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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Putin ohne Plan, Kreml ohne Logik

    Putin ohne Plan, Kreml ohne Logik

    Auch an den Neujahrsfeiertagen gehen russische Angriffe auf die Ukraine unvermindert weiter. Seine traditionelle Neujahrsansprache hat Wladimir Putin in diesem Jahr entgegen der Tradition nicht vor dem Kreml gehalten, sondern im Kreis von Soldatinnen und Soldaten der russischen Armee. Putin hatte sie im südlichen Militärbezirk in Rostow am Don besucht. In seiner Rede warf er dem Westen Lügen vor und auch, die Ukraine zu benutzen, um Russland zu schaden. 
    Der US-amerikanische Think Tank Institute for the Study of War (ISW) hält Putins Worte für einen Versuch, den kostspieligen Krieg zu rechtfertigen und sich selbst dabei als Kriegsführer darzustellen, der alles unter Kontrolle habe. Der Think Tank liest darin außerdem auch die Botschaft, dass der Kreml an einem Frieden nicht interessiert sei, es sei denn, er diktiere der Ukraine und dem Westen die Bedingungen dafür.

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky indes erklärte in seiner Neujahrsansprache, den Ukrainern könne nichts mehr Angst machen – sie seien für 2023 auf alles gefasst. Das neue Jahr möge ein „Jahr der Heimkehr“ werden. Er sprach von einer Ukraine, die wieder 603.628 Quadratkilometer hat, „das Gebiet der unabhängigen Ukraine, wie es seit 1991 besteht“.

    Wie wichtig es ist, in Szenarien zu denken, und wie schwer, Prognosen zu treffen, da das Handeln des Kreml keiner Logik und keinem Plan mehr folgt – das thematisiert Meduza-Politikredakteur Andrej Perzew in Kit, einem Newsletter-Format von Meduza. Solche Mailinglisten sind mehr und mehr nach dem 24. Februar aufgekommen, als im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine mehr und mehr Websites unabhängiger Medien in Russland blockiert wurden und nicht mehr ohne Weiteres zugänglich waren.

    Wir haben sehr lange in einer Wirklichkeit gelebt, in der Putin eine Art Plan hatte. Wenn die Zeit reif war, erfuhren wir neue Einzelheiten dieses Plans, und die Ungeduldigen konnten sich den nächsten Schritt auch ausrechnen – mithilfe der „Kreml-Logik“. So eine Art „Lebensregeln“ der obersten Staatslenker, und wer die Logik dahinter kennt, der kann Russland verstehen – nicht nur den Kern dessen erkennen, was gerade geschieht, sondern auch die Zukunft vorhersagen. Unter anderem dank der Kreml-Logik florierte die politische Journalistik im Land – regierungsnahe Quellen erzählten den russischen Staatsbürgern, worüber man im Kreml nachdenkt und spricht. Die Kreml-Logik hat auch die anonymen Telegram-Kanäle populär gemacht, die im Netz Gerüchte und Analysen im Sinne der offiziellen Leitfäden verbreiteten.

    Mit „Putins Plan“ und „Kreml-Logik“ existierte das Land über 20 Jahre. Einerseits war es wenig erfreulich zu wissen, dass wir von dem Willen eines einzelnen Menschen abhängen. Andererseits half es dabei, relativ angstfrei in die Zukunft zu blicken – wo man Prognosen aufstellen kann, da entsteht ein Gefühl von Kontrolle, auch wenn man in Wirklichkeit keinerlei Kontrolle hat.

    Den Kreml-Bewohnern sind Plan und Logik abhandengekommen

    Der Krieg hat alles verändert. Ich bin mir sicher, dass jeder, der diese Zeilen liest, ihn nicht nur als globale, sondern auch als persönliche Tragödie empfindet. Die Rede ist von einem sehr egoistischen Gefühl: als würde einem der Boden unter den Füßen weggerissen. Es gibt keine Zukunft mehr, man kann weder über sie nachdenken noch etwas planen. Genau das Gleiche empfinden gerade auch die Kreml-Bewohner: Ihnen sind Plan und Logik abhandengekommen. 

    In den 2010er Jahren war beides im Vorgehen der russischen Machthaber noch irgendwie erkennbar. Im Inneren setzte das System auf die Verschärfung der Repressionen und die Verstaatlichung der Wirtschaft (das heißt, auf die Umverteilung von Aktiva zugunsten der engsten Umgebung des Präsidenten). Beim Unterdrücken und Umverteilen vergaß der Präsident allerdings nicht, dass ihn die völlige Willkür den Zugang zur Macht kosten könnte. Deshalb griff der Kreml selten zu unpopulären Mitteln, hielt die soziale Stabilität aktiv aufrecht und gab den Bürgern sogar die Möglichkeit, ihren Dampf bei sogenannten Wahlen abzulassen. Für diejenigen, die die Nase voll hatten, hielten die Wahlzettel stets etwas parat – einen oppositionellen Kandidaten oder eine Spoiler-Partei

    In den internationalen Beziehungen agierte Putin ganz ähnlich – er pflegte das Bad-Boy-Image, aber wusste zugleich, wann es genug war. Die „roten Linien“ des Westens überschritt er nicht: Putin war zum Beispiel schon 2014 klar, dass er noch härtere Sanktionen als bei der Krim riskiert, wenn er es im Donbass zu weit treibt. Das war es ihm nicht wert. Deshalb schickte er seine Truppen nicht offiziell in die Oblast Donezk oder Luhansk. Was das Regime sich auch in den Kopf setzte, der Nutzen im Sinne der „Realpolitik“ blieb immer das Wichtigste.

    Aber vier Jahre später, als Wladimir Putin 2018 zum wiederholten Male Präsident wurde, änderte er seine Herangehensweise und griff schließlich zu unpopulären Maßnahmen, von denen er bisher offenkundig Abstand gehalten hatte. So verkündete die Regierung 2018 beispielsweise die Rentenreform – und sackte in den Umfragen sofort drastisch ab.

    Putin macht nicht mehr das, was nötig ist, sondern das, was ihm gefällt

    Im Handeln des Kreml war immer weniger Kreml-Logik zu erkennen. Denken wir an einen weiteren Meilenstein der neuesten russischen Geschichte – das Referendum über die Verfassungsänderungen. Wo lag hier der Nutzen? Laut Gesetz war die Willensäußerung des Volkes nicht obligatorisch – obligatorisch sind Referenden nur bei Änderungen in den ersten beiden Kapitel des Grundgesetzes, und dort wollte Putin gar nichts ändern. Es hätte also gereicht, wenn sich die Abgeordneten der Staatsduma und die Mitglieder des Föderalen Rates abgestimmt hätten. Aber das Referendum wurde trotz allem durchgeführt, sogar trotz Pandemie. Die Russen stimmten in Kofferräumen, auf Steinen und Baumstümpfen ab (das sind alles reale Beispiele, falls es jemand vergessen hat), und zwar nicht aus pragmatischen Gründen, sondern einfach, weil es Wladimir Putin gefällt zu sehen, wie sein Volk ihn unterstützt. Er macht also nicht mehr das, was nötig ist, sondern das, was ihm gefällt.

    Aber selbst als das offensichtlich wurde, machten wir, die russischen Politikexperten, so weiter, als würde die Kreml-Logik immer noch funktionieren. Genau aus diesem Grund glaubten viele von uns nicht daran, dass der Krieg möglich wäre, quasi bis zum letzten Tag – denn ein Krieg gegen die Ukraine ist nicht nur monströs, sondern unpraktisch. Und Putin ist doch Pragmatiker, der würde doch niemals irrational handeln. Ja, ja, er droht vielleicht mit Manövern an der Grenze, aber er verfolgt damit auch klare Ziele – eine weitere Verhandlungsrunde mit den USA oder die Aufhebung von Sanktionen. Ein Jahr vor dem Krieg war es übrigens genauso: Damals fand vor dem Hintergrund der Manöver russischer Truppen an der ukrainischen Grenze ein Treffen zwischen Wladimir Putin und Joe Biden statt.

    Wir, die Politikexperten, machten so weiter, als würde die Kreml-Logik noch immer funktionieren

    Es ist immer noch schwer zu glauben, aber Putins manisches Verlangen, das Nachbarland zu erobern, hat alle rationalen Argumente übertrumpft. Ukrainische Städte werden bombardiert, nur weil Putin das so will. Und es tut ihm um niemanden leid – weder um Ukrainer noch um Russen.
    Wonach es ihm danach verlangen wird, wissen wir nicht und können es nicht wissen, und deshalb haben wir – das muss man sich endlich eingestehen – jede Möglichkeit verloren, das Vorgehen des Kreml vorauszusagen. Es folgt keiner Logik mehr, und deshalb fehlt diese auch für unsere Prognosen.

    Was bleibt dann noch?

    Ein simples Beispiel aus dem Alltag. Nehmen wir an, Sie haben beschlossen, nach der Arbeit zu entspannen und einen lustigen Film zu schauen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie Ihre Zeit genauso verbringen werden, wie Sie es sich vorgenommen haben, und nur höhere Gewalt würde Sie davon abhalten. Sie werden Ihre Entscheidung kaum selbst ändern: Sie sind zu Hause, wo Sie die Kontrolle haben, und das Internet wimmelt von Filmen für jeden Geschmack.

    Eine ganz andere Sache ist es, wenn Sie am Wochenende einen Ausflug ins Umland planen. Es ist Spätherbst, das Wetter ist sehr wechselhaft. Alles Mögliche kann schiefgehen. Zum Beispiel ein Temperatursturz. Oder es schüttet aus Eimern. Oder ein Sturm. Kurz gesagt, Sie sollten bereit sein, zu Hause zu bleiben und noch ein paar Filme zu schauen. Oder Sie gehen trotzdem los und werden nass bis auf die Knochen.

    Im Grunde hat der Kreml einen Ausflug ins Umland geplant, doch dann ist ein Sturm aufgezogen. Noch dazu ist Moskau Stürme nicht gewohnt — vor dem Krieg lebte man hier unter günstigsten Bedingungen, und niemals wurden Pläne durch äußere Einflüsse durchkreuzt. Dank der hohen Preise für Erdöl und Gas füllt sich die Staatskasse, die schweigende Mehrheit hatte sich an Wahlen ohne Auswahl gewöhnt, und den aktiven Protesten der vorlauten Minderheit hatte man durch verschärfte Gesetze erfolgreich Einhalt geboten. Das System hatte alles unter Kontrolle und war maximal stabil. Die Gesellschaft spürte das genau, und vielen war diese Gemengelage nicht unrecht – die Stabilität des Systems galt nicht nur der Regierung, sondern auch dem Volk als höchste politische Tugend.

    Außer Kontrolle

    Mit dem Beginn des Krieges begab sich der Kreml auf ein Territorium, das er nicht kontrollieren kann. Mit Territorium ist hier nicht einmal konkret das Staatsgebiet der Ukraine gemeint (obwohl natürlich auch das), sondern die Situation insgesamt. Plötzlich wurde der entscheidende politische Überlebensfaktor ein gewisser Anderer – ein ganzes Land, die Ukraine, sowie alle ihre Verbündeten –, der jederzeit reagieren kann, und zwar überraschend und heftig. Nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Sanktionen, von denen etliche wirklich schmerzhaft sind. All das erzeugt einen gewaltigen Unsicherheitsfaktor nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Systems. 

    Die Unsicherheit verdichtet sich in all diesen langen Monaten, und der Kreml gerät ins Schleudern. Im August und September, als den ukrainischen Truppen plötzlich eine Gegenoffensive in der Oblast Charkiw gelang, begann er also Referenden über die „Eingliederung“ der besetzten Gebiete mal chaotisch abzusagen, dann wieder eilig anzuberaumen. Sie hätten in feierlicher und ruhiger Atmosphäre stattfinden sollen, doch weder das eine noch das andere wurde erzielt: Die Referenden verliefen chaotisch und unschön, ohne Kampagne, unter vorgehaltenen Pistolen. Ein logischer Schritt wäre gewesen, sie zu verschieben, aber wir wissen ja bereits, dass es im Kreml keine Logik mehr gibt. Wenn noch irgendwo tief drinnen ein letztes Fünkchen existiert hat, so gehört es mittlerweile zusammen mit dem Gefühl, die Situation unter Kontrolle zu haben, endgültig der Vergangenheit an.

    Mobilmachung: Neue Unsicherheit im Inland

    Um auf dem Schlachtfeld Macht, Kontrolle und Initiative zurückzugewinnen, entschloss sich der Kreml zur Mobilmachung – und zog sich damit eine neue Unsicherheit im Inland zu. Damit trat ein weiterer Anderer auf den Plan, von dessen Vorgehen die Machthaber jetzt ebenfalls abhängig sind: der Russe, der nicht in den Schützengraben will. Noch ist schwer zu sagen, wie viele es sind – nicht nur die, die aus dem Land geflohen sind, sondern auch die, die sich in den Städten und Dörfern Russlands vor der Einberufung verstecken. Doch zusammen mit ihren empörten Verwandten bilden sie eine bedrohliche Unsicherheitswolke, mit der die Machthaber eindeutig ebenfalls nicht gerechnet haben. Wie der Zusammenprall zwischen dem Kreml und dieser Wolke ausgehen wird, ist schwer abzusehen, zumal wir ja noch nicht einmal die jüngste Vergangenheit verstanden haben. Zum Beispiel die Proteste gegen die Mobilmachung in der föderalen Regierung des sonst so loyalen Dagestan – was war das? Wird es das wieder geben? Noch vor ganz kurzer Zeit hatte man sich solche Proteste überhaupt nicht vorstellen können, aber sie sind passiert. Dafür reagierten traditionell „protestfreudige“ Städte wie Moskau und Sankt Petersburg auf die Mobilisierung und die Razzien eher kühl. Und wieder: Was war das? Wird es das nächste Mal auch so sein? Oder werden wir auf den Plätzen der Metropolen doch noch große Demonstrationen sehen?

    Was tun?

    Vielleicht hat der Kreml zum ersten Mal wirklich keine Ahnung — genauso wie wir. Angesichts des totalen Unwissens – der berühmte „Nebel des Krieges“ überzieht längst nicht nur das Schlachtfeld, sondern das ganze Land – ändern die Behörden nun ständig ihre Pläne. Wie soll man in einer Realität leben, in der der Hauptakteur – die Staatsmacht – jegliche Logik verloren, die Pragmatik vergessen, die Initiative verspielt hat und auf das Chaos zuläuft? Ich habe dazu drei Tipps.

