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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Bolotnaja wird uns noch wie ein Kindergeburtstag vorkommen“

    „Bolotnaja wird uns noch wie ein Kindergeburtstag vorkommen“

    Am 6. Mai sind es fünf Jahre, dass der Marsch der Millionen auf dem Bolotnaja-Platz mit heftigen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten endete. Doch Bolotnoje Delo, der Fall Bolotnaja, ist noch nicht vorbei: Aktivisten der sogenannten Bolotnaja-Bewegung, die damals festgenommen wurden, wird bis heute der Prozess gemacht. Diese Verfahren werden von Medien und Gesellschaft kaum beachtet, dabei sind sie nach russischem Recht öffentlich.

    Zum Jahrestag sprach The Village mit Leuten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, diese Prozesse zu besuchen – wie sie zuvor mitunter auch die Prozesse gegen Pussy Riot oder Chodorkowski besucht hatten.

    Foto © Polina Kibaltschitsch
    Foto © Polina Kibaltschitsch

    Polina Kibaltschitsch
    22 Jahre, Kunsthistorikerin
    Hat über 100 Verhandlungen besucht

    Ich habe schon als Kind politische Nachrichten verfolgt und erinnere mich noch gut an Fernsehreportagen über Protestaktionen zum Fall Chodorkowski. In der Schule habe ich die Bücher von Soja Swetowa und Vera Wassiljewa gelesen. Damals wurde mir klar: Du musst zu Gerichtsverhandlungen gehen, wenn du gegen das System bist.

    Zum ersten Mal bin ich im Frühling 2012 zum Gericht gegangen, zum Prozess gegen Pussy Riot, aber da wurde niemand reingelassen, wir mussten draußen bleiben. Im Herbst desselben Jahren war ich dann zum ersten Mal bei einer Verhandlung. Da wurden im Zuge der Bolotnaja-Prozesse vor dem Basmanny-Amtsgericht die Haftstrafen von Artjom Sawjolow und Denis Luzkewitsch verlängert. Ich war am 6. Mai auf dem Bolotnaja-Platz gewesen und hatte gesehen, wie unfair das alles zuging, deswegen beschloss ich, die Leute zu unterstützen.       

    Viele Justizwachtmeister kennen mich bereits. Manche denken, ich bekomme Geld dafür, dass ich zu den Verhandlungen gehe. Ich weiß jetzt alles über Gerichte: die Verfahrensordnung, wie man mit Justizbeamten richtig umgeht, was man mitnehmen darf und was nicht. Wenn die Wachtmeister etwa Flugblätter oder Buttons in einer Tasche entdecken, lassen sie einen nicht hinein. Einmal haben sie bei mir eine stumpfe Nadel gefunden und wollten mich nicht durchlassen, außerdem hatte ich eine Schere dabei, die sie bei der Kontrolle nicht bemerkten. 

    Du musst zu Gerichtsverhandlungen, wenn du gegen das System bist

    Und einmal haben sie vor dem Moskauer Stadtgericht einem Mann ein T-Shirt mit der Aufschrift „Freiheit für Ildar Dadin“ ausgezogen, und er ist mit nacktem Oberkörper in das Gebäude hineingegangen. Wenn dem Wachtmeister nicht gefällt, wie du aussiehst, kommst du nicht in den Saal. 
      
    Die Justizwachtmeister wenden oft körperliche Gewalt an, nach Ende der Sitzung werfen sie die Leute buchstäblich hinaus. Im Basmanny-Gericht haben sie schon mal jemanden die Treppe hinuntergestoßen oder auf die Straße hinaus. Einmal bekam ein Mann dadurch einen Herzinfarkt und musste vom Rettungswagen abgeholt werden.

    In vier Jahren war ich bei über 100 Verhandlungen

    Das System ändert sich nicht von allein, man muss den Staatsapparat austauschen, die Vetternwirtschaft hält ja alles zusammen. Natürlich packt mich manchmal ein Gefühl der Ohnmacht, aber ich gehe weiterhin ins Gericht. Hauptsächlich zu Verhandlungen der Bolotnaja-Prozesse – in vier Jahren war ich bei über 100 davon.

    Zuletzt war ich im Februar bei einer Sitzung im Fall Maxim Panfilow. Zu seiner Unterstützung kamen nur Maxims Verwandte, ich war die einzige, die ihn nicht persönlich kannte – nicht mal Journalisten waren da. Obwohl zu Beginn der Bolotnaja-Prozesse pro Versammlung noch bis zu zehn Freiwillige gekommen waren. 

    Die Leute wollen sich nicht belasten. Wenn sie auf dem Weg ins Café oder ins Kino keinem Polizisten über den Weg laufen, dann denken sie, es sei gar nicht so schlimm mit dem Polizeiregime, alles ok. Aber in Wahrheit liegt alles im Argen, und das sehe ich vor allem bei Gericht.

    Verwandte von Angeklagten sagen, die Anwesenheit von Freiwilligen helfe ihnen sehr, deswegen gehe ich weiter zu Verhandlungen. Mit meiner Gegenwart vor Gericht signalisiere ich dem System, dass die Gesellschaft über die Willkür im Land Bescheid weiß. 


    Foto © Jelena Sacharowa/Facebbok
    Foto © Jelena Sacharowa/Facebbok

    Jelena Sacharowa
    68 Jahre, Konzertmeisterin
    Hat über 70 Verhandlungen besucht

    An meine ersten Verhandlungen kann ich mich noch sehr gut erinnern. Das war 2013, am Nikulinski-Gericht, der Saal knallvoll. Acht Leute wurden gebracht – darunter Luzkewitsch, Barabanow und Kriwow. Den Prozess leitete eine kalt dreinblickende Richterin namens Nikischina. 

    Plötzlich sackte Kriwow, der zu dem Zeitpunkt seit etwa 40 Tagen im Hungerstreik war, zusammen und sank bewusstlos auf die Bank. Verteidiger Makarow rief sofort nach Ärzten. Die eilten schnell herbei, doch die Richterin verweigerte ihnen den Einlass – die Ärzte verschwanden unverrichteter Dinge. Kriwow kam nicht wieder zu sich, also rief Makarow erneut Rettungsleute. Nikischina wies die Justizwachtmeister an, die Türen zu versperren. Die Sanitäter verstanden nicht, was los war, und bummerten gegen die Tür. Die Situation spitzte sich zu: Vor unseren Augen stirbt ein Mensch, und wir können nichts dagegen tun. 

    Die Hälfte des Saales sprang auf, die Leute fingen an zu schreien, die Justizwachtmeister fischten mich und ein paar weitere Personen aus der Menge und zerrten uns zur Tür raus, einen Mann stießen sie die Treppe hinunter. Nie im Leben hatte ich so eine Angst wie damals. Klar, danach besuchte ich alle Sitzungen zum Bolotnaja-Fall – bis zur Urteilsverkündung. 

    Manche Anwälte fühlen sich wie auf einer Großdemo, andere ziehen eine Ein-Mann-Show ab

    Ich habe solche und solche Anwälte und Verteidiger erlebt. Die einen fühlen sich wie auf einer Großdemo, die anderen ziehen eine Ein-Mann-Show ab. Mein letzter Anwalt war so ein zugeknöpfter Lord: Seiner Meinung nach muss man gezielt durch die erste Instanz, dann Berufung einlegen und dann eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen. 

    Ich wurde 14 Mal festgenommen, meistens wegen Artikel 19.3 („Ungehorsam gegen die behördliche Anordnung eines Polizeibeamten“ – Anm. The Village), aber lange wurde ich nie auf dem Revier behalten. Meistens war das wegen Einzelprotestaktionen gegen den Krieg in der Ukraine, die ich unter anderem mit Ildar Dadin unternommen hatte. Ein paarmal wurde ich von der SERB provoziert, die haben mich sogar mit schwarzer Farbe übergossen. 

    Manche Leute können sich Aktionen nicht erlauben. Zum Beispiel, weil sie ohnehin schon mal durch Zutun der Extremismuszentren ihre Arbeit verloren haben, oder weil ihre Kinder noch klein sind, oder weil sie schon so viele Verwaltungsdelikte haben, dass ihnen das nächste Mal eine strafrechtliche Anzeige droht. Das sind die Leute, die dann zu Verhandlungen gehen. Und mein Mann geht zum Beispiel nur zu großen Demonstrationen, wo es nicht gefährlich ist.    

    Die Neigung dieser Leute zu Gewalt und Obrigkeitshörigkeit – das sind reine Minderwertigkeitskomplexe

    Ich glaube, die meisten Silowiki waren nicht besonders gut in der Schule und sind dann in der Polizeifachschule gelandet. Denen hat niemand Bücher vorgelesen, vielleicht wurden sie zu Hause sogar geschlagen. Die Neigung dieser Leute zu Gewalt und Obrigkeitshörigkeit – das sind reine Minderwertigkeitskomplexe. Einmal habe ich in einem Gefängnistransporter einen Polizisten gefragt: „Was würden Sie tun, wenn Sie auf Demonstranten schießen müssten? Die neuen Gesetze erlauben das ja.“ Er sagte: „Ich gehe in zwei Jahren in Rente – ich hoffe, bis dahin bekomme ich keinen solchen Befehl.“
     
    Das Personal der obersten Behörden muss ausgetauscht werden, auch die Richter: Das sind gebrochene Individuen. Als Richter Kaweschnikow das Urteil über Wanja Nepomnjaschtschich verlas (er wurde im Bolotnaja-Fall zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt – Anm. The Village), stand ich im Saal, sah dem Richter in die Augen und stellte ihm in Gedanken die Frage: „Was geht in deinem Kopf vor, wenn du einen völlig unschuldigen Menschen einsperren lässt?“

    Im Januar dieses Jahres war Kaweschnikow mein Richter bei einem Verwaltungsdelikt. Ich kam in einem T-Shirt mit einem Portrait von Nepomnjaschtschich zur Verhandlung und legte ein Foto von ihm in meine Passhülle. Den habe ich Kaweschnikow direkt in die Hand gedrückt – sein Gesicht zeigte null Reaktion. 

    Es ist enorm öde. Ich schlafe bei dem monotonen juristischen Gebrabbel immer fast ein

    Gerichtsanhörungen sind für mich kein Vergnügen, sondern unliebsame Notwendigkeit. Es ist enorm öde. Ich schlafe bei dem monotonen juristischen Gebrabbel immer fast ein. In letzter Zeit „koordiniere“ ich die Angeklagten draußen auf dem Korridor. Nach der Demonstration am 26. März fanden am Twerskoj-Gericht fast jeden Tag Verhandlungen statt. Massen wunderbarer junger Leute kamen herein. Die meisten hatten vor Nawalnys Film noch nie was von Korruption gehört. Sie wurden zum ersten Mal vor Gericht zitiert, kannten sich überhaupt nicht aus, einen Anwalt hatte kaum jemand. Ich fing sie an der Tür ab, fragte: „Sie sind wegen dem 26. hier, haben Sie einen Anwalt, welcher Paragraph?“, und empfahl ihnen einen Verteidiger. 

    Ich glaube, der Bolotnaja-Fall wird uns noch wie ein Kindergeburtstag vorkommen. Irgendwo sitzt jetzt ein ganzer Trupp von Ermittlungsbeamten, die alle Videoaufzeichnungen von der Aktion am 26. März durchsehen und Material für neue Anklagen sammeln.  


    Foto © Natalja Mawlewitsch/Facebook
    Foto © Natalja Mawlewitsch/Facebook

    Natalja Mawlewitsch
    66 Jahre, Übersetzerin
    Hat über 20 Verhandlungen besucht

    Bis 1987 habe ich in der inneren Emigration gelebt, das war die Zeit meines passiven Widerstands gegen das System. Als in den 1990ern eine neue Zeit anbrach, wurde mir bewusst, dass ich das Leben hier verbessern kann: Dieses Land ist meines, die Stadt gehört mir. Mit Putins Machtantritt gab es aber immer weniger Freiheit, und es hat sich gezeigt, dass viele sie auch gar nicht brauchen. Das war eine bittere Erkenntnis, aber ich habe mich nicht in mein Schneckenhaus verkrochen.   

    Zum ersten Mal war ich bei Gericht, als der Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew lief. Die Sitzung fand am Basmanny-Gericht statt, niemand wurde hineingelassen, die protestierende Menge stand auf der Straße. Während dem ersten YUKOS-Prozess hatte ich noch Zweifel, was die Schuld der Angeklagten anging, aber die wurden mit Beginn des zweiten komplett hinfällig. Der Prozess lief auf eine Inszenierung von Kafka oder Ionesco hinaus – er war offensichtlich absurd.

    Der YUKOS-Prozess lief auf eine Inszenierung von Kafka oder Ionesco hinaus – er war offensichtlich absurd

    Das bedeutendste Gerichts-Ereignis der letzten Jahre ist natürlich der Bolotnaja-Fall. Mir ist eine Sitzung im Gedächtnis geblieben, bei der es um den geschädigten OMON-Mann German Litwinow ging, dem angeblich in den Finger geschnitten worden war. Litwinow änderte im Laufe des Prozesses seine Meinung: Von ihm hing nämlich das Schicksal von zwölf Menschen ab – und im Endeffekt sagte er, er betrachte sich nicht als Geschädigten, und wechselte in den Zeugenstand. Ich fuhr danach mit ihm im Lift und sagte irgendwas Pathetisches über Ehrlichkeit, und er antwortete: „Ja, ehrlich bin ich, aber wo soll ich jetzt arbeiten?“ Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist.    

    Man trifft bei Gericht immer dieselben 20 Leute

    Normalerweise trifft man bei Gericht immer dieselben 20 Leute, die am sechsten jedes Monats Einzelwachen abhalten und auf der Nemzow-Brücke stehen. Es sind wenige, sie haben es schwer, und deshalb macht es mich traurig, dass manche sie „Großstadtirre“ nennen. 

    Früher war die politische Willkür im Land wie eine Straße, auf der immer mal eine Glasscherbe liegt: Wenn du drauftrittst, tut es weh. Aber jetzt ist es, als würdest du auf Schmirgelpapier laufen – der Schmerz ist dumpf und zur Gewohnheit geworden.

    Politische Gerichtsprozesse gibt es mittlerweile so viele, dass ich, würde ich zu allen hingehen, nicht mehr zum Arbeiten kommen würde. Das letzte Mal war ich vor ein paar Jahren bei Gericht, auf einer Verhandlung zum Bolotnaja-Fall. Aber ich verfolge die Prozesse immer noch – und werde auch wieder hingehen.   


