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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bystro #39: Wahlen als Stimmungstest für den Krieg?

    Bystro #39: Wahlen als Stimmungstest für den Krieg?

    Überraschungen gab es bei diesen Wahlen keine: Drei Tage lang waren rund 45 Millionen Wahlberechtigte in mehr als 80 russischen Regionen an die Wahlurnen gerufen. Weit vorne bei diesen ersten Regionalwahlen seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine, liegt die Regierungspartei Einiges Russland. 

    Doch wie verlief der Wahlkampf, wie verliefen die Wahlen selbst? Und können sie als eine Art Stimmungstest für oder gegen den Krieg gelesen werden? Jan Matti Dollbaum beantwortet diese und weitere Fragen in unserem Bystro.

    1. Können diese Wahlen als eine Art Stimmungstest für oder gegen den Krieg gelesen werden? 

    Nein. Keine der größeren Parteien hat sich gegen den Krieg positioniert. Neben der dominanten Partei Einiges Russland haben sich sowohl die LDPR, als auch die KPRF und die (im letzten Jahr mit zwei Kleinstparteien fusionierte) Partei Gerechtes Russland eindeutig für die sogenannte „Spezialoperation“ ausgesprochen. Insofern gab es in Bezug auf die Position zum Krieg keine Auswahl – und daher taugten die Wahlen auch kaum zum Stimmungstest.

    Darüber hinaus griffen bei den Wahlen die bekannten Mechanismen des russischen autoritären Regimes, mit denen einige Kandidaten von der Wahl ausgeschlossen wurden, Beobachter teils in ihrer Arbeit behindert und einige sogar festgenommen wurden. Außerdem lassen insbesondere die Ergebnisse des online erfolgten Teils der Wahlen große Zweifel an ihrer Korrektheit aufkommen. Auch wenn es also eine echte Auswahl zwischen einem pro- und einem Anti-Kriegslager gegeben hätte, dann hätte der Kreml dafür gesorgt, dass letzteres klar verliert.

    2. Die Regionalwahlen waren die ersten Wahlen seit Beginn des Angriffskriegs. Wie hat der Krieg den Wahlkampf oder die Wahlbeteiligung beeinflusst?

    Der Krieg hat die Wahlen insofern beeinflusst, als dass er den politischen Wettbewerb und den Diskurs noch einmal stärker eingeschränkt hat. Das begann schon im Jahr 2021 mit der außerordentlichen Repression gegen oppositionelle PolitikerInnen und AktivistInnen sowie gegen unabhängige Medien, die in der Rückschau plausibel als Kriegsvorbereitung erklärt werden kann. Aufgrund der repressiven Gesetzgebung, die die Berichterstattung zum Krieg stark einschränkt, konnte er zudem nicht auf eine Weise diskutiert werden, die eine unabhängige Meinungsbildung ermöglicht hätte.

    In Regionen mit relativ hohem Potential für Protestwahl, wo die systemischen Oppositionsparteien bei der letzten Dumawahl im Herbst 2021 gut abgeschnitten und diesmal bei den Gouverneurswahlen theoretisch Chancen gehabt hätten – etwa in Marii El, Udmurtien und Jaroslawl – haben diese Parteien ihre stärksten Kandidaten nicht ins Rennen geschickt – oder sogar überhaupt niemanden aufgestellt.

    All das hat dazu beigetragen, dass die Regionalwahlen im Schatten des Krieges zu einem noch unwichtiger erscheinenden Ereignis wurden, als sie es ohnehin sind.

    3. Gab es bei dieser Wahl irgendeine Überraschung?

    Bei den Gouverneurswahlen liegen ausnahmslos die vom Kreml unterstützten Kandidaten vorn und auch bei die regionalen und lokalen Wahlen gab es keine Überraschungen. Ella Pamfilowa, Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission, hat die Wahlen als „ziemlich langweilig“ bezeichnet.

    Aufmerksamkeit haben, wenn überhaupt, die Nachrichten über Fälschungen erregt. Neben den üblichen Verfahren – etwa wenn Wahlhelfer große Pakete vorausgefüllter Wahlzettel in die Urnen werfen – haben diese auch mit der im letzten Jahr eingeführten elektronischen Stimmabgabe zu tun. In Moskau liegt bei den Lokalwahlen die offizielle Wahlbeteiligung nach Auszählung der elektronisch abgegebenen Stimmen unrealistisch hoch bei über 30 Prozent. Zum Vergleich: Im Jahr 2017, als es eine breite und sichtbare Oppositionskampagne gab, lag sie bei gut 14 Prozent. Sogar Sergej Mironow, der Vorsitzende der systemischen Oppositionspartei Gerechtes Russland, beklagte, dass er in seinem Wahllokal abgewiesen wurde, weil er laut Wahlhelfern schon elektronisch abgestimmt hatte. Die Vermutung liegt also nahe, dass die nicht kontrollierbare elektronische Wahl zu erheblichen Manipulationen genutzt wird.

    4. Ist überhaupt noch irgendeine Art von Opposition im Land, die bei solchen Wahlen antreten kann? 

    Nach der Zerstörung von Alexej Nawalnys Organisationen im Jahr 2021 haben die Behörden auch im Vorfeld dieser Wahlen noch verbliebene kritische Stimmen zum Verstummen gebracht. Die wichtigsten sind der ehemalige Bürgermeister Jekaterinburgs Jewgeni Roisman und Nawalnys Mitstreiter und Oppositionspolitiker Ilja Jaschin. Die Festnahmen waren Reaktionen auf Äußerungen der beiden gegen den Krieg.

    Funktionierende Oppositionsgruppen, die – wie im Herbst 2019 in Moskau – Protest gegen Wahlmanipulationen organisieren könnten, gibt es so gut wie nicht mehr, wenn man von den systemischen Oppositionsparteien absieht, die derzeit vollkommen loyal sind. Allein die marginale sozialliberale Partei Jabloko trat „Für Frieden“ an – als einzige Organisation, die sich nicht dem sogenannten „Donbass-Konsens“ unterordnet. Doch aufgrund der geltenden Gesetzeslage ist auch Jabloko sehr vorsichtig.

    5. Gab es Strategien, die Wahlen kreativ zum Ausdruck von Protest zu nutzen?

    Nawalny hatte aus dem Gefängnis zur Teilnahme an seinem Projekt Smart Voting aufgerufen, und auch sein Chefstratege Leonid Wolkow hat regelmäßig den Nutzen des taktischen Wählens beschworen. Beim Smart Voting gibt Nawalnys Team Empfehlungen an oppositionell gesinnte Wählerinnen und Wähler dazu, welchen Kandidaten sie ihre Stimme geben sollen – um die Chance zu erhöhen, gegen die Kandidaten der Partei Einiges Russland zu gewinnen. Diesmal hatte sich das Team entschieden, nur Kandidatinnen und Kandidaten zu empfehlen, die sich gegen den Krieg ausgesprochen hatten – eine Abweichung vom früheren Vorgehen, bei dem die ideologische Position für Empfehlungen zweitrangig war, was in der Vergangenheit regelmäßig Streit innerhalb der Opposition provoziert hatte. 

    Doch selbst in Nawalnys Team schien die Überzeugung nachzulassen, dass dieses Instrument in den aktuellen Umständen etwas bewirken kann. Wolkow erklärte in einem Interview, dass man lange abgewogen habe und sich nur aufgrund der Nachfrage aus den eigenen Reihen dazu entschlossen habe, Smart Voting auch diesmal – und nur in Moskau – zu organisieren. Auch wenn heute, am 12. September, das offizielle Endergebnis noch aussteht, ist nicht damit zu rechnen, dass Smart Voting Erfolge zu vermelden hat. 

    6. Warum gibt es denn überhaupt noch Wahlen, wenn das Regime sich doch offenbar auf Repressionen stützt und daher eigentlich keiner Legitimität bedarf?

    Wahlen einfach abzuschaffen, läge sicher in der Macht des Kreml, käme aber einem Signal der Kapitulation gleich. Denn auch höchst repressive autoritäre Regime überleben nicht allein durch Repression. Zur Generierung von Legitimität können wirtschaftliche Erfolge, militärische Siege und eben auch gewonnene Wahlen dienen. In Russland sind die ersten beiden derzeit rar, also bleiben nur Wahlerfolge, insbesondere die von Gouverneuren. Es ist den Entscheidern im Kreml allerdings wohl klar, dass wenige tatsächlich von diesen Wahlerfolgen überzeugt sein werden. Doch auch wenn die meisten Menschen von Manipulationen ausgehen, zeigen diese Wahlen doch, dass es keine Organisationen gibt, die etwas dagegen setzen können. Die Wahlen dienen also aktuell weniger dazu, Legitimität zu erzeugen, als die Dominanz des Kreml zu illustrieren und seine Fähigkeit, die gewünschten Ergebnisse zu produzieren. Sie können und sollen in erster Linie entmutigen.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Jan Matti Dollbaum 
    Veröffentlicht am: 12. September 2022

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  • Inoagenty: Wer alles als „ausländischer Agent“ gilt

    Inoagenty: Wer alles als „ausländischer Agent“ gilt

    „Ausländischer Agent“ – mit diesem Status sanktioniert das russische Justizministerium seit 2012 unliebsame NGOs, und nicht nur: Seit 2017 kann es ebenso Medien treffen, seit 2019 auch Einzelpersonen. Wer den Status bekommt, das wird willkürlich und selektiv entschieden. Ein Kriterium war lange unter anderem eine „ausländische Finanzierung“. Das fällt nach einer Gesetzesänderung vom Juli 2022 aber weg – es reicht fortan die Feststellung eines „ausländischen Einflusses“, was den Machthabern noch größere Freiheiten in der Anwendung dieses politischen Druckmittels gibt.

    Denn der Status ist nicht einfach ein Label, sondern geht mit erheblichen Auflagen und Einschränkungen einher, die die Arbeit der Betroffenen enorm erschweren oder gar unmöglich machen. Was offensichtlich als Brandmarkung und Schmähliste gedacht ist – Betroffene müssen jegliche Veröffentlichungen, selbst auf Social Media, als von einem „ausländischen Agenten“ erstellt oder verbreitet kennzeichnen – wird in kremlkritischen Kreisen oft sarkastisch als Auszeichnung und Anerkennung der eigenen Arbeit aufgefasst. Doch dahinter steht trauriger Ernst: Die meisten der so diffamierten NGOs, Medien, Aktivisten, Menschenrechtler und Journalisten mussten Russland spätestens seit dem 24. Februar 2022 aus Sorge um die eigene Sicherheit verlassen.

    Unter den Betroffenen sind viele Organisationen, Medien und Journalisten, die auch auf dekoder erscheinen – wir stellen sie und ihre Arbeit in dieser Liste vor.


     

    15. September 2023

    • Stanislaw Belkowski, Polittechnologe und Publizist

    8. September 2023

    • Natalja Pelewina, Politikerin und Menschenrechtlerin

    1. September 2023

    25. August 2023

    18. August 2023

    • Andrej Piontkowski, Publizist und Oppositionspolitiker

    21. Juli 2023

    • 7×7, Online-Medium aus der Republik Komi 

    30. Juni 2023

    16. Juni 2023

    2. Juni 2023

    • Dimitri Oreschkin, Politologe
    • Roman Super, Journalist

    26. Mai 2023

    5. Mai 2023

    21. April 2023

    14. April 2023

    • Agenstwo, unabhängiges Investigativmedium von Projekt 
    • Carnegie Endowment for International Peace, internationaler Think Tank mit dem Moskauer Carnegie-Zentrum als Filiale in Russland bis 2022
    • Pawel Kanygin, Journalist (→ Autorenseite)

    7. April 2023

    • Arkadi Babtschenko, Journalist

    31. März 2023

    • True Russia, eine von Boris Akunin, Michail Baryschnikow und Sergej Gurijew gegründete Stiftung zur Unterstützung von Kriegsopfern

    23. März 2023

    10. März 2023

    17. Februar 2023

    10. Februar 2023

    27. Januar 2023

    20. Januar 2023

    23. Dezember 2022

    • Swetlana Gannuschkina, Menschenrechtlerin
    • Andrej Kolesnikow, Journalist (→ Autorenseite)

    9. Dezember 2022

    25. November 2022

    • Anna Mongait, Journalistin bei Doshd
    • Jewgeni Roisman, Politiker

    18. November 2022

    28. Oktober 2022

    • Jekaterina Kotrikadse, Journalistin bei Doshd
    • Wladimir Romenski, Journalist, ehemals Doshd
    • Natalja Sindejewa, Gründerin von Doshd
    • Ivan Yakovina, Journalist in der Ukraine, ehemals Lenta.ru

    21. Oktober 2022

    • Alexander Pljuschtschew, Journalist bei Echo Moskwy
    • Ilja Ponomarjow, Politiker
    • Michail Sygar, ehemaliger Chefredakteur von Doshd

    14. Oktober 2022

    7. Oktober 2022

    16. September 2022

    • Maxim Galkin, TV-Moderator und Comedian (Ehemann von Alla Pugatschowa)

    9. September 2022

    2. September 2022

    29. Juli 2022

    22. Juli 2022

    • Veronika Belozerkowskaja, Journalistin und Medienmanagerin
    • Ilja Jaschin, Politiker
    • Maxim Kaz, Politiker und Publizist

    10. Juni 2022

    3. Juni 2022

    • Oleg Kaschin, Journalist (→ Autorenseite)
    • Alexej Piwowarow, Gründer des Medienprojekts Redakzija
    • Jewgeni Tschitschwarkin, Unternehmer

    20. Mai 2022

    • Michail Chodorkowski, Unternehmer und Politiker
    • Garri Kasparow, Politiker

    6. Mai 2022

    • Leonid Gosman, Politiker (→ Autorenseite)
    • Wladimir Milow, Politiker
    • Morgenshtern, Rapper 
    • Ljubow Sobol, Politikerin und Juristin beim Fond für Korruptionsbekämpfung

    22. April 2022

    15. April 2022

    8. April 2022

    1. April 2022

    30. Dezember 2021

    15. Oktober 2021

    8. Oktober 2021

    29. September 2021

    20. August 2021

    18. August 2021

    23. Juli 2021

    15. Juli 2021

    14. Mai 2021

    12. Mai 2021

    23. April 2021

    28. Dezember 2020

    • Lew Ponomarjow, Menschenrechtsaktivist

    5. Dezember 2017

    4. Oktober 2016 

    5. September 2016

    21. Juli 2014

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  • Zitat #13: „Alles, was Gorbatschow geschaffen hat, ist zerstört“

    Zitat #13: „Alles, was Gorbatschow geschaffen hat, ist zerstört“

    Wie stand Gorbatschow, Wegbereiter der Perestroika, zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine? Alexej Wenediktow, ehemaliger Chefredakteur von Echo Moskwy, war Gorbatschow nahe und äußerte sich dazu Ende Juli im Video-Interview mit Forbes. Ein Ausschnitt.