    Erstens – gewöhnen Sie sich dran: Es gibt keine Prognosen, und es kann auch keine geben. Damit, dass Pläne schmieden im Privatleben sinnlos geworden ist, haben wir uns schon abgefunden. Pläne gibt es mittlerweile genauso wenig wie Logik, es gibt nur noch „Szenarien“. Für den Kreml gilt dasselbe: Meist gibt es mehrere Szenarien, an denen parallel gearbeitet wird, und jedes kann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Wirklichkeit werden. Lesen Sie jede politische Analyse durch dieses Prisma.

    Viele politische Beobachter (mich eingeschlossen) berufen sich auf ihre Quellen in der Regierung. Auch hier hat sich etwas verschoben. Es gibt im Kreml keinen Beamten, der jetzt irgendetwas vorhersagen könnte, nicht einmal, wenn er sehr viel Einfluss hat. Alles hängt davon ab, wonach es den Präsidenten gelüstet, doch was ihm morgen in den Sinn kommt, kann niemand wissen. Nicht einmal ein russischer Militärangehöriger höchsten Ranges weiß Bescheid, welchen Befehl er als nächstes erhält, wie seine Leute an der Front diesen Befehl ausführen werden und wie die ukrainische Armee reagieren wird. 

    Niemand. Weiß. Etwas. 

    Daher klingt jede Antwort jeder Quelle in der Regierung auf jede meiner Fragen ungefähr so: „Wir bereiten uns auf dieses und jenes vor, aber was dabei herauskommt, hängt vom Präsidenten ab.“

    Das wird in der Führungsriege möglicherweise lange so gehen, aber das ist kein Grund, von vornherein keine politischen Analysen mehr zu lesen. Schließlich sind sogar Informationen wie diese ein Indikator für das aktuelle Geschehen. 

    Zweitens, denken Sie daran: Unsicherheit ist die Norm. Das Leben ist unvorhersehbar. Alles fließt, alles verändert sich. Niemand weiß, was morgen sein wird. Ja, das sind lauter abgedroschene Phrasen, aber das macht sie nicht weniger wahr. In den letzten gut zwanzig Jahren haben die Russen vergessen, dass im Grunde jede Situation – auch die politische – von vielen Faktoren und Akteuren abhängt und nicht nur von der Willkür da oben im Kremlturm. Es ist an der Zeit, uns das in Erinnerung zu rufen – und auch dem Kreml.

    Und schließlich drittens: Vergessen Sie nicht, dass das alles kein finales Urteil ist. Der Zusammenhalt der ukrainischen Gesellschaft und das Vorgehen ihrer Streitkräfte haben bewiesen, dass „Putins Pläne“ oder die „Kremllogik“ nichts Endgültiges sind, gegen das man nichts machen kann. Man kann Widerstand leisten gegen sie und versuchen, aus ihren „Plänen“ eigene „Szenarien“ zu machen. 
    Im Februar bezweifelte kaum jemand, dass die russische Armee in Kyjiw einmarschieren würde. Jetzt gibt es immer weniger Zweifel, dass die ukrainischen Gebiete, die jetzt von Russland kontrolliert werden, wieder zurück an die Ukraine gehen – mindestens in den Grenzen vor dem 24. Februar. 

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  • Warum das System Lukaschenko abermals die Todesstrafe verschärft

    Warum das System Lukaschenko abermals die Todesstrafe verschärft

    Das Repräsentantenhaus des belarussischen Parlaments verabschiedete vergangene Woche in erster Lesung Änderungen zu Artikel 356 (2) des Strafgesetzbuches, „um eine abschreckende Wirkung auf destruktive Elemente zu erzielen und um einen entschlossenen Kampf gegen den Verrat am Staat zu demonstrieren“. Demnach können nun Staatsbedienstete und Militärangehörige, die wegen Landesverrats vor Gericht kommen, zum Tode verurteilt werden. Belarus ist das einzige europäische Land, das noch die Todesstrafe vollstreckt. 

    Bereits im Mai dieses Jahres war die gesetzliche Grundlage für die Anwendung der Todesstrafe ausgeweitet worden, und zwar für die Planung eines Anschlags oder den „Versuch eines terroristischen Akts“. Warum nun die neuerliche Verschärfung? Darüber wird in den belarussischen Medien debattiert. Wir bringen eine Auswahl an vier Experten- und Medienstimmen. 

    Der Menschenrechsanwalt Andrei Poluda sagte Gazeta.by, dass die neuerliche Verschärfung der Todesstrafe im Zusammenhang mit komplexen Stimmungsveränderungen in der Gesellschaft zu sehen sei. Die Machthaber würden diese einzuhegen versuchen:

    „… Damals betrafen sie [die Änderungen im Strafgesetzbuch zur Todesstrafe] breitere Bevölkerungsteile und waren unter anderem eine Reaktion auf Antikriegsaktionen von belarussischen Bürgern, insbesondere der Schienenpartisanen. Jetzt können wir die Tendenz beobachten, dass es um des Herrschers Leute geht, wie sich die Vertreter der Bürokratie und die Militärs in Belarus selbst gern nennen.


    Die Regierung meint nach wie vor, dass eine Verschärfung der Gesetze als abschreckendes Mittel wirksam sein kann, als Prophylaxe gegen bestimmte Handlungen der Bürger. Diese gravierenden Gesetzesänderungen sind ein deutliches Zeichen dafür, wie tiefgreifend und weit verbreitet die Prozesse sind, die in unserer Gesellschaft vor sich gehen. Es ist offensichtlich, dass diese Prozesse dem derzeitigen Regime in Belarus ganz und gar nicht gefallen.


    Jetzt, da es keine Möglichkeit gibt, in Belarus wissenschaftlich fundierte Umfragen zu machen, sind Informationen für uns vielfach nicht zugänglich und nicht sichtbar, und wir können die Prozesse nicht bis ins Letzte verstehen …
    Über viele Jahre hinweg aber haben Menschenrechtler Alarm geschlagen, dass die Existenz der Todesstrafe und ihre Anwendung nicht nur jene betrifft, die wegen Mordes verurteilt wurden.“

    Der Telegram-Kanal Reflexija i reakzija (dt. Reflexionen und Reaktionen) – der politische Prozesse in Belarus anonym analysiert und begleitet – betont in einem Beitrag ein grundsätzliches Problem bei autoritären Systemen: die fehlende Transparenz bei Entscheidungsprozessen. Dies mache Einschätzungen – wie aktuell in Bezug auf die Todesstrafe – schwierig. Auf Grundlage der historischen Erfahrung vom Ende der UdSSR läge aber die Vermutung nahe, dass sich das System Lukaschenko auf noch stärkere Verwerfungen in der belarussischen Gesellschaft vorbereite:

    „… Während alle damit beschäftigt sind, Details aus dem Büro von Tichanowskaja zu diskutieren, selbst die kleinsten, oder aber Äußerungen westlicher Stakeholder zu den Aussichten auf einen Waffenstillstand, ist völlig unklar, was innerhalb der Regime Russlands und Belarus’ vor sich geht.

    Es gibt viele vereinzelte Leaks, doch mit großer Genauigkeit ein Gesamtbild zu zeichnen, ist problematisch. Die wichtigsten Entscheidungszentren sind nicht öffentlich und hermetisch abgeschottet; all der Dreck, der unter den Teppich gekehrt werden kann, bleibt dort.

    Psychologisch wird die Situation wie folgt wahrgenommen: „Bei uns wird alles immer schlimmer – und die waren ein Monolith und sind es immer noch“. Obwohl das natürlich nicht sein kann, weil die Dynamik der sozialen Systeme derart strukturiert ist, dass alle Akteure sich auf die eine oder andere Art in diese oder jene Richtung entwickeln. Wenn eine solche Transformation nicht sichtbar ist, bedeutet das nicht, dass sie nicht geschieht.

    Mit der UdSSR ging es zu Ende, als sie schlicht und einfach kein Geld mehr auf dem Konto hatte, um die ganze Maschine am Laufen zu halten. Man konnte zwar vorhersagen, wohin der Wind uns trägt, aber das genaue Datum und die Ereignisse vorherzusagen, ohne über Insiderinformationen zu verfügen, ohne das gesamte Bild zu sehen, war und ist unmöglich. 

    Dass aber das Regime in Belarus (das in Russland bislang noch nicht) sich auf die schlimmsten Szenarien vorbereitet, lässt Gedanken heranwehen, wie denn der verdeckte Teil des Bildes tatsächlich aussieht.“

    Der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch sieht in seinem Kommentar für das Online-Medium Reform.by die Angst der belarussischen Machthaber nicht nur vor neuen Protesten als Treiber für die Verschärfungen der Todesstrafe, sondern auch die Angst des Systems vor dem System selbst. Indem sich beispielsweise die Unzufriedenheit der eigenen Leute im Staatsapparat und Militär an einem bestimmten Punkt gegen die Machtzentrale richten könnte:

    „… Auf den ersten Blick könnten sich die Änderungen im Strafgesetzbuch gegen politische Gegner des Regimes richten. Allerdings wird laut Informationen des Ermittlungskomitees, dem die Untersuchungen in den Strafverfahren gegen Swetlana Tichanowskaja, Pawel Latuschko, Olga Kowalkowa, Sergej Dylewski und Marija Moros oblag, von diesen fünf nur Tichanowskaja Landesverrat vorgeworfen. Auch wenn sie niemals Staatsämter innehatte …

    Es werden auch Grundlagen für die Zukunft gelegt. Wenn es zu Geschehnissen wie 2020 kommt, dürften Staatsbeamte und Silowiki sich hundertmal überlegen, ob sie die Seite wechseln. Denn die Strafe bei einer Niederlage könnte grausam sein. Das Regime verfolgt eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Gestern noch war es um eine ‚wegweisende Möhre‘ für Militärangehörige gegangen, etwa in Form einer Privatisierung von Mietwohnungen nach 25 Dienstjahren. Doch es scheint, als reiche Zuckerbrot allein nicht mehr aus, um Loyalität zu sicherzustellen. Die Änderungen im Strafgesetzbuch holen die Peitsche hervor, als Strafe für Verrat …

    Das Regime versucht, alle einzuschüchtern, sowohl Opponenten als auch Unterstützer. Um den Gedanken, man könnte das Staatsschiff möglicherweise verlassen, bereits im Keim zu ersticken. Das bedeutet, dass das Regime selbst jenen nicht mehr vertraut, die sich innerhalb des Systems bewegen. Und um die zu ‚überzeugen‘, braucht es jetzt auch die Peitsche. Vielleicht auch, weil das Zuckerbrot immer knapper wird.“

    Der ehemalige belarussische Diplomat und Politanalyst Pawel Sljunkin sieht in der Verschärfung der Todesstrafe im Gespräch mit dem russischen Medium The Insider eine Verbindung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine

    „Als Verrat würde hier gewertet werden, wenn jemand auf die Seite der Ukraine wechselt oder sich in Gefangenschaft begibt, oder sich vielleicht weigert zu kämpfen. Diese Gesetzesänderung wird sowohl Militärs wie auch Zivilpersonen betreffen. Dass es diese Änderung gibt, ist ein Anzeichen, dass das staatliche System auf etwas vorbereitet wird. Für die Staatsbeamten wird sie eingeführt, damit die nicht die Seiten wechseln und keine Spaltung innerhalb des staatlichen Systems provozieren.

    90 Prozent der Belarussen wollen nicht, dass ihre Armee sich an dem Krieg beteiligt, und Lukaschenko ist bewusst, welche Risiken ein solcher Schritt mit sich bringen würde: Selbst in den loyalsten Bevölkerungsteilen könnte es dann Leute geben, die damit nicht einverstanden sind. Wie also mit denen umgehen? Sie müssen eingeschüchtert werden. Und genau hierzu wurde die Aussicht auf die Todesstrafe geschaffen.

    Mit der Armee ist es das Gleiche: Sie wollen nicht kämpfen, sie haben nicht das Gefühl, dass das ihr Krieg ist, und sie rennen nicht, wie viele russische Mobilisierte, zu den Rekrutierungsstellen. Sie wissen, was sie dort erwartet. Niemand will für die imperialen Kriegsambitionen Russlands sterben, und für Lukaschenko will auch niemand sterben. Lukaschenko ist das sehr wohl bewusst, und er versorgt sie mit einer Alternative, und zwar nicht mit ein paar Jahren Gefängnis, sondern mit der Todesstrafe. Das ist ein Zeichen, dass sämtliche staatlichen Institutionen darauf vorbereitet werden, dass ein solcher Moment kommen könnte. Es bedeutet nicht, dass der Entschluss feststeht, die Armee loszuschicken. Sie wissen aber genau, dass so etwas möglich ist. Und bereiten sich darauf vor.“

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  • Nächster Halt: BSSR 2.0

    Nächster Halt: BSSR 2.0

    Seitdem die belarussischen Machthaber im Sommer 2020 begannen, zunächst die Proteste auf den Straßen mit Gewalt niederzuschlagen und schließlich mit aller Schärfe gegen Protestierende und Andersdenkende vorzugehen, wird in Gesellschaft und Medien diskutiert, inwiefern sich das politische System von Alexander Lukaschenko verstärkt sowjetischen und totalitären Methoden und Strukturen annähert. 

    Für einen Beitrag des Online-Mediums Reform.by analysiert der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch anhand der Kategorien „Freiheiten“, „Politisches System“, „Marktwirtschaft“ und „Ideologie“, inwieweit eine zunehmende Sowjetisierung tatsächlich festgestellt werden kann.

    Freiheiten

    Die Meinungsfreiheit ist in Belarus abgeschafft. Da gibt es nichts zu diskutieren, man braucht nur zu wissen, dass aktuell 32 belarussische Journalisten im Gefängnis sitzen. Unabhängige Medien werden „extremistischen Vereinigungen“ gleichgestellt und blockiert. Wer ihre Inhalte verbreitet, riskiert eine Ordnungshaft oder Schlimmeres. In Sachen Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit herrschen in Belarus längst wieder sowjetische Zeiten. Und zwar bei Weitem nicht die „vegetarischsten“.

    Die Repressionsmaschine läuft in Belarus sogar besser als in der UdSSR. Allein schon, weil es viel mehr Möglichkeiten gibt, Opponenten aufzuspüren. Die Digitalisierung hat nicht nur neue Instrumente für den Kampf gegen repressive Regime gebracht, sondern auch neue Instrumente zur Verfolgung von Andersdenkenden. Für die Sicherheitsdienste ist es heute viel einfacher als früher, große Menschenmengen zu kontrollieren. Und das tun sie, indem sie die Bevölkerung seit über zwei Jahren unermüdlich und flächendeckend einschüchtern. Die Pläne der Machthaber geben klar zu verstehen, dass die Repressionen nur noch zunehmen werden.