    Foto © Karina Starostina/Facebook
    Foto © Karina Starostina/Facebook

    Karina Starostina
    52 Jahre, Bibliothekarin
    hat über 40 Sitzungen besucht

    Ich habe mein Leben lang in der Gebrüder-Grimm-Kinderbibliothek gearbeitet. Meine Vorgesetzten wussten immer, dass ich politisch aktiv bin, und verbaten während meiner Arbeitszeit Gespräche über Politik. Trotzdem ließen sie mich in Ruhe – ich war eine hochgeschätzte Mitarbeiterin, in bibliothekarischen Kreisen bekannt. Jetzt werde ich woanders arbeiten. Wie es dort wird, weiß ich nicht. Für alle Fälle habe ich in sozialen Netzwerken meinen Nachnamen geändert.  

    Ich gehe nur zu denen, deren Ideen ich verstehe. Zu Prozessen von Nationalisten gehe ich nicht

    Meine erste Bolotnaja-Verhandlung war die gegen Mischa Kossenko vor dem Samoskworezki-Gericht am 8. Oktober 2013 – der wurde damals für unzurechnungsfähig erklärt. An sich bin ich feige, aber an diesem Tag waren die Umstände günstig: Ich hatte früher Feierabend, und außerdem interessiere ich mich für Psychiatrie. Ich wurde damals nicht in den Saal gelassen und stand im Endeffekt mit einer Gruppe von Unterstützern im Hof.

    Das Urteil steht oft schon im Vorhinein fest, die Schablone ist fertig

    Ich habe eine ganz einfache Motivation: Die Leute des Bolotnaja-Falls haben für uns alle gesessen. Deswegen muss, wer kann, zu diesen Prozessen gehen. Ich gehe nur zu denen, deren Ideen ich verstehe. Viele Liberale gehen auch zu Prozessen von Nationalisten. Ich gehe da nicht hin.

    Das Urteil steht oft schon im Vorhinein fest, die Schablone ist fertig. Wobei es unmöglich ist, den Ausgang eines Falles vorherzusagen, egal, was rundherum passiert und wie gut die Anwälte sind. 

    Ich gehe kein Risiko ein, gebe acht, nicht im Polizeitransporter zu landen. Ich wurde viermal festgenommen, aber es wurde nie ein Protokoll aufgenommen. Meistens war das bei Mahnwachen auf der Nemzow-Brücke.    

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  • Plattentausch in Moskau

    Plattentausch in Moskau

    Es ist das umfangreichste und größte Abriss- und Neubauprojekt, das jemals in Russland vorgenommen wurde: Im Februar verkündete Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin, dass 8000 Wohnhäuser der Stadt, zumeist Chruschtschowki im Plattenbaustil aus den 1950er und 1960er Jahren, abgerissen und ihre Bewohner umgesiedelt werden sollen. Knapp 1,6 Millionen Menschen seien betroffen und 25 Millionen Quadratmeter Wohnfläche – ein Zehntel der gesamten Wohnfläche in Moskau.

    Ursprünglich hatten die ersten fünfstöckigen Chruschtschowki nur 25 Jahre als eine Art „Übergangslösung” halten sollen. Heute sind deshalb tatsächlich viele von ihnen in keinem guten Zustand mehr. Doch gerade viele ältere Bewohner verbinden mit den Chruschtschowki nach wie vor eine soziale Verbesserung, eine Wohltat durch den Staat – die das von Chruschtschow initiierte Wohnungsbauprogramm ab Mitte der 1950er Jahre für viele tatsächlich bedeutet hatte. Mit dem Versprechen einer kleinen Wohnung für jede Familie hatte Chruschtschow seine politischen Rivalen nach Stalins Tod ausgehebelt.

    Den betroffenen Bewohnern wird die Umsiedlung in Wohnungen im gleichen Bezirk versprochen. Und sogar ein neuer Gesetzentwurf wurde formuliert: Nach Zuweisung einer neuen Wohnung räumt er den Bewohnern eine Einspruchs-Frist von 60 Tagen ein, wenn sie das Angebot der Stadt nicht annehmen oder gerichtlich dagegen vorgehen wollen.

    Kritiker des Projekts, wie die Anwohnerin und Aktivistin Kari Guggenberger, argumentieren unter anderem, dass es – egal, wie die Mehrheit entscheidet – schlicht gegen die Verfassung sei, einem einzelnen Eigentümer gegen dessen Willen das Eigentum zu entziehen. Guggenberger hat außerdem wenig Vertrauen in die Zusagen nach gleichwertigem Wohnraum: „Wenn die Behörden unsere Grundfläche brauchen, dann sollen sie uns dafür Geld zahlen, für eine Wohnung und eine Renovierung, damit wir eine Wohnung in einem entsprechenden Haus kaufen und renovieren können. Aber eine solche Regelung ist in dem Gesetzentwurf nicht vorgesehen.“

    Nach zunehmendem Unmut der Bürger, gab die Stadt Anfang Mai bekannt, dass die Anwohner von 4566 der ursprünglich 8000 vorgesehenen Häuser nun über den Abriss abstimmen sollen. Das können sie vom 15. Mai bis zum 15. Juni via Internet oder bei den städtischen Bürgerämtern tun. Das Schicksal der restlichen Chruschtschowki bleibt vorerst noch in der Schwebe. Für den 14. Mai haben die Behörden nun eine Demonstration gegen den Abriss genehmigt.

    Die Novaya Gazeta hat im April Chruschtschowka-Bewohner in verschiedenen Moskauer Stadtteilen zu Hause besucht – und nach deren Meinung zu den Abrissplänen gefragt.

     

     

    Foto © Viktoria Odissonova
    Foto © Viktoria Odissonova

    Maxim Borissowitsch, Anna, Maria, Artjom und Jascha Dubach
    Bezirk:
    Beljajewo
    Baujahr: 1967
    Einzugsjahr: 1967
    Wohnfläche: 60 m² (3 Zimmer) 
    Bewohner: 6 Personen, 1 Hund, 1 Igel, 1 Katze
    Umzugswunsch: nein

    Besser eng als ungemütlich!

    Maria: Wir vier Geschwister sind in dieser Wohnung geboren und aufgewachsen. Jetzt sind wir erwachsen, haben eigene Kinder. Wenn eine meiner Schwestern mit ihrer Familie zu Besuch kommt, wird es natürlich etwas eng. Aber besser eng als ungemütlich!

    Maxim Borissowitsch: Dafür zählt für uns bei jeder Wegstrecke immer nur die Zeit ab der Metrostation (denn bis zur Station Beljajewo sind es nur circa zwei Minuten zu Fuß).

    Anna: Wir wollen nicht, dass man das Haus abreißt, in dem wir aufgewachsen sind. Ich unterscheide rechts und links heute noch so, wie Papa es mir beigebracht hat: Wenn man zur Küche schaut, ist links da, wo die Badezimmertür ist, und rechts – da, wo die Wand ist.


    Foto © Wlad Dokschin
    Foto © Wlad Dokschin

    Alexander und Aljona Selin
    Bezirk:
    Metrogorodok
    Baujahr: 1959
    Einzugsjahr: 1976
    Wohnfläche: 72 m2
    Bewohner: 5 Personen, 3 Katzen
    Umzugswunsch: ja, aber innerhalb des Bezirks

    Alles ist verrottet, alles ist marode

    Alexander: Die Rohre sind verrottet, [*** schimpft Mat], alles ist verrottet, alles ist marode, es rieselt von den Wänden. Ich hab die Schnauze voll von dieser Wohnung. Ich will eine neue! Aber nur in diesem Bezirk. In irgendein Neu-***hausen werd ich nicht ziehen, auf gar keinen Fall. Auch wenn drei Aufforderungen kommen, ich geh hier nicht weg. Ich besorg mir ne Knarre, und dann soll mich mal einer hier rausbekommen. Aber ich weiß, dass sie unser Haus nicht abreißen.


    Foto © Viktoria Odissonova
    Foto © Viktoria Odissonova

    Anastasia, Alexej, Olga Prochorjatow
    Bezirk:
    Tuschino
    Baujahr: 1959
    Einzugsjahr: 2006
    Wohnfläche: 53,9 m2 (2 Zimmer)
    Bewohner: 3 Personen, 2 Hunde
    Umzugswunsch: durchaus (aber nur in eine Pjatietashka mit hohen Decken in demselben Bezirk)

    Das hier ist ein Dorf mitten in der Stadt

    Olga: Die ersten fünf Jahre nach dem Einzug haben wir aus Kisten gelebt. Alle haben gewartet, dass sie uns im Rahmen des Lushkow-Programms abreißen. Haben sie aber nicht. Wir haben drei Mal renoviert, Hunde angeschafft und uns in die hohen Decken verliebt.

    Gegen einen Wohnungswechsel hätten wir ja vielleicht gar nichts – das Haus „wandert“, es gibt kein Fundament, es wurde direkt auf dem Erdboden gebaut, die Rohre sind alt – aber nur im selben Bezirk!

    Unsere Pjatietashki bilden sowas wie ein Dorf mitten in der Stadt, man kennt sich hier. Sogar Garik Sukatschow hat uns mal auf einem Konzert „wiedererkannt“! Er ist ja in Tuschino geboren, und er fragte uns bei einem Konzert: „Woher seid ihr denn?“, und wir: „Von der Nowoposselkowskaja“, und er: „Aus dem Dörfchen also! Unsere Leute!“


    Foto © Viktoria Odissonova
    Foto © Viktoria Odissonova

    Tatjana und Iwan Jeremenko
    Bezirk:
    Sokolniki
    Baujahr: 1957
    Einzugsjahr: 1965
    Wohnfläche: 97,8 m2
    Bewohner: 2 Personen (3 Zimmer, umgebaut in 4 Zimmer)
    Umzugswunsch: kategorisch dagegen

    Das ist meine ‚kleine Heimat‘

    Tatjana: In einem Hochhaus bist du nur ein Schräubchen im Getriebe, du empfindest dich nicht als Individuum. Ich weiß, wovon ich rede: Ich habe in vielen Ländern und Häusern gelebt. Aber ich wollte immer nach Hause zurück. Das ist meine „kleine Heimat“. Mein Opa hat mit 51 Stalingrad verteidigt. Und ich werde mit meinen 51 mein Haus verteidigen. Ich habe schon 90 Prozent der Unterschriften gegen den Abriss zusammen.


    Foto © Viktoria Odissonova
    Foto © Viktoria Odissonova

    Jelena und Dima Cholin
    Bezirk:
    Beljajewo
    Baujahr: 1967
    Einzugsjahr: 1992
    Wohnfläche: 58 m2 (3 Zimmer)
    Bewohner: 2 Personen, 1 Hund, 1 Katze
    Umzugswunsch: nein

    Draußen laufen singende Afrikaner oder lustige Alkis vorbei

    Jelena: Als ich hierher gezogen bin, habe ich diese Wohnung und das Viertel gehasst. Das war die Wohnung meiner Schwiegereltern (sie sind wunderbare Menschen!). Ich habe immer das Licht angemacht, wenn niemand zu Hause war. Später wurde Dima hier geboren, und jetzt will ich hier nicht mehr weg. Irgendwie entspricht das Haus von den Proportionen her seinen Bewohnern.

    Dima: Wenn ich ehrlich bin, gefällt mir diese Wohnung nicht mehr besonders. Aber es geht mir mehr um Aura und Energie, nicht um den baulichen Zustand. Und die Aura in unserem Erdgeschoss ist super: Manchmal, wenn ich meine Morgengymnastik mache, laufen draußen singende Afrikaner vorbei, oder lustige Alkis.

    Tja und außerdem: Wenn ich bei meinen Freunden in Hochhäusern zu Besuch bin, dann finde ich die Wohnungen natürlich schön, aber wie soll ich bitte in einem Hochhaus durchs Fenster klettern, wenn ich meinen Schlüssel vergessen habe?


    Foto © Viktoria Odissonova
    Foto © Viktoria Odissonova

    Natalja, Roman und Wladimir Oreschkin
    Bezirk:
    Oktjabrskoje Polje
    Baujahr: 1959
    Einzugsjahr: 1974
    Wohnfläche: 43 m2 (2 Zimmer) 
    Bewohner: 2 Personen
    Umzugswunsch: durchaus 

    Für eine Frau ist so eine kleine Küche ein Alptraum!

    Natalja: Im Prinzip haben wir nichts gegen einen Umzug. Ich weiß wahrlich nicht, wer diese Wohnung geplant hat! Mit Durchgangszimmer und einem Flur, in dem man gerade mal alleine stehen kann, die Küche hat 4,5 m². Für eine Frau ist eine kleine Küche ein Alptraum!

    Wladimir: Dafür, sehen Sie mal! (Setzt sich auf einen Hocker mitten in die Küche.) Von hier aus komme ich ans Fensterbrett, den Kühlschrank, den Herd und die Mikrowelle! Sehr praktisch! (lacht)

    Roman: Wir haben nichts gegen Hochhäuser, aber ich persönlich kann nicht hoch oben wohnen. Ich habe panische Angst. Mich haben damals die Terroranschläge an der Kaschirka, wo die Hochhäuser in die Luft gejagt wurden, schwer mitgenommen.


    Foto © Viktoria Odissonova
    Foto © Viktoria Odissonova

    Sofia Meshenina und Pawel, Antonina und Valentin Broner
    Bezirk:
    Beljajewo
    Baujahr: 1967
    Einzugsjahr: 2009
    Wohnfläche: 60 m² (3 Zimmer)
    Bewohner: 4 Personen, 1 Hund, 1 Ratte und Gespenstschrecken im Aquarium
    Umzugswunsch: eher nein

    Warum für ein Haus kämpfen, das sowieso auseinanderfällt?

    Sofia: Wenn unser Haus abgerissen wird, ziehen wir aufs Land. In dieser Wohnung habe ich meine frühe Kindheit verbracht, und ich wollte immer hierher zurück. Das ist das einzige Haus, das einzige Viertel, das ich liebe. Aber was hat es für einen Sinn, bis zum Schluss für ein Haus zu kämpfen, das früher oder später sowieso auseinanderfällt.


    Foto © Viktoria Odissonova
    Foto © Viktoria Odissonova

    Jelena Serebrennikowa
    Bezirk:
    Beljajewo
    Baujahr: 1967
    Einzugsjahr: 1969
    Wohnfläche: 58 m2 (3 Zimmer)
    Bewohner: 3 Personen, 1 Hund
    Umzugswunsch: nein 

    Jetzt habe ich mir dieses Riesenkrokodil angeschafft

    Jelena: Ich mag keine Menschenmassen. Überhaupt nicht. Ich kann alleine leben. Was ein modernes Hochhaus bedeutet, kann ich mir lebhaft vorstellen: ein Haufen neuer Gesichter, Autos und niemand, den ich kenne.

