soll das Referendum zur damals angekündigten Verfassungsreform nun tatsächlich stattfinden, am 27. Februar 2022.
Welchen Plan verfolgt Lukaschenko mit einer Verfassungsreform? Wird diese tatsächlich die Macht des nahezu allmächtigen Präsidenten beschränken? Wird die Opposition diese Gelegenheit nutzen, um wieder zu Protesten aufzurufen? In einem Bystro gibt Jan Matti Dollbaum, der zusammen mit Fabian Burkhardt eine Umfrage zur bevorstehenden Verfassungsreform durchgeführt hat, Antworten auf sieben Fragen.
1. Warum braucht es im Sinne von Lukaschenko überhaupt eine Verfassungsreform, der doch – so könnte man meinen – wieder fest im Sattel sitzt?
Lukaschenko hat seit einigen Jahren immer wieder Änderungen angekündigt. So sagte er schon 2014 zur 20-Jahr-Feier der Verfassung, dass Belarus sich „als souveräner Staat“ etabliert habe und die Verfassung, die aus einer Zeit der Transformation stamme, nun geändert werden müsse. Zum Inhalt möglicher Änderungen schwieg er sich allerdings aus. Auch hatte Lukaschenko auf diese Ankündigungen bisher nichts folgen lassen, die Verfassung blieb seit 2004 unverändert. Die Vermutung liegt daher nahe, dass Lukaschenko mit seinen Äußerungen vor allem klarmachen wollte, dass mögliche Veränderungsimpulse allein von ihm ausgehen werden.
Die aktuelle Verfassungsreform ist jedoch hinsichtlich ihres Timings maßgeblich von der Protestbewegung gegen die Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl im August 2020 beeinflusst. Teile der Bewegung hatten eine Rückkehr zur Verfassung von 1994 gefordert, die dem Präsidenten weit weniger Macht gibt. Ganz allgemein gibt es in der Bevölkerung den Wunsch nach einer Reduktion der präsidentiellen Vormachtstellung im politischen System. Obwohl das autoritäre Regime die Protestbewegung niedergeschlagen hat, weiß man um diese Forderungen. Insofern bot eine Verfassungsreform die Möglichkeit, Veränderungen von oben anzubieten, um damit zumindest formal einen Schritt auf die Enttäuschten und Aufgebrachten zuzugehen. Die Verfassungsreform ist auch deshalb ein wichtiges Instrument, weil das Regime die zentrale Forderung der Protestierenden nach freien und fairen Neuwahlen ausgeschlossen hat.
2. Am 27. Dezember 2021 wurden die Vorschläge für eine Verfassungsreform veröffentlicht. Wie sehen diese im Wesentlichen aus?
Die Vorschläge betreffen viele Bereiche der Verfassung. Zum einen sollen sie auf die Forderungen nach Machtbeschränkung des Präsidenten eingehen. Dazu wird zum Beispiel das Limit von maximal zwei Amtszeiten wieder eingeführt (dieses war 2004 per Referendum aus der Verfassung gestrichen worden). Der Präsident hat außerdem künftig nicht mehr das Recht, per Dekret am Parlament vorbei zu regieren.
Es gibt aber auch noch zahlreiche andere Änderungen. So können künftig Bürger Verfassungsbeschwerde einlegen, die außenpolitische Neutralität wird aus der Verfassung gestrichen und durch einen Passus ersetzt, der besagt, dass Belarus keine Angriffskriege führt, und dass dem Staat die Rolle des Garanten der Ehe als „Verbindung zwischen Mann und Frau“ zufällt. Der Staat wird außerdem verpflichtet, für „die Bewahrung der historischen Wahrheit und der Erinnerung an die Heldentaten des belarussischen Volkes während des Großen Vaterländischen Krieges“ zu sorgen. Doch auch die Bürger werden in die Verantwortung genommen. In Artikel 54 besagt eine Ergänzung etwa: „Patriotismus zu zeigen und die historische Erinnerung an die heldenhafte Vergangenheit des belarussischen Volkes zu bewahren, ist die Pflicht eines jeden Bürgers der Republik Belarus.“
Eine weitere wichtige Neuerung ist die Erhebung der Allbelarussischen Volksversammlung in Verfassungsrang, ein Organ, das sich aus nationalen und regionalen Abgeordneten, aber auch Vertretern der Exekutive, der Judikative und der Zivilgesellschaft zusammensetzt. Auch der jeweils aktuelle und ehemalige Präsident sind Mitglieder.