    Noch sind die Grenzen nicht geschlossen. Im Gegenteil, das Regime versucht, möglichst viele Unzufriedene aus dem Land zu drängen. So haben das schon die Bolschewiki nach dem Oktoberumsturz 1917 gemacht: In den ersten Jahren nach der Machtergreifung hinderten sie ihre politischen Gegner nicht daran, das Land zu verlassen, oder verbannten sie sogar. Erst später gingen sie dazu über, Andersdenkende physisch zu vernichten.

    Noch werden politische Gegner nicht erschossen. Auch wenn gewisse Schritte in diese Richtung schon unternommen wurden – in unserem Land steht auf die „Vorbereitung eines terroristischen Akts“ die Todesstrafe. Wobei die großzügige Auslegung des Begriffs „Terrorakt“ nahelegt, dass diese Maßnahme auch gegen Regimekritiker eingesetzt werden kann.

    Belarus steht der UdSSR in Sachen Unterdrückung von Andersdenkenden also kaum nach. Sucht man in der sowjetischen Geschichte nach Analogien, so könnte man die heutigen Ereignisse vorbehaltlich einiger Einschränkungen mit dem Ende der Belarussifizierung in den 1930er Jahren und der Zeit nach dem Anschluss von West-Belarus an die BSSR vergleichen. Es findet eine sukzessive Säuberung der Gesellschaft statt. Ihr werden die Spielregeln eines totalitären Staates aufgezwungen.

    Das politische System

    Das heutige Belarus hat ein anderes politisches System und andere Institutionen als die Belarussische Sowjetrepublik (BSSR). Um nur ein Beispiel zu nennen: Artikel 6 der sowjetischen Verfassung von 1977 proklamierte die Rolle der Kommunistischen Partei als „führende und lenkende Kraft der sowjetischen Gesellschaft, den Kern ihres politischen Systems, des Staates und der öffentlichen Organisationen“. Die Verfassung der BSSR führte unter derselben Ziffer einen analogen Artikel. Die heutige belarussische Verfassung sieht demgegenüber ein Mehrparteiensystem vor und stellt klar: „Die Ideologie politischer Parteien, religiöser oder anderer öffentlicher Vereinigungen oder gesellschaftlicher Gruppen darf den Bürgern nicht vorgeschrieben werden.“

    Allerdings enthielt auch die Verfassung der UdSSR viele demokratische Leitsätze. Zum Beispiel garantierte Artikel 47 den Bürgern der Sowjetunion „die Freiheit des wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Schaffens“. Das hinderte die Zensurbehörde jedoch nicht daran, Bücher, Filme, Theaterstücke und andere künstlerische Werke zu verbieten, die der Partei aus irgendwelchen Gründen missfielen.

    Zwischen einer Deklaration und der realen Sachlage liegt manchmal ein unüberwindbarer Graben. Sowohl dem Grundgesetz der BSSR als auch der heutigen belarussischen Verfassung zufolge gehört die Macht dem Volk. Auch in der BSSR fanden Wahlen statt, nur ohne Wahlmöglichkeiten. In Belarus sind die Wahlmöglichkeiten zwar formal vorhanden, aber jeder Versuch, sie in die Tat umzusetzen, endet so, wie wir es 2010 und 2020 gesehen haben. Auch wenn die Aussage „Es kommt nicht darauf an, wie gewählt wurde, es kommt darauf an, wie ausgezählt wird“ nicht von Josef Stalin stammt, sondern von Napoleon III., ändert das nichts an ihrem Sinn. Eine reale Demokratie gab es weder in der BSSR, noch gibt es sie im heutigen Belarus.

    Unübersehbar ist auch der Versuch der belarussischen Regierung, die Staatsverwaltung nach dem Vorbild der Parteitage der KPdSU zu gestalten, indem sie ähnliche Funktionen und Befugnisse auf die Allbelarussische Volksversammlung überträgt.

    Der Rhetorik der Entscheidungsträger nach zu urteilen, versteht man da oben selbst noch nicht, wie dieses durch die jüngsten Verfassungsänderungen geschaffene Organ genau funktionieren soll. Aber Alexander Lukaschenko vergleicht die Volksversammlung ohne Umschweife mit den Zusammenkünften der KPdSU: „Diese Dokumente sind in ihrer Bedeutung vergleichbar mit den Entscheidungen des Parteitags der Kommunistischen Partei“, erklärt Lukaschenko. Wo ist da der Unterschied zur „führenden und lenkenden Kraft“? Der Vorschlag, Parteien zu liquidieren, die vom Kurs der Volksversammlung abweichen, verwandelt zudem die politischen Akteure trotz ihrer formalen Existenz in unbedeutendes Beiwerk.

    Auch wenn sich das politische System in Belarus nach wie vor von dem der BSSR unterscheidet, wurde mit der Allbelarussischen Volksversammlung ein großer Schritt zurück in die Vergangenheit gemacht.

    Marktwirtschaft

    Die freie Marktwirtschaft ist eine der letzten Bastionen im Widerstand gegen eine Rückkehr in die Sowjetrepublik. Noch hält sie den zahlreichen Angriffen stand, etwa dem kürzlich von Lukaschenko verhängten Moratorium auf Preiserhöhungen und dem daran anschließenden Dekret über die staatliche Preisregulierung. Der Versuch, das Problem auf administrativem Weg zu lösen, steht im Widerspruch zur freien Marktwirtschaft. Nicht, dass es uns komplett in die Zeit des staatlichen Preiskomitees beim Ministerrat der UdSSR zurückversetzen würde, das für die Preisgestaltung und die Disziplinierung dieses Bereichs verantwortlich war. Aber es ist (durchaus) ein Schlag gegen die Marktwirtschaft, die Unternehmen, die auf dem belarussischen Markt tätig sind, und gegen die Verbraucher, die den Rückgang des Warenangebots in den Geschäften bereits zu spüren bekommen.

    Das Entscheidende ist aber, dass man ein Gleichheitszeichen zwischen der Marktwirtschaft und dem Privateigentum setzen kann, vor dem die belarussischen Behörden ohnehin keinen Respekt haben. „Niemand soll sich einbilden, dass Privateigentum heilig wäre“ – so formulierte jüngst Alexander Lukaschenko seine diesbezügliche Haltung. Die Regierung ist stolz darauf, dass es in Belarus keine umfassende Privatisierung gab oder geben wird. Sie ist überzeugt von den Vorzügen des Staatseigentums und beschlagnahmt Konzerne von Privateigentümern, wie es bei Motovelo oder dem Metallwalzwerk in Miory der Fall war. Sie kämpft unermüdlich gegen Zwischenhändler und „dickwanstige“ Geschäftsleute und beweist damit ihr Unverständnis und ihre Ablehnung marktwirtschaftlicher Dynamiken.

    Noch wurde die freie Marktwirtschaft in Belarus nicht abgeschafft. Aber das Regime macht ihretwegen nicht viel Federlesen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Druck auf die Unternehmer noch zunehmen wird, sollte sich die wirtschaftliche Situation weiter zuspitzen. Auf ihrem Weg zurück in die BSSR wird die Macht das opfern, was ihrer Meinung nach am wertlosesten ist.

    Ideologie

    Eine klare Ideologie hat die heutige Regierung im Gegensatz zur Kommunistischen Partei in der BSSR bisher nicht. Aber wir hörten bereits von Alexander Lukaschenko, dass noch keine bessere Ideologie als die marxistisch-leninistische erfunden worden sei. Die Ideen, die man heute den Menschen anbiete, fänden „weder in ihren Seelen noch in ihren Herzen Anklang“

    Während unsere russischen Nachbarn bei der Formulierung der „Werte, Faktoren und Strukturen, die Russland zugrunde liegen“ zwischen X und Y schwanken, tasten auch die belarussischen Ideologen nach den Grundfesten. Darunter finden sich die bereits erwähnte „Wiedervereinigung von West-Belarus mit der BSSR", der Sieg im Zweiten Weltkrieg, der Genozid am belarussischen Volk und die gesellschaftliche Bedeutung des Oktoberumsturzes der Bolschewiki. Das wäre wohl alles, was bisher deutlich zu hören war.

    Es ist bezeichnend, dass diese Konzepte nicht über die Geschichte der BSSR hinausreichen. Die Sowjetzeit spielt die zentrale Rolle. Auch das ist ein Grund, von einer Rückkehr in die BSSR zu sprechen, deren Geschichte unlösbar mit der sowjetischen und russischen verwoben war. Alle anderen Epochen werden im Schnelldurchlauf durchgenommen und eingedampft auf die „jahrhundertelange Sklaverei des belarussischen Volkes und seinen Wunsch nach Befreiung aus dem polnisch-litauischen Joch“. Der zentrale Dreh- und Angelpunkt der aktuell entstehenden Ideologie ist die BSSR.

    Die totalitären Praktiken innerhalb der Gesellschaft nehmen erst Fahrt auf. Noch unterschreiben Arbeitskollektive keine Appelle an die Behörden, „Volksfeinde“ aufs Schärfste zu verurteilen. Und doch gibt es bestimmte Verschiebungen in diese Richtung. Es finden Versammlungen statt, bei denen Regierungsvertreter die aktuelle Politik erklären und die Bedrohungen erörtern, denen Belarus von allen Seiten ausgeliefert sei. Der Staat beginnt bereits, eine Beteiligung der Öffentlichkeit einzufordern. Bisher genügte es, bei solchen Versammlungen still die Zeit abzusitzen – was an sich schon an die späte BSSR erinnert. Aufrufe von Arbeitskollektiven und Verbänden, zu „bestrafen“ und „nicht davonkommen zu lassen“, wären lediglich der nächste Schritt in den Totalitarismus.

    Die Rückkehr in die BSSR ist nicht einfach nur eine hübsche Redewendung. Der Ruck in diese Richtung lässt sich in vielen Bereichen beobachten. In einigen von ihnen – zum Beispiel bei der Beschränkung ziviler und politischer Rechte – ist der Prozess bereits sehr weit fortgeschritten. Bei der Umgestaltung des politischen Systems und in der Wirtschaft macht sich der Rückschritt noch nicht so deutlich bemerkbar, aber bestimmte Tendenzen weisen darauf hin, dass die Machthaber für die Entwicklung des Landes einen Kurs eingeschlagen haben, der in vielem in die nahe Vergangenheit weist.

    Die Fallgeschwindigkeit ist gleich 

    Es ist freilich nicht die Rede davon, dass die Regierung einfach alle Institutionen und Praktiken des Sowok kopieren würde. In ihrem Streben zurück in die UdSSR träumt die russische genauso wie die belarussische Führung von einer Sowjetunion 2.0, mit Raketen und Waschpulver. Mit geistigen Klammern und einem relativ akzeptablen annehmbaren Lebensstandard. Im Detail gibt es kleine Unterschiede in dem, was in den Köpfen der Initiatoren vorgeht. Deswegen gibt es in Russland noch etwas mehr wirtschaftliche Freiheit. Aber alles in allem ist das Ziel eine UdSSR, die den Kalten Krieg gewinnen kann. Ausgehend von dieser Prämisse wird klar, dass die politischen Freiheiten als Erstes weichen müssen. Und genau das beobachten wir in der Praxis. In der Politik ist die Rückkehr in die Vergangenheit eine vollendete Tatsache.

    Wirtschaftliche Freiheiten wird es geben dürfen, solange sie den Staatsinteressen nicht im Wege stehen. Der Druck auf sie ist ebenfalls unvermeidlich, aber in ihrem Bestreben, die Bevölkerung mit Waschmittel zu versorgen, werden ihn die Regierenden sparsam dosieren und die Erschütterungen möglichst gering halten. Die Stärke des Drucks wird von der Kompetenz derjenigen abhängen, die Entscheidungen treffen. Wobei der Totalitarismus unausweichlich in alle gesellschaftlichen Bereiche vordringen wird. Wie schnell das gehen wird, ist wiederum abhängig von den wirtschaftlichen Erfolgen oder Misserfolgen der Machthaber.

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  • Tod eines Handlungsreisenden

    Tod eines Handlungsreisenden

    Wladimir Makei, belarussischer Außenminister, verstarb unerwartet am vergangenen Samstag. Eine bestätigte Todesursache gibt es noch nicht; verschiedene Quellen aus seinem Umfeld vermuten, der hochrangige Diplomat könnte einem Herzinfarkt erlegen sein. 

    Makei war vor allem für westliche Staaten das langjährige außenpolitische Gesicht des Systems von Alexander Lukaschenko, dem er bis zuletzt loyal diente. Bis zu den historischen Protesten im Jahr 2020, über die sich Makei vielfach abfällig äußerte, galt er in Teilen der Bevölkerung, die sich für ein unabhängiges und demokratisches Belarus einsetzte, als „progressiv“. Makei sprach fließend Belarussisch und betonte immer wieder die kulturhistorische Unabhängigkeit von Belarus, was ihm Argwohn von russischer Seite einbrachte. Allerdings hatte er in seiner früheren Funktion als Leiter der Präsidialverwaltung auch mitgetragen, dass die Proteste infolge der Präsidentschaftswahlen 2010 niedergeschlagen wurden. Zudem hatte er so die darauf folgende Welle der Repressionen mitverantwortet.

    In einem Beitrag für Posirk, dem Nachfolgemedium von Naviny, analysiert der belarussische Journalist Alexander Klaskowski das diplomatische Vermächtnis einer widersprüchlichen Figur im autokratischen Machtapparat Lukaschenkos.

    Als das Lukaschenko-Regime noch einen auf „sanfte Belarusifizierung“ machte, posierte Außenminister Makei vor den Kameras gerne im Folklorehemd [Wyschywanka]. Unter anderen historischen Bedingungen hätte er vermutlich eine wichtige Rolle bei der Stärkung der belarussischen Unabhängigkeit und der europäischen Integration des Landes spielen können.

    Doch in diesem von Lukaschenko geschaffenen System waren Makeis Möglichkeiten begrenzt. Er diente anstandslos einer Diktatur, die zum heutigen Tag eine europäische Ausrichtung des Landes blockiert, es zu einer katastrophalen Abhängigkeit vom Kreml verurteilt und zum Mittäter einer imperialen Aggression gemacht hat. 

    Meisterhaftes Spiel auf einem Feld mit vielen Vektoren

    Als Makei 2012 zum Leiter der belarussischen Diplomatie ernannt wurde, hatte er bereits Arbeitserfahrung als Gehilfe Lukaschenkos, dessen Präsidialverwaltungsleiter er war. Der Führer des Regimes  musste damals die Beziehungen zum Westen auftauen, nachdem im Jahr 2010 die Demonstrationen gewaltsam aufgelöst und einige Dutzend politische Gegner inhaftiert worden waren (heute wirken diese Zahlen vor dem Hintergrund von fast 1500 politischen Gefangenen blass). 