    Ich bin eine „Grüne“, lebe ohne Vorhänge – aus dem Fenster sehe ich den Park. Und jetzt habe ich mir dieses Riesenkrokodil angeschafft (gemeint ist der Hund – Anm. Novaya Gazeta). Wo soll ich mit ihm hin, wenn wir umziehen müssen? Zwischen den Häusern Gassi gehen?


    Foto © Wlad Dokschin
    Foto © Wlad Dokschin

    Julia, Igor, Sofia und Anissija Obrasow
    Bezirk: Sapadnoje Degunino
    Baujahr: 1964
    Einzugsjahr: von Geburt an
    Wohnfläche: 40 m2 (2 Zimmer)
    Bewohner: 4 Personen, 1 Katze
    Umzugswunsch: ja

    Auf 26 m² mit zwei Kindern, Frau und Katze

    Igor: Ich lebe seit meiner Geburt in dieser Wohnung, früher gehörte sie meinen Eltern. Auf 26 m² [sic] mit zwei Kindern, Frau und Katze – wie würdest du da einem Umzug gegenüberstehen? Gut natürlich. Hauptsache, sie stecken uns nicht in eine noch kleinere.

    Julia: Wir haben keinen Müllschlucker, keinen Aufzug. Müssen den Kinderwagen in den vierten Stock schleppen. Unser alter Kinderwagen hat 14 Kilo gewogen. Dazu das Baby sieben Kilo. Allein schon, wenn alle zusammen einkaufen gehen wollen, ist das ein Problem. Außerdem muss alles platzsparend sein, wir haben zwei teure Ausziehsofas gekauft. Und Gäste können wir auch kaum einladen.


    Foto © Wlad Dokschin
    Foto © Wlad Dokschin

    Julia Sacharowa
    Bezirk:
    Ismailowski
    Baujahr: 1951
    Einzugsjahr: 2014
    Wohnfläche: 56 m2 (2 Zimmer)
    Bewohner: 1 Person, 1 Hund, 1 Eichhörnchen
    Umzugswunsch: nein

    Jetzt träumen sie von einer Aufwertung der Gegend

    Julia: Diese Wohnung hat schon viel gesehen. Ich wollte immer in so einer leben. Ich hatte nicht genug Geld, aber der Makler hat mich überzeugt, dass das Geld schon kommt, ich es außerdem nirgendwo so gut habe wie hier.

    Ich liebe meine Wohnung, den Apfelbaum, der vor meinem Balkon blüht.

    Jetzt träumen sie von einer Aufwertung dieser Gegend hier, wollen eine Zufahrtsstraße zum MKAD bauen, viele Spielplätze und Häuser abreißen (unter anderem meines). Wir sammeln Unterschriften dagegen, gehen auf die Straße und halten Pikety, aber es gibt wenig Hoffnung.


    Foto © Wlad Dokschin
    Foto © Wlad Dokschin

    Natalja Markewitsch
    Bezirk:
    Retschnoi Woksal
    Bauzeit: 1950er Jahre
    Einzugsjahr: 2008 
    Wohnfläche: 31 m2 (2 Zimmer, umgebaut in 1 Zimmer) 
    Bewohner: 1 Person, 1 Katze 
    Umzugswunsch: ja

    Das war hier ein Leben wie auf einer Datscha

    Natalja: Ich habe diese Wohnung wegen des Fensterblicks gekauft. Das war hier ein Leben wie auf einer Datscha. In der Nähe ist eine Haltestelle, es gibt Obstbäume, Spielplätze und die Bäume wachsen bis an die Fenster. Sogar aus weiter entfernten Häusern kamen die Menschen mit ihren Kindern zum Spielen her.
    Jetzt haben sie mich quasi umgesiedelt, ohne mein Wissen: Vor meinem Fenster wurden Stromleitungen gespannt und eine vierspurige Straße gebaut. Es gab keinerlei Gespräche mit den Einwohnern, die Proteste haben niemanden interessiert.

    Mittlerweile gibt es keine Nachfrage mehr nach den Grundstücken hier, sogar das Bürogebäude nebenan steht leer. Die Leute warten darauf, neue Wohnungen zu bekommen, leben oft in Großfamilien auf engstem Raum. Aber es passiert nichts.


    Foto © Wlad Dokschin
    Foto © Wlad Dokschin

    Wlad Suslow und seine Mitbewohner Damir und Shenja
    Bezirk:
    Lefortowo
    Bauzeit: 1950er Jahre
    Einzugsjahr: 2017
    Wohnfläche: 48 m2 (2 Zimmer)  
    Bewohner: 3 Personen
    Umzugswunsch: eher dagegen

    Die Oma hat die Wohnung in sehr authentischem Zustand hinterlassen

    Wlad: Wir haben diese Wohnung zu dritt angemietet. Früher hat hier eine alte Frau gelebt, sie hat die Wohnung in einem sehr authentischen Zustand hinterlassen: ziemlich runtergelebt und mit über viele Jahre angesammeltem Ruß, den man nur schwer abbekommt.

    Die meisten Leute im Haus sind Mieter. Hier ist es um einiges günstiger. Aber der Hauptgrund, hier zu wohnen, ist die gute Lage, man ist schnell zu Fuß an der Uni.

    Ich fühle mich wohl in diesem Haus, man spürt hier sowas wie Geschichte, eine besondere Atmosphäre.

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    Ilja Milschtein zitiert auf Snob.ru zunächst eine begeiserte Reaktion des Massenblatts Komsomolskaja Prawda auf das Event. Und setzt sich dann damit auseinander, weshalb seiner Meinung nach solche Reenactments eher helfen, zu vergessen, statt zu erinnern.

    Foto ©  Dimitri Korotajew/Kommersant
    Foto © Dimitri Korotajew/Kommersant

    Ein Kriegsberichterstatter versorgt uns mit wertvollen Details:

    Das Drehbuch, so der Augenzeuge, zeigt alle Etappen im Kampf um Berlin: die Schlacht um die Seelower Höhen samt Angriffen und Gegenangriffen, Häuserkämpfe, und die Erstürmung des Reichstages … Dann wurde über dem Feld eine Luftschlacht  zwischen Jagdflugzeugen eröffnet: Lawotschkin LA-7 gegen Messerschmitt. Tiger rollten gegen unsere T-34er auf, die Infanteristen stießen im Nahkampf aufeinander … Es gab sogar einen Hitler, der dazu aufrief, bis zum bitteren Ende durchzuhalten. Als unsere Kämpfer die Flagge auf dem Dach des Reichstages hissten, tobten die Zuschauerränge in einem einhelligen „Hurra!“.

    Nun, so war es doch wahrscheinlich im Frühling 1945, oder etwa nicht? Man erstürmte Höhen, führte Straßenkämpfe,  präsentierte den Zuschauern, damit ihnen nicht langweilig wird, anschließend eine Luftschlacht, dann spielten die Kämpfer noch ein bisschen Panzer-Biathlon, während Hitler immerzu nach dem Mikro griff. Und dann, als die Fahne über dem Reichstag gehisst wurde, tobten die Zuschauer auf den Rängen.

    Kurz, die in Kubinka bei Moskau versammelten Helden haben diese amüsante, letzte Schlacht bis ins letzte Detail nachgestellt – und Minister Schoigu, würdiger Nachfolger von Marschall Shukow, war nicht umsonst Ehrengast bei diesem lautstarken Jubel- und Frühlingsfest. Dafür wurde den Junarmisten und den mitziehenden erwachsenen Reenactors im Park Patriot extra ein Reichstagsgebäude errichtet, und das war alsbald eingenommen.

    Fette Party zur Anerziehung patriotischer Gefühle

    So etwas nennt man auch Staffelübergabe der Generationen. Weil aber nicht nur Heerführer, sondern auch Normalbürger die Heldentaten der Väter und Großväter beerben, ist es ausgesprochen wichtig, denen, die den Stab übernehmen, zu zeigen, wie sich das Ganze tatsächlich abgespielt hat. Und zwar anhand von anschaulichen Beispielen – in diesem Sinne war der Sieg über die deutschen Fritze bei Moskau in deren eigener Bastion, dem Berliner Reichstag und Umgebung, eine äußerst sinnvolle Sache. Sowohl als fette Party als auch zur Anerziehung patriotischer Gefühle – die lassen sich bekanntlich am besten unter Panzergeschützdonner, Kampfflugzeuggeheul, Führergeschrei und in Anwesenheit des Verteidigungsministers einimpfen.

    Man könnte sogar meinen, es gäbe heute, angesichts der gegenwärtigen Situation, keine wichtigere Aufgabe, als der Jugend beizubringen, dass der Krieg eine wahnsinnig witzige Sache sei. Ein fabelhaftes Spektakel, das unweigerlich in einen überzeugenden Sieg gipfelt. Vor riesigem Publikum und einem Haufen Journalisten. 

    Panzergeschützdonner, Kampfflugzeuggeheul, Führergeschrei

    Etwas Ähnliches passiert gerade im fernen Syrien, und passierte eben noch im ziemlich nahen, heimischen Donbass. Wir erinnern uns: Im Donbass wurden vor drei Jahren gefangengenommene „Faschisten“ genauso durch die Straßen getrieben wie 1944 die Deutschen in Moskau.

    Krieg – das ist wahnsinnig cool. Auch wenn wir uns an den Reenactor Strelkow erinnern, der sich später aus dem Staub gemacht hat: Wie er um Slawjansk kämpfte und davon träumte, mit den Truppen bis nach Kiew vorzudringen, um da auch irgendwas zu hissen. Wäre ihm das gelungen, könnten wir in 70 Jahren Sturm auf Kiew spielen.

    Ein Sieg vor riesigem Publikum und einem Haufen Journalisten

    Überhaupt, das ist echt eine Spitzenidee: ein Sturm auf Berlin im Jahr 2017. In Zeiten von heftigen außenpolitischen Auseinandersetzungen Russlands mit Europa und den USA, die allmählich vom kalten Stadium in ein recht aufgeheiztes übergehen.

    Wo Freunde von gestern, wie Erdogan, uns plötzlich ein Messer in den Rücken rammen und zu Feinden werden, nur um dann wieder Freunde zu werden, allerdings irgendwie nicht mehr ganz so zuverlässig.

    Wo Feinde von gestern, wie die Amerikaner, plötzlich unseren Busenfreund zum Präsidenten wählen, dieser sich aber plötzlich als Feind entpuppt und unseren allertreuesten Freund bombardiert.

    In Zeiten, wo in der Welt alles wackelig und unsicher ist wie eine fünfstöckige Chruschtschowka, sollten die Bewohner der belagerten Festung lieber öfter trainieren: Attrappen europäischer Hauptstädte errichten und sie im Sturm erobern. Das mobilisiert die Stürmer und schweißt zusammen, gleichzeitig dient es dem Feind als mahnende Erinnerung. An unsere vergangenen Siege und an jene, die quasi unausweichlich bevorstehen.

    Hauptsache die Feinde erinnern sich und fürchten uns

    Hauptsache die Feinde erinnern sich und fürchten uns. Wir hingegen, vom Oberbefehlshaber über Minister Schoigu bis hin zum unbedeutendsten Statisten aus den Massenszenen – wir alle können den realen Krieg ruhig komplett vergessen. Vergessen, wie er wirklich sein kann. Zu welchem Preis der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg errungen wurde. Unsere Großväter, die von der Front nicht zurückgekehrt sind – denn das sind sie doch bei den wenigsten.

    Ja, auch den Sturm auf Berlin im Frühling 1945 sollte man ein für alle Mal aus dem Gedächtnis tilgen, um nicht daran denken zu müssen, wie viele sowjetische Soldaten dort in den letzten Tagen, Stunden und Minuten des Krieges gefallen sind.

    Daran darf man sich nicht erinnern, andernfalls kämen einem inmitten dieser Riesengaudi, die wir vorgestern in Kubinka beobachten konnten, die Tränen, und die Veranstalter dieses Spiels würden zu Idioten, wenn nicht gar zu Marodeuren. Und auch Minister Schoigu erschiene uns plötzlich als Marodeur, wenn nicht gar als Idiot. Vom Journalisten jenes Klatschblatts ganz zu schweigen.

    Aber wozu sollen wir uns die Laune verderben und fremde Menschen beleidigen? Besser, wir schließen uns ihnen an und fühlen uns als Sieger. Oben fliegen hübsche Flugzeuge herum, drüben rollen Panzer, während der tollwütig anmutende nationale Führer sich ganz umsonst die Seele aus dem Leib schreit, denn der ganze Spaß geht schon dem Ende zu.

    Die Zuschauer applaudieren und ziehen in freudiger Erwartung neuer Spektakel davon. Noch wurde ja die Schlacht im Kursker Bogen nicht nachgestellt, Stalingrad nicht neu errichtet, die Leningrader Blockade nicht durchbrochen – und das ist nur der Zweite Weltkrieg. Man denke nur an all die anderen Kriege und Schlachten, für jede davon ließe sich ein mitreißendes Szenario erfinden, mit großem Geballer und allem Pipapo. In der belagerten Festung weiß man sich zu amüsieren, und tut es gern, indem man lustig die Zeit totschlägt. Unser Korrespondent deckt sich schonmal ein mit Dienstreiseanträgen, Metaphern und Popcorn.

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  • „Der Staat hat erfolgreich Angst vor Veränderungen geschürt“

    „Der Staat hat erfolgreich Angst vor Veränderungen geschürt“

    In Russland ist es üblich, von einer „konservativen Mehrheit“ zu sprechen – einer Mehrheit der Gesellschaft, die das Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ gutheißt, für mehr Internetkontrolle plädiert und geschlossen hinter dem selbsterklärt-konservativen Präsidenten Putin steht. All das ermitteln Soziologen nämlich in Meinungsumfragen. Was bedeutet es aber für diese Umfragen, wenn die erdrückende Mehrheit sich davor sträubt, an ihnen teilzunehmen? Man sollte sie dann zumindest hinterfragen, meint der Soziologe Grigori Judin im ersten Teil seines Interviews auf Colta.ru. Hinterfragen solle man laut Judin allerdings auch das Attribut dieser angeblichen Mehrheit – ihren Konservatismus. 

    Denn weshalb Konservatismus nicht immer gleich Konservatismus ist, sondern sehr unterschiedliche Formen annehmen kann, das erklärt er in Teil 2 des Interviews.

    Foto © Sergej Michejew/Kommersant
    Foto © Sergej Michejew/Kommersant

    Gleb Naprejenko: Du hast das soziale Bewusstsein in russischen Kleinstädten untersucht – allerdings nicht mittels Meinungsumfragen. Zu welchen Ergebnissen kommt eure Feldforschung im Hinblick auf Konservativismus – und das Verhältnis der Menschen zu Politik und Geschichte?