Insgesamt handelt es sich also um die weitreichendsten Veränderungen an der Verfassung seit 1996, insbesondere weil sie die Machtverteilung und direkt das Amt des Präsidenten betreffen.
3. Sehen die Vorschläge tatsächlich eine Beschränkung der Macht Lukaschenkos beziehungsweise einen Umbau des politischen Systems vor? Oder ist das alles Symbolpolitik?
Die Abschaffung der Dekretgewalt und die Wiedereinführung begrenzter Amtszeiten sind durchaus echte Machtbeschränkungen, die ein Zugeständnis an Lukaschenkos Gegner darstellen sollen und die bei seinen eigenen Unterstützern eher unpopulär sind. Dazu passt auch, dass Lukaschenko im Oktober 2021 erklärte, die neue Verfassung werde „demokratischer“ als die alte sein. Man sollte bei der Beurteilung dieser Maßnahmen aber unbedingt berücksichtigen, dass dem Präsidenten nach der geltenden Verfassung eine enorme Machtfülle zukommt, die sogar den russischen Superpräsidentialismus übertrifft. Diese Macht ist, selbst wenn sie nun etwas eingeschränkt wird, weiterhin erheblich. Auch wenn einzelne Kompetenzen an andere Institutionen wie die Regierung oder das Parlament abgegeben werden, sind diese zumeist direkt vom Präsidenten abhängig. Der Präsident bleibt zudem zentraler Akteur, der über den Gewalten steht und die „Einheit des Belarussischen Volkes“ verkörpern soll. Insofern ist die Reform insgesamt als Versuch zu verstehen, Veränderung zu suggerieren, ohne viel Macht abzugeben.
4. Unter anderem soll auch das Alter für Präsidentschaftskandidaten angehoben werden. Ist dies eine direkte Reaktion auf die Rolle von Swetlana Tichanowskaja bei den Wahlen im Jahr 2020?
Es ist möglich, dass in dieser Änderung auch eine Reserviertheit gegenüber der „Jugend“ als politischer Akteur zum Ausdruck kommt, die bei den Protesten im Jahr 2020 eine starke Kraft darstellte. Symbolisch und substantiell sehr viel wichtiger aber ist eine andere Ergänzung: Personen, die eine andere Staatsbürgerschaft oder eine Aufenthaltserlaubnis eines anderen Staates hatten oder haben, können künftig nicht mehr bei den Präsidentschaftswahlen als Kandidaten antreten. Damit sind auf einen Streich zahlreiche oppositionelle Exilbelarussen und Exilbelarussinnen ihres passiven Wahlrechts beraubt – was sicherlich die Absicht hinter dieser Änderung ist.
5. Der russische Außenminister Lawrow hat mehrmals auf die Bedeutung einer Verfassungsreform hingewiesen. Auch soll sie Thema in den Verhandlungen zwischen Lukaschenko und Putin gewesen sein. Warum hat der Kreml Interesse an solch einer innerbelarussischen Angelegenheit?
Nicht nur Lawrow, auch Putin hat sich öffentlich zum Reformvorschlag geäußert und nannte ihn „folgerichtig, zur richtigen Zeit kommend und angemessen“. Der Kreml hat aus verschiedener Perspektive ein Interesse daran, dass der Reformprozess so abläuft, wie Lukaschenko ihn sich vorstellt. Zum einen soll von diesem Prozess nicht das Signal an die russische Bevölkerung ausgehen, dass mit Protest eine demokratische Veränderung durchgesetzt werden kann. Zum anderen ist es für Russland von Vorteil, wenn es mit Lukaschenko weiterhin über einen Ansprechpartner verfügt, der weitgehend im Alleingang über die großen politischen Entscheidungen bestimmen kann. Das macht Absprachen weit weniger kompliziert, als wenn verschiedene Akteure mitreden oder sogar Vetos einlegen könnten.