    [bilingbox]Alexej Wenediktow:… Der arme Michail Sergejewitsch Gorbatschow … alles, was er geschaffen hat, ist zerstört. All seine Reformen – die politischen, nicht die wirtschaftlichen – weg! Nur noch Staub und Asche! 

    […]

    Anton Shelnow/Forbes: Haben Sie persönlich mit Gorbatschow über die [jüngsten] Ereignisse gesprochen? Öffentlich hat er sich ja nicht geäußert, darum interessiert mich Ihre Einschätzung.

    Nein, öffentlich hat er sich nicht geäußert. Ich kann Ihnen sagen, dass er bestürzt ist. Natürlich versteht er, was da passiert. Das war sein Lebenswerk. Die Freiheit – das war Gorbatschow. Alle haben schon vergessen, wer der Russisch-Orthodoxen Kirche die Freiheit gegeben hat. Wer war’s? Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Die Meinungsfreiheit, das erste Pressegesetz, erstmals Privateigentum – alles das Verdienst von Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Na, was soll er wohl sagen?~~~Алексей Венедиктов: […] Бедный Михаил Сергеевич Горбачов, … где все разрушено, что он сделал. Вот все реформы горбачевские – неэкономические, политические – Все! В ноль! В прах! В дым!

    Forbes: Вы говорили с Горбачевым о происходящем? Публично он не высказывался, поэтому мне интересна ваша оценка.

    Не, публично он не высказывался. Могу вам сказать, что он расстроен. Естественно, он понимает. Это было дело его жизни. Свобода — это дело Горбачева. Все уже забыли, кто дал свободу Русской православной церкви. Кто? Михаил Сергеевич Горбачев. Свобода слова, первый закон о печати — Михаил Сергеевич Горбачев. Частная собственность впервые — Михаил Сергеевич Горбачев … Ну, что он сейчас будет говорить?[/bilingbox]

    Original vom 20.07.2022
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 31.08.2022

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    Gorbatschow und die Befreiung von der Lüge

    Die Wilden 1990er

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  • Die Lage der Medien in Russland und Belarus – dekoder-Redakteure in Interviews

    Die Lage der Medien in Russland und Belarus – dekoder-Redakteure in Interviews

    Für unabhängige Journalisten und Medien hat sich die Situation in Russland seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine dramatisch verschlechtert. Soweit bekannt, haben seither mindestens 500 Medienschaffende das Land verlassen. 
    Über die Lage der Medien in Russland und Belarus haben dekoder-Redakteure seit dem 24. Februar 2022 in zahlreichen Interviews, online, in Radio und Print, gesprochen. 

    Die Interviews und Podiumsdiskussionen im Überblick 
    (in chronologischer Reihenfolge):

    21. Februar 2023: „Kritischer Journalismus in Russland und Belarus“ 

    WDR5: dekoder-Übersetzungredakteurin Friederike Meltendorf und Herausgeberin des dekoder-Buches „Das ist ein Ozean aus Wahnsinn" spricht im Interview über die Lage der unabhängigen Medien und Journalisten in Russland und Belarus: „Unabhängigger Journalismus ist in diesen Ländern nicht mehr möglich."

    29. Juni 2022 „Der Diskurs geht weiter“ 
    TAZ: Thema im Interview mit dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher sind die neuen Wege, die sich die russischen unabhängigen Medien im Exil suchen. Riga ist ein Anlaufpunkt, so sich Redaktionen neu sortieren. Aber auch die bedeutende Rolle von YouTube wird dargestellt – dort erlebt der geschlossene Sender Echo Moskwy zumindest eine teilweise Wiedergeburt: „Der Diskurs geht weiter“

    29. Juni 2022 „Krieg ohne Ende?“ 
    TAZ-Salon: Tamina Kutscher spricht über die Themen, die jetzt im unabhängigen russischen Diskurs dominieren, allen voran „Wo liegt unsere Schuld? Wo liegt unsere Verantwortung?“ Es sind Stimmen wie die von Anton Dolin, der vor Jahren entschieden hat, sich journalistisch lieber Filmkritiken zuzuwenden (statt der Politik im eigenen Land) und sich nun dafür Vorwürfe macht. Sie spricht über die Arbeit von mutigen regionalen Journalisten und Medien wie Ljudi Baikala, deren Texte auch die Wirkung der Propaganda offenlegen. Das und mehr in einem Austausch mit Susanne Schattenberg von der FSO, die auch dekoder-Gnosistin ist, sowie mit Roman Dubasevych von der Universität Greifswald: „Krieg ohne Ende?“ 

    Es geht um Skandalisierung und darum, ein Feindbild zu schärfen 

    – Tamina Kutscher am 04.05. im SRF über russische Polit-Talkshows

    05.05.2022 „Geschichtsbilder (in den sozialen Medien) im Krieg in der Ukraine“
    STIFTUNG EVZ: Die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft fragt in ihrer Reihe EVZ Conversations! nach der Instrumentalisierung der Geschichte in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. dekoder-Politikredakteur Anton Himmelspach über die in vielen liberalen russischen Medien diskutierte Frage, ob der Krieg gegen die Ukraine auch ein Krieg gegen den Westen sei. „Geschichtsbilder (in den sozialen Medien) im Krieg in der Ukraine“

    04.05.2022 „Talkmaster Solowjow: der finstere Diener seines Herrn“
    SRF: dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher ordnet beim SRF einen der zentralen Propagandisten des russischen Staatsfernsehens ein, Wladimir Solowjow. „Es geht um Skandalisierung und darum, ein Feindbild zu schärfen“ – das der Ukraine und des Westens: „Talkmaster Solowjow: der finstere Diener seines Herrn“

    03.05.2022 „Totale Kontrolle? Zensur & Pressefreiheit in Russland seit Beginn des Ukraine-Krieges“
    CAMPUS-FORUM: dekoder-Redakteur Ingo Petz diskutierte beim Campus-Forum. Diskurs in der Stasi-Zentrale mit und sprach über Pressefreiheit in Russland und über die Schließung unabhängiger Medien, die es bereits zu Beginn von Putins erster Amtszeit gab. Er verweist auf die Zerschlagung des damaligen „Leuchtturms der neuen, russischen freien Medienlandschaft“ NTW und die gleichzeitige Herausbildung spezifischer Mechanismen der russischen Propaganda, „deren Ergebnis wir uns gerade täglich anhören“: „Totale Kontrolle? Zensur & Pressefreiheit in Russland seit Beginn des Ukraine-Krieges“

    28.04.2022 „Wahrheit gegen Propaganda – Medienberichterstattung in Krise und Krieg“ 
    MEDIA FORUM: Bei einer Diskussionsrunde des Medieninstituts Mainz gibt dekoder-Redakteurin Mandy Ganske-Zapf zwei Monate nach Beginn des großflächigen Angriffskriegs auf die Ukraine Einblick in die verheerende Lage der russischen Medien. Sie weist darauf hin, dass viele Menschen sich nach jahrelanger repressiver Politik unter Putin von Politik abgekoppelt haben. Also kaum noch zu erreichen sind, selbst wenn sie unabhängige Informationen erhalten. „Wahrheit gegen Propaganda – Medienberichterstattung in Krise und Krieg“ 

    23.04.2022 „Medien im Krieg: Zuerst stirbt die Wahrheit“
    REPUBLIK: Bei einem Tag voller Panel-Diskussionen des Online-Magazins Republik in Zürich spricht dekoder-Wissenschaftsredakteur Leonid Klimov zur Frage, wie jetzt noch unabhängiger Journalismus innerhalb Russlands möglich ist: Diese Landschaft wurde fast komplett platt gemacht, sagt er auf dem Podium – und gibt einen Einblick in die neuen repressiven Gesetze, die seit dem großflächigen Angriffskrieg in Russland greifen.
    Mit ihm diskutieren die ukrainische Desinformations­forscherin Anastasiia Grynko und die Republik-Redakteurin Adrienne Fichter. „Medien im Krieg: Zuerst stirbt die Wahrheit“

    Was wir derzeit in Russlands Medienlandschaft erleben, ist beispiellos. Es geht dem Staat um die totale Kontrolle des Informationsraumes

     – Tamina Kutscher zu den Repressionen gegen Medienschaffende in Russland

    13.04.2022 „‚Spezialeinsatz‘ in der Ukraine: Viele Russen unterstützen Putins Krieg“ 
    DEUTSCHE WELLE: „Die Propaganda tut ihre Wirkung – und auch die Entpolitisierung in 20 Jahren Putin.“ – dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher im Interview mit der Deutschen Welle zu den hohen Zustimmungswerten für Putin in Russland, was das mit Propaganda zu tun hat und wie dramatisch sich die innenpolitische Lage in Russland für Meinungsfreiheit und Medienschaffende verschärft hat: „‚Spezialeinsatz‘ in der Ukraine: Viele Russen unterstützen Putins Krieg“

    09.04.2022 „Putins Propaganda – Warum Russlands Bevölkerung nicht aufschreit“
    SR2: dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher in der Sendung SR2 Medien – Cross und Quer zur Frage, wie dominierend das russische Staatsfernsehen in Russland ist. „Polit-Talkshows haben die Funktion einzupeitschen.“ „Putins Propaganda – Warum Russlands Bevölkerung nicht aufschreit“

    09.04.2022 „Putins perfekter Erfüllungsgehilfe“
    WESTFÄLISCHE NACHRICHTEN: „Er ist eine Art Propagandaminister geworden.“ – dekoder-Politikredakteur Anton Himmelspach hat mit den Westfälischen Nachrichten über den russischen Außenminister Sergej Lawrow gesprochen (hinter Paywall): „Putins perfekter Erfüllungsgehilfe“

    05.04.2022 11 Fragen an Tamina Kutscher von dekoder.org 
    KAS: Es ist Anfang April und die Lage der russischen unabhängigen Medien hat sich bereits dramatisch verschärft. Zum Zeitpunkt, als das Interview geführt wird, erscheint die Novaya Gazeta noch, die als ein Aushängeschild auch der investigativen Medien noch mehrere Wochen versucht hat, der Staatspropaganda etwas entgegenzusetzen. Darüber und über die Gewalt des Staates insgesamt nach innen, spricht dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher mit der Konrad-Adenauer-Stiftung: „Je länger der Krieg dauert, je grausamer die Bilder, desto stärker wird die Kontrolle im Inneren“

    02.04.2022 Meduza – regierungskritische Medienstimme im Exil“
    DLF KULTUR: Ein russisches Exilmedium, das bereits seit dem Jahr 2014 in Riga eine gut funktionierende Redaktion aufgebaut hat, ist Meduza. Unter Herausgeberin Galina Timtschenko bildet Meduza gerade auch jetzt in Zeiten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine eine kritische Stimme, die kontinuierlich ohne Bruch seit dem 24. Februar 2022 berichten konnte. Andere Medien, die noch in Russland waren, müssen sich im Exil zunächst neu erfinden. Doch auch Meduza kommt nun unter großen finanziellen Druck. dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher kommt im hier gezeichneten Medienporträt zu Wort: Meduza – regierungskritische Medienstimme im Exil“

    Nischen, wie es sie bisher gab, soll es offensichtlich nicht mehr geben. Allein diese Chance scheint schon zu viel zu sein

     – Mandy Ganske-Zapf am 29.03. in NDR Kultur über Drangsalierung letzter unabhängiger Internetmedien in Russland

    31. März 2022 „dekoder – über den Versuch Russland zu entschlüsseln“
    RADIO CORAX: Wie sieht die russische Medienlandschaft einen guten Monat nach Beginn des russischen Angriffskrieges aus? dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher spricht über die Auswirkungen des Gesetzes über die „Diskreditierung der russischen Armee“ vom 4. März 2022, das zur Folge hat, dass unabhängige Medien den Krieg nicht mehr als Krieg bezeichnen dürfen. „Wir erleben einen Kahlschlag“ – Doshd, Novaya Gazeta, Echo Moskwy gaben auf und auch sonst wird die Entwicklung der vergangenen Wochen nachgezeichnet. „dekoder – über den Versuch Russland zu entschlüsseln“

    30.03.2022 „Das ist selbst für Russland beispiellos“
    T-ONLINE: Mit der Novaya Gazeta ist „das letzte große unabhängige Medium gefallen“, sagt dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher im Gespräch mit t-online. Gleichzeitig weist sie darauf hin, wie sehr Plattformen wie YouTube und Telegram damit für den russischen Informationsraum an Bedeutung gewinnen: „Das ist selbst für Russland beispiellos“