    Grigori Judin: Die Fragestellung unserer Untersuchung war zwar eine etwas andere, aber eines kann ich mit Sicherheit sagen: Konservativismus kann in sehr unterschiedlichen Formen auftreten. Außerdem sorgt der Begriff eher für Verwirrung als für Klarheit. 

    Beispielsweise erwächst von unten vor allem eine lokale, regionale Agenda – und die ist teilweise konservativ. Offenbar sind es zumeist Heimatkundler, die versuchen diese Agenda umzusetzen. Das sind Menschen, die sich mit der Geschichte ihrer Region befassen, oft Lehrer oder Bibliothekare. Sie treten als Hüter der Erinnerung auf, sehen sich sozusagen als ihre Agenten. 

    In der Regel sind das Menschen fortgeschrittenen Alters oder zumindest Nachfolger von ortsansässigen Heimatkundlern aus der Sowjetzeit. Und weil die Heimatgeschichte mit Beginn des Stalinismus, sprich seit den 1930ern, massiv eingeschränkt wurde, stehen die Heimatkundler der Sowjetzeit sehr skeptisch gegenüber. 
    Zwar ließ Chruschtschow die Heimatgeschichte wieder zu, denn er hoffte damit, einen Lokalpatriotismus zu schaffen, der sich wie eine Matrjoschka in den gesamtsowjetischen Patriotismus einfügen würde. Aber natürlich wurden die Heimatkundler nie völlig loyal. Sie hatten ihr eigenes Programm und nach dem Zerfall der Sowjetunion auch die Möglichkeit es umzusetzen. 

    Jeder von ihnen ist ein Lokalpatriot, dem die lokale Geschichte am Herzen liegt. Das ist eine lokale Gemeinschaft, die allen globalen und imperialen Tendenzen mit großer Skepsis begegnet. Nicht zuletzt, weil sie weiß: Sie ist es, die von einem Imperium als erstes unterdrückt würde.

    Die Heimatkundler sind Lokalpatrioten, eine Gemeinschaft, die allen globalen und imperialen Tendenzen mit großer Skepsis begegnet. Nicht zuletzt, weil sie weiß: Sie ist es, die von einem Imperium als erstes unterdrückt würde

    Zweifellos ist darin ein an der Gemeinschaft orientiertes konservatives Programm erkennbar, das mit der Wiederherstellung einer lokalen Identität einhergeht. Übrigens sieht die lokale Geschichtsschreibung, auf der diese Identität gründet, nicht selten recht merkwürdig aus: Sie ist bruchstückhaft und verzerrt. Doch dieser Konservativismus unterscheidet sich klar von jenem, mit dem wir es heute in der Staatspropaganda zu tun haben.

    Sehen wir uns zum Beispiel das Geschichtsbild an, das der Staat seit Mitte der 2000er Jahre zu vermitteln versucht: Geschichte meint hier die Geschichte des Staates, kein anderes Subjekt ist denkbar. 

    Es ist eine Geschichte des ewigen Sieges ohne jegliche Niederlage. Eigene, innere Konflikte hat es selbstverständlich nie gegeben – sie sind seit jeher Projektionen von außen. Die inneren Feinde sind Agenten der äußeren. Der Sieg über sie ist ein Sieg über den äußeren Feind. Alle Konflikte, Umwälzungen oder revolutionären Ereignisse, vor denen die russische Geschichte geradezu überquillt, werden geglättet oder ignoriert.

    Das staatliche Geschichtsbild ist eine Geschichte des ewigen Sieges ohne jegliche Niederlage

    Wir beobachten eine seltsame Idee unverbrüchlicher Kontinuität zwischen Iwan dem Schrecklichen, den Romanows, der Sowjetmacht in all ihren Ausprägungen und Wladimir Putin am Höhepunkt dieser Geschichte. Als hätte jeder von ihnen dem nächsten auf die Schulter geklopft und gesagt: „Lass uns nicht hängen, altes Haus!“ 

    Das ist Geschichte ohne Geschichtlichkeit. Denn Geschichtlichkeit und die historische Methode beruhen seit den Anfängen der deutschen Geschichtsphilosophie auf der Idee, dass sich Dinge verändern und dass das, woran wir uns gewöhnt haben, seinen Anfang und sein Ende hat.

    Dass auf dem Gebiet des heutigen Russlands regelmäßig Konflikte darüber aufgeflammt sind, aufflammen und aufflammen werden, wie das Land überhaupt beschaffen sein sollte, wer wir eigentlich sind, wie unser Staat beschaffen sein sollte, was das für ein Staat ist und ob es ihn überhaupt geben sollte – darüber herrscht Schweigen.

    Wer wir eigentlich sind, wie unser Staat beschaffen sein sollte, was das für ein Staat ist und ob es ihn überhaupt geben sollte – darüber herrscht Schweigen

    Zum Jahrestag der Revolution beobachten wir Versuche, die Roten und die Weißen miteinander „zu versöhnen“, weil doch beide für Russland nur das Beste gewollt hätten, nur eben auf leicht unterschiedliche Art und Weise. Deswegen hätten sie sich ein bisschen gestritten und für drei, vier Jahre diesen kleinen Bürgerkrieg angezettelt. Aber im Prinzip seien das alles gute Leute gewesen, die nur die Stabilisierung des Staates gewollt hätten. 

    Dabei wird bereitwillig ausgeklammert, dass ein bedeutender Teil derer, die an diesen Ereignissen beteiligt war, meinten, dass es überhaupt keinen Staat geben sollte. Andere meinten, dass der neue Staat nichts mit dem Russischen Kaiserreich gemein haben sollte… Das war also ein echter handfester Streit, im Zuge dessen das Subjekt der Geschichte ein völlig anderes geworden ist.

    Zum Jahrestag der Revolution beobachten wir Versuche, die Roten und die Weißen miteinander ‘zu versöhnen’, weil doch beide für Russland nur das Beste gewollt hätten

    Diese staatliche Idee von einem sich über den Lauf der Geschichte erstreckendes Subjekt der Geschichte zeugt von einem konservativen Weltbild. Jedoch einem grundlegend anderen als dem der lokalen Konservativen. 

    Der staatliche Konservativismus ist ein ausgesprochen verängstigter Konservativismus. Zwar steckt in jedem Konservativismus ein Element der Angst, doch im Fall der modernen russischen Elite beobachten wir geradezu blanke Panik vor einer Revolution. Und diese geht in eine Angst vor jeglicher Veränderung über. Man fürchtet jede selbstständige Bewegung von unten und jede Aktivität in der Bevölkerung. Genau daher rührt das Bedürfnis nach der Erfindung jenes Mythos, dass sich in Russland nie etwas verändert habe.

    Der staatliche Konservativismus ist ein ausgesprochen verängstigter Konservativismus. Im Fall der modernen russischen Elite herrscht geradezu blanke Panik vor einer Revolution

    Bemerkenswert ist, dass diesen Mythos auch Leute geschluckt haben, die sich in Russland gemeinhin als liberal bezeichnen. Von ihnen hören wir nämlich exakt dasselbe, nur mit entgegengesetztem Vorzeichen: Es gebe irgendeine besondere russische Mentalität, einen besonderen russischen Archetyp, einen Weg, den Russland einst beschritten habe und nicht verlassen könne.

    Sozialwissenschaftler Grigori Judin. Foto © EUSPb
    Sozialwissenschaftler Grigori Judin. Foto © EUSPb

    Wann das gewesen sein soll und warum, bleibt völlig unklar. Offenbar anno dazumal. Doch man beharrt darauf, dass gerade dieser Sonderweg uns daran hindere, Teil einer sagenumwobenen westlichen Welt zu werden. 

    Wie steht man in diesem lokalen Kontext zu möglichen radikalen politischen Veränderungen?

    Der Staat hat sehr erfolgreich Angst vor potenziellen Veränderungen geschürt. Aber man muss hier zwischen Angst und Vorsicht unterscheiden. 

    Der konstruktive Konservativismus begegnet allem Neuen mit Vorsicht. Er muss dieses Neue zunächst daraufhin befragen, ob es dem entspricht, was wir bereits haben. Sogar, wenn Veränderungen für notwendig erachtet werden, wird geprüft, ob und wie sie sich in die bestehende Ordnung integrieren lassen.

    Es überrascht also nicht, dass diese Konservativen Revolutionen besonders misstrauisch gegenüber stehen, denn über Revolutionen lassen sich keine Vorhersagen machen. Dafür passieren sie viel zu schnell.

    Der Staat hat sehr erfolgreich Angst vor Veränderungen geschürt

    Für den verängstigten Konservativismus hingegen ist die Übertragung von Angst typisch. Angst wird zum Schlüssel-Gefühl und ermöglicht damit eine zentralisierte absolute Macht. 

    Willst du deine Macht behalten? Dann jage allen um dich herum Angst ein, dass jeden Moment der Feind einfällt und alle vernichtet. Dann hast du es schon geschafft, denn du bist der Einzige, der sie beschützen kann. 

    Angst geht immer mit fehlendem Vertrauen und und fehlendem Schutz einher. Also mit etwas, das für den normalen, gemäßigten Konservativismus untypisch ist. Dieser wähnt sich nämlich auf festem Boden und weiß die Tradition hinter sich und die gibt ihm Halt. Im Gegensatz dazu fehlt dem verängstigten Konservativismus jeglicher Halt. 

    Aber, meine Herren, wenn ihr solche Angst vor einer Revolution habt, dann glaubt ihr ja wirklich, es gebe hier nichts, was euch vor einer Revolution bewahren könnte, außer dieser einen Person an der Spitze des Staates? Wir haben also einen absoluten Mangel an Verlässlichkeit. So empfinden es für gewöhnlich auch unsere Mitbürger: Wir haben keinerlei Halt, wir können uns auf niemanden außer uns selbst verlassen, wir verspüren Unsicherheit und versuchen, unsere Angst durch Privatleben und persönlichen Erfolg zu kompensieren. Wir leben in dem ständigen Gefühl, dass morgen eine Katastrophe hereinbrechen könnte.

    Wir leben im ständigen Gefühl, dass morgen eine Katastrophe hereinbrechen könnte

    Dabei ist die Angst vor einer Revolution auf keinen Fall etwas, dass eine Revolution verhindert. Eher im Gegenteil: Ein aufgeregter, emotional instabiler Zustand, der Menschen anheizen kann, ist typisch für eine Mobilisierung – auch für eine revolutionäre. 

    Das bedeutet natürlich nicht, dass morgen eine Revolution ausbricht. Doch zu behaupten, es könne keine Revolution geben, weil Meinungsumfragen belegten, dass die Menschen vor ihr Angst hätten, ist ein absoluter logischer Fehlschluss.

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  • „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

    „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

    Seit der Angliederung der Krim ist Russlands Präsident im Umfrage-Hoch: Seine Beliebtheitswerte liegen bei über 80 Prozent. Doch wie zuverlässig sind solche Zahlen? Nicht sehr, meint Grigori Judin. Der Sozialwissenschaftler forscht an der renommierten Moskauer Higher School of Economics. Ein etablierter Name in der Wissenschaft ist er noch nicht, sein Interview auf Colta.ru aber verspricht frischen Wind für die russische Soziologie – es erfuhr recht große Aufmerksamkeit und wurde auch über Soziale Medien viel geteilt. dekoder bringt es in zwei Teilen

    Im ersten spricht Judin über trügerische Aussagekraft von Meinungsumfragen – selbst wenn sie von so renommierten Instituten wie dem Lewada-Zentrum kommen.

    „Umfragen liefern die Ergebnisse, die der Kreml braucht” Foto © EUSPb
    „Umfragen liefern die Ergebnisse, die der Kreml braucht” Foto © EUSPb

    Gleb Naprejenko: Heutzutage ist in Russland die Vorstellung verbreitet, es gäbe eine konservative Mehrheit, die Putin und seine Politik unterstützt. Diese Vorstellung basiert auf soziologischen Umfragen, die uns, so wird behauptet, eben jene Mehrheit dokumentieren. Was aber zeigen uns diese Umfragen tatsächlich?

    Grigori Judin: Wir haben irgendwie nicht bemerkt, wann soziologische Umfragen in Russland zur zentralen Institution politischer Repräsentation wurden. Das ist eine spezifisch russische Situation, obwohl Umfragen im Prinzip weltweit immer wichtiger werden. Aber speziell in Russland konnte das Modell der Meinungsumfragen das Publikum leicht in seinen Bann ziehen, weil es einen Anspruch auf demokratische Teilhabe verkörpert, darauf, die unverstellte Stimme des Volkes zu sein. 

    Es hypnotisiert das Publikum mit seinen Zahlen. Wäre das Publikum weniger hypnotisiert und würden wir unterscheiden zwischen dem demokratischen Prozess als Selbstbestimmung des Volkes auf der einen und Umfragen als Institution der totalen politischen Repräsentation auf der anderen Seite, dann würden wir schnell ein paar Dinge feststellen, die allen klar sind, die mit Umfragen zu tun haben. 

    Erstens ist Russland ein völlig entpolitisiertes Land. Es gehört zum schlechten Ton und hat etwas Peinliches, über Politik zu sprechen –  als würde man über etwas Unanständiges reden. Es ist also kein Wunder, dass nur eine verschwindend geringe Minderheit Fragen beantwortet – erst recht zum Thema Politik. Deshalb entbehrt der Anspruch der Umfragen, das Volk zu repräsentieren, in der Realität jeder Grundlage.

    Russland ist ein völlig entpolitisiertes Land. Es gehört zum schlechten Ton und hat etwas Peinliches, über Politik zu sprechen – als würde man über etwas Unanständiges reden

    In den Umfragen gibt es einen technischen Kennwert – die Ausschöpfungsquote: Sie zeigt an, wie viele der insgesamt Befragten auf die Fragen geantwortet haben, also wie viele überhaupt zu einem Interview bereit waren. Je nach Methode bewegt sich der Anteil zwischen 10 und 30 Prozent.

    Das ist nicht sehr viel, oder?

    Das bedeutet einfach nur, dass wir über die restlichen 70 bis 90 Prozent nichts wissen. Daraus folgt wiederum eine zähe Diskussion, in die uns die Meinungsforschungsinstitute immer wieder zu verstricken versuchen, darüber, dass wir ja keine Beweise hätten, dass sich diese 10 bis 30 Prozent von den anderen 70 bis 90 unterscheiden würden. 

    Natürlich haben wir keine Beweise. Beweise hätten wir nur, wenn es uns gelingen würde, diese 70 bis 90 Prozent zu befragen, von denen wir wissen, dass sie sich nicht an Umfragen beteiligen wollen.