    Und Makei gelang das nahezu Unmögliche. Natürlich wurden die grundlegenden Entscheidungen vom Machthaber getroffen, doch anzunehmen ist, dass auch die Rolle des Chefs des Außenministeriums nicht unbedeutend war.

    Minsk konnte sich von der russischen Annexion der Krim distanzieren. Das Treffen des Normandie-Quartetts in Minsk im Februar 2015 wurde zu Lukaschenkos Sternstunde: „auf ein Käffchen“ (nachher prahlte er, man habe „mehrere Kübel Kaffee getrunken“) kamen die Regierungschefs der wichtigsten EU-Staaten zu ihm, Angela Merkel und François Hollande. 

    Danach wurden die EU-Sanktionen aufgehoben und der Staatschef gefiel sich im Gewand des Friedensstifters, versprach Belarus eine Perspektive als „Schweiz des Ostens“. Das Außenministerium machte sich daran, Belarus als Garanten regionaler Stabilität zu vermarkten und trieb die Idee eines neuen Helsinki-Prozesses in Minsk voran. Für ein Land am Rande eines geopolitischen Bebens war dies geradezu ein außenpolitischer Triumph.

    Minsker Außenpolitik: Triumph und Tragödie

    Den multivektoralen Ansatz beförderte die – gelinde gesagt – komplizierte Beziehung zum Kreml. Bei all der falschen Rhetorik über die Jahrhundertbruderschaft, uneigennützige Freundschaft und leuchtende Perspektiven der Unionspartnerschaft spürte die belarussische Regierungselite stets die Moskauer Schlinge am Hals und sondierte Möglichkeiten, diese zu lockern

    Makei war ein wichtiger Spieler auf dem Feld der Multivektoralität. In Moskau mochten ihn viele nicht, hielten ihn für einen Agenten unter westlichem Einfluss. Die Personalpolitik Makeis war zumindest nicht anrüchig. 2020 verließ, erschüttert von den Repressionen, eine Reihe von Mitarbeitern zum Zeichen des Protests das Außenministerium,  – sie traten auf die Seite des Volkes, wie oppositionelle Medien damals pathetisch schrieben. Diese Leute erwiesen sich als nationalbewusst und schlicht als Bürger mit Gewissen. 

    In den Jahren der Entspannung leistete das Außenministerium viel. Heute schwer zu glauben, aber am 1. Februar 2020 empfing Lukaschenko in Minsk den US-amerikanischen Außenminister Mike Pompeo und man einigte sich auf Lieferungen amerikanischen Erdöls (Moskau hatte gerade wieder einmal den Hahn zugedreht).

    Am 4. Februar desselben Jahres konnte der Autor dieses Textes mit eigenen Augen beobachten, wie offen sich Makei mit den Botschaftern Polens und der USA sowie dem Außenminister Litauens unterhielt, bei einem Festempfang in Minsk anlässlich des 274. Geburtstags Tadeusz Kościuszkos – dem Anführer des Aufstandes gegen den russischen Zarismus. Der antiimperialistische Subtext der Veranstaltung war offensichtlich. Makei hielt eine Rede über die Notwendigkeit der Vertiefung der Partnerschaft mit Polen, Litauen und den USA. 

    Heute dämonisiert die belarussische Führung all diese Staaten, den gesamten „kollektiven Westen“, beschuldigt sie des Nazismus und aggressiver Pläne. Ein Wunder ist nicht geschehen. Als Millionen Belarussen Freiheit forderten, wählte die Führungselite den Weg des Selbstschutzes und unterdrückte diesen Ausbruch. Dies führte zur Isolation des Landes aus der demokratischen Staatengemeinschaft und zu neuen Sanktionen. Die Moskauer Schlinge zog sich noch fester zu.

    Letztlich zeigte das Regime sein wahres Gesicht, opferte nationale Interessen dem Machterhalt. Makei blieb dabei stets ein treuer Diener des Systems. Es war seine Stimme, die im Frühjahr 2021 das Urteil über die Strukturen aussprach, in denen sich freidenkende Bürger des Landes organisierten: „Jegliche weitere Verschärfung der Sanktionen wird dazu führen, dass die Zivilgesellschaft aufhört zu existieren.“

    Im Zeichen der Niederlage

    Die Ereignisse des Jahres 2020 brachen der belarussischen Außenpolitik das Rückgrat – sie begann praktisch zu Makeis Lebzeiten zu sterben. 

    Es ist bezeichnend, dass ihn sein letzter Amtsbesuch im ferneren Ausland in den Iran führte. Minsk bleibt nicht viel übrig, als Brücken zu anderen international Geächteten zu bauen.

    Vor Kurzem musste Makei zum OVKS-Gipfel nach Jerewan mit einer militärischen Transportmaschine fliegen. In der Boeing von Lukaschenko hatte sich kein Platz gefunden. Auch das hat Symbolcharakter.

    Auch verschwörungstheoretische Ansätze zu Makeis Todesursache machen bereits die Runde. Stellt man die klassische Frage „Cui bono?“, neigen sich die Köpfe in östliche Richtung. 

    In jedem Fall ist es wahrscheinlich, dass an der Spitze des Außenministeriums eine weniger talentierte und stärker prorussisch orientierte Person auftauchen wird. Bedauerlicher ist jedoch: Wen auch immer Lukaschenko zum Nachfolger bestimmt, und sei es der erfahrenste, begabteste Diplomat – es ist so viel Porzellan zu Bruch gegangen, dass an eine multivektorale Politik nicht mehr zu denken ist. Für ein Spiel mit dem Westen gibt es praktisch keine Ressourcen.

    Theoretisch gibt es sie natürlich noch. Tatsächlich hatte Makei im September am Rande der UNO-Versammlung in New York bei Treffen mit Vertretern des Westens die Grundlagen für eine Wiederbelebung des Dialogs sondiert. Doch Wurzeln geschlagen haben die offensichtlich nicht. Für den Führer des Regimes ist die Schwelle für den Eintritt in einen Dialog mit dem Westen im Moment unrealistisch hoch. Die politischen Gefangenen zu entlassen macht ihm Angst, dem Kreml gegenüber den Rückzug der russischen Truppen von belarussischem Territorium anzusprechen – noch viel mehr. Die Anbindung des Regimes an den imperialen Streitwagen wirkt zunehmend fatal. 

    Die Epoche Makei in der belarussischen Diplomatie endet unter dem Vorzeichen einer kapitalen Niederlage. Makei selbst war ein außergewöhnlicher Mensch und hätte in anderem Kontext in die belarussische Geschichte eingehen können. Doch er erwies sich als treuer Diener eines bösartigen Systems.

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    Diktatur ohne allmächtigen Diktator

  • Diktatur ohne allmächtigen Diktator

    Diktatur ohne allmächtigen Diktator

    1450 politische Häftlinge hat die Menschenrechtsorganisation Wjasna mittlerweile in Belarus registriert. Die Zahl steigt seit dem Jahr der historischen Proteste unaufhörlich. Die Dunkelziffer dürfte, davon gehen Experten aus, noch wesentlich höher liegen. Viele sehen davon ab, sich offiziell als „politischer Häftling“ führen zu lassen, da dies Repressionen für Freunde und Angehörige nach sich ziehen könnte. Die Machthaber um Alexander Lukaschenko gehen also nach wie vor gegen jeglichen Widerstand vor und versuchen, diesen bereits im Keim zu ersticken. 

    Das Ausmaß der Proteste vor zwei Jahren scheint Lukaschenko derart getroffen zu haben, dass er alles dafür tut, eine weitere Eruption von Proteststimmung mit aller Gewalt zu verhindern. Deswegen soll das System auch auf die Zeit nach Lukaschenko vorbereitet und in seinen autoritären Strukturen gestärkt werden. Wie das aussehen kann und welche Tücken damit verbunden sind – das analysiert Waleri Karbalewitsch in seinem Beitrag für das Online-Medium SN Plus

    Lukaschenko hat eine Sitzung zu Gesetzentwürfen abgehalten, die Korrekturen im staatlichen Verwaltungssystem vorsehen. Die Sitzung war begleitet von langen und konfusen Ausführungen, in denen er versuchte, den Sinn und Zweck der Neuerungen zu erklären. Aus diesen widersprüchlichen und wenig konkreten Äußerungen war der Inhalt seiner Ideen nur schwer zu erahnen. Man kann nur vermuten, dass er das autoritäre System auch im Falle seines Ausscheidens aus dem Amt aufrechterhalten sehen will. Damit seine persönliche Sicherheit, die Sicherheit seiner Familie und seines engsten Kreises gewährleistet ist.

    Er erklärt das folgendermaßen:

    „Heute sind wir da. Morgen vielleicht auch. Aber übermorgen definitiv nicht. Also müssen wir eine Basis schaffen, Stabilität … Damit das System robust ist und niemand daran rütteln kann. Das ist der Schlüssel zu unserer Zukunft. Wir werden uns aus dem aktiven Geschehen zurückziehen, aber wir werden weiterleben und beobachten, wie sich das Land entwickelt … Meine Aufgabe ist es, der neuen Generation ein vernünftiges System zur Verwaltung von Staat und Gesellschaft zu hinterlassen. Das ist der Sinn.“

    Ein Charakterzug von Lukaschenkos politischem Stil ist es, Dinge zu sagen, indem er sie verneint. Wenn er etwas strikt ablehnt, ist es vermutlich genau das, was er will. Und auch jetzt hören wir:

    „Auf keinen Fall sollte man diese Gesetzentwürfe und Gesetze auf sich selbst beziehen: ‚Wo werde ich morgen sein, wo wird Golowtschenko, Andreitschenko oder Kotschanowa, Sergejenko sein und so weiter.‘ Auf gar keinen Fall! Wir müssen davon Abstand nehmen und die Gesetze für morgen machen.“

    Ja, so haben sich das alle gedacht.

    Die Macht soll einer herrschenden Nomenklatura gehören

    In Lukaschenkos Vorstellung soll das politische Regime der Zukunft kein Regime der persönlichen Macht sein. Deshalb sieht die neue Verfassung vor, dass im Falle des Ausscheidens des Präsidenten seine Befugnisse nicht auf den Premierminister übergehen, wie das bei der alten Verfassung war, sondern auf den Vorsitzenden des Rates der Republik. Weil der Regierungschef nach Ansicht Lukaschenkos seine Macht missbrauchen könnte. Lukaschenko sagt:

    „Stellen Sie sich vor, der Premierminister führt nach dem Ausscheiden des Präsidenten Präsidentschaftswahlen durch, was dann seine Aufgabe ist. Das Budget, die Wirtschaft, die Finanzen und so weiter – alles ist in einer Hand. Richtig? Richtig. Das Ergebnis wäre in jeder Demokratie recht vorhersehbar … Das ist doch wahrscheinlich nicht ganz korrekt. Es muss schließlich ein System von Checks and Balances, von Machtgleichgewicht geben …“

    Aber andererseits will Lukaschenko die Macht auch nicht dem Volk geben und die Bürger die Regierungsorgane in freien Wahlen selbst wählen lassen. Genau deshalb hat er sich überlegt, dass das nicht gewählte Organ Allbelarussische Volksversammlung als oberste staatliche Instanz eingesetzt werden soll.

    Mit anderen Worten, eine Art hybrides Regime, bei dem die Macht nicht – so wie bisher – einer Person gehört, sondern einer herrschenden Nomenklatura, die sich auf verschiedene Institute verteilt, die völlig unabhängig vom Volk agieren. Also eine Diktatur ohne allmächtigen Diktator.

    Eine komplexe und schwierige Aufgabe. Denn es ergibt sich sofort eine Reihe von Problemen.

    Erstens zeigt die Erfahrung weltweit, dass das Ausscheiden des Diktators in personalistischen Regimen normalerweise eine politische Krise auslöst. Weil es keine echten Mechanismen der Machtübergabe gibt.

    Das Hauptproblem besteht darin, dass die grundlegenden Staatsinstitute in derartigen Systemen nicht funktionieren. In Belarus existieren die Nationalversammlung mit ihren zwei Kammern, das Verfassungsgericht und die normalen Gerichte nur als Dekoration. Dasselbe kann man über die Allbelarussische Volksversammlung sagen. Auch die Regierung arbeitet exakt in dem von Lukaschenko vorgegebenen engen Rahmen. Und zu erwarten, dass diese atrophierten Institute bei Lukaschenkos Abgang plötzlich zum Leben erwachen und anfangen zu funktionieren, ist ein wenig naiv.

    Als ob das nicht genug wäre, fügt Lukaschenko dieser kaputten Maschine ein weiteres Element in Form der Volksversammlung hinzu. Damit wird das simple, einer Deichsel vergleichbare System der Alleinherrschaft übermäßig verkompliziert. Ein autoritäres Regierungsmodell kann naturgemäß nicht komplex sein. Komplex, vielschichtig, mehrstufig und pluralistisch sind demokratische Systeme. Aber der Autoritarismus muss homogen, eindeutig und mit starren hierarchischen Mechanismen ausgestattet sein, die nach dem Motto funktionieren: „Ich Chef – du Idiot.“

    Wichtig ist der Hinweis, dass die Volksversammlung im Prinzip nicht dazu gedacht war, einen Staat zu verwalten. 1200 Menschen, die sich einmal im Jahr versammeln, sind nicht nur nicht in der Lage, irgendwelche wichtigen Entscheidungen zu treffen, sie können nicht einmal ernsthafte staatspolitische Fragen erörtern. Alle sechs bisherigen Volksversammlungen dienten lediglich dazu, vorgefertigte Dokumente durchzuwinken. Es ist per Definition unmöglich, dieses dekorative Institut in ein echtes Regierungsorgan zu verwandeln. Das einzige, wozu die Volksversammlung dank ihrem neuen Status fähig ist, ist es, das Verwaltungssystem endgültig aus dem Gleichgewicht zu bringen, das auch so aus dem Gleichgewicht geraten wird, sobald der zentrale Pfeiler weg ist: der Alleinherrscher.

    Hier sollten wir uns an die Erfahrung aus Gorbatschows Perestroika erinnern. Der schlanken und einfachen sowjetischen Ordnung wurden Elemente eingepflanzt, die für sie schädlich waren. In die Planwirtschaft wurde das Virus der Rentabilität, der Eigenfinanzierung und unternehmerischen Selbstverwaltung eingeschleppt. In das totalitäre politische System unter der Führung der KPSS – das Virus der Glasnost. Aus heutiger Sicht scheinbar ganz harmlose Dinge. Aber in der Folge ist das System nach kürzester Zeit zusammengebrochen.