    Wir brauchen viel mehr Wissen über die Ukraine

    – Ingo Petz am 30.03. beim Digitalen Salon der Humboldt-Universität zu Berlin

    30.03.2022 „Zensur, Solidarität und Informationsfreiheit auf digitalen Plattformen im Russland-Ukraine-Krieg“
    HIIG: Unser Redakteur Ingo Petz hat beim Digitalen Salon der Berliner Humboldt-Universität zum Thema Propaganda, Krieg und soziale Medien mitdiskutiert. Er macht darauf aufmerksam, dass man die autoritären Regime unterscheiden lernen müsse, das Regime Putin, das Regime Lukaschenko. Zugleich appelliert er: „Wir brauchen viel mehr Wissen über die Ukraine.“ Der ganze Stream: „Zensur, Solidarität und Informationsfreiheit auf digitalen Plattformen im Russland-Ukraine-Krieg“

    29.03.2022 „Medien in Russland: Aus für Kreml-kritische Zeitung ‚Nowaja Gaseta‘“
    NDR KULTUR: Am 28. März kündigt die Novaya Gazeta an, bis auf Weiteres nicht mehr zu erscheinen. Der Grund: Die Zensur und die Verwarnungen der Medienaufsicht, die die Zeitung erhalten hat, die dem Medium am Ende die Lizenz kosten könnte, wie es in einer entsprechenden Erklärung heißt. Was bedeutet das Vorgehen des Staates? „Nischen, wie es sie bisher gab, soll es offensichtlich nicht mehr geben. Allein diese Chance scheint schon zu viel zu sein.“ – das sagt Redakteurin Mandy Ganske-Zapf auf NDR Kultur zum Aussetzen der Novaya und spricht darüber, wo sich kritische Stimmen aus dem russischen unabhängigen Journalismus jetzt noch finden. „Medien in Russland: Aus für Kreml-kritische Zeitung ‚Nowaja Gaseta‘“

    25.03.2022 „So hetzen russische Talkshows im Auftrag des Kreml“
    SPIEGEL: Die Polit-Talkshows in staatlichen und staatsnahen russischen Fernsehkanälen sind derb und drastisch. Wie sind geäußerte Drohungen, dass es zu Atombombenangriffen auf Europa kommen wird, zu deuten? dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher sagt: „Hier wird Propaganda-Narrativen nochmal ein emotionaler Verstärker geboten.“ Der ganze Beitrag über russische Polit-Talkshows, Solowjow & Co.: „So hetzen russische Talkshows im Auftrag des Kreml“

    22.03.2022 „Hilfe für Medienschaffende aus der Ukraine und Russland“
    DLF KULTUR: Mindestens 150 Journalistinnen und Journalisten haben, soweit bekannt, bis dato Russland verlassen. Ihre Lage im Exil – alles andere als einfach. Auch Medien, die es schon länger im Exil gibt, darunter das Online-Medium Meduza, bangen um ihre Finanzierung. Das betrifft aber auch die unabhängigen Medien in der Ukraine, die im Krieg noch ganz andere Probleme haben. dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher sagt: „Es ist auch ein Informationskrieg, und er richtet sich auch in Russland selber gegen die, die für die Wahrheit kämpfen und die, die diesen Krieg als Krieg benennen.“: „Hilfe für Medienschaffende aus der Ukraine und Russland“


    20.03.2022 „Putins Fernsehsoldaten“
    SPIEGEL: Die russische Staatspropaganda rückt immer mehr in den Fokus der Medien in Deutschland. Viele fragen sich, wie sie funktioniert. Welche Narrative bedient sie, an welche Diskurse knüpft sie an? Der ganze Beitrag dazu mit dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher: „Putins Fernsehsoldaten“


    16.03.2022 „Russische Bevölkerung von unabhängiger Berichterstattung abgeschnitten“
    SWR: Seit zwölf Tagen gilt das neue Gesetz gegen die „Diskreditierung“ der Armee, das in Russland verbietet, den Krieg einen Krieg zu nennen und das vorschreibt, nur gemäß offizieller staatlicher Stellen in Russland über das Vorgehen in der Ukraine zu berichten. Das wird vom offiziellen Russland als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet. dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher erklärt bei SWR aktuell, dass es nun immer schwieriger für die Menschen in Russland wird, sich frei und unabhängig zu informieren: „Russische Bevölkerung von unabhängiger Berichterstattung abgeschnitten“

    15.03.2022 „Ovsyannikovas TV-Protest: Wie Kritik in Russland noch möglich ist“
    DLF KULTUR: Im russischen Staatsfernsehen taucht eine Frau im Hintergrund der Hauptnachrichtensendung auf und zeigt ein Plakat in die Kamera, auf dem die Worte stehen: „Stoppt den Krieg“ und „Glaubt nicht der Propaganda“. Die Frau heißt Marina Oswjannikowa und war bis dahin Teil der Propagandamaschinerie im staatlichen Ersten Kanal. dekoder-Redakteurin Mandy Ganske-Zapf dazu, wie diese Aktion einzuordnen ist: „Ovsyannikovas TV-Protest: Wie Kritik in Russland noch möglich ist“

    13.03.2022 „Wissen und Macht: Medien im russischen Krieg gegen die Ukraine“
    DLF KULTUR: „Das Internet kann man nicht abstellen: Wer sich in Russland informieren will, kann das tun“ – stimmt das so noch? dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher zu Zensur in der in diesen Tagen noch mehr wachsenden Bedeutung des Internets und von Social Media. Gerade wird für die russische Gesellschaft immer wichtiger, VPN zu nutzen, um weiter auf den russischsprachigen Internetmedien lesen zu können, die von der Medienaufsicht in Russland gesperrt wurden: „Wissen und Macht: Medien im russischen Krieg gegen die Ukraine“

    Zwei große Schwergewichte haben aufgegeben. Einer davon war Echo Moskwy – das ist ein wahnsinniger Einschnitt, weil es diesen Sender über Jahrzehnte gab

     – Mandy Ganske-Zapf am 12.03. in rbb Kultur über das Ende einer (Radio)Epoche in Russland


    12.03.2022 „Unabhängigkeit bewahren“
    RBB KULTUR: Innerhalb von ein bis zwei Wochen hat sich die Lage für russische unabhängige Medien radikal verschärft. Am 1. März wurde der Radiosender Echo Moskwy geschlossen: „Das ist ein wahnsinniger Einschnitt, weil es diesen Sender über Jahrzehnte gab und mit ihm im Netz auch eine regelrechte Enzyklopädie kritischer Berichterstattung.“ dekoder-Redakteurin Mandy Ganske-Zapf über die Schließung von Echo Moskwy und den Fernsehkanal Doshd Anfang März, auch dekoder wird vorgestellt: „Unabhängigkeit bewahren“

    12.03.2022 „Kritische russische Medien vor dem Aus“
    WDR5: Unter dem Eindruck des großflächigen Angriffskriegs gegen die Ukraine wird die Nische der kleinen unabhängigen russischen Medien in diesen Tagen regelrecht zunichte gemacht. „Sie werden mundtot gemacht“, sagt dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher. Zugleich wurden tausende Menschen bei Anti-Kriegs-Protesten festgenommen. „Das alles verfehlt nicht seine Wirkung.“ Das ganze Gespräch – mit einem Blick auch nach Belarus: „Kritische russische Medien vor dem Aus“ 

    09.03.2022 „Unabhängige Berichterstattung in Russland fast nicht mehr möglich“
    BR2: Tamina Kutscher über die ersten Tage seit Beginn der Invasion in die Ukraine und zur dramatischen Lage für russische Journalistinnen und Journalisten: „Unabhängige Berichterstattung in Russland fast nicht mehr möglich“ 

    06.03.2022 „Die Tage für unabhängige Medien in Russland sind gezählt“
    TAZ: In der Nische der unabhängigen russischen Medien wurde in den ersten Tagen des Angriffskrieges versucht, so gut es geht, kritisch zu berichten. Sie hatten die Dinge beim Namen genannt, doch dann knickten sie unter dem Eindruck der harten Repressionen nach innen immer mehr ein. Die Novaya Gazeta – die von Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow geleitet wird – versucht, noch durchzuhalten. Tamina Kutscher sagt zur Strategie der Novaya, unter diesen Bedingungen zu arbeiten und zur Lage insgesamt: „Wir müssen davon ausgehen, dass die Tage für unabhängige Medien in Russland im Grunde gezählt sind.“ 

    Wir müssen davon ausgehen, dass die Tage für unabhängige Medien in Russland im Grunde gezählt sind

     – Tamina Kutscher am 06.03. in der taz 


    04.03.2022 „Die Propaganda in Russland funktioniert“
    DLF Nova: In diesen ersten Tagen des Angriffskrieges wird deutlich, wie die Propagandamaschinerie in Russland anzieht und die Formeln permanent wiederholt, die Präsident Wladimir Putin in seinen Ansprachen geäußert hat, um den Krieg legitim erscheinen zu lassen. Der Begriff „militärische Spezialoperation“ wurde etabliert und soll durchgesetzt werden. Zugleich, sagt Tamina Kutscher, steigt die Repression nach innen: „Die Propaganda in Russland funktioniert“

    03.03.2022 „Unterdrückung des unabhängigen Journalismus in Russland“
    SWR1: Tamina Kutscher zeichnet nach, wie stark der Druck auf die wenigen unabhängigen russischen Medien innerhalb dieser ersten Kriegstage aufgebaut wird. Denn: Diese unabhängige Medienszene ist klein und droht nun, völlig zerstört zu werden: „Unterdrückung des unabhängigen Journalismus in Russland“ 

    25.02.2022 „Wie funktioniert die russische Propaganda im Krieg gegen die Ukraine?“
    ÜBERMEDIEN: Einen Tag nach Beginn der russischen Invasion war dekoder-Chefredakteurin Tamina Kutscher zu Gast im Übermedien-Podcast Holger ruft an. Das Gespräch war bereits vor dem 24. Februar geplant und fand dann unter dem Eindruck des Angriffs statt. Ein Talk über russische Propaganda im Krieg gegen die Ukraine, die Rolle der unabhängigen Medien aus Russland (sowie Belarus): „Wie funktioniert die russische Propaganda im Krieg gegen die Ukraine?“

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  • „Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei”

    „Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei”

    Bei der Konferenz Neues Belarus, die kürzlich vom Büro Swetlana Tichanowskaja in Vilnius organisiert wurde, ging es zuweilen hoch her, was sicher auch Ausdruck einer vitalen demokratischen Kultur ist, die von der neuen belarussischen Diaspora gelebt wird. Seit geraumer Zeit steht die belarussische Oppositionsführerin in der Kritik, die aus den eigenen Reihen kommt. Auch um den Kritikern entgegenzukommen und verschiedene oppositionelle Initiativen und Gruppen besser zu repräsentieren, wurde ein fünfköpfiges Exilkabinett beschlossen, dem neben Pawel Latuschko vom Nationalen Anti-Krisenmanagement unter anderem auch Alexander Asarow, Chef der Initiative BYPOL angehören. Ob dieses Kabinett ein effektiveres Instrument ist, um Einfluss auf politische Entwicklungen in Belarus selbst zu nehmen, wird von Experten wie Alexander Klaskowski mitunter bezweifelt. Größere Einflussmöglichkeiten hat die Opposition indes in der Außenpolitik. „Faktisch ist Tichanowskajas Büro“, so urteilt der Politikanalyst Waleri Karbalewitsch, „zum alternativen belarussischen Außenministerium geworden, und zwar einem viel wirkungsvolleren als das offizielle Außenministerium unter der Führung von Wladimir Makei.“

    Die große Politik für Alexander Lukaschenko sei indes vorbei, meint der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch. Dem belarussischen Machthaber bleiben vor allem Treffen mit Wladimir Putin, mit dem ihn eine fatale Abhängigkeit verbindet. Vor dem Hintergrund des Besuches von Denis Puschilin, dem Anführer der selbsternannten Donezker Volksrepublik (DNR), in Belarus analysiert Lenkewitsch im belarussischen Online-Medium Reform.by, dass sich Lukaschenko außenpolitisch in eine ausweglose Position gebracht habe, die auch die Unabhängigkeit des Landes bedrohe.

    Der Präsident der selbsternannten Donezker Voklksrepublik (DNR) Denis Puschilin war nach Brest gereist. Dort besuchte er gemeinsam mit dem Generalsekretär der Partei Einiges Russland, Andrej Turtschak, dem Botschafter der Russischen Föderation in Belarus, Boris Gryslow, und anderen Delegationsmitgliedern aus der Pseudorepublik die Gedenkstätte Brester Festung. Am Ewigen Feuer legte man Blumen nieder.

    In seiner Erklärung nannte Puschilin Brest eine Stadt, die zum „Vorbild für Mut und Widerstand des russischen Soldaten“ geworden sei. Hier stellt sich die Frage: Warum nur „des russischen“? Die Brester Festung wurde schließlich von Soldaten verschiedener Nationalitäten der UdSSR verteidigt. Und an 1939 wagt man ja kaum zu erinnern. Dennoch setzte Puschilin den Akzent ausschließlich auf den „russischen Soldaten“. Zufall? Oder steht der „russische Soldat“ für das russländische Imperium? Hält Puschilin damit auch Brest, das Vorbild des russischen Heldenmutes, für russisch? Bedeutet das, dass Russlands ambitionierte Pläne territorial so weit reichen? Wie angemessen sind solche Äußerungen überhaupt in einem fremden Land?