    Der Anspruch der Umfragen, das Volk zu repräsentieren, entbehrt jeder Grundlage

    Aber unsere allgemeinen Beobachtungen bestätigen die Annahme, dass die Weigerung, an solchen Umfragen teilzunehmen, eine Form des passiven Widerstands ist. Die Leute gehen nicht wählen, die Leute nehmen nicht an politischen Diskussionen teil. Das alles geschieht aus denselben Gründen.

    Seit wann ist das so?

    Es gab ein Aufflammen des politischen Enthusiasmus Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, und genau in dieser Zeit, 1987, wurde das erste Meinungsforschungsinstitut gegründet, das WZIOM. Meinungsumfragen waren ein neues Instrument der Repräsentation, das die sowjetische Gesellschaft nicht gekannt hatte. Sie kamen auf mit der Welle der postsowjetischen Demokratie-Begeisterung in den Jahren der Perestroika. 

    Schon Ende der 1990er flachte diese Begeisterung wieder ab, die in den 2000er Jahren in Politikverdrossenheit mündete. Deshalb bekamen wir in den 2000er Jahren diese ganzen Polittechnologien, die bewusst auf Entpolitisierung abzielten, darauf, die Politik als eine Witzveranstaltung darzustellen, wo absurde Clowns gegeneinander antreten, die kein vernünftiger Mensch jemals wählen würde. 

    Das alles schadete auch den Umfragen. 

    Denn Umfragen sind keineswegs nur eine wissenschaftliche Methode zur Erforschung der öffentlichen Meinung, wie das allgemein angenommen wird, sondern auch eine Institution der politischen Repräsentation. Als solche wurden sie nämlich von George Gallup erdacht, und genau so haben sie immer funktioniert. Deshalb war die Enttäuschung über die politischen Institutionen unter anderem auch eine Enttäuschung über die Meinungsumfragen.

    Die Leute gehen nicht wählen, die Leute nehmen nicht an politischen Diskussionen teil. Beides geschieht aus denselben Gründen

    In letzter Zeit kommt außerdem hinzu, dass Umfragen ganz gezielt als Technologie zur Unterdrückung politischer Partizipation eingesetzt werden. Der Staat hat sich die Meinungsforschungs-Branche praktisch angeeignet.

    Obwohl es heute drei Hauptakteure im Bereich der Meinungsumfragen gibt – FOM, WZIOM und das Lewada-Zentrum (und wir wissen, dass das Lewada-Zentrum eine regierungsferne Position einnimmt und ständigen Attacken durch den Kreml ausgesetzt ist) –, so arbeiten diese drei Unternehmen doch alle fast innerhalb ein und desselben Diskurses.

    Nachdem es nun dem Kreml gelungen war, dieses Feld unter seine ideologische Kontrolle zu bringen, wurden auf einmal genau die Ergebnisse produziert, die der Kreml brauchte.

    Von welchem Diskurs redest du?

    Wie funktioniert die Umfrage-Industrie heute? Man bezichtigt die Organisatoren von Umfragen derzeit oft der Fälschung, aber das ist fern der Realität. Die brauchen gar nichts zu erfinden oder zu lügen, sie nehmen einfach die Abendnachrichten und befragen am nächsten Morgen die Menschen, ob sie mit diesem oder jenem Gedankenkonstrukt einverstanden sind, das am Vorabend verbreitet wurde. Und weil das komplette Nachrichtenprogramm vom Kreml diktiert wird, begreifen diejenigen, die zu einem Interview bereit sind (und das sind, wie gesagt, die Wenigsten), schnell, was von ihnen erwartet wird.

    Warum bewegt sich sogar das Lewada-Zentrum innerhalb dieser Logik, obwohl es, zumindest scheint es so, oppositionell-liberal eingestellt ist?

    Weil es in genau denselben konservativen Rahmen existiert, mit dem einzigen Unterschied, dass die Staatspropaganda Russland als einzigartiges Land mit seinem eigenen historischen Weg zeichnet und sagt, wie toll das sei. Das Lewada-Zentrum dagegen bezeichnet Russland als einzigartiges Land mit seinem eigenen historischen Weg – und sagt, wie schlimm das sei. Im Hinblick auf die Sprache, mit der sie die Welt beschreiben, unterscheiden sie sich meistens nicht sonderlich voneinander.

    Wird eine Formulierung aus den Abendnachrichten übernommen, so antworten die Menschen sofort anders

    Obwohl das Lewada-Zentrum manchmal Umfragen bringt, deren Fragestellungen nicht aus den Nachrichten vom Vortag stammen. In diesem Fällen zeigen sich dann übrigens ziemlich unerwartete Ergebnisse – eben weil man anders mit den Menschen spricht.

    Kannst du ein Beispiel nennen?

    Ein gutes Beispiel dafür war, als der Militäreinsatz zur Unterstützung Assads in Syrien gestartet wurde. Gleich zu Beginn, als die Möglichkeit solch einer Operation erstmals im Raum stand, hat das Lewada-Zentrum die Menschen befragt, ob Russland Assad direkt militärisch unterstützen und Truppen nach Syrien verlegen sollte. Die Reaktion war wenig überraschend: Im Grunde wollte kaum jemand, dass Russland sich in diese kriegerische Auseinandersetzung einmischt. 

    Gerade mal zwei Wochen später, als die Intervention schon im Gange war, hatte die Regierung eine Nachrichtensprache dafür entwickelt, und das Lewada-Zentrum griff genau diese Sprache in seiner Fragestellung auf: „Wie stehen Sie dazu, dass Russland Stellungen des Islamischen Staates (eine in Russland verbotene terroristische Vereinigung – Red.) angreift?“ 

    Hier wurde also, grob gesagt, ohne jegliche Zitatkennzeichnung eine Formulierung aus den Abendnachrichten übernommen. Die Menschen reagierten sofort anders. Umfragen fördern nicht irgendeine tiefschürfende Meinung der Menschen zu Tage, sie funktionieren eher assoziativ: Das, was den Leuten in den Sinn kommt, wenn sie diese oder jene Begriffe hören, das sind sie auch bereit zu sagen.

    Umfragen fördern nicht irgendeine tiefschürfende Meinung zu Tage, sie funktionieren eher assoziativ: Das, was den Leuten in den Sinn kommt, wenn sie diese oder jene Begriffe hören, das sind sie auch bereit zu sagen

    Wichtig ist außerdem, dass die reale Produktion der Umfragen nicht den Moskauer Instituten obliegt, die sich die Umfragen ausdenken, sondern den konkreten Interviewern und Befragten in ganz Russland. 

    Gerade erst haben wir eine Interviewreihe mit solchen Interviewern durchgeführt, und die sagen für gewöhnlich zwei Dinge. Erstens: Die Menschen wollen nicht über Politik sprechen. Das ist ein großes Problem. Wenn eine Umfrage zum Thema Politik kommt, versuchen [die Interviewer – dek] sie nach Möglichkeit loszuwerden, weil es sehr schwer ist, die Menschen dazu zu bringen, über politische Fragen zu sprechen. 

    Das Zweite hängt mit der Kluft zwischen Stadt und Land und zwischen Jung und Alt zusammen. Junge Leute sprechen besonders ungern über Politik; und was die Städte betrifft – je größer die Stadt, desto weniger wollen die Leute auf Fragen über Politik antworten. 

    Also bleibt uns eine sehr spezifische Bevölkerungsgruppe, die mehr oder weniger bereit ist, nach folgenden Regeln mitzuspielen: Ihr stellt uns Fragen aus den Abendnachrichten von gestern, und wir zeigen euch, dass wir die Nachrichten verinnerlicht haben.

    Man könnte also sagen, dass wir es mit einer allgemeinen Skepsis gegenüber der Politik zu tun haben. Aber gleichzeitig würden Sie nicht von einer konservativen öffentlichen Meinung sprechen, sondern eher davon, dass die Meinungsforschungsinstitute in ihren Methoden selbst konservativ sind?

    Konservativ ist die Sprache, in der sie mit den Menschen zu sprechen versuchen. Die öffentliche Meinung ist etwas, das von Umfragen produziert wird. Umfragen sind performativ. Von Pierre Bourdieu stammt der berühmte Aufsatz Die öffentliche Meinung gibt es nicht, der von vielen leider missverstanden wurde. Bourdieu sagt, dass es zweifelsfrei eine öffentliche Meinung als Produkt der Tätigkeit von Meinungsforschungsinstituten gibt. Wir könnten sogar sehen, dass sie eine immer größere Rolle in den Polittechnologien spielt. Sie existiert nur in dem Sinn nicht, als dass es keine unvoreingenommene, unabhängige Realität gibt, die man mittels Umfragen einfach nur neutral misst und abbildet.

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  • „In jenem Jahr kündeten die Ikonen von Unglück“

    „In jenem Jahr kündeten die Ikonen von Unglück“

    Jegor Skoworoda nimmt den Leser mit tief ins sibirische Nirgendwo, wo der Wald „ganz dicht“ ist, „überall Fichten, Zedern, Tannen, Birken“. Er stellt unterschiedliche Gruppierungen von Altgläubigen vor und die abgelegenen Klöster, sogenannte Skiten, der Tschassowennyje. Zu ihnen führen keine Wege, „man geht einfach querfeldein, über Wurzeln, durch Sumpfgebiet“. 

    Skoworoda protokolliert außerdem die Geschichte von Jelisaweta, einer jungen Amerikanerin russischer Abstammung. Sie floh aus einem Kloster am Dubtsches, 40 Kilometer zu Fuß, weiter mit dem Boot – aber erst 15 Jahre nachdem ihre Verwandten sie zu einem „Besuch“ ins Kloster gebracht hatten. 

    Skoworodas Bericht über Jelisawetas Schicksal erfuhr einige Aufmerksamkeit, er ist einer der mit Abstand meistgelesenen Beiträge auf dem unabhängigen Portal Mediazona. Dort sind auch die O-Töne Jelisawetas zu hören. dekoder hat ihre Geschichte nun ins Deutsche übersetzt.

    Illustrationen © Anja Leonowa/Mediazona
    Illustrationen © Anja Leonowa/Mediazona

    Die Skiten am Dubtsches bilden das geistige Zentrum der Tschassowennyje, einer Strömung innerhalb der priesterlosen Altgläubigen. Nach der Machtübernahme durch die Kommunisten flohen viele Tschassowennyje zunächst nach China und zogen später nach Süd- oder Nordamerika weiter. Diejenigen, die das Land nicht verlassen hatten, wichen immer weiter in die Peripherie zurück, um der Verfolgung und Kollektivierung zu entgehen.

    So fanden sie sich Ende der 1930er Jahre in der tiefsten Taiga im Turuchanski Krai wieder – mitten in der rauen, sumpfigen Wildnis. Von dort, wo der Dubtsches in den Jenissei mündet, sind es noch 500 Kilometer bis nach Krasnojarsk. Stromaufwärts einsam am Dubtsches liegen die kleinen Skiten, Klöster und Höfe der Tschassowennyje. Dorthin gelangt man nur auf dem Wasserweg und nur bei hohem Wasserstand.

    In jenem Jahr kündeten die Ikonen in unserer Skite von Unglück

    1951 wurden die Skiten von der Sowjetmacht entdeckt und zerschlagen. Die Häuser wurden in Brand gesteckt und ihre Bewohner gewaltsam deportiert.

    „In jenem Jahr kündeten die Ikonen in unserer Skite von Unglück. Sie knarzten und knackten. Die Starzen verspürten Unruhe in ihren Herzen. Die Ikonen würden von etwas künden, sagten sie …“, so schildert Afanassi Gerassimow die letzten Tage vor dem Einfall der Strafexpedition.

    Auch er wurde festgenommen, konnte jedoch fliehen. Die Gefangenen wurden auf einem Floß transportiert. Als die Aufseher eingeschlafen waren, sprang Afanassi ins Wasser. Heute weiß man, dass außer ihm noch ein paar anderen Altgläubigen die Flucht gelungen ist.

    Viktor Makarow, einer der Soldaten von damals, erinnert sich ebenfalls an den Gefangenentransport:

    „Die Männer aus der Taiga haben mit unserer Hilfe Flöße gebaut, und als der Dubtsches über die Ufer trat, machten wir uns zur Abfahrt bereit. Man hatte Fladenbrot gebacken und irgendwelche anderen Speisen als Proviant vorbereitet, alles ohne Salz. Kurz vor der Abfahrt setzte noch ein Mitarbeiter der Staatssicherheit das Kloster in Brand. […] Der Wasserpegel war hoch. Auf den Flößen befanden sich etwa 130 Personen, wir trieben Tag und Nacht mit dem Strom, wie Eisschollen. Das Wetter war kalt und regnerisch. Es donnerte und blitzte unaufhörlich. Durchnässt bis auf die Knochen trieben wir mehrere Tage so dahin. Als wäre das nicht genug, lief unser Floß auch noch auf eine Wurzel auf und zerschellte. Plötzlich waren die Menschen im Fluss, und wir mussten einen nach dem anderem aus dem eiskalten Wasser ziehen. Unter großer Anstrengung gelang es uns, anzulegen, wir machten Feuer und wärmten uns ein wenig auf. Während dieser Rast baten zwei oder drei Leute, austreten zu dürfen und kamen nicht wieder. Sie liefen zurück in die Taiga.“

    Von denen, die bis Krasnojarsk gebracht wurden, wurden 33 wegen „geheimen antisowjetischen Zusammenschlusses von altgläubigen Sektierern“ zu zehn bis 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Vater Simeon, der Gründer der Klöster am Dubtsches starb im Lager. 
    Ziemlich bald nach Stalins Tod, im Jahr 1954, wurden alle verurteilten Tschassowennyje amnestiert und kehrten allmählich an den Dubtsches zurück, wo sie ihre Höfe und Klöster wieder aufbauten.

    Von nun an erfuhr niemand mehr den genauen Standort der Skiten

    „Auch der unter den Altgläubigen hochgeschätzte Vater Antoni kehrte in die Taiga am Dubtsches zurück. Von nun an erfuhr niemand mehr den genauen Standort der Skiten, er unterlag strengster Geheimhaltung. Um sich keiner Gefahr auszusetzen, pflegte Vater Antoni sehr einseitigen Kontakt mit den Weltlichen und seinen geistlichen Zöglingen und suchte sie für seelenrettende Gespräche und Abnahme der Beichte in den Ortschaften auf. Begleitet von Jungmönchen nahm er stets einen anderen Weg, um zu vermeiden, dass sich Pfade herausbilden“, schrieb der Diakon Alexander Kolnogorow nach seinem Besuch bei den Skiten Anfang der 2000er.