    Ich wage die Prognose, dass Lukaschenko sich eigenhändig eine Mine in sein neu geschaffenes System legt. Denn das kann nur so lange funktionieren, wie er selbst an der Macht bleibt.

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  • „Putin will das Imperium wiedererrichten – das steht außer Frage“

    „Putin will das Imperium wiedererrichten – das steht außer Frage“

    Der russische Krieg gegen die Ukraine gilt unter vielen Wissenschaftlern, Journalisten und Aktivisten als ein imperialer Krieg: Wladimir Putin spricht der Ukraine das Daseinsrecht ab, will das Land offensichtlich unterwerfen, in der russischen Propaganda wird von „Entukrainisierung“ der Ukraine fantasiert, manche fordern eine „Russifizierung“ – all das erinnert an das Imperiale des Russischen Reiches und/oder der Sowjetunion.

    Auch die russische Historikerin Tamara Eidelman sagt, dass die Idee eines russischen Imperiums bei Putin fortlebe, allerdings in einer „verqueren Weise“: „Ich glaube nicht, dass er von Moskau als dem Dritten Rom träumt – oder besser gesagt, tun es die nicht, die seine Reden schreiben. Aber dass er das Imperium wiedererrichten will, das steht außer Frage.“

    Eidelman ist eine sehr bekannte Historikerin mit einem erfolgreichen YouTube-Kanal zur russischen Geschichte: Der 62-Jährigen, die inzwischen nicht mehr in Russland lebt, folgen dort eine Million Abonnenten. Mit der Novaya Gazeta Europe spricht sie über die Geschichte des russischen Imperiums seit den Anfängen im 16. Jahrhundert und darüber, was das mit der Gegenwart des Krieges unter Putin zu tun hat.

    Nikita Pegow: Was ist der russische Imperialismus, wo sind seine Wurzeln? Was hat Putins Russland vom ursprünglichen russischen Imperialismus geerbt?

    Tamara Eidelman: Ich denke, der Imperialismus war in Russland im Keim schon da, bevor es das Wort Imperium überhaupt gab. Peter der Große war der Erste, der offiziell zum Imperator ernannt wurde, aber eigentlich hat das Imperium schon vorher Gestalt angenommen: Als das Moskauer Zarenreich begann, sich auszudehnen und neue Gebiete einzunehmen – die Wolgaregion unter Iwan dem Schrecklichen im 16. Jahrhundert, Sibirien im 17. Jahrhundert –, war der Grundstein für das Russische Imperium bereits gelegt.

    Parallel dazu bildete sich die Ideologie heraus. Schon Anfang des 17. Jahrhunderts verfasste der Mönch Filofej von Pskow sein berühmtes Schreiben an Wassili III., in dem er den Gedanken formulierte, Moskau sei das Dritte Rom. Filofej wäre wohl sehr überrascht gewesen, hätte er erfahren, wie viele Jahrhunderte seine Idee überdauern würde und wie sie transformiert wurde. Rom stellten sich die Menschen im 16. Jahrhundert als Zentrum eines Weltreichs vor – für Filofej war es ein orthodoxes. Diese Idee wurde unter Katharina der Großen wieder lebendig. Sie wollte Konstantinopel erobern und dort einen orthodoxen Staat errichten. Diese Idee lebte im 19. Jahrhundert weiter, als Russland in den Balkan vordrang und ebenfalls von Konstantinopel träumte. Auf die gleiche verquere Weise lebt die Idee auch bei Putin fort. Er träumt wohl nicht von Moskau als dem Dritten Rom – oder besser gesagt, tun es die nicht, die seine Reden schreiben. Aber er will das Imperium wiedererrichten, das steht außer Frage.

    Was konkret Putins Kenntnisse angeht, habe ich große Zweifel. […] Er verwechselt den Nordischen Krieg mit dem Siebenjährigen Krieg. Das ist eine Fünf minus!

    Inwiefern stützt er sich auf die Erfahrung seiner Vorgänger? Lässt Putin sich von einem historischen Gedächtnis leiten, oder ist es etwas Impulsives, Irrationales?

    Was konkret Putins Kenntnisse angeht, habe ich große Zweifel. Erstens weiß ich nicht, woher er die haben sollte – sicher nicht von der KGB-Schule und auch nicht aus Dresden, wo er als Außenagent im Einsatz war. Der Mann hat in Deutschland gelebt, aber macht Fehler, die jeder Schüler korrigieren kann. Er verwechselt den Nordischen Krieg mit dem Siebenjährigen Krieg. Das ist eine Fünf minus! Er ist von Leuten umgeben, die für ihn vom Russki Mir inspirierte Reden schreiben. Diese Ideologie wurzelt tief in der imperialistischen Idee in ihrem übelsten Sinne – Imperialismus ist ja nicht gleich Imperialismus, genauso wie Imperien ganz unterschiedlich sein können.

    Meines Erachtens sind für Putin die letzten Regierungsjahre Stalins sehr wichtig, denn in der Nachkriegsepoche formierte sich auch bei Stalin eine imperiale Ideologie.

    Die Bolschewiki hatten in den ersten Jahrzehnten ihrer Herrschaft vom Internationalismus gesprochen, von der Weltrevolution, sie erschufen nationale Kader in den verschiedenen Republiken. Natürlich gab es damals keine Freiheit im eigentlichen Sinne, aber sie operierten jedenfalls mit diesen Begriffen; der Internationalismus war für viele Menschen sehr wichtig.

    Und dann erhebt Stalin 1945 auf einem Bankett zur Feier des Sieges sein Glas auf das russische Volk, das plötzlich die größten Opfer im Krieg davongetragen haben soll. Von diesem Moment an festigt sich der Gedanke, das russische Volk sei der große Bruder aller anderen Völker. Das lässt sich an der gesamten Politik des Spätstalinismus gut beobachten. Zum Beispiel an den Deportationen der nordkaukasischen Völker. Oder an der antisemitischen Kampagne, am Kampf gegen den Kosmopolitismus, an der sogenannten Ärzteverschwörung. Überall herrschte ein großrussischer Chauvinismus in aggressiver Form.

    Überall herrschte ein großrussischer Chauvinismus in aggressiver Form

    Es ist bezeichnend, dass sich dieser Chauvinismus unter Chruschtschow und Breshnew mäßigte. Natürlich war er auch da noch präsent, aber Breshnew wäre nie in den Sinn gekommen zu sagen, das russische Volk sei der große Bruder. Im Gegenteil, es wurde wieder von Internationalismus und Völkerfreundschaft gesprochen – vielleicht war es gelogen, aber immerhin.

    Eine andere Sache, die für Putin von großer Bedeutung ist: Ende der 1940er Jahre ließ Stalin das Russische Reich wiederauferstehen. Natürlich blieb es der Form nach der Kommunismus. Aber es ist kein Zufall, dass während des Krieges das Amt des Patriarchen wiedereingeführt wurde. Sämtliche Geistliche sitzen im Lager, doch plötzlich bandelt man wieder mit der Kirche an. Die Schulterklappen kehrten zurück, die Offiziersgrade – alles Symbole des Russischen Reichs. Es wurden Loblieder auf Peter I. und Iwan den Schrecklichen gesungen. So hatte das Reich zuletzt Ende des 19. Jahrhunderts unter Alexander III. ausgesehen.

    Wie gesagt, Imperium ist nicht gleich Imperium. Im Russischen Reich war das Leben nicht für alle Völker gleich. Juden und Polen lebten schlechter, die Bewohner der Wolgaregion oder Zentralasiens besser: Sie wurden zwar de facto erobert, aber man ließ sie mehr oder weniger in Ruhe. Selbst die Khane und Emire ließ man in ihren Ämtern, sie durften sich um ihre Angelegenheiten kümmern – Hauptsache, sie gehorchten dem russischen Zaren.

    Unter Alexander III. wurde das Imperium immer russischer, immer orthodoxer. Es ist kein Zufall, dass man ihn auch jetzt überhöht – alle sollen sehen, wie toll er war. Das ist genau die chauvinistische Linie, die Putin gefällt.

    Unter Alexander III. wurde das Imperium immer russischer, immer orthodoxer

    Gibt es so etwas wie Alltagsimperialismus? Wie kann es sein, dass ein durchschnittlicher Moskauer gegen den Krieg und die Wiedererweckung des Imperiums ist und nach seiner Auswanderung in die baltischen Länder anfängt, sie aus eben dieser imperialistischen Perspektive zu kritisieren?

    Ich würde dieses Phänomen nicht überbewerten. Einerseits ja, es gibt diesen Alltagsimperialismus. Er besteht darin, dass wir uns noch nie wirklich Gedanken über die Geschichte und Kultur der Republiken gemacht haben, die Teil der Sowjetunion waren, oder der Regionen, die zu Russland gehören. Es gibt die Vorstellung, dass die russische Kultur die wahre ist, die russische Sprache die wichtigste – davon wird man sich befreien müssen.

    Wie tötet man das Imperium in sich selbst?

    Indem man sich mehr für andere Kulturen und Ethnien interessiert. Auf meinem YouTube-Kanal gibt es jetzt zum Beispiel eine neue Serie zur Geschichte der Ukraine, es folgt eine zur Geschichte der Wolgaregion, dann kommt Belarus. Ich glaube, das Problem sind hier nicht nur die Beziehungen zwischen den verschiedenen Völkern. Das Problem ist die allgemeine Aggressivität. 

    Ich sehe eine große Verantwortung bei den Historikern und dem Lehrplan, nach dem an den Schulen unterrichtet wird. Bei uns herrscht die Vorstellung, dass die Geschichte Russlands die Geschichte des russischen Staates sei. Oder nicht einmal des Staates – es ist die Geschichte Moskaus und Sankt Petersburgs, und alles andere ist nur so da. Für den Bau von Sankt Petersburg darf man Tausende von Menschen vernichten, und für das Wohlergehen des Staates massenhaft Werte opfern. Das wird uns auf verschiedenen Ebenen eingehämmert, in der Schule, durch die Propaganda. Damit hängt auch zusammen, wie den Menschen der Zweite Weltkrieg präsentiert wird. 

    Ich glaube, die Überwindung des imperialistischen Denkens ist ein sehr komplexer Prozess. Er beschränkt sich nicht darauf, zu sagen: „Lasst uns alle die Ukraine liebhaben!“ Das ist zwar schön und gut, aber wir müssen anderen Ethnien mit Respekt und auf Augenhöhe begegnen. Da muss eine Veränderung auf psychologischer Ebene passieren, in den Familien, in der Bildung und in internationalen Beziehungen. Es kann nämlich nicht sein, dass an einer Stelle alles gut ist, aber auf allen anderen Ebenen bleibt alles beim Alten. Alles muss sich verändern. 

    Bei uns herrscht die Vorstellung, dass die Geschichte Russlands die Geschichte des russischen Staates sei. Oder nicht einmal des Staates – es ist die Geschichte Moskaus und Sankt Petersburgs

    Sie haben gesagt, die imperialistische Ideologie fordert im Namen von etwas Höherem das Opfer des einzelnen Menschen. Am 21. September hat Putin die Mobilmachung verkündet, doch die Reaktionen in der Bevölkerung, sogar von etlichen Z-Propagandisten, waren alles andere als hurrapatriotisch. Wie erklären Sie sich das? 

    Niemand will kämpfen. So mancher Propagandist wird natürlich sagen, er sei bereit, sein Leben zu geben, aber seine Kinder schickt dann doch keiner in den Krieg. Das ist logisch, weil das menschliche Leben mehr wert ist als diese idiotischen Klischees. 

    Es ist klar, dass Russland nach diesem Krieg nicht mehr sein wird wie früher. Bestehen Aussichten, dass der Imperialismus auf staatlicher Ebene entthront wird? Werden die Republiken wie Burjatien, Jakutien, Tschetschenien heftig danach streben, sich abzuspalten?

    Ich vermute, dass sie aktiv werden, aber genau kann ich das nicht sagen. Daran, dass Russland auseinanderfallen wird, glaube ich nicht so recht, rein geografisch ist das unrealistisch. Höchstens, dass sich irgendwelche Gebiete im Kaukasus abtrennen.

    Ich sehe innerhalb Russlands kein Streben nach einem Auseinanderfallen. Eher nach neuen Beziehungen. In welchem Maße es Russland gelingen wird, die Beziehungen innerhalb der Föderation umzugestalten, wird davon abhängen, wer an der Macht ist, aber auch der politische Wille ist hier nicht alles. Natürlich kann man die Verfassung ändern, den Republiken mehr Rechte geben. Die Frage ist, wer sich um den Alltagsrassismus kümmern wird, wie man den wegkriegt. Dafür braucht es eine Umstrukturierung des Bildungssystems und freie Medien. Das kann nicht nur von oben kommen. Entscheidend ist, ob vor Ort Menschen gefunden werden, die damit arbeiten. Dann könnte es gelingen, aber wenn nicht, dann geht wieder alles schief.

    Kann man Sibirien als Kolonie Russlands bezeichnen? In gewisser Weise ja, aber da hat sich alles so sehr vermischt, dass etwas ganz anderes entstanden ist 

    Noch einmal zum Baltikum: Flächendeckend haben die Regierungen der drei baltischen Republiken seit Beginn des Krieges eine massive Entsowjetisierung betrieben, die den Sturz von Denkmälern und Monumenten zum Thema der sowjetischen Besatzung umfasst. Wie schätzen Sie diese Prozesse ein?

    Ich verstehe schon, warum diese Denkmäler entfernt werden, ganz abgesehen von ihrer Hässlichkeit. Es steht mir auch nicht zu, über die Regierungen anderer Länder zu urteilen. Aber vielleicht wäre es richtiger gewesen, neben dem Denkmal für die Sowjetarmee ein Denkmal für die Opfer des kommunistischen Regimes aufzustellen. Das hätte die ganze Komplexität dieser Situation zum Ausdruck gebracht. Unter den gegenwärtigen schrecklichen Umständen kann man eine solche Ausgewogenheit und Mäßigung aber kaum erwarten.

    Inwiefern kann man die Erfahrung anderer kolonialer Imperien überhaupt mit der Erfahrung des heutigen Russland vergleichen?

    Jeder Vergleich hinkt natürlich. Die Geschichte des British Empire beispielsweise ist ganz anders als die des Russischen Reiches. Die Besonderheit der kontinentalen Imperien bestand immer darin, dass eine große Vermischung der Völker stattfand. Kann man Sibirien als Kolonie Russlands bezeichnen? In gewisser Weise ja, aber da hat sich alles so sehr vermischt, dass etwas ganz anderes entstanden ist. Bis zu einem bestimmten Grad können wir die Erfahrung anderer Imperien wiederholen. Aber sogar zwischen dem sowjetischen und dem russischen Imperium gibt es gravierende Unterschiede. 