    Bis zu diesem Besuch hatte die belarussische Regierung von offiziellen Gesprächen mit Vertretern von DNR und LNR abgesehen, mit Ausnahme eines Austauschs in der Trilateralen Kontaktgruppe. Den Donbass hatte der Parlamentsabgeordnete Oleg Gaidukewitsch gemeinsam mit einer Delegation seiner Partei LDPB besucht. Der in Minsk nach der erzwungenen Landung des Ryanair-Fluges festgenommene Blogger Roman Protassewitsch gab an, in Minsk von Ermittlern aus der sogenannten LNR befragt worden zu sein. Dazu äußerte sich im August 2021 auch Lukaschenko. Das war alles. Sollte es weitere Kontakte gegeben haben, so wurde es vorgezogen, sie nicht an die große Öffentlichkeit zu tragen. 

    Gute Auswege gibt es für das offizielle Minsk einfach nicht mehr

    In einem Interview mit der französischen Nachrichtenagentur AFP sagte Lukaschenko, er sehe keine Notwendigkeit und keinen Sinn in der Anerkennung der besetzten ukrainischen Gebiete Donezk und Lugansk als unabhängige Staaten, ebenso verhalte es sich mit der von Russland besetzten Krim. „Sollten die Krim, Lugansk und Donezk Lebensmittel, Ziegel, Zement oder Unterstützung beim Wiederaufbau benötigen, werden wir sie unterstützen. Wenn es notwendig ist, werden wir sie anerkennen. Wenn das irgendeinen Sinn ergeben sollte. Doch welchen Sinn hat es heute, ob ich sie öffentlich anerkenne oder nicht?“, erläuterte Lukaschenko seine Position. 

    Hat sich die Situation seitdem geändert? Gibt es mittlerweile diesen Sinn? Eine Wahrscheinlichkeit besteht. Der Kreml könnte Druck auf Lukaschenko ausüben und die Erfüllung der Unionsverpflichtungen einfordern. Möglich ist auch, dass Moskau die ewigen Ausflüchte des offiziellen Minsk leid ist und nun entschieden hat, dass die Zeit für die Anerkennung gekommen ist. Aus praktischen Gesichtspunkten gibt es für Russland keinen besonderen Sinn, außer dass es Lukaschenko noch mehr die Hände binden würde. Die Anerkennung der Separatistenregionen auf ukrainischem Gebiet als eigenständige Staaten würde die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine sowie deren Verbündeten nur noch zusätzlich belasten. Minsk zu nötigen, Puschilin zu empfangen, ist außerdem eine gute Option für Moskau, den Verbündeten auf seinen Platz zu verweisen. 

    Letztlich ist auch eine andere Variante denkbar: Es wird keine offizielle Anerkennung von DNR und LNR geben, da der Kreml „Referenden“ vorbereitet, die über den Beitritt der Separatistengebiete zur Russischen Föderation befinden sollen. Eine Anerkennung wäre dann gar nicht nötig. Es wird einfach mitgeteilt, dass die Vertreter der DNR angereist sind, um im Kontext des Hilfsangebotes der belarussischen Seite ihren Bedarf an Zement und Lebensmitteln zu formulieren. 

    Damit würde jedoch das Problem nur aufgeschoben. Denn es ergibt sich unvermeidlich die Frage nach der Anerkennung der Moskauer „Referenden“. Hier wird der Kreml seinem Verbündeten in jedem Fall die Daumenschrauben anlegen. Gute Auswege gibt es für das offizielle Minsk einfach nicht mehr. Es bleibt lediglich die Hoffnung auf Erfolge der ukrainischen Armee, die solche „Referenden“ verhindern würde.

    Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei

    Oder einfach abwinken und tun, was Moskau will? Den vom Kreml zugewiesenen Platz einnehmen? Denn die bloße Tatsache des Besuchs der DNR-Delegation stellt Belarus letztlich in eine Reihe mit dieser Pseudorepublik. Man kann sich ohne Ende hinter „de jure“ und „de facto“ verstecken und der Welt weismachen, dass man niemanden anerkannt hat, sondern nur den Bedürftigen hilft – das alles sind Argumente zugunsten der Armen. Die niemand glaubt. Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei. Kamen früher noch die deutsche Kanzlerin, der französische Präsident oder der US-Außenminister nach Minsk, ist es heute nur Puschilin. Und gerade dieser Besuch definiert Belarus‘ aktuelle Position in der politischen Konstellation des Kreml.

    So tummelt sich also die DNR in Brest, und Puschilin macht zweideutige Bemerkungen. Belarus ist gezwungen, einen Menschen zu empfangen, dem nicht nur die ukrainische, sondern auch die belarussische Unabhängigkeit keine Kopeke wert sind. Für den Brest höchstwahrscheinlich – wie auch Poltawa und Odessa – eine „russische Stadt“ ist. Den Moskau als Sturmbock für die Eroberung von Gebieten eines Nachbarstaates einsetzt, für die „Befreiung“ von Städten, „von russischen Menschen gegründet“. Die Glocke läutet, und dieses Läuten ist sehr besorgniserregend. 

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  • Bystro #38: Proteste in Belarus 2020. Was ist vom Widerstand geblieben?

    Bystro #38: Proteste in Belarus 2020. Was ist vom Widerstand geblieben?

    Am Abend der Präsidentschaftswahl, dem 9. August 2020, brach in ganz Belarus eine historische Protestwelle los, getragen von Personen ganz unterschiedlichen Alters und aus den verschiedensten Berufsgruppen. Die Machthaber um Alexander Lukaschenko versuchten die Proteste, die im ganzen Land stattfanden, mit Gewalt und Folter einzudämmen, was allerdings zunächst immer mehr Menschen auf die Straßen trieb. Im Lauf der Zeit gelang es den belarussischen Silowiki, mit scharfen Repressionen den Widerstand zu brechen. Journalisten, Medien, Aktivisten und einfache Bürger wurden außer Landes getrieben, rund 500 NGOs verboten. Die Festnahmen und Aburteilungen dauern bis heute an. Die Men­schen­rechts­orga­nisation Wjasna geht von rund 1300 politischen Gefangenen im Land aus.

    Lebt der belarussische Protest überhaupt noch? Was passiert in der Opposition, die ebenfalls ins Exil musste? Welchen Einfluss hat die neue Diaspora? Glaubt Lukaschenko, dass er den Widerstand seiner Gegner gebrochen hat oder fürchtet er eine neue Protestwelle? In einem Bystro mit acht Fragen und Antworten erklärt der Politikanalyst Waleri Karbalewitsch die aktuelle Lage.

    Dieser Artikel gehört zu unserer Reihe Platforma, in der russische, belarussische oder auch ukrainische Journalistinnen und Journalisten schreiben und Einblick in aktuelle Debatten und Entwicklungen zu osteuropäischen Themen liefern. Die Texte werden weitgehend von Journalistinnen und Journalisten geschrieben, die sich gezwungen sahen, aufgrund der Repressionen in ihren Ländern ins Exil zu gehen.

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    1. Kann man sagen, dass die Protestbewegung in Belarus tot ist?

    Ich würde sagen, die Protestbewegung ist eher eingeschlafen als „tot“. Die Mehrheit der Bevölkerung steht der Regierung nach wie vor kritisch gegenüber. Aber das mündet nicht in aktives Handeln und Aktionen. In Belarus existieren keine legalen Mechanismen, mit deren Hilfe die Bevölkerung ihre Meinung äußern könnte. Heute herrscht in Belarus wieder ein totalitäres System. Und im Totalitarismus sind öffentliche Proteste ein seltenes Phänomen.

    Zudem beobachten wir seit zwei Jahren eine politische Massenemigration aus Belarus. Mehr als 100.000 Menschen haben das Land verlassen. Das heißt, der Großteil der Leute, die 2020 auf die Straße gegangen sind, ist bereits emigriert. Im Übrigen werden Proteste dann massenhaft, wenn die Hoffnung besteht, das politische System ändern zu können. 2020 gab es diese Hoffnung, jetzt gibt es sie nicht.

    2. Welche Rolle spielt die neue Diaspora in der Demokratiebewegung?

    2020 ist die belarussische Diaspora erstmals als politischer Faktor in Erscheinung getreten. In den vergangenen zwei Jahren ist sie um ein Vielfaches angewachsen, es sind viele Aktivisten der Protestbewegung hinzugekommen. Sämtliche Zentren der belarussischen Opposition, allen voran das Büro von Swetlana Tichanowskaja, befinden sich im Exil. Man kann sagen, dass sich das oppositionell-gesellschaftliche Leben ins Ausland verlagert hat, weil in Belarus keine legale oppositionelle Tätigkeit möglich ist.

    Im digitalen Zeitalter haben die Möglichkeiten der Diaspora, auf das politisch-gesellschaftliche Leben im Land einzuwirken, wesentlich zugenommen. Die belarussischen politischen Diskussionen finden heute auf Plattformen außerhalb des Landes statt. Das sind Medien, soziale Netzwerke, Think-Tank-Foren, Telegram-Kanäle und so weiter.

    Auf der anderen Seite ist klar, dass der Einfluss der Diaspora auf das politisch-gesellschaftliche Leben innerhalb des Landes seine Grenzen hat. Jedwede Veränderungen können nur im Land selbst passieren. Der Einfluss von außen kann nur ein zusätzlicher Faktor sein.

    3. Wie hat sich der Krieg auf die Protestbewegung ausgewirkt? 

    Am 27. Februar 2022, dem Tag des Referendums über die Verfassungsänderungen, und am 28. Februar gab es Proteste. Etwa 1000 Menschen wurden an diesen zwei Tagen festgenommen. In diesen ersten Tagen nach Kriegsbeginn war die Angst groß, dass die belarussischen Streitkräfte in den Krieg auf ukrainischem Boden eintreten würden. Aber das ist nicht passiert, und der öffentliche Protest ist verebbt.

    Die Protestbewegung hat andere Formen angenommen:

    1. Ein Teil der belarussischen Aktivisten ist in die Ukraine gegangen. Sie haben das Kalinouski-Regiment gegründet, das im Krieg für die Ukraine kämpft.

    2. Ein anderer Teil (die sogenannten Partisanen) führt Sabotageakte auf dem Schienennetz durch, um die Fortbewegung der russischen Militärzüge durch Belarus zu verhindern.

    3. Die Opposition hat den Telegram-Kanal Belaruski Hajun ins Leben gerufen, auf dem Informationen über die Bewegungen der russischen Militärtechnik und das Abfeuern von Raketen von belarussischem Staatsgebiet aus veröffentlicht werden.

    Insgesamt kann man sagen, dass sowohl bei den Gegnern als auch den Anhängern Lukaschenkos eine Radikalisierung stattfindet. Die Befürworter des Regimes fordern drastischere Strafen für die Opponenten. Aber sie sind nur im Internet aktiv, in sozialen Netzwerken. Offline sind sie hilflos und verlassen sich ausschließlich auf die Regierung. Die zahlreichen Organisationen, die das Regime geschaffen hat (offizielle Gewerkschaften, die Jugendunion BRSM, die Belaja Rus, die Frauenunion, die Veteranenvereinigung und so weiter) waren auf dem Höhepunkt der Krise 2020 völlig paralysiert. Ihre staatliche Natur macht diese Strukturen unfähig zu Eigeninitiative. Selbst Lukaschenko sagte, dass sie zu nichts taugen.

    4. Welche Erfolge hat das Team von Swetlana Tichanowskaja zu verzeichnen?

    Swetlana Tichanowskaja bleibt die legitime Repräsentantin der belarussischen Demokratie, das Symbol für die Alternative. Ihre Haupterfolge erzielte sie auf internationaler Bühne. Faktisch ist Tichanowskajas Büro zum alternativen belarussischen Außenministerium geworden, und zwar einem viel wirkungsvolleren als das offizielle Außenministerium unter der Führung von Wladimir Makei.

    Dank des aktiven Einsatzes von Tichanoswkajas Team hält sich das Thema Belarus auf der internationalen Tagesordnung. Es nimmt teilweise Einfluss auf die Sanktionspolitik des Westens gegen das Lukaschenko-Regime. Außerdem repräsentiert das Tichanowskaja-Büro die Interessen der belarussischen Diaspora. Allerdings ist der Einfluss auf die innenpolitischen Prozesse in Belarus relativ gering.

    Aber auch die Konkurrenz innerhalb der belarussischen Opposition nimmt zu. Tichanowskajas Opponenten machen sich die nachvollziehbare Unzufriedenheit der belarussischen Protestbewegung zunutze. Seit Beginn der Proteste sind zwei Jahre vergangen, es gibt keine Ergebnisse, die Repressionen nehmen zu, wir beobachten eine politische Massenemigration aus dem Land. Natürlich wird die Schuld bei ihr als Oppositionsführerin gesucht.

    5. Hat das Lukaschenko-System immer noch Angst vor Protesten?

    Ja. Bei diversen Anlässen wiederholt Lukaschenko, dass man sich nicht ausruhen dürfe, sondern die Repressionen fortsetzen müsse, weil der Feind sich verborgen habe und darauf lauere, dass die Regierung Schwäche zeigt. Das Regime hat keine Feedback-Mechanismen zur Gesellschaft. Deshalb wissen die Machthaber nicht, was wirklich in der Gesellschaft vor sich geht. Und weil sie die reale Situation nicht kennen, überzeichnen sie die Gefahr.

    Hinzu kommen die außenpolitische Situation und die wirtschaftlichen Probleme durch die westlichen Sanktionen. Die einzige Antwort des Regimes auf diese Herausforderungen ist die Verstärkung der politischen Repressionen.