Gleichwohl ist Russland aber auch daran gelegen, den politischen Konflikt möglichst nicht weiter eskalieren zu lassen, denn auch das bringt Unsicherheit ins Verhältnis zu Belarus – und gerade das kann Russland momentan nicht gebrauchen. Insofern ist es plausibel, dass Russland Lukaschenkos Zugeständnisse mitträgt, wenn sie seine Macht sichern.
6. Könnte die Opposition das Zeitfenster des Referendums auch für sich nutzen, um neuerliche Proteste in Belarus anzustoßen?
Ein Präsidialerlass vom 20. Januar sieht vor, das Referendum am 27. Februar abzuhalten. Dass man solange wie möglich die konkrete Planung geheim gehalten hat, ist höchstwahrscheinlich Teil der Strategie, anderen Akteuren so wenig Planungsspielraum wie möglich zu geben. Verschiedene Oppositionsgruppen haben sich gleichwohl schon vor Wochen auf eine Strategie geeinigt. Sie gehen davon aus, dass es auch diesmal erhebliche Fälschungen geben wird. Sie rufen die Belarussen trotzdem auf, zur Wahl zu gehen und dort die Stimme ungültig zu machen. Auf diese Weise soll bei hoher Wahlbeteiligung zum Ausdruck gebracht werden, dass das Referendum illegitim sei – da es ohne vorhergehende Diskussion, in repressiver Atmosphäre und im Paketwahlverfahren (nur „ja“ oder „nein“ möglich) sowie ohne echte oppositionelle Beteiligung abgehalten wird. Proteste sind aufgrund der hohen zu erwartenden Repressionen nicht geplant – obwohl Umfragen zeigen, dass die Gegner des autoritären Regimes durchaus weiterhin dazu bereit wären.
7. Wie sehen die Belarussen diese angekündigte Verfassungsreform?
In einer Online-Umfrage vom September 2021, die ich zusammen mit Fabian Burkhardt durchgeführt habe, gibt eine stabile Mehrheit von zwei Dritteln an, dass die Verfassung geändert oder ganz erneuert werden müsse. Auch für die nun anvisierten Machtbeschränkungen des Präsidentenamtes gibt es deutliche Mehrheiten. Insofern liegt Lukaschenko mit seinen Zugeständnissen strategisch richtig. Es ist allerdings mehr als fraglich, ob diese ausreichen werden, den weit verbreiteten Wunsch nach echter Veränderung zu stillen.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Die Sorge um die Sicherheit in Europa wächst, angesichts des russischen Säbelrasselns an der Grenze zur Ukraine: So haben einzelne NATO-Mitgliedstaaten wie Dänemark und Spanien erklärt, die Militärpräsenz in Osteuropa zu verstärken. Demnach sollen etwa im Ostseeraum zusätzliche Schiffe und Kampfflugzeuge stationiert werden. Die USA und Großbritannien reduzieren mit Verweis auf die ungewisse Lage das Botschaftspersonal in der Ukraine, die EU und auch Deutschland dagegen belassen das Personal vor Ort. Der EU-Außenbeauftragte Borrell warnte davor, die Lage unnötig zu „dramatisieren“.
Gefährlicher Bluff oder ernsthafte Bedrohung der europäischen Sicherheit: Wie groß ist die Gefahr, dass Russland die Ukraine angreift? Auch in Russland ist man sich darüber uneins. In unterschiedlichen Medien äußern sich dazu unter anderen der Lewada-Soziologe Denis Wolkow, Kreml-Berater Sergej Karaganow und Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa. dekoder hat eine Zusammenschau der drei unterschiedlichen Stimmen zusammengestellt.
„Die Angst vor einem bewaffneten Konflikt ist ziemlich groß“
Im Interview mit Republic erläutert Lewada-Direktor Denis Wolkow neueste Umfrageergebnisse. Das renommierte Meinungsforschungszentrum Lewada fragte nicht nur danach, wie sehr die russische Bevölkerung die Sorge vor einem Krieg umtreibt, sondern auch, wen sie für den Konflikt verantwortlich macht.