    Dostojewski, Tolstoi, Bulgakow – das sind große Schriftsteller, und ich bin mir nicht sicher, ob Wladimir Wladimirowitsch ihre Texte gelesen hat

    Wie imperialistisch ist die russische Kultur? Muss sie sich verändern, und was kann man ihr vorwerfen?

    Die Kultur ist niemandem etwas schuldig. Dostojewski, Tolstoi, Bulgakow – das sind große Schriftsteller, und ich bin mir nicht sicher, ob Wladimir Wladimirowitsch ihre Texte gelesen hat. Die englische Kultur ist ebenfalls imperialistisch. Eine Erhebung der eigenen Macht und Nation über andere Völker hat es zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Ländern gegeben. Gerade bei Dostojewski finden wir eine gewaltige humanistische Botschaft, die niemand außer Kraft setzen kann. Wie weit die russische Kultur den jetzigen Krieg aufgreifen wird, ist eine interessante Frage. Wird sie ganz bestimmt, tut sie ja jetzt schon. Momentan herrscht eine fürchterliche Krise. Sie ist eine Herausforderung für den gesamten Humanismus, und die Kultur wird sich damit befassen müssen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von: 

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    „Ihr seid keinen Deut besser“ – Whataboutism in der Kreml-Rhetorik

    Wer Geld aus dem Ausland bezieht oder bei wem nur der Verdacht besteht, mit ausländischen Geldgebern im Zusammenhang zu stehen, dem droht in Russland der Status des „ausländischen Agenten“. Die Gesetzgebung dazu gibt es bereits seit zehn Jahren, sie wurde immer mehr ausgeweitet und erfährt willkürliche Anwendung auf unliebsame Stimmen. Das russische Justizministerium gibt üblicherweise freitags bekannt, wer diesmal mit dem Label „ausländischer Agent“ als Spion im eigenen Land gebrandmarkt wird – seien es NGOs, Medien(schaffende), Forschende oder Künstler. Der Status bringt Einschränkungen und Schikanen für die Betroffenen mit sich. Viele von ihnen sind nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ins Ausland geflohen. Denn der Status zeigt an: Man ist im Visier der Sicherheitsorgane. 

    Zum 1. Dezember 2022 tritt nun eine Gesetzesänderung in Kraft, wonach nun allein die Feststellung eines „ausländischen Einflusses“ für diese Einstufung ausreichen kann. Auf der Webseite der Staatsduma verkündet deren Vorsitzender Wjatscheslaw Wolodin dazu: „Einem, der mit fremder Stimme singt und dafür Geld bekommt, muss klar sein, dass [eine Einstufung als] ‚ausländischer Agent‘ noch das Demokratischste ist, was andere Länder in solchen Fällen unternehmen. Überall gibt es Haftstrafen dafür, Freiheitsentzug und anderes mehr […]“. Der russische Präsident Putin argumentierte ähnlich, als er das Vorhaben im Sommer unterschrieben hat. 

    „Die anderen machen es genauso, sogar noch schlimmer“ – das Magazin Holod fragt, was sich hinter einer solchen Rhetorik verbirgt, die sich sinngemäß durch viele offizielle Verlautbarungen in Russland zieht, in allen möglichen Bereichen. Gemeinsam mit der russischen Politologin Ekaterina Schulmann analysiert Holod diese Taktik, die aus dem Repertoire sowjetischer Propaganda schöpft. Längst ist sie auch aus sozialen Medien bekannt: als Whataboutism.

    Am 14. Juli unterzeichnete Wladimir Putin ein Gesetz zur „Kontrolle der Tätigkeit von Personen, die unter ausländischem Einfluss stehen“. Darunter fallen alle in Bezug auf „ausländische Agenten“ existierenden Normen. Die wichtigste Neuerung ist, dass der Staat ab jetzt jeden zum „ausländischen Agenten“ erklären kann, der „unter ausländischem Einfluss steht“ (eine Erläuterung dieser schwammigen Formulierung bleibt das Justizministerium bislang schuldig).

    Bei der Debatte zum Gesetzentwurf verwies der Vorsitzende der Staatsduma Wjatscheslaw Wolodin auf die Erfahrung anderer Länder und betonte die „Liberalität“ des russischen Gesetzes: „Einem, der mit fremder Stimme singt und dafür Geld bekommt, muss klar sein, dass [eine Einstufung als] ‚ausländischer Agent‘ noch das Demokratischste ist, was andere Länder in solchen Fällen unternehmen.“

    Damit setzt er die Rhetorik von Wladimir Putin fort: Der russische Präsident erzählt seit 2012 von der „ausländischen Erfahrung“ in Bezug auf „ausländische Agenten“. Damals hatte die Staatsduma Änderungen des Gesetzes „Über Non-Profit-Organisationen“ verabschiedet, woraufhin die ersten russischen Non-Profit-Organisationen den Status von „ausländischen Agenten“ erhielten. Und damals hatte er erstmals auf das in den USA geltende Gesetz zur Registrierung von ausländischen Agenten FARA verwiesen: „Ich finde, wir können in Russland auch ein Gesetz haben, das in den USA bereits 1938 verabschiedet wurde und immer noch in Kraft ist. Damit schützen sie sich gegen Einfluss aus dem Ausland und wenden das Gesetz schon seit Jahrzehnten an, warum soll Russland das nicht auch tun?“

    Offizielle Repräsentanten der USA hatten Putin daraufhin mehrfach widersprochen, dass nämlich FARA vornehmlich auf Lobbyisten abziele, die für ausländische Regierungen arbeiten; auch russische Journalisten und Politologen kritisierten den Vergleich mit FARA.

    Ekaterina Schulmann, Politologin und Stipendiatin der Berliner Robert-Bosch-Academy erklärt: „Der wichtigste Unterschied ist, dass es in der russischen Gesetzgebung zu ‚ausländischen Agenten‘ keinen Auftraggeber gibt, das heißt jemanden, in dessen Interesse der ‚Agent‘ letztlich tätig ist. Wenn das Justizministerium eine Organisation oder eine Einzelperson zum ‚ausländischen Agenten‘ erklärt, muss es zum Beispiel keinen Zusammenhang nachweisen zwischen dem Erhalt eines Honorars für einen Artikel und der öffentlichen Tätigkeit, die das Justizministerium für politisch hält. Zudem betrifft das FARA-Gesetz im Wesentlichen kommerzielle Strukturen wie Lobby- oder Consulting-Unternehmen sowie Medien, die von Regierungen und politischen Parteien finanziert werden, aber nicht Personen des öffentlichen Lebens, Wissenschaftler oder regionale Abgeordnete“, sagt Schulmann.

    Putin erklärte 2013, das russische Gesetz sei liberaler als das amerikanische 

    Die russische Gesetzgebung ist seither immer repressiver geworden: Zu ausländischen Agenten können nun auch Medien und Privatpersonen erklärt werden. Dabei verweist der Präsident ständig auf die Erfahrungen der USA. 2013 erklärte er – genau wie später Wolodin –, das russische Gesetz sei liberaler als das amerikanische. 

    Unter zahlreichen Meldungen der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti zum Gesetz über ausländische Agenten findet sich der Hinweis, das russische Gesetz sei eine „notgedrungene Reaktion auf die Unterdrückung der russischen Medien in den USA“.

    Wolodin erzählt natürlich nicht deshalb von der Ähnlichkeit der russischen Gesetzgebung und dem amerikanischen FARA, weil man sich die besten juristischen Entscheidungen der USA abgucken will. „Etwa seit 2012 beobachten wir Aussagen eines neuen Typs – eine Reaktion auf Kritik. Wenn man etwa fragt, warum sie schon wieder den nächsten kannibalischen Gesetzesentwurf durchwinken, kriegt man zu hören, im Westen würde man dafür gehängt, das Gesetz sei dort knallhart, und überhaupt sei alles viel schlimmer. Das heißt, es werden nicht die Vorteile des Gesetzes benannt, sondern seine Mängel gerechtfertigt – dass es woanders genauso oder noch viel schlimmer sei, dass niemand besser ist, sondern alle gleich“, erklärt Schulmann.

    Die Ursprünge des Whataboutism

    1974 schrieb der irische Geschichtslehrer Sean O’Connell eine Kolumne für The Irish Times, in der er die Unterstützer der IRA kritisierte, die in ihrem Kampf für die Unabhängigkeit Nordirlands unter anderem Terroranschläge verübte. Seine Gegner nannte er Whatabouts (vom englischen „What about …?“ – „Und was ist mit …?“), denn auf jede Kritik an der IRA antworteten sie genau mit diesem Argument und verwiesen auf ein noch größeres moralisches Vergehen des Feindes.

    Später benutzten auch andere Journalisten diesen Terminus. Breit gefasst bedeutet er die Rechtfertigung einer historischen Ungerechtigkeit durch eine andere Ungerechtigkeit.

    1978 verwendete der australische Journalist Michael Bernard in einem Artikel für [die australische Zeitung] The Age den Begriff Whataboutism zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Sowjetunion. Seine Kritik richtete sich gegen jene, die behaupteten, dass man dem Kreml nichts vorwerfen könne, weil andere Länder die Menschenrechte ja genauso verletzen würden.

    Die Sowjetunion war in der Anwendung dieser Methode, die russische Diplomaten nachgewiesenermaßen bereits seit 1880er Jahren des Russischen Reiches beherrschen, bemerkenswert erfolgreich. Die sowjetischen Journalisten berichteten fleißig über Rassendiskriminierung, Finanzkrisen und die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten.

    Die Renaissance der Whataboutismen im heutigen Russland 

    Während des Kalten Krieges fanden die Whataboutismen immer häufiger und aktiver Verwendung – und verloren vielleicht auch deshalb an Überzeugungskraft, wurden zu Memes. Das bekannteste ist wahrscheinlich dieser Radio-Jerewan-Witz: Auf die Frage nach dem Durchschnittslohn eines sowjetischen Ingenieurs denken sie beim armenischen Radio Jerewan drei Tage lang nach und antworten dann: „Bei euch werden dafür Schwarze gelyncht!“

    Laut Ekaterina Schulmann war diese Art von Argumenten zwar häufiger in der Presse zu finden, aber sie war nicht Teil des offiziellen Diskurses – wenn man offizielle Vertreter der UdSSR etwa für die Erschießung von Arbeitern in Nowotscherkassk verantwortlich machte, verwiesen sie nicht auf das Lynchen von Schwarzen.

    „Der Westen wurde als aggressiv, verlogen und verfault dargestellt, aber niemand behauptete, dass man bei uns hinter Gitter kommt, wenn man was Falsches sagt, während man im Westen sofort erschossen wird. Das ist ein neues Phänomen, ein eigentümlicher Charakterzug der informationellen Autokratie, die unter den Bedingungen einer relativen Informationsfreiheit arbeitet“, sagt Ekaterina Schulmann. „Heute ist die Welt transparenter als zur Zeit der Sowjetherrschaft, die Menschen sehen und erleben zum Teil selbst, wie das Leben woanders ist. Außerdem ist es schwieriger geworden, die eigenen Sünden zu vertuschen: Es ist günstiger, sie einzugestehen und im gleichen Atemzug zu erklären, dass alle anderen noch viel schlimmer sind. Das weckt mehr Vertrauen. Ich finde es wichtig, auf diesen Unterschied zwischen der Sowjetrhetorik und der heutigen Angewohnheit hinzuweisen, herbeifantasierte westliche Gesetze mit den tatsächlich existierenden russischen zu vergleichen.“

    Während der Perestroika und nach dem Zerfall der UdSSR nahmen die Whataboutismen in der hiesigen Politik merklich ab. Ihre Renaissance im heutigen Russland datieren Forscher spätestens auf Wladimir Putins Münchner Rede, in der er den Westen mit Anschuldigungen überhäuft – einschließlich der Kritik bezüglich der NATO-Osterweiterung und den Versuchen der USA, anderen Ländern das Konzept einer „unipolaren Welt aufzuzwingen“.

    ein eigentümlicher Charakterzug der informationellen Autokratie

    Im Weiteren benutzte die russische Propaganda solche Bemerkungen als Reaktion auf jegliche Kritik am Vorgehen der russischen Regierung – angefangen bei der Annexion der Krim bis hin zur Kriegserklärung an die Ukraine. Dabei knüpfte man aber durchaus an die Erfahrung aus der Sowjetzeit an: So berichteten die staatstreuen Medien 2014 aktiv über die Ausschreitungen in Ferguson nach dem Mord an einem unbewaffneten schwarzen Jugendlichen durch einen Polizeibeamten. Die Zeitung The Moscow Times sah in diesem Interesse am Thema einen Versuch, die Aufmerksamkeit von den Ereignissen abzulenken, die zur selben Zeit in der Ukraine ihren Lauf nahmen. 2015 warf Igor Korotchenko, Mitglied des Öffentlichen Rates des russischen Verteidigungsministeriums, dem amerikanischen Journalisten Michael Bohm auf Twitter vor, Leute wie er würden „Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abwerfen und Schwarze lynchen“. 2017 schlug der russische UNO-Botschafter als Antwort auf die britische Kritik an der Annexion der Krim vor, Großbritannien solle doch erstmal die Falkland Islands und Gibraltar zurückgeben.

    „Der moderne russische Whataboutism ist ein Triumph der Emotionen über das logische Denken, des Irrationalen über das Rationale. Dasselbe lässt sich übrigens auch von der russischen Außenpolitik sagen. Schließlich ist Russland, wie es die Entscheidungsträger frei heraus erklären, aktuell damit beschäftigt, die Amerika-zentrische Weltordnung zu zerstören, allerdings ohne sich dabei allzu viele Gedanken darüber zu machen, was an ihre Stelle treten könnte. Aber um etwas zu zerstören, eignen sich primitive Waffen ohnehin viel besser als Hochpräzisionsinstrumente“, schreibt [der Historiker] Iwan Zwetkow.