    6. Was bedeutet die zunehmende Repression in einem Land, das schon länger als „letzte Diktatur Europas“ bekannt ist?

    Man kann mehrere Beispiele anführen. So wurde ein Gesetz erlassen, das die Todesstrafe für den „Versuch eines Terroranschlags“ vorsieht. Der Begriff Terrorismus wird von den belarussischen Behörden äußerst weit gefasst, deshalb kann darunter jede oppositionelle Tätigkeit verstanden werden, zum Beispiel die Teilnahme an Protestaktionen. Auch Pawel Latuschko und Swetlana Tichanowskaja wurden nach „Terrorismus“-Paragrafen angeklagt. Im Moment steht die „Terrorgruppe“ von Nikolaj Awtuchowitsch vor Gericht. Dazu gehören ein Mann ohne Beine, eine Rentnerin und ein orthodoxer Priester. So sehen die „schrecklichen Terroristen“ aus.

    Seit kurzem erlaubt es das Gesetz, Menschen, die die belarussische „Justiz“ nicht persönlich zu fassen kriegt, in ihrer Abwesenheit zu verurteilen. Zum Beispiel belarussische Freiwillige, die in der Ukraine kämpfen, oder die Schienenpartisanen. Die Menschenrechtsorganisation Wjasna hat nachgerechnet, dass die neue Gesetzsprechung Prozesse in Abwesenheit nach 43 Artikeln erlaubt. Darunter fallen: Verschwörung, Genozid, Staatsverrat, Söldnertum.

    Offenbar stehen die Behörden im Zuge der politischen Repressionen vor einem Problem. Es gibt eine klare Anweisung von Lukaschenko, den Grad der Repressionen aufrechtzuerhalten. Doch jene Bürger, die an den Protesten teilgenommen hatten, wurden entweder bereits verurteilt oder sind emigriert. Wo soll man neue Menschen für die Festnahmen herbekommen?

    Um das Problem zu lösen, gehen die Silowiki in verschiedene Richtungen vor. Einerseits verurteilen sie die, die schon bestraft wurden und auf „schwarzen Listen“ stehen, zum zweiten Mal. Andererseits weiten sie die Repressionen auf immer neue gesellschaftliche Sphären aus. So werden zum Beispiel Menschen verhaftet, weil sie in den sozialen Netzwerken Kommentare zum Krieg in der Ukraine veröffentlichen, die nicht der offiziellen Position entsprechen.

    7. Wie genau haben sich die Repressionen in den letzten zwei Jahren verändert?

    Im Eilverfahren wurden repressive Gesetze erlassen. Nicht nur oppositionelle Aktivitäten wurden kriminalisiert, sondern das Andersdenken an sich. Der Begriff „Extremismus“ wird quasi uneingeschränkt auf jede Form der gesellschaftlichen Aktivität angewendet. So gelten zum Beispiel die „Diskreditierung von Staatsorganen und der Republik Belarus“ oder das „Schüren von sozialem Unfrieden“ et cetera als Extremismus. 

    Angeklagte nach „politischen“ Artikeln werden mit bis zu 18 Jahren Freiheitsentzug bestraft. In Belarus wurde die Zivilgesellschaft praktisch verboten und öffentliche Organisationen liquidiert. Jeden Tag gibt es Nachrichten von neuen Verhaftungen, Durchsuchungen, Gerichtsurteilen. Laute Prozesse gegen politische Opponenten finden hinter verschlossenen Türen statt.

    Man geht dazu über, Menschen für Dinge zu verurteilen, die schon lange zurückliegen. Am 22. Juni stand Nikolaj B. in Janow vor Gericht, weil er vor fünf Jahren einen Beitrag von Radio Svaboda geteilt hatte. Die Journalistin Katerina Andrejewa wurde zu acht Jahren Haft aufgrund von „Staatsverrat“ verurteilt – wegen eines alten Artikels, der damals nicht einmal als Ordnungswidrigkeit betrachtet wurde. Damit haben die Behörden auch jene Rechtsnorm außer Kraft gesetzt, wonach die Gesetzgebung nicht rückwirkend gilt.

    8. Hat die Protestbewegung eine Chance, einen politischen Wandel in Belarus zu erreichen?

    Das kann niemand mit Sicherheit sagen. Heute gibt es zwei Faktoren, die eine Gefahr für das herrschende Regime und eine Chance für die Protestbewegung darstellen: Einerseits würde ein möglicher Niedergang des Putin-Regimes in Russland infolge der Misserfolge im Krieg gegen die Ukraine dem Lukaschenko-Regime einen schweren Schlag versetzen. Auf dem Höhepunkt der Proteste 2020 war es die Unterstützung Putins, die Lukaschenkos Macht im kritischen Moment maßgeblich gesichert hat. Das hat wiederum zu einer fatalen Abhängigkeit des belarussischen Regimes vom Kreml geführt. Deshalb würde sich eine Krise des russischen Regimes unweigerlich auch auf Belarus niederschlagen.

    Zweitens, die drastische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Belarus durch die westlichen Sanktionen: Bisher war Russland die wichtigste Hilfsquelle für die belarussische Wirtschaft. Nun befindet sich die Russische Föderation selbst in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage und kann Belarus nicht für alle Verluste entschädigen. Russland ist für Belarus inzwischen mehr zu einer Problemquelle als einer Quelle der Hilfe geworden. Die Unzufriedenheit der Menschen mit ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation könnte infolgedessen sehr unerwartete Formen annehmen.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Waleri Karbalewitsch 
    Übersetzerin: Jennie Seitz
    Veröffentlicht am: 09. August 2022

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    Bis dato war Swetlana Tichanowskaja die unbestrittene Anführerin einer neuen belarussischen Opposition, die sich im Zuge der Proteste des Jahres 2020 in Belarus und in einer neu politisierten Diaspora gebildet hat. Eine Opposition, die gezwungenermaßen aus dem Exil heraus versucht, die Protestbewegung am Leben zu erhalten und weiterzuentwickeln. Seit diesem Jahr formiert sich allerdings eine Gruppe von belarussischen Oppositionellen, die sich immer mehr als Kritiker von Tichanowskajas Politik hervortut. Dazu gehört mitunter auch Veronika Zepkalo, die zusammen mit Tichanowskaja und der aktuell inhaftierten Maria Kolesnikowa im Sommer 2020 zum Gesicht der neuen Opposition wurde. In Berlin fand vor zwei Wochen das Forum der demokratischen Kräfte von Belarus statt, auf dem sich besagte Oppositionelle unter Führung von Zepkalo und ihrem Mann Waleri trafen und neue Taktiken in Bezug auf die Protestbewegung debattierten. Waleri wollte 2020 als Präsidentschaftskandidat zu den damaligen Wahlen antreten, war aber aus Angst vor einer Festnahme ins Exil gegangen.

    Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski hat das Treffen und die Kritik an Tichanowskaja in seinem Beitrag für das Online-Medium Naviny analysiert. Und stellt sich dabei die Fragen: Wie ernst ist der Versuch, der Oppositionsführerin Konkurrenz zu machen? Verfällt die neue belarussische Opposition in die alten Marotten der Zwietracht? Und wie werden die Belarussen im Land auf mögliche Veränderungen der Oppositionsführung reagieren?

    Unter den Masterminds der neuen Oppositionsausrichtung stach das Ehepaar Zepkalo besonders hervor – Waleri und Veronika. Im Sommer 2020 bildete Veronika zusammen mit Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa ein eindrucksvolles Politikerinnen-Trio, das in ganz Belarus gut besuchte Kundgebungen abhielt und das auch Menschen, die bisher wenig für Politik übrig hatten, mit der Idee des Wandels begeisterte. 

    Jetzt sitzt Kolesnikowa in Haft, und ihre beiden Kolleginnen scheinen auf keinen gemeinsamen Nenner zu kommen. Das schöne Bild von 2020 ist zerbröckelt.

    In die Fußstapfen der alten Opposition?

    Der Zerfall dieses Bildes ist symptomatisch, und er spiegelt tiefgreifendere Prozesse wider. Und dabei geht es ganz bestimmt nicht nur um persönliche Ambitionen. Was heute in der neuen Opposition passiert, die aus der Protestwelle 2020 hervorging, erinnert schmerzlich an das, was die Opposition alten Typs während Lukaschenkos jahrelanger Amtszeit lahmgelegt hat.

    Da sie keine siegreiche Strategie hatte (die es möglicherweise gar nicht geben konnte, weil sich der erste Präsident auf eine recht breite Wählermasse stützte) und sie sich immer wieder an dem Bollwerk des Autoritarismus die Stirn blutig schlug, verlegte die Opposition die Hauptanstrengungen allmählich darauf, interne Reibereien auszufechten. Man stritt um die äußerst begrenzten finanziellen Ressourcen. Ihre Kräfte zersplitterten, die eilig geschmiedeten Koalitionen zerfielen. Gegenseitig warf man sich einen „Kuschelkurs“ gegenüber dem Regime vor, die anderen schossen zurück: „Und ihr seid Sektierer, abgekoppelt von den Massen!“ Und so fort in diesem Stil. 

    Das Regime rieb sich die Hände. Die Geheimdienste, davon kann man ausgehen, schliefen auch nicht und gossen noch Öl ins Feuer dieser Zwiste. Gegenseitige Beschuldigungen, für den KGB zu arbeiten, waren in den gespaltenen Oppositionskreisen ein Dauerbrenner.

    Jetzt kann sich die belarussische Staatsmacht abermals ins Fäustchen lachen: Es läuft anscheinend. Zudem hat auch der Kreml Grund zur Freude, der vermutlich ebenfalls seine speziellen Methoden hat, die neue belarussische Opposition zu stören. 

    Die alte Opposition hat mit ihren inneren Streitigkeiten einen bedeutenden Teil ihrer Wählerschaft verprellt. Durchschnittsbürger kommentierten diese Auseinandersetzung ungefähr so: Klärt mal untereinander die Fronten, schließt euch zusammen und legt ein klares gemeinsames Programm vor – und dann ruft uns zum Kampf für eine strahlende Zukunft.

    Wenn jetzt ein Kräftemessen zwischen den Gruppierungen der Opposition 2.0 entbrennt, könnte die Reaktion vieler Belarussen ähnlich ausfallen. Die Gesellschaft neigt nach der Niederschlagung des friedlichen Aufstands 2020 – angesichts anhaltender Repressionen und stalinistischer Haftstrafen für die Protagonisten des Protests und unter dem Totalitarismus des Regimes – ohnehin zu Apathie und Resignation, zu einem Gefühl der Aussichtslosigkeit. Die in der Soziologie „neutral“ genannte Bevölkerungsschicht wächst, und das Regime will diese jetzt auf seine Seite ziehen. Nicht umsonst betont Lukaschenko die sogenannte Arbeit mit der Bevölkerung und fordert von der Vertikalen Sensibilität für ihre alltäglichen Bedürfnisse zu demonstrieren. 

    Tichanowskaja in der Rolle der englischen Königin

    Auf dem Forum in Berlin (wo sich Beobachtern zufolge so einige Randfiguren tummelten) wurden Tichanowskaja und ein paar Leute aus ihrem Umfeld gnadenlos zur Schnecke gemacht. 

    Stimmt, sie und ihr Team haben eine Reihe schwerwiegender Fehler gemacht, wurden oft von den Ereignissen überholt. Zum Beispiel zündete das Ultimatum nicht, das Tichanowskaja im Oktober 2020 der Staatsmacht stellte, der Versuch eines Generalstreiks geriet ins Stocken, weil die Protestwelle bereits abebbte und das Regime schon viele eingeschüchtert hatte. Im Frühjahr 2021 hing eine unrealistische Idee in der Luft, sich mit internationaler Vermittlung auf einen Dialog mit der Regierung einzulassen. 

    Auch die für das Referendum im Februar 2022 vorgestellte „Strategie der zwei Kreuzchen“ wirkte von Haus aus schwach. Es gab am 27. Februar zwar Demonstrationen, aber aus einem anderen Grund – die Menschen protestierten gegen den Krieg in der Ukraine, der ein paar Tage zuvor ausgebrochen war. 

    Tichanowskajas Gegner werfen ihr und ihren Anhängern vor, kontaktscheu zu sein, sich abzuschotten und bei der Organisation des Kampfes gegen das Regime einen Monopolstatus zu beanspruchen.

    Gleichzeitig wissen auch Tichanowskajas Widersacher, dass sie seit den Wahlen 2020 über ein großes Kapital in Form von Wahlunterstützern verfügt. Nach Meinung vieler Belarussen hat sie damals de facto gewonnen. Sie ist es, die in demokratischen Ländern und internationalen Organisationen auf höchster Ebene empfangen wird. Diese Legitimität scheint jedoch allmählich zu erodieren, ein Teil ihrer früheren Unterstützer ist abgekühlt und enttäuscht. 

    Wadim Prokopjew, einer der leidenschaftlichsten Regimekritiker, schlug auf dem Berliner Forum für Tichanowskaja die Rolle der englischen Königin vor. Mit einem „Premier Churchill“ an ihrer Seite. Soll heißen, einem radikaleren, eigentlich einem „Kriegsminister (wir leben in einer Zeit des Krieges)“. 

    Zugleich betonen die Initiatoren des Forums demokratischer Kräfte ihre Offenheit: Wir haben ja auch Tichanowskaja eingeladen, aber sie ist nicht gekommen. Der Subtext ist klar: Seht doch selbst, wer für Vereinigung ist und wer für ein Monopol der eigenen Struktur.

    De facto sieht die Sache aber so aus, dass man Tichanowskaja und andere Mitglieder ihres Teams lediglich dazu einlädt, sich einer alternativen Initiative anzuschließen. Und dass eine Person, die in unabhängigen Medien als nationale demokratische Leitfigur gehandelt wird, sich darauf nicht einlässt, überrascht wenig.