    Anfang der 1970er verstarb Vater Antoni, und Vater Michail nahm seinen Platz ein. Er war es auch, der den Skiten bis vor kurzem vorstand. Nach dem Zerfall der Sowjetunion lebte die Beziehung zwischen den Tschassowennyje aus der Taiga und ihren Glaubensbrüdern im Ausland wieder auf. Seitdem besuchen Nachfahren der Emigranten regelmäßig die Skiten oder schließen sich sogar der Klostergemeinschaft an.

    „Die Zahl der Klosterbrüder wächst beständig, und die Zahl der Schwestern hat sich sogar verdreifacht“, berichtet Kolnogorow. „Derzeit wird die gesamte Klosteranlage erneuert. Eine Kapelle wird errichtet, ein Refektorium und neue Klosterzellen entstehen. Vor allem aber werden die leicht abgelegen vier Frauenklöster ausgebaut.“

    Heute ist unter den Novizen immer öfter Englisch zu hören

    Laut Kolnogorow stammen die meisten Mitglieder der heutigen Klostergemeinschaft aus anderen altgläubigen Ortschaften. Als der Diakon Mitte der 2000er Jahre über die Skiten schrieb, lebten „in den Männer- und Frauenklöstern insgesamt über 3000 Personen“. Dabei seien es in den 1990ern gerade mal „60 bis 70 Personen im Männerkloster und circa 300 Personen in den vier Frauenklöstern“ gewesen.

    Vor allem seit ein Teenager aus den USA in das Kloster gezogen ist, weil er so beeindruckt von der Strenge der Skiten-Ordnung war, festige sich der Kontakt der Tschassowennyje mit den US-amerikanischen Altgläubigen. „Heute ist unter den Novizen immer öfter Englisch zu hören, auch wenn ihnen das Beten auf Englisch bisher verboten ist“, heißt es in Kolnogorows Aufzeichnungen.

    Aber nicht alle entscheiden sich freiwillig für ein Leben in den sibirischen Klöstern. Gut möglich, dass der Diakon Kolnogorow bei seinem Besuch Anfang der 2000er Jahre auch auf Jelisaweta traf (ihr Nachname bleibt auf ihren Wunsch hin ungenannt – Mediazona) – eine US-Amerikanerin, die von ihren altgläubigen Verwandten noch als Teenagerin unter falschem Vorwand in die Skiten am Dubtsches gebracht wurde. Erst nach 15 Jahren gelang der jungen Frau die Flucht.

    Jegor Skoworoda hat ihre Geschichte aufgeschrieben:


    Ich heiße Jelisaweta. Eigentlich bin ich aus Oregon in den USA. Meine Großeltern waren richtige Russen, sie haben noch da gelebt. In der Stalinzeit mussten sie nach China fliehen und versteckten sich dort in den Bergen, meine älteren Onkel kamen in China zur Welt. Irgendwann haben sie gehört, dass es in Südamerika besser sein soll, weil man da wegen der Religion nicht verfolgt wird. Also gingen sie nach Südamerika, dort wurde meine Tante geboren. Und dann haben sie gehört, dass es in den USA noch besser sein soll und sind dahin weitergezogen. Dort kamen dann meine Mutter und ihre zwei Brüder zur Welt. Sie alle waren Altgläubige.

    Mit 16 ist meine Mutter von zu Hause abgehauen und mit einem Amerikaner zusammengezogen. Das war mein Vater. Mamas Brüder und Schwestern sind alles Altgläubige, aber sie wollte weg von der Religion. Unser Vater hat uns verlassen, als ich fünf war. Sie waren beide Alkoholiker, haben Drogen genommen.

    Mama wollte weg von der Religion, zwischendurch war sie im Knast

    Eine Weile wohnte ich bei einer Tante, später bei einem Onkel, noch später beim Großvater. Zwischendurch war Mama im Knast. Ich hatte immer mehr mit meiner Tante zu tun, und mit ihren Kindern. Sie hatte elf. Wir standen uns sehr nahe. Im Sommer war ich oft bei ihnen zu Besuch. Meine beste Freundin war auch eine Altgläubige.

    Mir wollten sie das Altorthodoxe auch nahebringen und haben mir gezeigt, wie man betet. Als ich 13 war, haben sie ihre Kinder in die Klöster nach Sibirien geschickt. Zu mir sagten sie, ich könne sie dort besuchen. Ich hab damals nicht weiter drüber nachgedacht, weil ich gar nicht vorhatte, dahin zu fahren. Ich ließ mich taufen, aber nur, weil ich später mal einen Christen heiraten wollte. Die Taufe hatte noch gar nicht stattgefunden, da hat meine Tante einen Reisepass für mich machen lassen, heimlich, ohne mir ein Wort zu sagen. Sie hatte  schon alles geplant – wie sie mich nach Russland schickt, in die Klöster. Nur ich wusste davon nichts.

    Meine Tante hatte heimlich einen Reisepass für mich machen lassen

    Ich wurde also getauft, und kurz nach der Taufe … es waren grad mal zwei Wochen vergangen, am 10. Mai 2000, da sagt die Tante zu mir: „Du fährst morgen ins Kloster.“ Ich reiß die Augen auf: „Wie bitte?! Ich kann nicht mal Russisch und du willst mich dahin schicken?!“ Die Koffer waren längst gepackt, die Tickets gekauft, also überredeten sie mich, wenigstens für zwei Wochen auf Besuch dahin zu fahren, einfach nur, um mir Russland anzusehen. Keiner hat mir gesagt, dass es keine Rückfahrtickets sind. Die haben mich angelogen und dahin geschickt. Wir kamen zum Kloster, und da blieb ich dann die nächsten 15 Jahre.

    Jetzt bleibst du für immer hier

    Im Turuchanski Krai mündet ein kleiner Fluss in den Jenissei – der Dubtsches. Den genauen Ort, wo wir gewohnt haben, findet man auf keiner Karte. Aber den Jenissei kennt jeder. Wo wir gewohnt haben, fließen auch noch der Tyna und der Tugultsches. Wenn man etwa 48 Stunden auf dem Dubtsches mit dem Boot fährt, kommt man in das Dorf Sandaktsches. Von Sandaktsches sind es dann noch circa 300 Kilometer bis zu uns. Dahin führen keine Straßen mehr, dahin kommt man nur noch zu Fuß.

    Entlang des Dubtsches erstrecken sich immer wieder kleine Höfe, hier ein paar Hütten, da drei oder vier, dort vielleicht zehn. Aber das größte Dorf ist Sandaktsches. Dort gibt es sicher um die 200 Familien und genauso viele Häuser. Alles Altgläubige, wirklich alle. 

    Am Ende liefen wir noch 40 km zu Fuß

    Wir hatten einen Flug bis Moskau. Da war ein junger Russe, Andrej Muratschew. Er war für ein halbes Jahr bei Mamas Stiefschwester (in den USA – Mediazona) zu Besuch gewesen, und als er wieder zurückflog, musste ich mit. Er konnte kein Englisch und ich kein Russisch. Es war sehr hart. Fünf Tage war ich bei seiner Familie in Tscheremschanka, dann ging es weiter nach Krasnojarsk. Erst da traf ich auf andere Amerikaner. Ich wusste gar nicht, dass wir jemanden treffen sollten. Aber es war schon alles ausgemacht. Wir flogen mit einem Hubschrauber nach Sandaktsches, fuhren dann zwei Tage mit einem Motorboot, und am Ende liefen wir noch 40 km zu Fuß.

    Der Wald ist da ganz dicht, überall Fichten, Zedern, Tannen, Birken. Kiefern gibt’s auch, aber nicht so viele. Man geht einfach querfeldein, über Wurzeln, durch Sumpfgebiet.

    Dort gibt’s sieben Klöster, jedes Kloster hat seine eigene Kirche. Männer und Frauen leben getrennt, nicht in Familien. Da, wo ich gewohnt habe, waren wir 150 Frauen. Es gab noch drei andere Frauenklöster, in allen zusammen waren wir um die 700 bis 800. Manche Klöster liegen drei Kilometer auseinander, andere 15, wieder andere 30. Das weiteste Kloster war rund 60 Kilometer entfernt, würde ich sagen.

    Je mehr du leidest, desto mehr wirst du im Jenseits dafür entlohnt

    Man hat uns nett empfangen, die sind dort … es sind gute Menschen, sie haben nur ganz andere Vorstellungen, ganz anders als der Rest der Welt. Sie meinen zum Beispiel, dass wir der Welt entgegengesetzt leben müssten. Damit wir nicht zugrunde gehen. Sie haben so einen ganz strengen Glauben. Sie denken, je mehr du leidest, desto mehr wirst du im Jenseits dafür entlohnt. Sie denken, wenn du hinausgehst in die Welt, wirst du zugrunde gehen. Du musst dort leben und dort sterben.

    Ich war 15 als wir dort ankamen. Wir blieben alle, es war noch ein anderes Mädchen dabei. Die Amerikaner sagten mir, sie würden in zwei Wochen fahren. Aber sie sind eher gefahren und haben uns nichts gesagt, sind einfach weggefahren. Wie sollte ich da wegkommen? Ich war ja grad mal 15.

    Wenn du da weg willst … 40 Kilometer musst du laufen, dann fährst du mit dem Boot – und wie sollte ich allein Boot fahren? Ich brauchte ja jemanden, der mich fährt. Später, als ich schon eine Weile da gelebt habe … ich war schon vier Monate da – kamen die Amerikaner nochmal zu Besuch. Es waren sogar Verwandte von mir dabei. Aber die wollten mich auf keinen Fall wieder mitnehmen, da war nichts zu machen. Ich habe geweint, gebettelt, sie angefleht. Ich hatte ja kein Geld und gar nichts, aber sie wollten nicht für mich zahlen.

    Ich saß dort fest. Vier Jahre später haben sie dann meinen Pass verbrannt. Jetzt bleibst du für immer hier, haben sie gesagt.

    Einen Pflug hatten wir, aber ziehen mussten wir ihn selbst

    Ich wurde nicht geschlagen. Sie haben mich einfach nur dazu gezwungen, genauso ein strenges Leben zu führen wie sie. Wir haben ständig gefastet – jeden Montag, Mittwoch und Freitag. Und dann noch vor Weihnachten und Ostern. Fleisch aßen wir überhaupt nicht. Zu essen gab es nur zweimal am Tag – mittags und abends, alles andere war verboten. Gekocht wurde in der Küche, da kam man hin und musste essen, was da war. Alle aus einer Schüssel. Zur Großen Fastenzeit war es noch strenger: Die erste Woche durfte man nichts Gekochtes essen – nur ein klein bisschen Möhren und Rote Bete und das auch nur einmal am Tag.

    Für mich war es besonders schwer, weil ich ja kein Russisch konnte, und mit Englisch kommt man da nicht weit. Ich glaube, ungefähr nach einem Jahr konnte ich es so einigermaßen. Lernte langsam lesen und schreiben. Die ganzen Jahre habe ich weitergelernt.

    Alles dort war selbstgemacht. Wir hatten noch nicht mal Vieh. So weit draußen wie wir lebten, gab es auch keine Geschäfte, alles musste selbst angebaut werden. Es war richtig harte Arbeit – kochen, sägen, Holz hacken und schleppen. Wir haben alles auf Schlitten geladen und sie selbst gezogen. Die ersten Jahre hatten wir keine Pferde, wir haben alle Felder von Hand umgegraben. Dann bekamen wir einen Pflug, aber den mussten wir auch selbst ziehen. Erst in den letzten Jahren, als wir schon ein Pferd hatten, hat dann das Pferd die Felder umgepflügt. Die Schlitten mussten wir selbst ziehen, wir mussten Brennholz heranschaffen. Und unser Boden da war sehr schlecht, wie Lehm. Deshalb haben wir am Fluss weiche Erde gesucht, sie in große Säcke geschaufelt und heimgeschleppt. Dann wurde noch Erde verbrannt und alles miteinander vermischt. Wir lebten in Blockhütten, die Kerben schlugen wir mit der Axt in die Baumstämme. In einem Haus wohnten zwischen vier und zehn Personen.

    Und die Mücken! Furchtbar, wie viele es waren! Einfach nicht auszuhalten. Wir liefen den ganzen Sommer in Netzen herum, ohne konntest du gar nicht vor die Tür. Und dann auch noch diese kleinen Stechfliegen! Immer musste man langärmlige Sachen tragen, Hosen, zwei Paar Socken – alles aus ganz festem Stoff. Die kommen nämlich durch alles durch. Deswegen liefen wir immer in Netzen rum, wirklich immer.

    Altgläubige kamen von überall her und zahlten, damit man für sie betete

    Ich war so ein Leben nicht gewohnt. Im ersten Sommer war es sehr heiß, aber nachts gab es Minusgrade. Die Kartoffeln durften keinen Frost abkriegen, deswegen machten wir Lagerfeuer rund ums Feld, deckten alles mit Stoff ab, deckten den Kohl zu. Geschlafen haben wir kaum. Dort liegt nur drei Monate im Jahr kein Schnee, in denen muss man alles schaffen. Morgens musste man gleich weiterarbeiten. Und nachts wieder alles abdecken. In diesem Winter hatten wir fast keine Kartoffeln.

    Die Leute dort [im Kloster – dek] haben viel gebetet, deswegen kamen Altgläubige von überall her und wollten, dass man für sie betet, sie zahlten dafür, brachten einfach Spenden. Man kommt aber nur rein, wenn man getauft ist. Also kommen Verwandte, die selbst Altgläubige sind, zu Besuch und bringen Geld oder Milch mit.

    Im Frühling fuhren wir mit dem Boot in die Stadt, holten Mehl, Zucker, Getreide. Ich meine natürlich, nicht wir, sondern die Männer fuhren ins Dorf. Sie fuhren mit dem Boot nach Krasnojarsk. Sie blieben lange fort, mehrere Monate.

    Ich war in den 15 Jahren kein einziges Mal woanders, ich durfte nicht. Und dann bin ich weggelaufen.

    Bald wirst du sterben und dann kommst du in den Himmel

    Nach vier Jahren hatte ich mich etwas eingelebt, mich an das alles ein bisschen gewöhnt. Sie sagten mir noch, dass … dass ich ein gutes Leben haben werde. Sie haben das jeden Tag wiederholt und geredet und geredet, man darf dies nicht, das ist nicht gut, und jenes führt ins Verderben. Mach es so, dann kommst du in den Himmel. Das haben sie mir immer und immer wieder gesagt. Irgendwie glaube ich immer noch an Gott, aber so wie sie leben, das ist grausam.

    Ich war sehr traurig, niedergeschlagen, dass sie meinen Pass verbrannt hatten, aber … in dieser Zeit habe ich auch noch Asthma bekommen, und sie sagten mir die ganze Zeit, dass ich bald sterben und in den Himmel kommen würde. All diese Jahre, elf Jahre war ich krank, konnte ich nicht sterben.