Im Alltag denken die Leute natürlich nicht ständig darüber nach, aber die Angst vor einem bewaffneten Konflikt ist ziemlich groß. Im vergangenen Frühjahr erreichte sie einen Maximalwert: 62 Prozent der Befragten sagten, sie hätten Angst vor einem großen Krieg. Gegen Ende des Jahres ließ diese Angst ein wenig nach, im Dezember waren es noch 56 Prozent. Das ist auch viel, aber immerhin weniger. Vermutlich, weil wenigstens Gespräche begannen – zuerst zwischen Putin und Biden, dann auf der Ebene der Außen- und Verteidigungsministerien. Von einem möglichen Konflikt mit den USA und der NATO spricht jetzt rund ein Viertel der Befragten, von einem Konflikt mit der Ukraine sprechen in verschiedenen Umfragen 35 bis 40 Prozent. Wobei die Verantwortung eher auf die andere Seite geschoben wird – nicht einmal auf die Ukraine, sondern auf den Westen, die USA. „Die haben ja angefangen“, was die Sache noch beängstigender macht, nach dem Motto: Wenn wir angefangen hätten, dann könnten wir ja aufhören. Aber es sind die anderen, und die machen vor nichts Halt.
Die Verantwortung wird eher auf die andere Seite geschoben – auf den Westen, die USA
Auch wenn die Gesellschaft also Angst vor dem Krieg hat, ist sie wohl innerlich schon darauf vorbereitet. In den Fokusgruppen klingt das ungefähr so: „Wir werden gegen unseren Willen in einen Krieg hineingezogen.“
„Das ganze Geschrei, wir würden Kiew einnehmen wollen – das ist heiße Luft“
Das Massenblatt Argumenty i Fakty bringt ein Interview mit dem Politikwissenschaftler Sergej Karaganow – Dekan der Fakultät für Wirtschafts- und Außenbeziehungen der HSE sowie Vorsitzender des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik. Der Außenpolitik-Experte bezeichnet die NATO darin als „Krebsgeschwür“ und mahnt, dass sie kontrolliert werden müsse, andernfalls könne sie die Ukraine zum „Hauptmotor der antirussischen Politik in Europa“ machen. Gleichzeitig betont er, dass Russland kein Interesse daran habe, die Ukraine zu besetzen.
[…] Die Ukraine ist ein Puffer. Mal trennt sie uns von potentiellen westlichen Aggressoren, mal wird sie dazu benutzt, um Druck auf uns auszuüben. Aktuell geht es in der Ukraine-Frage in erster Linie darum, dass sich kein feindliches Bündnis in diese Pufferzone ausbreitet. […]
aiF: Selbst wenn NATO-Truppen in der Ukraine wären, wäre das denn wirklich so gefährlich? Die baltischen Staaten sind schließlich seit fast 18 Jahren in der NATO – und bisher ist die Katastrophe ausgeblieben.
Als die Länder Osteuropas, also Polen und die baltischen Staaten, der NATO beigetreten sind, sagte der Westen zu uns: Keine Sorge, das wird sie besänftigen, sie werden euch friedliche, gute Nachbarn sein. Doch das Gegenteil ist eingetreten – sie wurden nur noch wilder. Allein schon die Zugehörigkeit zu einem Bündnis, das auf Konfrontation setzt, stärkt die schlimmsten Elemente in Politik und Gesellschaft. Wir sehen, was im Baltikum passiert ist, wie dreist die Polen geworden sind, weil sie jetzt an vorderster Front der NATO stehen. Eine solche Ukraine können wir überhaupt nicht gebrauchen. Dort gibt es zwar viele prorussisch denkende Menschen, die uns geistig und kulturell nahestehen. Aber es gibt auch andere, dunkle Kräfte. Wollen wir, dass dieser Bodensatz an die Oberfläche gespült wird, dass die Ukraine, genau wie das Baltikum und Polen, zur treibenden Kraft einer russlandfeindlichen Politik in Europa wird? Ganz zu schweigen von den Waffen, die dort stationiert würden.