    Welcher nationalen Befreiungsbewegung soll man sich anschließen?

    Indessen versucht Tichanowskajas Büro in Zusammenarbeit mit dem Nationalen Antikrisen-Management von Pawel Latuschko (mit dem jedoch ebenfalls keine absolute Harmonie herrscht), die Initiative und Führung im Lager der Regimegegner zu bewahren.

    In diesem Lager haben sie verstanden, dass es wirklich an der Zeit ist, die Strategie zu ändern, ideologische Positionen und geopolitische Prioritäten klarer zu formulieren und entschlossener zu handeln. Es wurde angedacht, im August in Vilnius einen Kongress der Belarussen zu veranstalten und eine nationale Befreiungsbewegung zu gründen. Außerdem eine Art alternatives Machtorgan zu bilden (manche Journalisten nennen das Exil- oder Schattenregierung, auch wenn diese Begriffe Tichanowskaja und ihren Anhängern wohl kaum gefallen). 

    Ähnliche Ideen, vor allem die Gründung einer nationalen Befreiungsbewegung, formuliert, nur radikaler verpackt, auch das Forum demokratischer Kräfte. 

    Es ist höchst zweifelhaft, ob diese im Grunde konkurrierenden Formationen in absehbarer Zeit (oder überhaupt irgendwann) in der Lage sein werden, eine gemeinsame Gesprächsbasis zu finden. Es mangelt eindeutig an gegenseitigem Vertrauen. Westliche Politiker werden zweifellos den Kontakt zu Tichanowskaja bevorzugen (und jene, die sich schon lange mit Belarus befassen, leise seufzen: Das kennen wir alles schon, wieder eine Runde Tauziehen untereinander). 

    Wie werden die Belarussen im Land reagieren?

    Eine andere Frage ist, wie diese neuen Initiativen bei den Belarussen ankommen, die im Land geblieben sind, in der Höhle des Löwen. Das Bedürfnis nach Veränderungen ist bei aller Brutalität des Regimes nicht verschwunden. Viele können die drückende Atmosphäre in einem Land, in dem Rechte und Freiheiten mitsamt der Wurzel vernichtet werden, nicht mehr ertragen.

    Zudem geht aus soziologischen Studien hervor, dass sich die beiden Pole – Lukaschenkos Kernwählerschaft und seine erbitterten Gegner – radikalisieren, der Hass aufeinander wird immer größer. Aber die meisten Leute, die eine Veränderung herbeisehnen, haben eine Heidenangst davor, sich einer Bewegung mit radikalen Losungen anzuschließen.

    Momentan hat Lukaschenko die innenpolitische Situation eisern im Griff. Andererseits bergen die Beteiligung an der Aggression gegen die Ukraine, die Sanktionen, die die Wirtschaft zermürben, und eine Reihe anderer Faktoren für die Staatsmacht große Risiken. Noch kann sich das Regime jedoch im Sattel halten. Dem Präsidenten auf den Zahn fühlen, das kann eher Wladimir Putin als ins Exil gezwungene politische Gegner.

    Jede Strategie wird erst dann funktionieren, wenn eine Reihe von Bedingungen erfüllt ist. So stehen heute jene, die eine führende Rolle im Kampf gegen Lukaschenkos Regierung einnehmen wollen, vor höllisch undankbaren, titanisch schweren Aufgaben. Und besonders schwer werden diese zu bewältigen sein, wenn man internen Querelen freien Lauf lässt.

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  • Im Schienenkrieg gegen Putin

    Im Schienenkrieg gegen Putin

    Seit Beginn des Angriffskrieges, den Russland gegen die Ukraine führt, kam es in Belarus zu zahlreichen Sabotageakten an Eisenbahnstrecken, über die russisches Militärgerät transportiert wurde. Für seine Invasion nutzt der Kreml auch den belarussischen Staat als Aufmarschgebiet, was nur möglich war, weil sich Alexander Lukaschenko vor allem in den vergangenen zwei Jahren in eine fatale Abhängigkeit verstrickt hat. Auch in Russland kam es seit März zu zahlreichen Anschlägen auf die Infrastruktur der dortigen Eisenbahn.
    Wer steckte hinter den Sabotageakten an den Bahnstrecken in Belarus? Handelte es sich um vereinzelte Akte des Widerstands oder gar um eine konzertierte Aktion? Wie gehen die belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko gegen die sogenannten Eisenbahn-Partisanen vor, die offenbar eine Art Schienenkrieg führen?
    Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich die belarussische Journalistin Anja Perowa in einem Recherchestück für das russische Online-Medium Meduza.

    „Im Frühjahr wurde bei mir eine Hausdurchsuchung durchgeführt: Zunächst habe ich gar nicht verstanden, warum. Aber dann haben mir die Beamten erklärt, ich sei Zeugin in einem Prozess nach Paragraf 309. Dahinter verbirgt sich ‚mutwillige Beschädigung von Verkehrsmitteln und -wegen‘“, erzählt Natalja, eine Belarussin, deren Namen wir auf ihren Wunsch geändert haben. Natalja lebt in einer Stadt mit einem großen Eisenbahnknotenpunkt, auch ihren Wohnort nennen wir auf ihren Wunsch hin nicht, um sie nicht zu gefährden. 

    Natalja wurde zu den Sabotageaktionen im Bahnverkehr verhört, anschließend wurden ihre technischen Geräte konfisziert. Mehrere Stunden verbrachte sie auf dem Polizeirevier, dann ließ man sie gehen. Warum sie in dem Fall als Zeugin geführt wird, weiß sie bis heute nicht. „Vielleicht war ich an einem Tag der Sabotageakte irgendwo in der Nähe und man hat mich über mein Mobiltelefon geortet“, vermutet sie. 

    Nach den ersten aufsehenerregenden Sabotageaktionen gab das belarussische Ermittlungskomitee Anfang März bekannt, dass Untersuchungen „der Terroranschläge im Schienenverkehr“ eingeleitet wurden. Die Behörde erklärte, die Partisanen verfolgten mit ihren Sabotageakten das Ziel „Katastrophen zu verursachen und Menschen zu töten“. Es folgten massenweise Hausdurchsuchungen in den Städten, wo es Sabotageakte gab. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Wjasna betraf das die Städte Dsershinsk, Baranowitschi, Stolbzy – die drei Städte bilden Eisenbahnknotenpunkte auf dem Weg von Moskau nach Brest.

    Laut Wjasna wurden in Zusammenhang mit den Sabotageaktionen bis Mitte Juni mindestens elf Personen festgenommen. Sie werden beschuldigt, einen „Terroranschlag“ verübt zu haben. Sie alle befinden sich derzeit in verschiedenen Haftanstalten. Menschenrechtsorganisationen stufen sie als politische Gefangene ein. Sie alle werden nach Paragraf 289 angeklagt: „Verübter Terroranschlag“. Die Höchststrafe dafür ist in Belarus die Todesstrafe. Am 18. Mai 2022 hat Lukaschenko außerdem Änderungen im Strafgesetzbuch unterzeichnet. Seitdem steht auch auf „Versuchten Terroranschlag“ die Todesstrafe. Die belarussische Staatsanwaltschaft habe bereits Anfang März ein Verfahren eingeleitet, so der Staatsanwalt Andrej Schwed. Die Sache sei noch nicht vor Gericht, aber die Ermittlungen liefen. 

    Der erste Angriff auf die Belarussische Eisenbahn ereignete sich noch vor dem Krieg: Am 24. Januar, als die russische Armee zu den Truppenmanövern Sojusnaja reschimost nach Belarus kam. Aus dem Telegram-Kanal der Gesellschaft der belarussischen Eisenbahner geht hervor, dass etwa 200 Züge (je 50 Waggons) mit militärischem Gerät von Russland nach Belarus losgeschickt wurden. In dem Kanal heißt es auch, das sei eine beispiellos hohe Zahl; so seien im September letzten Jahres innerhalb eines Monats 29 Militärzüge für die gemeinsamen Truppenübungen Zapad 2021 nach Belarus verlegt worden. 

    Bis zum Frühjahr sollen es mehr als 80 Sabotageakte gewesen sein

    Über den Angriff am 24. Januar berichtete die belarussische Initiative Cyberpartisanen. Sie hat sich zu diesem auch bekannt. Mitglieder der Bewegung behaupten, sie hätten das System der automatischen Fahrplanerstellung und das System der elektronischen Datenverarbeitung lahmgelegt. Am selben Tag gab auch die Belarussische Eisenbahn bekannt, dass Online-Tickets aufgrund einer technischen Störung nicht gebucht werden könnten. Das System war zwei Wochen lang außer Betrieb, Tickets wurden nur am Schalter verkauft und mussten vom Bahnpersonal per Hand ausgestellt werden.

    „Damit wollten wir demonstrieren, dass die Belarussen mit der Präsenz der russischen Armee in ihrem Land nicht einverstanden sind“, erklärt die Sprecherin der Cyberpartisanen Juliana Schmetowez gegenüber Meduza. Sie sagt auch, die Störungen im Ticketverkauf seien nicht von den Hackern beabsichtigt gewesen. „Wir versuchen die Bereiche, die Normalbürger betreffen, möglichst wenig zu tangieren“, sagt sie. Die Cyberpartisanen würden sich oft gegen Angriffe entscheiden, wenn sich „die Konsequenzen nicht vollständig kalkulieren lassen“. 

    Am fünften Kriegstag gab es die ersten Offline-Angriffe. In dem Telegram-Kanal der Gesellschaft der belarussischen Eisenbahner tauchten Informationen über einen in Brand gesetzten Schaltschrank, einer Anlage zur Steuerung des Bahnbetriebs, nahe der Station Stolbzy in der Oblast Minsk auf. Die Folgen waren ein gestörtes Signal- und Weichensystem. Noch am selben Tag gab die Gesellschaft bekannt, dass auch in der Oblast Gomel auf dem Streckenabschnitt Ostankowitschi – Sherd ein Schaltschrank abgebrannt sei. Die Belarussische Eisenbahn gab zu diesen Vorfällen keinen offiziellen Kommentar ab. 

    Am 2. März kündigten die Cyberpartisanen einen Angriff auf das Verwaltungszentrum des Gütertransports der Belarussischen Eisenbahn an. Ein ehemaliger Bahnmitarbeiter äußerte sich dazu anonym gegenüber Meduza:

    „Jede Störung der Bahn-Software führt zu einer Störung des Fahrplans. Beispielsweise wird für jeden Gütertransport ein sogenannter Wagenzettel in einem speziellen Programm erstellt – das ist ein Dokument mit technischen und Verwaltungsdetails, das die gesamte Fahrt mitgeführt wird. Darin steht, wie viele Waggons ein Zug hat, ihre Nummern, welche Güter transportiert werden und deren Gewicht, wer Absender und wer Empfänger ist … kurzum, da steht alles drin. Und das für 50 bis 60 Waggons, stellen Sie sich das einmal vor. Bevor es Computer gab, wurden solche Wagenzettel von Hand ausgefüllt und dem Lokführer mitgegeben. Ohne diese Unterlagen dürfen die Züge nicht losfahren. Wenn das System gestört ist, muss das alles von Hand gemacht werden, stellen Sie sich einmal vor, wie lange das dauert, all diese Unterlagen von Hand zu schreiben und zu kopieren. Hinzu kommt ja auch, dass diese Abläufe längst automatisiert sind und die Stellen von Menschen, die das machen könnten, längst gestrichen wurden.“

    Darauf waren die Sabotageakte nicht beschränkt: Am 14. März, so die Information in eben jenem Telegram-Kanal, wurde in der Oblast Brest eine Signallampe außer Betrieb gesetzt, am 16. März wurde auf dem Streckenabschnitt Farinowo-Sagatje in der Oblast Witebsk ein Schaltschrank in Brand gesetzt, in der Nacht zum 25. März zwei Schaltschränke nahe Borissow, und am 28. März ein Relais-Schaltschrank unweit der Station Babino im Kreis Bobruisk.

    Laut dem belarussischen Innenministerium kam es bis Anfang April zu insgesamt über 80 Sabotageakten am belarussischen Schienennetz. Seitdem gibt es keine Meldungen über weitere Aktionen, weder von der belarussischen Opposition noch von den staatlichen Behörden.

    Eisenbahner helfen mit internen Informationen

    Sergej Woitechowitsch war vor zwei Jahren noch ein Arbeiter im Minsker Bahnbetriebswerk, einer Wartungsanlage der Belarussischen Eisenbahn. Nach den Präsidentschaftswahlen 2020 gründete er den Telegram-Chat der Gemeinschaft der belarussischen Eisenbahner, damit sich die Arbeiter vernetzen und ihre Interessen vertreten können. Immer mehr Arbeiter fügten ihre Kollegen hinzu und die Gruppe wuchs auf etwa 6000 Mitglieder. Später entstand noch ein gleichnamiger Kanal mit Nachrichtenmeldungen. Dort wurden Unterlagen veröffentlicht, die für dienstliche Zwecke bestimmt waren.

    Anfang 2021 wurde Igor Kozlowski stellvertretender Leiter der Belarussischen Eisenbahn. Nach Angaben der offiziellen Webseite „ist er für den Zivilschutz der Unternehmen der Belarussischen Eisenbahn zuständig“. Informationen zu seinem beruflichen Werdegang finden sich auf der Seite keine. Die Cyberpartisanen haben die Datenbank AIS Pasport gehackt und herausgefunden, dass Kozlowski von 1995 bis 2020 KGB-Mitarbeiter war.