    Mir ging es damals immer schlechter, die letzten zwei Jahre war ich dann sehr krank. Im Frühling 2015 konnte ich mir nicht mal mehr selbst die Haare kämmen, hatte nicht genug Kraft. Ich war verzweifelt, wusste einfach nicht weiter …
    Sie ließen mich keine Medizin nehmen. Erst durfte ich ein bisschen, aber dann sagten sie, es wäre Gottes Wille, mein Kreuz. Du musst das ertragen.

    Und dann wurde ich einfach wütend

    Und dann, weißt du, dann wurde ich einfach wütend. Ich kann nicht leben, kann nicht gesund werden, und sterben kann ich auch nicht. Ich wurde wütend, überlegte, wie ich von da wegkomme. Ich fing an, heimlich was gegen das Asthma zu tun, ging nachts mit einem anderen Mädchen zum Fluss, wir bauten uns Holzwannen, dann machten wir in einem Bottich Wasser warm und legten da Fichtenzweige rein. Ich hatte gelesen, dass das gegen Asthma hilft.

    Dann fing ich an zu essen, weil … also, wir hatten dort keine Kühe, keine Milch. Sechs Jahre lang hab ich nichts mit Milch gegessen, nur Brei und eingekochte Beeren. Kein Brot, kein Gebäck, nichts. Ich habe sehr abgenommen. Sie haben mich ständig ermahnt, ständig kontrolliert. Dann fing ich an, mir einfach was aus der Küche zu holen, aus dem Keller, und nahm es mit in meine Hütte. Im Sommer sammelte ich Beeren und sowas. Mit dem Essen und den Kuren ging es mir langsam besser.

    Wir kommen vom Kloster, Geld haben wir nicht

    Sie sagten mir, es gäbe keine Hoffnung, ich müsse sterben und Punkt. Aber als es mir etwas besser ging, fing ich an zu überlegen, wie ich von da wegkomme. Ich wollte nur ins Krankenhaus fahren, wissen, was mit mir los ist.

    Wir hatten dort Klöster für Frauen und für Männer. Als alle schliefen, bin ich weggerannt, zu Fuß – da ist so ein Kloster am Dubtsches, das war näher an der Stadt. Da habe ich mich mit einer verabredet, und eine andere wollte uns ins nächste Dorf bringen.

    In dem Kloster blieb ich vielleicht zwei Wochen, dann hörten wir, dass in dem Dorf, es lag 15 Kilometer entfernt, eine Frau schwer krank war und in die Stadt ins Krankenhaus wollte. Also sind wir dorthin und haben sie gebeten, uns mitzunehmen. Das sind Altgläubige, sie wussten, dass wir aus dem Kloster sind und kein Geld haben. Wir haben nichts bezahlt, und sie wollten auch nichts haben. Wir sind bis nach Sandaktsches gefahren, und von da aus mit anderen Leuten bis Jenisseisk.

    In Jenisseisk haben die Amerikaner, die wir unterwegs aufgegabelt hatten, ein Taxi genommen, und wir sind einfach mitgefahren.

    Sie sagten mir, ich sei allergisch gegen Kälte

    Das war im August 2015. Ich hatte zwei Telefonnummern, rief von Krasnojarsk aus in Amerika an, bei meinen Verwandten, und sie schickten mir Geld. Die Tante, die mich hergeschickt hatte, war schon tot, seit fünf Jahren. Ich habe meinen leiblichen Bruder angerufen, meinen Onkel, Mamas leibliche Schwester, meine leibliche Tante, und alle schickten ein bisschen Geld. Dann bin ich zu verschiedenen Ärzten, ließ mich untersuchen.

    Die Ärzte bezahlte ich sofort, alles funktionierte (ohne Pass und Papiere – Mediazona). Das ist das Gute an Russland, da ist das alles viel einfacher, hier in Amerika ist es schwieriger. Ich lag dann sogar im Krankenhaus, ohne Papiere. Sogar Inhalatoren gaben sie mir, ich habe nie groß etwas dafür bezahlt.

    Ich hatte Freunde in Krasnojarsk, die haben auf ihren Namen eine Wohnung gemietet, die habe ich bezahlt. Ohne Pass konnte ich nichts mieten.

    Der Fluss war schon zugefroren, es fuhren keine Schiffe mehr

    Im Oktober dann … ich wollte ja eigentlich zurück ins Kloster, da man mir gesagt hatte, wenn du irgendwohin fährst, wirst du kein Glück haben, du wirst sterben. Das war alles in meinem Kopf. Außerdem hatte ich keinen Pass. Keinen Pass, kein Visum. Ich bin ja mit 15 weg, ich wusste nichts.

    Ich dachte, einfach wegfahren ist unmöglich. Am wichtigsten war für mich, dass die Krankheit ein bisschen besser wird. Im Oktober habe ich dann ein Ticket gekauft für das letzte Schiff von Jenisseisk nach Worogowo, glaube ich, in irgendein Dorf da oben. In diesem Dorf gab es Altgläubige, die sollten mich bis Sandaktsches bringen, und wieder andere Altgläubige von Sandaktsches aus weiter.

    Aber am 6. Oktober bin ich zum Arzt. Es hatte sich rausgestellt, dass ich allergisches Asthma habe, und ich brauchte den passenden Inhalator. Naja, später haben sie mir dann gesagt, dass ich Asthma und eine Kälteallergie habe. Ich würde Kälte nicht vertragen.

    Ich saß da bei diesen Ärzten, und plötzlich bekam ich keine Luft mehr, bekam einen Anfall. Sie riefen den Notarzt, und ich kam sofort ins Krankenhaus und blieb dort eine Woche. Da war der Fluss schon zugefroren, es fuhren keine Schiffe mehr. Ich saß fest, bis der Schnee kam.

    Ich kaufte mir das billigste Smartphone und meldete mich bei facebook an

    Im Kloster habe ich ohne Strom gelebt, ohne Technik, ohne Telefon. Als ich 2000 weg bin, gab es noch keine Smartphones. Aber als ich in Krasnojarsk war, habe ich für 2000 Rubel [knapp 30 Euro – dek] das billigste Smartphone gekauft. Ich wusste nicht genau, wie es funktioniert, aber im Krankenhaus hatte ich nichts zu tun und brachte es mir bei und meldete mich bei facebook an. Da haben mich dann meine leiblichen Brüder gefunden. Ich hatte meine Brüder seit 15 Jahren nicht gesehen, nicht gesprochen. Meine Brüder – die sind keine Altgläubigen, sie sind nicht getauft, haben vom Glauben noch nie was gehört. Die sind einfach nur Amerikaner.

    Sie wollten, dass ich nach Hause komme: Wir schicken dir Geld, wir kaufen dir ein Ticket, komm nach Hause. Ich war eine ganze Woche im Krankenhaus, und die ganze Zeit hörte ich von den Ärzten: „Du darfst nicht in Russland leben, es ist hier zu kalt für dich. Du hast sowieso keine russischen Papiere, du kannst hier nicht leben, fahr zurück nach Amerika.“ Das kriegte ich jeden Tag mehrmals zu hören. Ich überlegte hin und her und beschloss, nach Amerika zurückzugehen. Weil die Ärzte zu mir gesagt haben: „So lange du hier in Sibirien bist, so lange wirst du krank bleiben.“ Da wo ich gelebt habe, im Turuchanski Krai, wurde es manchmal bis zu -60° C kalt.

    Da, wo ich gelebt habe, wurde es bis zu -60° C kalt

    Meine Brüder haben mir geholfen, mir Telefonnummern gegeben. Meine Freunde in Krasnojarsk haben mir auch geholfen, wir sind zur Polizei und haben erzählt, dass ich meinen Pass verloren hätte. Die haben mir (eine Bescheinigung – Mediazona) ausgestellt, dass mein Pass weg ist. Dann bin ich zum Migrationsamt UFMS, und die haben mir gesagt, dass ich nur in Moskau oder in Wladiwostok einen Pass bekomme, weil es da amerikanische Botschaften gibt. Aber ich war in Krasnojarsk.

    Bei diesem Amt hat man mir gesagt, ich müsse dort erst eine Strafe zahlen, danach würden sie mich irgendwo einsperren, kein richtiges Gefängnis, aber man sitzt da einen Monat, und dann würden sie mich rauslassen. Ich sagte: „Nein.“ Ich war schon 15 Jahre eingesperrt gewesen.

    Fahre morgen mit dem Auto nach Moskau suche Mitfahrer

    Also suchte ich nach anderen Möglichkeiten, meine Freunde halfen mir dabei. Erst dachten wir, vielleicht mit dem Zug, aber das ging auch nicht, dafür braucht man einen Pass. Irgendwann suchten wir einfach im Internet, und kaum hatten wir angefangen, stießen wir auf eine Anzeige: „Fahre morgen mit dem Auto nach Moskau, allein, suche Mitfahrer, nehme fünftausend Rubel [knapp 70 Euro – dek].“ Das war perfekt für mich. Aber das war schon morgen, ich war nicht vorbereitet, hatte für den nächsten Monat schon die Wohnung gemietet. Naja, ich rief da erst mal an, unterhielt mich ein bisschen mit ihm, er klang nett.

    Als ich meinen Freunden davon erzählte, sagten sie: „Du spinnst doch, du kennst ihn gar nicht, wie kannst du da mitfahren?“ Ich sagte, ich habe keine Wahl, ich will nicht irgendwo festsitzen, will keine Strafe zahlen, ich fahre einfach. Das war meine einzige Möglichkeit.

    Moskau – Seattle

    Ich beeilte mich, packte alles zusammen, und wir fuhren los. Ich habe immer noch Kontakt zu diesem Menschen. Ich hatte auch Angst, weil ich in Moskau niemanden kannte, mein Geld war fast alle, reichte nur noch für ein Ticket. Er hatte einen Freund, der in Moskau in einem Wohnheim lebte, und zu dem brachte er mich, sein Name war Anatoli. Ein sehr guter Mensch. Da blieb ich einen Monat, weil ich auf die Tickets wartete. Ich kam im Dezember dort an, Neujahr und Weihnachten standen vor der Tür, deswegen waren die Tickets furchtbar teuer, bis zu 100.000 oder 150.000 Rubel [1300 bis knapp 2000 Euro – dek]. Ich wartete bis zum 15. Januar und kaufte dann für 25.000 [330 Euro – dek] ein Ticket nach Seattle.

    In der Botschaft haben sie mir innerhalb von drei Stunden einen Pass ausgestellt, ich hatte ja diesen Schein von der Polizei, dass ich ihn verloren hatte, dadurch ging das alles sofort, ich musste 150 Dollar bezahlen, glaube ich. Und dann, ach, dann bin ich durch ganz Moskau zu diesem Amt für Migration, weil die einen sagten, dass ich ein Visum brauche, die anderen sagten, ich brauche keins … Das ist es, was ich nicht mag an Russland: Sie lieben es, dich irgendwohin zu schicken, geh hierhin, geh dorthin. Niemand will einem helfen, sie schicken dich bloß ständig irgendwohin.

    Ich fuhr quer durch Moskau, und niemand wollte mir helfen. Dann wurde ich zum Chef geschickt, ich musste ganze zwei Stunden auf ihn warten, und dann sagte der: „Geh zur Polizei, sag, ich bin Amerikanerin, habe 15 Jahre hier gelebt und kein Visum, alles ist abgelaufen, bitte lassen sie mich raus.“ Ich ging zur Polizei, aber da hat man mich ausgelacht und gesagt: Kauf dir ein Ticket und fahr. Also bin ich geflogen.

    Nach meiner Rückkehr habe ich meine alten Freunde wiedergetroffen, aber andere Altgläubige nicht. Ich habe noch Verwandte, die Altgläubige sind, aber die finden nicht gut, dass ich zurückgekommen bin.

    Irgendwie ist alles glücklich ausgegangen für mich, obwohl sie mir im Kloster immer gesagt haben, dass ich kein Glück haben werde, kein Leben – aber es ist alles gut ausgegangen. Ich habe nicht damit gerechnet, ich kannte niemanden, hatte kein Geld, und trotzdem ging alles irgendwie gut, alles hat geklappt.

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    Am 1. April veröffentlichte die unabhängige Novaya Gazeta einen Bericht darüber, dass in der russischen Teilrepublik Tschetschenien mehr als hundert Männer festgenommen worden seien. Viele davon seien misshandelt worden, der Zeitung seien außerdem die Namen von drei Todesopfern bekannt. Der Grund für die landesweiten Festnahmen sei die „nicht-traditionelle sexuelle Orientierung“ der Männer gewesen: ihre Homosexualität oder einfach der bloße Verdacht, sie seien homosexuell.

    Die Massenfestnahmen seien auf einen Befehl zur „prophylaktischen Säuberung“ zurückzuführen, meint Elena Milashina, Investigativ-Reporterin der Novaya Gazeta. Sie betont, dass in Tschetschenien generell eine feindliche, geradezu aggressive Haltung gegenüber Homosexuellen herrsche, das offene Bekenntnis käme einem „Todesurteil“ gleich. 

    Reaktionen

    Diese Haltung spiegeln schließlich auch Reaktionen von offizieller Seite:

    Alwi Karimow etwa, Sprecher des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow, bezeichnete den Artikel als „Lüge“ und „Desinformation“: „Man kann keine Leute verhaften oder unterdrücken, die es in der Republik gar nicht gibt.“ 

    Jekaterina Sokirjanskaja von der NGO International Crisis Group, aber auch andere internationale Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch machten darauf aufmerksam, dass sich in Tschetschenien nur dann etwas ändere, wenn Moskau ein Machtwort spreche, Aufklärung fordere und zugleich den Informanten Schutz gewähre. Auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates gab eine Pressemitteilung heraus, in der sie die unmittelbare Aufnahme von Ermittlungen fordert, gleiches forderte unter anderem auch ein Sprecher des US-Außenministeriums.

    Derzeit halten sich Russlands oberste Behörden allerdings zurück. Kreml-Sprecher Peskow empfahl den Betroffenen, vor Gericht zu gehen. Unmittelbar nach der Veröffentlichung hatte die tschetschenische Menschenrechtsbeauftragte Cheda Saratowa in einem Moskauer Radiosender gesagt, Homosexualität entspreche nicht der Tradition und den Werten Tschetscheniens. Ein Ermittlungsgesuch wegen einer solchen Tat würden sie gar nicht erst annehmen. Später nahm sie diese Aussage zurück: Sie habe nicht klar denken können, da sie „schockiert“ gewesen sei, angesichts der Tatsache, dass es Homosexuelle in Tschetschenien gebe.

    In einem zweiten Artikel zum Thema veröffentlichen Elena Milashina und ihre Kollegin Irina Gordienko nun weitere Recherchen sowie einzelne Augenzeugenberichte und Protokolle von Betroffenen und Informanten.