    Ekaterina Schulmann ist der Ansicht, das Ziel der Whataboutism-Rhetoriker sei es, das Verständnis von Tugend und Recht zu verwischen: „Der Gedanke, der auf diese Weise in die Hirne des Publikums eingepflanzt werden soll, ist der, dass alle gleich und wir nicht schlechter sind als die anderen. Es gibt kein Vorbild, an dem man sich orientieren könnte, folglich gibt es auch niemanden, der uns unsere Fehler zum Vorwurf machen könnte. ‚Wer seid ihr überhaupt, dass ihr uns etwas erzählen wollt?‘, ‚Ihr seid keinen Deut besser. Niemand ist besser.‘ Die Politiker wollen zeigen, dass die Tugenden von Recht und Demokratie an sich nicht existieren – es gibt nur diejenigen, die so tun, als würden sie sie besitzen, und die, die gar nicht erst so tun.“

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  • Mobilmachung für die Planzahl

    Mobilmachung für die Planzahl

    Auf die Ende September verkündete „Teilmobilmachung“ folgten in Russland vielerorts chaotische Zustände: Neben den kilometerlangen Staus an den Landesgrenzen mehrten sich Berichte von willkürlichen Einberufungen direkt auf der Straße, von missachteten Ausnahmeregelungen und miserabler Ausrüstung für die Einberufenen. Bei einer Sitzung des Sicherheitsrates am 29. September räumte Putin bereits „Fehler“ ein, die korrigiert werden müssten.

    Auch der Umfang der Mobilmachung bleibt vage: Zwar sprach das Verteidigungsministerium zunächst von 300.000 Rekruten, doch Experten befürchten, dass aufgrund fehlender Einschränkungen die tatsächliche Zahl weitaus höher liegen könnte. In einer aktuellen Recherche schätzt Mediazona diese auf knapp 500.000 Soldaten – anhand von sprunghaft angestiegenen Eheschließungen, die für Einberufene kurzfristig und ohne Wartezeit möglich sind. 

    Meduza-Journalist Maxim Trudoljubow geht davon aus, dass der Kreml durchaus konkrete Zielvorgaben macht, wie er auf seiner Facebook-Seite schreibt. Deren Umsetzung auf unterer Ebene erinnert ihn an eine Praxis aus der Stalinzeit, bei der die Erfüllung der Sollzahl wichtiger ist als das „wie“.

    Die kremlsche Panikmobilisierung wird in Zahlen, in „Köpfen“, in „Seelen” gemessen. Die Zahlen – die sind das Wichtigste, obwohl sie gar nicht genannt werden. Eine Schätzung der Menge potentieller Rekruten ist unmöglich, weil die Kriegsziele nicht offengelegt werden. Zu welchem Zweck rekrutiert die Kreml-Armee N Soldaten? Geheimsache. Den Wert von N kennt nur der Kreml. N ist die Hauptsache. Aber N wird nicht nur verschwiegen, sondern ist auch Änderungen unterworfen. Wir wissen von neuen Mobilmachungsplänen für Regionen, die die anfänglichen bereits erfüllt haben. Das ist verrückter als jede Antiutopie. In ihrer Lebensfremdheit und Irrationalität ist diese Arithmetik des Todes unergründlich und furchterregend.

    Rechenschaft von unten – Plan von oben

    Dabei ist sie nicht neu. Kontingente, Zahlen, Pläne und Quoten sind ein fixer Bestandteil der Verwaltungsstrukturen russischer Institutionen, insbesondere der aus der Sowjetunion geerbten „Rechtsschutzorgane“. Reformversuche gab es zwar, doch das Prinzip „Rechenschaft von unten – Plan von oben“ ist nach wie vor in Kraft. Oft werden Kriminalfälle aus nichts erschaffen, um eine Quote zu erfüllen. Die tatsächliche Aufgabe dieses Systems ist – im Gegensatz zur augenscheinlichen – nicht die Aufdeckung, sondern die Erzeugung von Kriminalität. Das war schon in Sowjet- und Postsowjetzeiten so, doch heute erreicht es nie dagewesene Dimensionen des Wahnsinns.

    Die zentrale Bedeutung von Kontingenten bei politischen Projekten war in der sowjetischen Geschichte nicht so sehr für Mobilisierungskampagnen charakteristisch, sondern vielmehr für Repressionen. Kontingente kamen zum Beispiel bei der Kollektivierung und während des Großen Terrors 1937–38 zum Einsatz. Die Regionen lieferten auf Befehl aus Moskau zum Beispiel die Zahlen der erfassten „weißgardistisch-großbäuerlichen Elemente“, und Moskau gab nach unten die „Kontingente“ „erster“ und „zweiter“ Kategorie durch, gab also vor, wie viele zu erschießen und wie viele zu Lagerhaft zu verurteilen seien. Die Regionen versuchten ihrerseits, die Kontingente möglichst zu erfüllen, indem sie wahllos Menschen festnahmen. In diesem diabolischen System gab das Zentrum vor, das wilde Treiben an der Basis zur Aufdeckung der Feinde zu begrenzen – in Wirklichkeit ging die Initiative aber vom Zentrum aus. 

    Das funktioniert auch jetzt bei der Mobilmachungung so. Allerdings glaube ich nicht, dass der Kreml Massenrepressionen geplant hat. Stalin hat Massenrepressionen geplant. Putin hat einen Krieg geplant und dann die Mobilmachung der Menschen für diesen Krieg. Davor hatte er die „Bewahrung des Volkes“ geplant, die Besiedelung des Fernen Ostens, die Unterstützung kleiner Völker, die Förderung von Familien mit Kindern und vieles andere mehr. Das Ergebnis: Der Ferne Osten ist immer dünner besiedelt, die kleinen Völker werden in den Tod geschickt, die Familien verlieren ihre Väter und Ernährer. Es ist ein neuer Großer Terror. Geplant hat er das Leben, herausgekommen ist der Tod. 

    Geplant hat er das Leben, herausgekommen ist der Tod

    Denn so läuft es. Die dünne Schicht aus Verbesserungen und einem gewissen äußeren Glanz, die in den letzten Jahrzehnten aufgebaut wurde, ist weg. Was bleibt, ist das Fundament – ein repressiver Mechanismus, der der Logik geforderter Quoten folgt. Der Kreml ist dabei, den Krieg zu verlieren, aber bevor er in sich zusammenstürzt, kann er durchaus noch – zu aller Entsetzen – die teuflische Schlacht um die Zahl der eingezogenen und in den Tod geschickten Menschen gewinnen.

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  • Leitfäden der Propaganda

    Leitfäden der Propaganda

    Der großflächige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine galt von Anfang an offiziell als eine „militärische Spezialoperation“, an der nur Berufs- und Zeitsoldaten teilnahmen. Der Pressesprecher des russischen Verteidigungsministeriums meldete seit dem 24. Februar einen Erfolg nach dem anderen. Anfang Oktober standen die staatlich kontrollierten Medien jedoch vor einer schwierigen Aufgabe: Wie kann man nach mehr als sechs angeblich erfolgreichen Monaten der „Spezialoperation“ die Notwendigkeit einer Mobilmachung erklären und zwar so, dass die einzelnen Medien sich nicht gegenseitig widersprechen? Für solche Fälle werden in der Präsidialadministration sogenannte metoditschki – Leitfäden – verfasst, die die Stoßrichtung der Berichterstattung vorgeben. 

    Russland kämpfe nicht gegen die Ukraine, sondern gegen die NATO – heißt es etwa in einem Leitfaden, der die Mobilmachung erklären soll. Gleichzeitig sollen die Medien laut dem Leitfaden betonen, Russland mache nur ein Prozent der Reservisten mobil, es gebe also keinen Grund zur Panik. Diese und andere Texte tauchen regelmäßig auf und werden von unabhängigen Journalistinnen und Journalisten analysiert und mit der tatsächlichen Berichterstattung verglichen. Andrej Perzew hat die Leitfäden des letzten halben Jahres angeschaut und erklärt in einem Text für Meduza, wie die Manipulation der Berichterstattung über den Krieg funktioniert.

    Wie Meduza bereits berichtete, erstellt die Präsidialadministration der Russischen Föderation für staatlich kontrollierte Medien regelmäßig spezielle Leitfäden, die vorgeben, wie diese Medien über den Krieg und die damit verbundenen Ereignisse berichten sollen. Solche „Empfehlungen“ bekommen die Propagandamacher fast täglich. Es wird darin im Detail beschrieben, wie diese oder jene Nachricht zu beleuchten ist und welche Emotionen bei den Zuschauern, Lesern oder Zuhörern erzeugt werden sollen.

    Fast täglich bekommen die Propagandamacher Empfehlungen aus dem Kreml

    Anfang Oktober erhielt Meduza Zugang zu mehr als zehn solcher Dokumente, die der Kreml zwischen April und Oktober 2022 erstellt hat. Die Echtheit der Texte bestätigte eine der Präsidialadministration nahestehende Quelle sowie ein Mitarbeiter der staatlichen Medien, dem die Leitfäden von seiner Arbeit her bekannt sind.

    Die Anweisungen sind klar strukturiert: Alle Texte enthalten ein „Hauptereignis“, über das berichtet werden soll. Im Leitfaden von Anfang Oktober war das beispielsweise eine Umfrage des WZIOM, wonach 75 Prozent der Befragten die Annexion der ukrainischen Gebiete angeblich „positiv“ bewerten und 83 Prozent finden, Russland müsse „die Interessen der Bevölkerung verteidigen, auch wenn sich das negativ auf die Beziehungen zu anderen Staaten auswirkt“.

    Das Fazit, das die Propagandisten verbreiten sollen, lautet folgendermaßen: „Die Bürger Russlands sind überzeugt von der Rechtmäßigkeit und Legitimität der Entscheidung der Bürger in der [annektierten] DNR, LNR sowie den Regionen Cherson und Saporishshja.“

    Darüber hinaus enthalten die Leitfäden zentrale Propaganda-„Linien“, die der russischen Bevölkerung vermittelt werden sollen. Im Dokument vom 4. Oktober lauten diese „Linien“: „Stärkung Russlands“, „Spezialoperation. Bild des Sieges“ und „Neue Weltordnung“.

    Die Linie „Stärkung Russlands“ besagt, das Land sei „offiziell um vier Regionen angewachsen“. Außerdem wird dort genau beschrieben, wie die Propagandisten über die Mobilmachung zu berichten haben: Der Bevölkerung soll vermittelt werden, dass „die Mehrheit der mobilisierten Soldaten ihre Aufgaben und Ziele bei der Verteidigung der Heimat verstehen“. Der Mobilisierungsprozess in Russland sieht demnach angeblich so aus:

    „Es entstehen kameradschaftliche Kollektive mit festem Zusammenhalt, die Männer sind bereit, sich untereinander zu helfen, sie erinnern sich gut an ihre militärischen Fertigkeiten und lernen schnell Neues. Es werden neue effektive Mechanismen entwickelt, um sicherzustellen, dass die, die ihre Pflicht gegenüber der Heimat erfüllen wollen, das ohne Schwierigkeiten können. Auf dem Portal für staatliche Dienstleitungen Gosuslugi sind seit der Freischaltung für die Registrierung von Freiwilligen bereits mehr als 70.000 Anfragen eingegangen. In einigen Regionen ist der Plan der Teilmobilmachung bereits erfüllt – unter anderem dank dem Einsatz der Freiwilligen.“

    Das Kapitel „Spezialoperation. Bild des Sieges“ kennt keinen Rückzug

    Das Kapitel „Spezialoperation. Bild des Sieges“ ist der Situation an der Front gewidmet. Obwohl sich die russischen Truppen seit Wochen in Wirklichkeit stetig auf dem Rückzug befinden, schlagen die Leitfäden des Kreml vor, über ihre „Siege“ zu sprechen – zum Beispiel zu unterstreichen, wie viel ukrainische Militärtechnik „die russische Armee bereits vernichtet“ habe.

    Dabei wird den Propagandisten „empfohlen“, darauf hinzuweisen, dass jeder Widerstand seitens der ukrainischen Armee nur zur „Selbstzerstörung der Ukraine“ führt (weiter wird diese These nicht ausgeführt).

    Laut dem Abschnitt „Neue Weltordnung“ sollen die Medien dem Publikum einen einfachen Gedanken vermitteln: Die Staaten der ehemaligen UdSSR sollten „eine Lehre aus dem Schicksal der Ukraine ziehen“ und nicht die Beziehungen zu Russland belasten. Als Negativbeispiel wird Moldau und die amtierende Präsidentin Maia Sandu angeführt (die moldauische Landesregierung hat den russischen Angriffskrieg wiederholt verurteilt und angekündigt, die Grenzkontrollen zu verschärfen; zuletzt gab es Berichte von russischen Staatsbürgern, dass man ihnen die Einreise verweigere).

    Ferner wird empfohlen, die These von der „Neuen Weltordnung“, für die Russland angeblich kämpft, mit der Information zu untermalen, dass der Export von russischem Öl nach Indien im September 2022 im Vergleich zum August desselben Jahres um 18 Prozent gestiegen sei. Diese Zahlen sollen die Entwicklung der Zusammenarbeit mit Staaten illustrieren, „die an einer gerechten und auf Gleichheit basierenden Weltordnung interessiert“ seien.

    „Zusammenstehen“ und „Vereinigung“ hervorrufen sollen die tragenden Gefühle sein

    Neben konkreten Propaganda-„Linien“ ist in den Leitfäden von „Gefühlen, Emotionen und Empfindungen“ die Rede, die nach Ansicht des Kreml bei der russischen Bevölkerung erzeugt werden sollen. Dieser Abschnitt trägt in den Dokumenten die Überschrift „Emotionale Basis“. So soll beispielsweise die Annexion der ukrainischen Gebiete bei den Russen das Gefühl von „Zusammenstehen“ und „Vereinigung“ hervorrufen. Ein Gefühl von „Zusammenstehen“ soll den Autoren zufolge auch die Explosion auf der Krim-Brücke erzeugt haben. Dabei ist an die Stelle von „Überzeugung“ und „Stolz“, von denen in den Monaten zuvor in diesem Abschnitt oft die Rede war, Anfang Oktober die „Hoffnung“ getreten – offenbar vor dem Hintergrund der erfolgreichen Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte.

    Laut Meduzas Quelle, die dem Kreml nahesteht, stammen diese Texte aus der Direktion für gesellschaftliche Projekte der Präsidialadministration, die auch Telegram-Kanäle, Blogger und diverse Massenmedien kuratiert. Unmittelbar verantwortlich für die Zusammenstellung der Leitfäden soll der Vizechef der Direktion Alexej Sharitsch sein, der Anfang der 2010er Jahre stellvertretender Direktor des Rüstungskonzerns Uralwagonsawod war (auf Anfragen von Meduza antwortete er nicht).

    „Deshalb erinnert die ganze Propaganda im Grunde an Uralwagonsawod“, kommentiert Meduzas Gesprächspartner ironisch, der für ein staatliches Medium arbeitet, das seine Instruktionen aus dem Kreml bekommt.