    Schon im September 2021 wurde der Telegram-Kanal Live. Gemeinschaft der belarussischen Eisenbahner von der Regierung als „extremistisch“ eingestuft. [Kanal-Admin – dek.] Sergej Woitechowitsch glaubt, dass es direkt, nachdem im Juli der neue Chef aus dem KGB seinen Posten bei der Belarussischen Eisenbahn antrat, zu dieser Einstufung kam. Woitechowitsch hatte Belarus bereits im Mai 2021 verlassen, weil er verfolgt wurde (man ließ ihn wissen, die Sicherheitsbehörden hätten sich seiner bereits „angenommen“). Im Frühling 2022 erklärte der KGB Woitechowitschs Chat der Gemeinschaft der belarussischen Eisenbahner endgültig zu einer „extremistischen Vereinigung“ und verbot damit jegliche Aktivitäten in Belarus. 

    Am 30. März 2022 erschienen in regierungsfreundlichen Telegram-Kanälen sogenannte Reuevideos von festgenommenen Eisenbahnmitarbeitern. Darin erzählen sie, wann sie Telegram installiert und den als extremistisch eingestuften Kanal der Gesellschaft der belarussischen Eisenbahner abonniert hätten. Die Festgenommenen sagen auch, sie hätten sich von dem Kanal abgemeldet, sobald sie dort „Aufrufe zu destruktiven Aktivitäten“ gesehen hätten.

    Letztlich seien die meisten von ihnen freigelassen worden, sagt Woitechowitsch mit Verweis auf private Quellen. Manche sind noch als Verdächtige in dem Prozess gelistet, gegen andere wurden administrative Verfahren eingeleitet, weil die Sicherheitskräfte „bei der Gelegenheit“ gleich noch Abonnements anderer als extremistisch eingestufter Kanäle und Chats bei ihnen gefunden hatten. „Die Sicherheitskräfte schmeißen ab und zu spezielle Links zur Deanonymisierung in die Chats – damit finden sie die Leute“, erklärt Woitechowitsch.

    „Um einen Schaltschrank anzuzünden, braucht man Fachwissen – die Eisenbahner stellen den Partisanen Information zur Verfügung. Das ist es, womit sie im Wesentlichen helfen“, sagt Woitechowitsch. Mitglieder der Gemeinschaft der Eisenbahner würden mit einigen oppositionellen Organisationen zusammenarbeiten: den Cyberpartisanen, ByPol und dem „Peramoha“-Plan. Sie alle erhielten von den Eisenbahnern Informationen über die Zugrouten.

    Auch die Sprecherin der Cyberpartisanen Schmetowez bestätigt, dass die Gemeinschaft der Eisenbahner ihnen Informationen liefert, wie eine Sabotageaktion durchgeführt werden kann. Erklärtes Ziel der Partisanen sei es, den Transport von militärischem Gerät und Treibstoff aus Russland in die Ukraine zu behindern. „Auf dem Luftweg lässt sich so eine große Menge Kraftstoff nicht transportieren – der ist zu schwer. Auf der Straße auch nicht – das Fassungsvermögen reicht nicht. Das wichtigste Ziel der Cyberpartisanen ist es, das Vorankommen der Züge zumindest zu verlangsamen, und so den Ukrainern Zeit zu verschaffen“, so Schmetowez. 

    Seit 2021 sind die Cyberpartisanen auch Teil der Bewegung Supraziu, die von der belarussischen Regierung als extremistisch eingestuft wurde. Die Cyberpartisanen bekennen sich zum Hack der Datenbanken des Innenministeriums während der belarussischen Proteste 2020, zu den Hacks und den DDoS-Angriffen auf staatliche Webseiten von 2020 bis 2022 und auch zum gegenwärtigen Angriff auf die Belarussische Eisenbahn. Juliana Schmetowez berichtet: 

    „Uns war klar, wie das russische Militär das Schienennetz nutzen könnte. Schon letztes Jahr hat die Organisation Tschorny bussel, die auch zu Supraziu gehört, ihre ersten Aktionen an der Schiene durchgeführt. Um nicht zu sehr ins Detail zu gehen, sage ich nur: Es wurde an bestimmten Stellen Stacheldraht ausgelegt, um das Vorankommen der Züge zu verzögern. Das gefährdete keine Menschenleben, aber das Vorankommen, auch der Güterzüge, wurde eben verzögert.“ Schmetowez fügt außerdem noch hinzu, wenn man keinen offenen Widerstand leisten könne, dann seien solche Partisanenaktionen immer noch die einzigen Mittel für den Kampf gegen das Regime. 

    „Offenbar hatten sie Angst vor radikaleren Aktionen“

    In der Nacht vom 1. zum 2. März brachte der Belarusse Sergej Glebko in Stolbzy seine drei Kinder ins Bett, anschließend trank er mit seiner Frau Jekaterina „Schnaps und machte sich dann zu den Gleisen in seiner Stadt auf“. Dort zündete er ein paar Baumstämme an, die er aufs Gleis gelegt hatte, und filmte das mit seinem Mobiltelefon. Diese Szene lässt sich anhand des Protokolls aus dem Innenministerium rekonstruieren. Die Behörde veröffentlichte ein „Reuevideo“, in dem Glebko seine Tat gesteht. Man sieht, dass er geschlagen wurde, er hat frische Wunden auf der Nase und an der Stirn. 

    „Ich hab übertrieben viel Telegram-Kanäle geschaut und war dagegen – ich wollte meinen Beistand [mit den oppositionell eingestellten Eisenbahnern] irgendwie ausdrücken, deswegen habe ich die Baumstämme angezündet“, sagt Glebko. Er ist nach Paragraf 289 Strafgesetzbuch [„Terroranschlag“] angeklagt. Derzeit befindet er sich im Untersuchungsgefängnis Nr. 1 in Minsk und wartet auf den Prozess, ihm droht die Todesstrafe – alles hängt davon ab, welcher Teil von Paragraf 289 bei ihm zur Anwendung kommt. Bislang ist das noch nicht bekannt. 

    „Die Spezialaktionen, die die Eisenbahn lahmlegen, [die Leute,] die nachts verschiedene Anschläge durchführen – das gehört alles zum Testlauf des Peramoha-Plans“, sagte Alexandra Logwinowa, die Außenbeauftragte von Swetlana Tichanowskajas Team bei einer Pressekonferenz am 8. März 2022. Laut der offiziellen Webseite des Plans wurde er von ByPol auf Tichanowskajas Anweisung hin erstellt. 

    ByPol gab die Gründung des Peramoha-Plans genau ein Jahr nach den Präsidentschaftswahlen 2020 bekannt. Derzeit sollen etwa 200.000 Menschen daran beteiligt sein. Ein Sprecher des Peramoha-Plans erklärt: „Der Plan umfasst verschiedene Aktionen, unter anderem Blockaden der Infrastruktur. Die Aktionen an der Eisenbahn wurden von Mitgliedern des Plans durchgeführt. Aber [Sergej Glebkos] Aktion mit den brennenden Baumstämmen ist nicht von uns – das war eine lokale Initiative. Wir halten sie für wenig effektiv und gefährlich.“

    Laut dem Peramoha-Sprecher fuhren nach dem 5. März 2022 fast eine Woche keine russischen Züge durch Belarus: „Offenbar hatten sie Angst vor radikaleren Aktionen.“ Er sagt gegenüber Meduza außerdem, dass die Änderungen des Strafgesetzbuchs, welche die Todesstrafe für einen versuchten Terroranschlag festgeschrieben haben, die Menschen nicht einschüchtern würden: „Die Gruppen, die bereit waren, unter den heutigen Bedingungen aktiv zu sein, sind geblieben.“

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  • Olaf Scholz in der Moskauer Metro

    Olaf Scholz in der Moskauer Metro

    Soziologe Grigori Judin hat schon vor dem 24. Februar 2022 vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gewarnt. In zahlreichen Interviews hat er an das Gewissen jedes Einzelnen appelliert, die Situation in Russland mit den Jahren 1938/39 in Deutschland verglichen und auch die Aussagekraft von Umfragen – angesichts massiver Repressionen – immer wieder kritisch hinterfragt.

    In diesem aktuellen Text reflektiert er über Schuld und Verantwortung – auch des Westens. Und sagt: „Hoffnung wird hier erst aufkeimen, wenn die Welt zugibt, dass Wladimir Putin und sein Krieg das unausweichliche Ergebnis der gesamten globalen Entwicklung der letzten zehn Jahre sind.“

    Judins Text entstand im Rahmen des Projektes Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder. Für diese Reihe wurden Autorinnen und Autoren sowie Film- und Medienschaffende in Russland und im Exil eingeladen, den neuen Alltag seit dem 24.2.2022 zu dokumentieren und zu reflektieren. Auf Russisch ist er auch bei Meduza erschienen.

    Grigori Judin über Schuld und Verantwortung – auch des Westens / Foto © Juri Tereschtschenko
    Grigori Judin über Schuld und Verantwortung – auch des Westens / Foto © Juri Tereschtschenko

    Ich stehe in einem modernen Wagen der Moskauer Metro und lese auf meinem Smartphone Prognosen von Militärexperten zum Kriegsverlauf. Da tritt ein junger Mann an mich heran und sagt verlegen „Danke“. Seit Kriegsbeginn passiert mir das regelmäßig.

    Ich bin Wissenschaftler, und mein Alltag spielt sich normalerweise zu Hause am Computer ab. Ich gehe nicht besonders viel raus, in den letzten Monaten noch weniger als sonst. Aber seit dieser Krieg herrscht, kommen ausnahmslos jeden Tag fremde Menschen auf mich zu und bedanken sich. Und zwar egal, wo ich mich aufhalte – ob in Moskau oder Wien, in Jerewan oder Berlin. Wofür sie sich bedanken? Schlicht und ergreifend dafür, dass ich mich gleich zu Beginn öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen habe.

    Da sind viele, die ihren gesunden Menschenverstand, ihr Mitgefühl nicht verloren haben

    Das Ganze fühlt sich seltsam an: Als wäre man Mitglied eines unsichtbaren Ordens, einer riesigen, lautlosen Widerstandsbewegung, die auf ihren Moment wartet. Unerwartet zeigt sich mir, was viele um mich herum nicht ahnen: dass sie nicht allein sind. Dass da viele sind, die ihren gesunden Menschenverstand, ihr Mitgefühl und das Verantwortungsbewusstsein für ihr Heimatland nicht verloren haben. Doch sie kommen einzeln auf mich zu, sagen das Wort „Hoffnung“ und gehen wieder weg, finster und resigniert.

    Ich kenne dieses Leiden nur zu gut – es heißt Atomisierung. Wenn zwischen uns alle Verbindungen gekappt sind, wenn man sich in jeder Runde dumm und ungelenk vorkommt, über „gefährliche Themen“ zu sprechen, wenn das einzige, was man über seine Nachbarn weiß, aus sozialen Umfragen kommt – dann fühlt man sich umgeben von einer feindlichen, abgestumpften und verbitterten Masse. Du kannst darin aufgehen und dich auf ihre Stärke stützen. Oder du kannst dich von ihr distanzieren und dir überlegen und kultiviert vorkommen. Du kannst allen Mut zusammennehmen und dich ihr widersetzen. Aber du kannst unmöglich mit ihr reden, ihr widersprechen. Sie wird dich sowieso unter Druck setzen. Wird heranrollen und dich bedrohen. Sie wirkt wie eine unbezwingbare Macht – obwohl es sie gar nicht gibt.

    Jeden Tag erreichen mich neue Nachrichten von Journalisten aus der ganzen Welt, die alle dasselbe wissen wollen: Wie kann es sein, dass über 80 Prozent der Russen diesen Krieg unterstützen? In ihrer Frage höre ich Erstaunen und Empörung: Sie sehen genau diese beängstigende Masse vor sich, brutale, grausame Russen, eine einzige Horde von Mördern, Dieben und Vergewaltigern. Ich fange an, eine Antwort ins Telefon zu tippen: „Wissen Sie, so funktioniert das nicht. Wenn Wladimir Putin am 24. Februar erklärt hätte, dass er aus wichtigen sicherheitspolitischen Erwägungen die Gebiete der DNR und LNR an die Ukraine zurückgibt, wäre die Zustimmung genauso hoch gewesen …“ Ich drücke dem Fremden die Hand, die er mir entgegenstreckt, und schaue mich im Wagen um, versuche unwillkürlich die aus der Ferne gestellte Frage des Journalisten auf die Passagiere zu projizieren.

    Ich möchte dem Journalisten gerne so antworten, dass er seinen Lesern nicht erklären muss: „Sehen Sie, die Russen sind eben ganz anders als wir.“ Denn das ist nicht wahr. Um zu verstehen, wie die Russen ticken, muss man sich nur anschauen, wie ein Gerhard Schröder, ein François Fillon oder eine Karin Kneissl ticken. 
    Sie sind keine blutrünstigen Mörder, und sie wünschen dem ukrainischen Volk kein Leid. Viele wollen, dass der Krieg so schnell wie möglich vorbei ist und das „normale Leben“ wieder beginnt – ein Leben, in dem sie gut verdienen und angesehen sind.

    Zu unser aller Bedauern haben die Russen nichts besonders Bösartiges an sich, denn dann würde es ausreichen, sie einfach zu isolieren, eine hohe Mauer zu bauen und den Planeten sicher vor ihnen zu schützen. Leider sind nicht die Russen das Problem. Das Problem ist, dass Wladimir Putin allzu gut verstanden hat, wie die moderne Welt funktioniert – er hat die Schwächen und Hebel erkannt, die man bedienen muss, um sie zu lenken. Die Gesellschaftsordnung, die er in Russland aufgebaut hat, ist eine radikale Version des modernen neoliberalen Kapitalismus, in dem die Gier herrscht, in dem das Maß aller Dinge der persönliche Wohlstand ist – und Zynismus, Ironie und Nihilismus das rettende Gefühl von leichter Überlegenheit verleihen.