Ja, unsere Soldaten stehen an der ukrainischen Grenze, aber doch nur, damit von der anderen Seite niemand auf die Idee kommt, sich über den Donbass herzumachen
Aber wir sind keineswegs darauf aus, bis zum letzten Ukrainer um die Ukraine zu kämpfen, wir wollen dort sicher keinen Krieg führen. Das ganze Geschrei, wir würden Kiew einnehmen wollen – das ist heiße Luft. Ja, unsere Soldaten stehen an der ukrainischen Grenze, aber doch nur, damit von der anderen Seite niemand auf die Idee kommt, sich über den Donbass herzumachen. Eine Besetzung der Ukraine, davon bin ich überzeugt, gehört ganz sicher nicht in unseren Militärplan. Und sei es nur deshalb, weil die Besatzung eines Landes, das wirtschaftlich, moralisch und intellektuell kastriert ist, eines Landes mit desolater Infrastruktur und verbitterter Bevölkerung, das denkbar schlechteste Szenario ist. Das Schlimmste, was uns im Moment passieren kann, ist, dass die USA uns die Ukraine in dem Zustand schenken, den sie dort selbst geschaffen haben.
„Wir sind an einem Punkt, an dem Russland entweder in den Abgrund springt oder den Rückzug antritt“
Die Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa sieht im Säbelrasseln Russlands eher einen Bluff, der auf die Instabilität des Systems verweist – und der aber gefährlich sei, da Russland sich damit in eine Position manövriert habe, aus der es nur schwer einen Ausweg gebe.
Was Putin macht, indem er den Westen in die Ecke drängt, – das zeugt davon, wie angreifbar das von ihm geschaffene System ist. Stärke zu demonstrieren, indem man einen „Feind vor den Toren“ zeichnet, gleicht einem Eingeständnis, keine anderen Ressourcen zu haben, und ist die Kehrseite einer Schwäche.
Mit Russlands Säbelrasseln drängt es den Westen zu einer kollektiven Antwort. Länder, die noch nicht zur NATO gehören, sprechen jetzt von einem Beitritt – zum Beispiel Finnland und Schweden. Anfang 2021 dachte Biden über eine Reduktion des Atomwaffenpotenzials der USA nach. Das überlegt er sich jetzt zweimal.
Ein Bluff wirft die Frage auf, ob der Bluffende es sich wirklich leisten kann zu bluffen
Moskau lehrt den Westen, anhand von Ultimaten zu kommunizieren. Wir sagen zu ihnen: „Stoppt die NATO“, und sie zu uns: „Gebt die Krim zurück an die Ukraine, raus aus dem Donbass, raus aus Transnistrien, Abchasien und Südossetien; weg mit den Iskander-Raketen aus Kaliningrad.“ Es ist ein Tauziehen. Und die militärische und wirtschaftliche Überlegenheit liegt nicht auf russischer Seite. Ein Bluff wirft die Frage auf, ob der Bluffende es sich wirklich leisten kann zu bluffen: Wie realitätsbewusst ist er und wie wahrscheinlich ist eine unangenehme Reaktion. Trump hat mit seinen Bluffs und Erpressungen die Führungsrolle der USA untergraben. […] Jetzt, wo Amerika Russland sagt: „Nein, Stopp!“, und Moskau Kompromisse ablehnt, ist eine Pause entstanden. Der Kreml wartet auf ein Gegenangebot seitens der USA und der NATO. Aber es ist doch schon alles gesagt! Die Pause braucht eher Präsident Putin, um einen Entschluss zu fassen. Wir sind an einem Punkt, wo Russland aus Rache für die Weigerung, sein Spiel zu spielen, entweder in den Abgrund springt oder den Rückzug antritt. Aber ein Rückzug ist immer beschämend, nicht wahr?