    Seit dem Einmarsch in die Ukraine hat man es nicht geschafft, sich etwas Neues für die mediale ,Bearbeitung‘ einfallen zu lassen 

    Er fügt hinzu, dass die Mitarbeiter der Präsidialadministration seit dem Einmarsch in die Ukraine es nicht geschafft hätten, sich etwas Neues für die mediale „Bearbeitung“ der Invasion einfallen zu lassen und sich deshalb auf die Erfahrung aus der Berichterstattung bei den Wahlen und anderen politischen Ereignissen in Russland stützen. So würden sie unter anderem für staatliche und loyale Medien immer noch diese Leitfäden verwenden.

    „Jetzt, während des Krieges, haben es die Jungs [aus dem Kreml] natürlich schwer. Wir können den ukrainischen Medien nichts entgegensetzen. Die entstellten Leichen russischer Soldaten lassen sich schwer schönreden“, meint Meduzas Interviewpartner.

    Auch andere Gesprächspartner von Meduza bezweifeln die Wirksamkeit dieser Methoden. Ein Politikberater, der für die Präsidialadministration tätig war, erklärte zum Beispiel, die Thesen aus den Leitfäden könnten nur das „loyale Publikum“ überzeugen, das sich nicht für alternative Informationsquellen interessiert.

    Wir können den ukrainischen Medien nichts entgegensetzen

    „Die Journalisten bei den Medien [die ihre Anweisungen aus dem Kreml bekommen] sind ohne die Leitfäden oft gar nicht in der Lage, selbst etwas zu schreiben, und wenn, dann nur völligen Unsinn … Und dann muss man auch noch die Konsequenzen ausbaden“, sagt er. „Im Internet gibt es auch eine loyale Leserschaft, und die anderen kann man sowieso nicht mehr überzeugen, erst recht nicht mit solchen Methoden.“

    Ein Interviewpartner, der der Parteispitze von Einiges Russland nahesteht, ist der Meinung, dass die Erstellung von Leitfäden generell „keine Methode ist, um die Stimmungen der Massen zu lenken, sondern lediglich das Tagesgeschäft“:

    „Die Medien, die Pressestellen, die Blogger – das ist ein riesiger, täglich rotierender Mechanismus, geschmiert von millionenschweren Budgets. Dieser Mechanismus muss allein aufgrund seiner Existenz funktionieren und ein Produkt erzeugen, denn das sichert den Beteiligten ihre Einkünfte. Die Kosten einer Unterbrechung, selbst eines längeren Stillstands sind viel zu hoch.“

     

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  • Im Wendekreis des Nobelpreises

    Im Wendekreis des Nobelpreises

    Alexander Lukaschenko behauptet seit Beginn des russischen Angriffskrieges immer wieder, dass die Ukraine und auch die NATO einen Angriff auf Belarus planen würden. Genau dies hat der belarussische Machthaber nun auch vordergründig angeführt, um die Aufstellung einer gemeinsamen regionalen Truppe mit Russland auf den Weg zu bringen. Mittlerweile sollen bereits rund 9000 russische Soldaten in Belarus angekommen sein. Die neu geschaffene Einheit soll an der Grenze zur Ukraine stationiert werden. Zudem laufen Vorbereitungen, den Zivilschutz zu bewaffnen und Bunkeranlagen im ganzen Land auszurüsten. Auch gibt es immer wieder Hinweise, dass Lukaschenko doch planen könnte, seine Armee aufzustocken. In den vergangenen Wochen hat die Staatsführung auch immer wieder Treffen mit seinen Sicherheitsbehörden abgehalten. Trotz dieser Drohgebärden hat Lukaschenko immer wieder dementiert, in den Krieg gegen die Ukraine mit eigenen Truppen aktiv eingreifen zu wollen. Könnten diese Entwicklungen jedoch ein Hinweis darauf sein, dass Putin und seine Armee den Druck auf den widerwilligen Nachbarn erhöht haben, um ihn doch zum Eingreifen zu zwingen? In jedem Fall sind dies alles auch Zeichen dafür, dass Lukaschenkos Macht durch den Kreml offensichtlich untergraben und damit ausgehöhlt wird.

    Wie souverän kann der belarussische Machthaber überhaupt noch agieren? Ist er mittlerweile ein Getriebener der Umstände, in die er sich vor allem seit 2020 selbst manövriert hat? Was bedeutet dies für die Unabhängigkeit von Belarus? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich der belarussische Politanalyst Waleri Karbalewitsch in seinem Beitrag für das Online-Medium SN Plus. Dies tut er vor dem Hintergrund der Bekanntgabe des Friedensnobelpreises, der unter anderem an den belarussischen Menschenrechtler Ales Bjaljazki geht – dem als Häftling Lukaschenkos eine besondere Rolle im Spiel um die Macht zufallen könnte.

    Beinahe unbemerkt ging das in diesem Jahr achte Treffen von Lukaschenko und Putin über die Bühne. Diesmal in Sankt Petersburg, am Rande eines informellen GUS-Gipfeltreffens, das zeitlich mit Putins 70. Geburtstag abgestimmt worden war. Die eher ephemere GUS hat als Organisation ihre Bedeutung längst eingebüßt. Und um die Oberhäupter der postsowjetischen Staaten zu versammeln, muss Moskau erfinderisch werden. So werden die Präsidenten der GUS-Länder zu Feierlichkeiten eingeladen, etwa zum Tag des Sieges. Und die werden dann zu informellen Gipfeltreffen erklärt. Jetzt haben sie sich also ausgedacht, Putins runden Geburtstag als Anlass zu nehmen. Womit eine Absage wie eine demonstrative Respektlosigkeit gegenüber dem russischen Präsidenten aussieht. (Diesmal sind übrigens die Präsidenten von Kirgistan und Moldau nicht angereist.)

    Die Gespräche zwischen Lukaschenko und Putin dauerten rund eine Stunde. Vermutlich war es eine Fortsetzung ihrer kürzlich nicht zu Ende gebrachten Diskussion in Sotschi. Inzwischen ist etwas für die belarussisch-russischen Beziehungen sehr Wichtiges passiert: Moskau hat Belarus für seine Verluste durch das russische Steuermanöver eine Kompensation in Form einer „Rückerstattungsakzise“ für belarussische Raffinerien zugesagt. 

    Im Gegenzug stimmte Minsk einer Vereinheitlichung der Steuergesetze mit Russland zu, wogegen sich die belarussische Führung jahrelang gewehrt hatte. Aus einer Reihe von Gründen: Erstens bedeuten jegliche Veränderungen im Steuersystem eine Erschütterung wirtschaftlicher Subjekte und der Wirtschaft insgesamt. Zweitens ist anzunehmen, dass die Steuergesetze nach russischem Vorbild vereinheitlicht werden. Dass Russland seine Steuern an die belarussischen Bestimmungen anpasst, ist schwer vorstellbar. All das bedeutet, dass Belarus der Möglichkeit beraubt wird, selbständig seine eigenen Steuern für die steigenden Preise und Akzisen zu erheben. Steuerpolitik ist ein wichtiger Bestandteil der wirtschaftlichen Souveränität eines jeden Staates. Zugunsten Russlands gibt Belarus diese jetzt auf. Außerdem wird ein supranationaler Ausschuss für Steuerangelegenheiten eingerichtet, der diesen ganzen Prozess beobachten und kontrollieren soll. Wodurch Russland auf die gesamte Steuerdatenbank von Belarus, auf alle belarussischen Steuerzahler, Zugriff erhält. Der Preis dafür sind 500 Millionen US-Dollar pro Jahr, die Belarus von Russland als Kompensation für das Steuermanöver erhält. Für den Verzicht auf einen bedeutenden Teil der wirtschaftlichen Souveränität ist das nicht viel.

    Vor einem Jahr, als von den Bündnispartnern 28 Programme der wirtschaftlichen Integration beschlossen wurden, wurde ihr Inhalt von Experten diskutiert. Viele waren der Meinung, sie seien nichts als leere Deklarationen. Möglicherweise wäre es dabei auch geblieben, wäre es nicht zum Krieg und einer verschärften internationalen Isolierung von Belarus gekommen. Jetzt aber, angesichts dieser Verflechtungen, opfert Lukaschenkos Regime im Kampf ums Überleben Stück für Stück immer mehr Teile seiner staatlichen Souveränität.   

    Der Kampf um die Preise

    Am 6. Oktober hielt Lukaschenko eine Sitzung zum Thema Preispolitik und Inflation ab. Am selben Tag unterschrieb er die Direktive Nr. 10 „Über die Unzulässigkeit von Preiserhöhungen“, in der festgelegt ist, dass Personen, die die Forderungen dieses Dokuments missachten, zur Verantwortung zu ziehen sind bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung.

    Das Thema Preise ist in Belarus seit Lukaschenkos Amtsantritt aktuell. Seine gesamte Regierungszeit hindurch kämpft er gegen die Preissteigerungen. Doch mit sehr kümmerlichen Ergebnissen. Die Inflationsrate in Belarus war in den letzten 30 Jahren eine der weltweit höchsten. Dass diese Direktive in wirtschaftlicher Hinsicht sinnlos ist, ist klar. Längst ist bewiesen, dass der Kampf gegen die Preiserhöhungen mit administrativen Methoden nicht effektiv ist. Weil er mehr Schaden als Nutzen bringt und zur Warenverknappung und Zerstörung der Unternehmensstrukturen führen kann. Zudem ist die Inflation heute ein globales Problem – eine Folge der Covid-Pandemie und der wachsenden Preise für Energie und Lebensmittel aufgrund des russischen Kriegs gegen die Ukraine

    Zweifellos ist der Erlass dieser Direktive ein politischer Akt. Den Lukaschenko schon oft unternommen hat: Es ist ein Versuch, zum Wirtschaftspopulismus zurückzukehren. Doch in den letzten Jahren ist im Land zu viel passiert, als dass er mit so primitiven Tricks sein Image aufbessern könnte. Man sollte hier aber auch beachten, wie konsequent Lukaschenko auf eine Mobilmachungsökonomie setzt. Es herrscht ein Kampf gegen das Unternehmertum, die Arbeitsbedingungen für Gewerbetreibende und für Anbieter im Agrotourismus werden immer schlechter. Lukaschenko ordnete die Mobilisierung von Studenten und Schülern für die landwirtschaftliche Arbeit an, verlangte ein Verbot der freien Wohnsitzwahl innerhalb des Landes für Verwaltungsbeamte und Fachkräfte. Denn das Jahr 2020 hat gezeigt, dass die Marktwirtschaft eine sozialpolitische Schicht hervorbringt, die für den Fortbestand der Diktatur eine echte Bedrohung darstellt. 

    Der zweite belarussische Nobelpreis

    Vor zehn Jahren noch hätten die Belarussen nicht einmal davon träumen können. Aber heute haben sie den zweiten Nobelpreisträger innerhalb von sieben Jahren. Der prominente Menschenrechtler Ales Bjaljazki wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Gewissermaßen erfährt die Welt dank des Nobelpreises von Belarus.

    Der Sprecher des belarussischen Außenministeriums, Anatoli Glas, ließ sogleich verlauten, dass der Friedensnobelpreis politisiert worden sei. Ein seltsamer Vorwurf. Denn von allen Nobelpreisen ist er der einzige, mit deutlich politischem Subtext. Wie soll man schließlich außerhalb des politischen Raums für Frieden kämpfen? Krieg und Frieden sind die zentralen politischen Herausforderungen der Gegenwart. Daher kann ein Friedenspreis per se nicht unpolitisch sein.    

    Der Krieg in der Ukraine spielte in diesem Jahr eine wichtige Rolle bei der Nominierung, wie auch die Vorsitzende des Nobelkomitees, Berit Reiss-Andersen, bestätigte. Den Friedenspreis zu vergeben und dabei diesen großen Krieg in Europa seit 1945 zu ignorieren, der die ganze Welt erschüttert, wäre unlogisch. Die Preisträger mussten irgendwie damit zu tun haben. Andererseits: Während dieses erbarmungslosen Krieges Kandidaten für einen Friedensnobelpreis zu finden, ist nicht gerade einfach.

    Das Nobelkomitee entschied sich gegen eine Auszeichnung von Politikern, obwohl unter den Nominierten auch Wolodymyr Selensky, Alexej Nawalny und Swetlana Tichanowskaja waren. Die Lösung war, den Preis an Menschenrechtler bzw. Menschenrechtsorganisationen der drei am Krieg beteiligten Länder zu vergeben – was in der Ukraine für Unmut sorgte: Warum werden Vertreter der angreifenden Länder genauso ausgezeichnet wie jene, die die Opfer der Aggressionen repräsentieren?

    Während in Russland und der Ukraine Organisationen geehrt wurden (Memorial und Center for Civil Liberties), fiel die Wahl in Belarus auf eine konkrete Person: Ales Bjaljazki. Obwohl man auch da das Menschenrechtszentrum Wjasna hätte auswählen können, dessen Leiter der belarussische Preisträger ist. Vermutlich wurde diese Entscheidung von mehreren Faktoren beeinflusst: Vor allem ist daran zu erinnern, dass Ales Bjaljazki schon fünf Mal für den Friedensnobelpreis nominiert war. Das heißt, er hatte diesbezüglich eine lange Geschichte. Der zweite wichtige Faktor war, dass Bjaljazki derzeit zusammen mit seinen Wjasna-Anhängern hinter Gittern sitzt. Noch dazu bereits zum zweiten Mal. Jetzt „winkt“ ihm eine saftige Lagerhaft (die Verhandlung liegt noch vor ihm). Er ist als politischer Häftling und Gewissensgefangener anerkannt.

    Zudem sei darauf verwiesen, dass dieser Nobelpreis für Belarus ein Nachhall des Kataklysmus von 2020 ist. Die damaligen Proteste waren eine Zeitlang das größte Medienereignis weltweit. Daher kann man es auch so sehen, dass diese Auszeichnung jene Zehn- und Hunderttausende Belarussen erkämpft haben, die vor zwei Jahren monatelang auf die Straße gingen. Der Preis für Bjaljazki, der hinter Gittern sitzt, sollte die internationale Aufmerksamkeit auf die über tausend politischen Häftlinge in Belarus lenken.

    Was die Reaktion der Regierungen betrifft: Viele meinten, das Nobelkomitee bringe mit dieser Auswahl das belarussische Regime in eine schwierige Situation. Nach dem Motto: Es sei ihm unangenehm, dass sich ein Nobelpreisträger in Haft befindet. Aber auch eine Entlassung wäre peinlich, denn das würde ja aussehen, als ließe Lukaschenko sich von der internationalen Gemeinschaft moralisch unter Druck setzen. Vielleicht stimmt das ja. Vielleicht ist aber auch alles viel einfacher.

    Denn Lukaschenko hat plötzlich einen sehr wichtigen politischen Gefangenen. Den kann er als teure Ware einsetzen und vom Westen ein stattliches Lösegeld verlangen.

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