    Leider sind nicht die Russen das Problem. Das Problem ist, dass Wladimir Putin allzu gut verstanden hat, wie die moderne Welt funktioniert

    Putin ist nicht plötzlich aus den sibirischen Wäldern aufgetaucht – er hat jahrelang die globalen Finanz- und Polit-Eliten korrumpiert. Seine Oligarchen haben so lange auf der ganzen Welt zügellosen Luxus und Schmeicheleien genossen, bis sie allen Grund hatten, sich als die Herren dieser Welt zu fühlen. Putin hat derart erfolgreich die Politiker dutzender Länder pervertiert, indem er sie in seine Aufsichtsräte setzte und offenkundig blutiges Geld mit ihnen teilte, dass er allen Grund hat, sie als Schwächlinge zu betrachten. Putin hat den Russen dasselbe Prinzip angeboten, das die Starken dieser Welt so gut verinnerlicht haben: „Wenn ihr etwas mit Geld nicht erreichen könnt, habt ihr einfach nicht genug geboten.“ 

    Meine Auslandskorrespondenten fragen sich, wie die Russen bloß so „propagandaverblödet“ sein können. Aber ich schaue mich um und sehe ich überhaupt keine Idioten. Stattdessen sehe ich einen Haufen Leute, die die wichtigste Lektion gründlich verinnerlicht haben: Versuch gar nicht erst, Putin zu widersprechen, diese Welt ist sowieso so angelegt, dass er immer gewinnt. Ich sehe jene Menschen, die versucht haben, die derzeitige Katastrophe abzuwenden, die ihr Leben und ihre Freiheit aufs Spiel gesetzt und jedes Mal gesehen haben, dass Putins Geld alles entscheidet. Dass Putin nach jedem niedergeschlagenen Aufstand neue Milliardenverträge abschließt, seine Oligarchen noch reicher werden und seine „europäischen Freunde“ neue Posten in neuen Aufsichtsräten besetzen. Dass die internationalen Technologie-Riesen für ihre Gewinne auf dem russischen Markt zu jeglichen Konzessionen bereit sind – angefangen bei Google, das bereit ist, physische Bedrohungen durch russische Geheimdienste gegen ihr Top-Management zu verschweigen, bis hin zu Nokia, das Putin geholfen hat, ein System zur totalen Überwachung seiner Gegner zu erschaffen. Immer wieder von Neuem haben diese furchtlosen Russen angefangen – sie führen seit langem Krieg gegen Putin, nur ohne Panzerabwehrlenkwaffen und Haubitzen. Und jedes Mal haben sie aufs Neue gehört: „Euch wird sowieso niemand helfen, Putin hat alle gekauft.“ Und mittlerweile glauben das tatsächlich viele.

    Meine Freunde, die in internationalen Konzernen arbeiten, erzählen mir oft, wie ihre Geschäftsführer auf den Krieg reagieren. Nämlich gar nicht – darüber wird kein Wort verloren. Allgemeinen Unmut hingegen rufen die berühmt-berüchtigten Sanktionen hervor, die sie dazu zwingen, durch eigenes Handeln ihre reichen Erträge aus dem russischen Markt zu begrenzen. Und während man diese Unzufriedenheit in amerikanischen und britischen Firmen verbergen muss, um die globale Führungsriege nicht zu verärgern, sagen deutsche und vor allem französische Firmen ziemlich unverblümt, dass sie nicht verstehen, was sie mit dem Krieg in der Ukraine zu tun haben und wieso sie deswegen finanzielle Einbußen hinnehmen sollen. 

    ‚Euch wird sowieso niemand helfen, Putin hat alle gekauft.‘ Mittlerweile glauben das tatsächlich viele

    Im Interview mit dem Spiegel sagt der deutsche Kanzler Olaf Scholz, dass Masha Gessens Buch Future Is History sein Verständnis von Russland beeinflusst habe. Dieses Buch führt auf mehreren hundert Seiten beharrlich einen Gedanken aus: Russland wird sich nie ändern, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind totalitär, und jeder Versuch, dagegen anzukämpfen, ist vergeblich. Wladimir Putin und seine liberalen Kritiker haben sich längst genau darauf geeinigt: Russland wird sich niemals ändern. Scholz macht auf mich den Eindruck eines Menschen, der von dieser Angst vor den Russen eingeschüchtert ist, dieser Angst vor einer wilden Horde, mit der man sowieso nie fertigwerden wird. 

    Noch einmal sehe ich mich in meinem Moskauer Metro-Waggon um. Schwere Blicke, starr auf die Fenster oder den Boden gerichtet: Die Russen lächeln bekanntlich nicht gern. Hoffnung wird hier erst aufkeimen, wenn die Welt zugibt, dass Wladimir Putin und sein Krieg das unausweichliche Ergebnis der gesamten globalen Entwicklung der letzten zehn Jahre sind. Erst wenn die globale Wirtschaft sich für das Leben der Ukrainer verantwortlich fühlt und nicht nur für die Dividenden ihrer Aktionäre. Erst wenn die Welt versteht, dass wir alle in diesem Waggon der Moskauer Metro sitzen. Und erst, wenn Kanzler Scholz daran glaubt, dass ein anderes Russland möglich ist. 

    Dieses Material ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder

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    Am heutigen Dienstag, 21. Juni 2022, ist der 118. Tag des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Den 100. Tag des Kriegs am Freitag, dem 3. Juni, hatten zahlreiche Medien genutzt, um in Analysen, Hintergründen, Interviews die hundert Tage zu reflektieren, die Europa schon jetzt grundlegend verändert haben.

    Für das ukrainische Online-Medium zbruc.eu hat Juri Andruchowytsch einen Text dazu verfasst. Andruchowytsch, der aus Iwano-Frankiwsk in der Westukraine kommt, dem historischen Galizien, ist eine der weltweit bekanntesten literarischen ukrainischen Stimmen. Seine Gedichte, Essays und Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und international ausgezeichnet, auch in Deutschland, etwa mit der Goethe Medaille (2016) oder dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (2006). 

    Andruchowytschs Text ist allerdings nicht am 100. Tag, sondern am 107. Tag des Krieges erschienen. Also nach dem runden Datum, aber noch bevor sich Olaf Scholz zusammen mit weiteren europäischen Staats- und Regierungschefs Ende vergangener Woche für einen baldigen EU-Kandidatenstatus für die Ukraine ausgesprochen hat. Vermutlich hätte es Andruchowytschs sehr grundlegenden Text nicht geändert – von dem er selbst schreibt: „Es wird spannend sein, dieses Wirrwarr am 207., 307. oder 1007. Tag wieder zu lesen.“ dekoder hat ihn aus dem Ukrainischen ins Deutsche übersetzt.

     

    © zbruc.eu
    © zbruc.eu

    Zum 100. Kriegstag hat es bei mir [mit einem Text] nicht geklappt, aber am 100. haben auch ohne mich alle über den 100. gesprochen. Genauer gesagt, nicht nur über den 100., sondern über alle 100 Tage, die dieser miteinschließt.

    Und das ist nicht verwunderlich, im Gegenteil: 100 Tage sind vermutlich die erste bedeutende politische Zeiteinheit. Die wohl, wie unschwer zu erraten, mit Napoleons 100 Tagen begonnene Methode, 100 Tage nach Beginn jedes beliebigen Prozesses ein Fazit zu ziehen, gefiel und bürgerte sich ein. Mittlerweile ist es nicht nur eine Methode, sondern eine ganze Methodik, um nicht zu sagen eine Methodologie: 100 Tage neue Regierung, 100 Tage missglückte Reform, 100 Tage Diktatur, 100 Tage Pandemie, Protest, Regen, Überschwemmung etc.
    Ich denke auch an die Hundert Tage, Genosse Soldat. Hier werden jedoch die Tage bis zur Entlassung aus der Armee heruntergezählt, es geht um eine Verminderung, um eine Reduktion, eine Regression, eine Reversion. Also um die Annäherung an die gierig herbeigesehnte, wunderbare Null, mit der die neue Freiheit beginnt. 

    Heute aber sind wir in der gegenteiligen Situation: Vermehrung, Progression und Aversion. Vor einer Woche war der 100., heute ist der 107. Tag des Krieges, den man häufig großangelegt nennt. In meinen Augen ist er aber noch nicht vollumfänglich. Zur Vollumfänglichkeit fehlt ihm nicht viel: die Generalmobilmachung zum Beispiel, oder ein Atomschlag. Das wissen alle und alle denken daran.

    Auch ich denke daran, und ein paar Gedanken habe ich hier versammelt, eigentlich ist es ein ungeordnetes Wirrwarr an Gedanken. Es wird spannend sein, dieses Wirrwarr am 207., 307. oder 1007. Tag wieder zu lesen. Wenn es denn noch jemanden geben wird, der es lesen und dem man es vorlesen kann. Dennoch sammle ich.

    Punkt für Punkt also. Was beobachten wir?

    1) Die Regierung – die zentrale, in Kyjiw – ist nicht geflohen, nicht ausgereist, hat sich nicht in Luft aufgelöst (oder wie sie sich selbst rühmt: „Der Präsident ist hier, der Ministerpräsident ist hier.“). Das ist schließlich normal, so muss es sein. Aber die Propaganda modelliert daraus einen unvergleichlichen Heroismus, der in meinen Augen allmählich auf die Nerven geht. Sie sind nicht geflohen, tolle Kerle. Trotzdem sind nicht sie die Helden.

    2) In der westlichen Auslegung der ukrainischen Gegenwehr hat sich eine wesentliche Entwicklung vollzogen (und vollzieht sich auch weiterhin): Sie galt als unmöglich, vergeblich, zum Scheitern verdammt, unerwartet, verzweifelt, verlustreich, hoffnungslos, mutig, heroisch, effektiv, gekonnt, erfolgreich. Jetzt hat die Spirale anscheinend dialektisch eine neue Windung erreicht: sie ist gefährlich und sie muss begrenzt werden. „Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren, aber auch russland [sic – dek] darf diesen Krieg nicht verlieren.“ Diese absurde These wird offenbar gerade zum westlichen und insbesondere europäischen Mainstream.

    3) Ich weiß nicht, welcher Schlaumeier die in letzter Zeit oft wiederholte These formuliert hat, dass „jeder Krieg mit Verhandlungen endet“. Nein, nicht jeder. Es gibt auch Fälle von bedingungsloser Kapitulation. Das in unseren Breiten bekannteste Beispiel dafür ist Berlin, 8. Mai 1945.

    4) Einer der amerikanischen Geheimdienste hat sich für seine ungenauen Vorkriegsprognosen bereits entschuldigt – ein unerwarteter Faktor wurde nicht berücksichtigt: der Kampfeswille der Ukrainer. Doch die schwärzesten Schwäne kommen noch. 

    5) Immer deutlicher wird, dass das Zeichen Z für Zombies steht. Im Krieg gegen die Ukraine spielen Leichen eine führende Rolle: kobson, shirinowski, motorola, putin.

    6) Alles reimt sich mit allem. Wir haben Volonteure, sie Marodeure. Bei uns wird vertraut, bei ihnen geklaut.

    7) Sowohl bei uns als auch bei ihnen sterben Menschen. Aber unsere für Freiheit und Würde, und ihre für putins Hirngespinste. Hier reimt sich nichts miteinander, denn bei uns rettet man Hunde, und bei ihnen isst man sie.

    8) Der Wirbel im Internet um das „Canceln“ der GRK (der Großen Russischen Kultur) ist im Grunde nichts anderes als ein gezieltes Ablenkungsmanöver. Während die GRK  boykottiert wird, wird die ukrainische Kultur vernichtet. Ein Boykott ist eine Form gewaltloser Ablehnung. Vernichtung ist ein Gewaltakt. Lauthals über das Erste klagen, und das Zweite „nicht zu bemerken“ – das ist ein Element der russischen Kriegsführung. Die Säuberung von Bibliotheken im okkupierten Gebiet wird merkwürdigerweise nicht so lebhaft besprochen wie das „Verbot“ von Tolstoi und Bulgakow.

    9) 2014 war es shirinowski, jetzt sind es lawrow, lukaschenko, patruschew und unzählige andere, die immer aufdringlicher auf die mögliche „Annexion der Westukraine durch Polen“ hinweisen. Die Mitglieder von putins Politbüro sind von einer Manie des Zerteilens befallen. Transkarpatien werde auf Bitten Orbans nicht angegriffen. Es gibt plötzlich so viele Orwell, dass ganz Russland auf einen Kommentar zu seinem Roman zusammengeschrumpft ist.

    10) Während die Opinionmaker weltweit bedrückt über Millionen von „refugees from Ukraine“ berichten, erwähnen sie lieber nicht, dass ein Drittel dieser Millionen bereits zurückgekehrt ist. Das ist unbequem, es passt nicht in ihre kollektive „Syrer-Schublade“: Lässt man ihn einmal herein, wird man ihn nie wieder los. Und die hier gehen freiwillig zurück, obwohl sie es schon reingeschafft hatten. Sind sie anders?

    11) Wir sind anders. Der Westen sollte alles vergessen, was er bisher über die Ukraine wusste. Heute ist der 107. Tag, an dem sie – wie sich gezeigt hat – anders ist. Man sollte lernen ihr zuzuhören, damit man mit den eigenen Friedensbemühungen weniger Schaden anrichtet. Man sollte sie bei ihrer schwierigen Aufgabe internationaler Teufelsaustreibung nicht stören.

    12) Das Böse wird bestraft werden. Gott ist kein Naivling.

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