Das Ergebnis mehrerer Gespräche zwischen den USA, der NATO und Russland in Genf und Brüssel aus den zurückliegenden Tagen ist kurz: Beide Seiten sind sich weiter uneins. Immerhin hat der NATO-Russland-Rat nach mehr als zwei Jahren erstmals überhaupt wieder als offizielles Gremium getagt. Doch die Positionen bleiben verhärtet: Auf der einen Seite steht Russland mit Maximalforderungen, wonach die Ukraine und Georgien keine Mitglieder der NATO werden dürften und wonach die USA ihre Atomwaffen aus Europa abziehen sollten. Auf der anderen Seite halten die USA und die NATO am Prinzip des Selbstbestimmungsrechts möglicher neuer Mitglieder in dem Verteidigungsbündnis fest und lehnen ein Vetorecht für Russland ab. Die massive russische Truppenpräsenz an der Grenze zur Ukraine wird zudem als unmittelbare Bedrohung für die Ukraine gewertet, und die NATO sicherte Unterstützung zu. Aus NATO-Sicht, das sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg, besteht weiter eine Kriegsgefahr. Die USA haben für den Fall der Fälle Sanktionen angekündigt. Die russische Seite streitet Angriffspläne ab. Seit Wochen beunruhigt die russische Truppenpräsenz internationale Beobachter, Diplomaten und politische Vertreter in der Ukraine, der EU und den USA. Die große Frage bleibt, ob es sich um Säbelrasseln handelt, um einen gefährlichen Bluff, um mehr Druck in Verhandlungen auszuüben, oder ob womöglich doch ein direkter Einmarsch droht. Bei diesen aktuellen Krisen-Gesprächen zu zentralen sicherheitspolitischen Fragen für Europa saßen Vertreter der Europäischen Union sowie der Ukraine nicht mit am Tisch; beziehungsweise erst dann, als schließlich noch die Vertreter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am Donnerstag in Wien tagten.
Was bleibt? Vor allem die Tatsache, dass überhaupt gesprochen wurde. Doch wie wird eigentlich gesprochen? Iwan Dawydow hat sich die öffentlichen Umgangsformen von Vertretern des russischen Außenministeriums genauer angeschaut und in bissiger Manier für Republic analysiert.
In der Außenpolitik geht es um Worte, sowohl um geschriebene in Verträgen, als auch um gesprochene aus dem Mund von Diplomaten. Alles erwächst aus Worten, sogar Kriege.
Mich hat gar nicht so sehr der Ausgang der Verhandlungen interessiert [Dawydow bezieht sich auf die Gespräche zwischen Russland und den USA in Genf – dek] – der war nach dem offenkundig unerfüllbaren Ultimatum von Putin vollkommen vorhersehbar – als vielmehr die Worte, die noch vor Beginn zu hören waren. Hier ein kurzer Satz des stellvertretenden Außenministers Russlands Sergej Rjabkow: „Die NATO soll ihre Siebensachen packen und in die Grenzen von 1997 abmarschieren.“
Interessant wäre nachzuvollziehen, ab wann die Sprache der russischen Diplomatie mutiert ist
Interessant wäre nachzuvollziehen, ab wann die Sprache der russischen Diplomatie mutiert ist. Ich denke mal seit Ende 2013, doch das ist schwer zu sagen. Hier sind brandneue Beispiele: Maria Sacharowa kommentiert (nicht sehr korrekt, doch ohne Flüche und direkte Beleidigungen) die Erklärung von US-Außenminister Antony Blinken zu den Ereignissen in Kasachstan: „Wenn in dieser Situation amerikanische Vertreter etwas zu Kasachstan sagen sollen, geraten sie öffentlich in eine Sackgasse. Sie wissen gar nicht, was sie sagen sollen. Sehen Sie sich doch das kindische Geplapper und den Quatsch an, den die verbreiten.“
Oder dieser andere Fall, als Xenija Sobtschak in ihrem Telegram-Kanal irgendeinen witzigen Tweet geteilt und angemerkt hat, dass Sacharowa sich widersprüchlich äußere. Und sie dann noch „ihre liebste Optimistin“ nannte. Da stellte sich der gesamte Pressedienst des Ministeriums auf die Hinterbeine, um die Sprecherin des russischen Außenministeriums in Schutz zu nehmen. Und auch hier haben die Diplomaten, wie ja eigentlich üblich, ihre Worte nicht sorgfältig gewählt. „Nicht bei Sacharowa stimmt da was nicht – sondern Sie zeigen hier einen akuten Ausbruch von Dummheit und Wut“ (so der Anfang der Reaktion auf Sobtschak). „Lassen Sie uns mal nachdenken, was die Welt nötiger braucht: einen optimistischen Menschen oder einen depressiven Unmenschen. Frohe Festtage! Frohe Weihnachten!“ (so das Ende der Erklärung).
Und so weiter, geradewegs bis zu den berühmten „Debilen“ aus dem Mund des Außenministers daselbst.
Ich habe eine Hypothese, warum die Auftritte russischer Diplomaten schrittweise zu einer recht erbärmlichen Stand-up-Show verkommen, wo jede Nachricht in den offiziellen (also zum Begeistern verpflichteten) Medien mit Worten wie „auslachen“, „auf seinen Platz verweisen“ und so weiter beginnt.
Ich denke, der Grund ist, dass die Außenpolitik in Putins Staat zwar die größte Rolle spielt, er jedoch innerhalb des Landes gefallen möchte. Denen hier, uns. Schlussendlich sind es keineswegs Wahlen, die für seine Legitimierung grundlegend sind, wie in den trostlosen Demokratien. Es ist dieses nicht greifbare Gefühl der Unterstützung durch das Volk. Das Regime braucht das Gefühl der Einheit der Nation – und es ist alles andere als ein Zufall, dass sie alle, begonnen beim Führer, besonders oft und gern inspirierte Reden von unserer besonderen Einigkeit schwingen. Geopolitische Erfolge sind auch ein Mittel der Vereinigung, ein Motiv für Großtuerei, das oft – häufig als einziges – gar nicht so schlecht funktioniert (siehe Krim).
Das ist alles nur für uns – sie wollen ja mit ihren Pöbeleien und Beleidigungen nicht erreichen, dass sich die Amerikaner in sie verlieben.
Die Sprache ist ein wildes Tier, das leicht seinen Sprecher zum Untertan macht
An den Reden unserer Diplomaten erkennen wir, als was der Staat uns sieht. Welches „uns“ er da beeindrucken möchte. Offenbar sieht er in uns jene Bürger, die auf der Straße hocken und Adiletten tragen. Die mit den „traditionellen Werten“, die ungefähr den ungeschriebenen Diebesgesetzen gleichen. Die, die sich sicher sind, dass Respekt Angst bedeutet und es nichts Wichtigeres als rohe Gewalt gibt und dass das Recht des Stärkeren das einzig wirkliche Recht ist und dass ein Mensch mit echter Autorität der ist, der das Viertel kontrolliert und alle Schwächeren traktiert.
Sie inszenieren sich, passen sich an, versuchen in der Sprache zu sprechen, von der sie glauben, dass sie verständlich und volksnah ist, und geraten dabei in die Falle: Die Sprache ist ein wildes Tier, das leicht seinen Sprecher zum Untertan macht. Und je mehr das geschieht, desto weniger treffen sie die Zielgruppe im Land (die Mehrheit mag bei uns vielleicht auf Reden über imperiale Größe versessen sein, aber wir sind dennoch keine Hinterhof-Gopniki).
Und je heftiger das wird, desto mehr werden sie selbst zu Gopniki von Rang. Denn die Welt eines Menschen ist seine Sprache, und die Sprache der Aggression macht den Menschen zu einem primitiven Aggressor – selbst wenn dieser einen renommierten Abschluss des MGIMO in Internationalen Beziehungen hat. Und irgendwie unbemerkt passiert es von alleine, dass sich der Staat einer ziemlich kleinen und unangenehmen Bevölkerungsgruppe anpasst und auf globaler Ebene genau deren Weltbild reproduziert. Sie haben Russland von den Knien erhoben, es in Hockstellung gebracht, und zischen nun den Passanten zu: „Ej Junge, komm ma her!“ Und wedeln dabei munter mit ihren Hyperschall-Knüppeln herum.
Wenn man das laut sagt, sind sie beleidigt – und nicht ohne Grund: Sie können mehrere Sprachen, mögen klassische Musik, lesen Bücher, in ihren Anzügen, mit Krawatte … Doch die Adiletten schimmern trotzdem durch den edlen Stoff von Brioni.
Hier ließen sich ein paar Witze über einen Petersburger Hinterhof ergänzen, aber das wäre, erstens, ziemlich banal, und, zweitens, ist unser Politiker Nummer eins trotz allem komplizierter als das primitive Bild, das missgünstige Kritiker von ihm malen.
Leider ist er komplizierter, sonst würde er uns nicht regieren.