    Der Sender Radio Svoboda nahm die Artikel zum Anlass für eigene Recherchen zum Thema. Diese bestätigen die Berichte der Novaya Gazeta und weisen außerdem auf eine weitere Repressionswelle bereits Ende vergangenen Jahres hin.

    Die Investigativ-Journalistinnen Elena Milashina und Irina Gordienko recherchieren beide seit Jahren im Nordkaukasus, werden dabei immer wieder massiv bedroht. Elena Milashina wurde 2012 nahe ihrer Wohnung in Moskau auf der Straße brutal zusammengeschlagen. Die Täter wurden allerdings nie gefunden.

    Im vergangenen Jahr erhielt Elena Milashina für ihre investigative Arbeit den Free Media Award der Zeit-Stiftung und der norwegischen Stiftung Fritt Ord.

    [Update vom 17. Januar 2019: Die Novaya Gazeta berichtet unter Berufung auf die NGO Russische LGBT-Netz von einer weiteren Verfolgungswelle gegen LGBT in Tschetschenien. Die genauen Umstände würden noch geprüft, ersten Anzeichen nach handelt es sich diesmal allerdings um Aktionen einzelner Polizisten, die nicht auf eine Initiative der obersten Staatsebene zurückgehen.]

     

    Unser Artikel Ehrenmord, in dem wir über Massenverhaftungen und Tötungen von Tschetschenen berichteten, die der Homosexualität beschuldigt oder auch nur verdächtigt werden, stieß auf starke Resonanz.

    Offizielle Vertreter der Republik Tschetschenien sprechen wie gewohnt von „Diffamierung“ und Verbreitung von „Gerüchten“. Der Pressesekretär des tschetschenischen Innenministeriums meinte, es handele sich um  einen „schlechten Aprilscherz“.

    Der Berater Ramsan Kadyrows in religiösen Fragen, Adam Schachidow, beschuldigte die Novaya Gazeta der „Verleumdung einer ganzen Nation“, und der tschetschenische Journalistenverband schlug vor, „die Mitarbeiter der Novaya Gazeta von nun an nicht mehr Journalisten zu nennen“.

    Wobei alle, tschetschenische Beamte wie Parlamentsabgeordnete und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, einhellig die bloße Tatsache bestritten, dass es in der Bevölkerung Homosexuelle gebe. Und – gleichzeitig – feststellten: Für solche Leute sei Tschetschenien der falsche Ort. Überhaupt hätten sie kein Recht auf Leben. 

    Hotline des LGBT-Netzwerks

    Zu dieser Zeit trafen unter der Adresse kavkaz[at]lgbtnet.org die ersten E-Mails ein; sie war vom russischen LGBT-Netzwerk in Kooperation mit der Novaya Gazeta und Rechtsanwälten aus Russland eingerichtet und am Tag vor der Publikation [des ersten Artikels Ehrenmorddek] in Sozialen Netzwerken verbreitet worden. Menschen, die in Tschetschenien aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden, suchten über verschiedene Kanäle Kontakt [die Organisation veröffentlichte auch eine Telefonnummer – dek].

    Manch einer konnte sich auf eigene Faust nach Europa absetzen und sammelt jetzt Informationen seiner Freunde, die in Tschetschenien geblieben sind. Ein anderer hat die Teilrepublik verlassen, hält sich in Russland auf und setzte sich von dort aus mit uns in Verbindung. Wieder ein anderer befindet sich in Tschetschenien und versteckt sich.

    Zusammen mit Aktivisten des russischen LGBT-Netzwerks sind wir so an drei Zeugenberichte von Tschetschenen gekommen, die uns im direkten Gespräch erzählt haben, was mit ihnen passiert ist. Derzeit sind alle drei und auch ihre Familien in Sicherheit, außerhalb Russlands. Uns erreichten außerdem drei weitere Geschichten, deren Protagonisten entweder umgekommen sind oder sich in Tschetschenien verstecken (die Redaktion verfügt über Sprachmitteilungen eines der Untergetauchten – Elena Milashina).

    Alle diese Berichte sind zu unterschiedlichen Zeiten eingetroffen, von verschiedenen Leuten, die in verschiedenen Regionen Tschetscheniens wohnten, aus unterschiedlichen sozialen Schichten kommen und untereinander nicht bekannt sind. Trotzdem gibt es in allen Berichten wiederkehrende Momente, die eine Chronik massenhafter Repressionen gegen Tschetschenen durchscheinen lassen, die der Homosexualität verdächtigt werden.

    In dem vorigen Artikel [Ehrenmord, siehe oben – dek] stützten wir uns auf Aussagen unserer Informanten aus dem UFSB und dem Innenministerium in Tschetschenien. Sie brachten die Massenrepressionen gegen die tschetschenische LGBT-Community damit in Verbindung, dass Gay-Pride-Paraden in vier Städten des Kaukasus angemeldet worden waren. Die Anträge hatten Aktivisten des Online-Projekts GayRussia.ru Anfang März gestellt. Diese Anträge, die im Kaukasus sehr negativ aufgenommen wurden, provozierten allerdings die zweite Repressionswelle.

    Es hatte nämlich schon eine erste gegeben.

    Die begann für Tschetschenien ganz „traditionell“. Ende Februar wurde ein Mann festgenommen, der, nach Informationslage der Novaya Gazeta, unter Drogeneinfluss stand. Man muss wissen, dass in Tschetschenien nicht nur bei der Bekämpfung von Terroristen, Salafisten und Homosexuellen, sondern auch bei Drogensüchtigen und sogar Verkehrssündern die gleichen Methoden eingesetzt werden: Zuerst durchsuchen die Polizisten die Mobiltelefone.

    Auf dem Handy des festgenommenen Drogenkonsumenten fand man Fotos und Videos freizügigen Inhalts sowie Dutzende Kontakte ortsansässiger Homosexueller. Diese Datensammlung war es, die die erste Welle von Festnahmen und Gewalt auslöste. Zu der Zeit, als der Projektleiter von GayRussia.ru, Nikolaj Alexejew, beschloss, den Kaukasus in seine russlandweite Aktion miteinzubeziehen, gab es in Tschetschenien schon Todesopfer. Doch die Welle war am Abflauen. Zumindest hatte man aus einer der geheimen Haftanstalten, die wirklich alle von uns Befragten erwähnten, jene Häftlinge bereits entlassen, die wegen Verdachts auf Homosexualität saßen, als der provokante Antrag der GayRussia-Aktivisten eintraf. Und jetzt – ist das Gefängnis wieder voll.

    Geheimgefängnis in Argun

    Von dem geheimen Gefängnis in der Stadt Argun hatten wir schon vor eineinhalb Wochen aus behördlichen Quellen erfahren. Das Gefängnis besteht aus mehreren Gebäuden, die offiziell leerstehen. In den 2000er Jahren befand sich dort eine Militärkommandantur, danach die Abteilung des Innenministeriums für den Bezirk Argun. Diese Abteilung ist jetzt woanders untergebracht, und die ehemalige Militärkommandantur (Adresse: Uliza Kadyrowa 99 b, Argun) wurde zu einer der vielen Stätten in Tschetschenien, wo Menschen im Geheimen festgehalten werden. 

    Zudem schickte uns ein Informant der Novaya Gazeta, der sich derzeit in Europa aufhält, ein Foto mit Polizisten darauf, dazu folgenden Kommentar: „Diese beiden (gemeint sind die Personen im Vordergrund – Red. Novaya Gazeta) begannen in Argun als erste, Männer mit nichttraditioneller Orientierung zu vernichten“.  [im Original mit gravierenden orthographischen Fehlern – dek].

    Dieses Foto fand die Novaya Gazeta dann auf dem Instagram-Account von Ajub Katajew, dem Chef des OMWD der Stadt Argun. Vor einer Gruppe tschetschenischer Polizisten sind zwei Männer gut erkennbar: Der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow (besser bekannt unter seinem Spitznamen Lord), und der Chef des OMWD Argun Ajub Katajew. Das Foto wurde am 7. März auf Instagram gepostet.

    Unseren Informanten zufolge, auch derer, die in Argun inhaftiert waren, war eben dieser Lord bei der Entlassung von Häftlingen und bei deren Aushändigung an Verwandte dabei. 

    Uliza Kadyrowa 99b in Argun – ein Geheimgefängnis? / Foto © Novaya Gazeta
    Uliza Kadyrowa 99b in Argun – ein Geheimgefängnis? / Foto © Novaya Gazeta

    Es lässt sich leicht feststellen, dass der tschetschenische Parlamentssprecher im Februar und März die ehemalige Militärkommandantur regelmäßig aufsuchte. Eine der einfachsten Methoden (aber lange nicht die einzige) ist es, Verbindungen von Daudows Handy mit Mobilfunkmasten aufzuzeichnen, unter deren Radius die Adresse Uliza Kadyrowa 99 b fällt. Dabei ist nicht zu vergessen: Das OMWD Argun befindet sich jetzt an einer anderen Adresse, dort wird von ganz anderen Mobilfunkmasten aus gesendet. Welchen Grund hatte Daudow, immer wieder an die alte Adresse zu fahren? 

    Unter den Festgenommenen waren viele ‚zufällige Opfer‘

    Aus den Zeugenberichten, die der Novaya Gazeta und den Aktivisten des russischen LGBT-Netzwerks vorliegen, geht außerdem hervor, dass unter den Festgenommenen viele „zufällige Opfer“ waren. Die Handys der Verhafteten wurden absichtlich nicht ausgeschaltet: So gerieten alle Männer, die anriefen (auch mit komplett unschuldigen Anliegen), sofort in das Spinnennetz dieser Massenkampagne für die sexuelle Reinheit Tschetscheniens.

    Auch sie wurden illegal verhaftet, geprügelt, mit Strom gefoltert, bestenfalls gegen enorme Summen freigelassen. Wir wissen von Situationen, in denen Verwandte im Schnellverfahren Wohnung und Besitz verkaufen mussten, um ihre Angehörigen zu retten. 

    Leider konnten nicht alle gerettet werden.

    Zum aktuellen Zeitpunkt weiß die Novaya Gazeta von drei Todesfällen

    Zum aktuellen Zeitpunkt weiß die Novaya Gazeta von drei Todesfällen. Diese sind von etlichen Zeugen gut dokumentiert und bestätigt worden (sowohl von Augenzeugen als auch von Informanten der Novaya Gazeta in den Strafverfolgungsbehörden Tschetscheniens).

    Es gibt außerdem Hinweise auf ein mögliches viertes Todesopfer. Ob dieser Mensch noch am Leben ist, kann nur das russische Ermittlungskomitee feststellen. Doch über all die Jahre, in denen wir dem Ermittlungskomitee Verbrechen melden, haben wir eine traurige Tendenz festgestellt: Jede Meldung eines Verbrechens (als die laut Mediengesetz automatisch jede Publikation gilt, insbesondere wenn sie über einen gewaltsamen Tod informiert) registriert das Komitee als Hinweis und nimmt keinerlei Überprüfung vor.

    Angesichts dieses Umstands beabsichtigen wir, uns an die Generalstaatsanwaltschaft Russlands zu wenden mit der Forderung, den Präsidenten des Ermittlungskomitees, Bastrykin, zu verpflichten [im Original gefettet – dek], auf Basis unserer Publikationen eine Überprüfung gemäß Artikel 144–145 der russischen Strafprozessordnung vorzunehmen. Wenn der Generalstaatsanwalt Tschaika einer solchen Forderung nachkommt, hat das Ermittlungskomitee keine Möglichkeit mehr, das Gesetz zu umgehen. Wenn aber der Staatsanwalt die Forderung ablehnt, dann haben wir einen Anlass, ihn wegen Unterlassung zur Verantwortung zu ziehen.

    In den vergangenen zwei Jahren – genau seit dem Mord an Boris Nemzow, bei dem die Auftraggeber offensichtlich straflos davonkamen – sind Massenverfolgungen in Tschetschenien zu einer üblen Tradition geworden. Und mit jedem Mal werden die Ausmaße der Repressionen katastrophaler und die Anlässe immer absurder.

    Das ist das klassische Prinzip der Omertà

    Das Ausbleiben einer adäquaten juristischen Reaktion durch die föderalen Strafverfolgungsbehörden führt zur Rechtsimmunität der tschetschenischen Silowiki. Das ist das klassische Prinzip der Omertà.

    Andererseits werden die Massenverfolgungen zweifellos auch durch das Schweigen der tschetschenischen Bevölkerung begünstigt. 

    Allerdings birgt die Kampagne gegen die örtliche LGBT-Community Chancen, dem tschetschenischen Schweigen ein Ende zu setzen. In den letzten Tagen haben wir nicht nur eine Menge E-Mails bekommen. Wir haben auch gesehen, wie Menschen ihre Angst überwinden, weil sie erzählen wollen, was ihnen widerfahren ist.

    Dafür gibt es möglicherweise eine Erklärung. Die Vertreter der LGBT-Community unterscheiden sich nämlich von allen anderen Aktivisten und Menschenrechtlern. Man kann aufhören, sich für Menschenrechte einzusetzen, man kann seine politischen Ansichten ändern, man kann sogar den Glauben wechseln. Doch was man nicht ändern kann, ist die Hautfarbe oder die Sexualität. Genau deswegen wurden LGBT-Aktivisten und Schwarze in Amerika zum Motor der Menschenrechtsbewegung. Genau deswegen brechen in Tschetschenien die verfolgten Homosexuellen das Schweigen. 

    Und noch etwas: In Tschetschenien hat jeder Gefangene, für welche Vergehen auch immer er sitzt, eine Überlebenschance. Alle – nur nicht Schwule. Kaum wird seine besondere sexuelle Orientierung publik, spricht  die tschetschenische Gesellschaft ihm das Recht auf Leben ab. Und Menschen, die in die Ecke gedrängt werden, verlieren die Angst. 

     

    Text: Elena Milashina

    Zeuge 1

    Jahrelang hatten mich die Beamten der Strafverfolgungsbehörde in der Mangel. Sie erpressten mich, ich zahlte der Polizei Geld: monatlich mehrere zehntausend Rubel. Schweigegeld. Sie hatten ein mit dem Handy aufgenommenes Video, auf dem ich zu sehen war.

    Die Bullen haben Spitzel, meist sind das Drogensüchtige, die sie erwischt haben. Im Tausch gegen Freiheit und Geheimhaltung kooperieren sie und locken Leute in die Falle – immer neue Klienten, die man erpressen kann. Das ist für die Polizei im Land ein lukratives Geschäft. Viele Bullen haben so eine Klientel, deren Namen würden sie nicht mal ihren Vorgesetzten nennen – dann wäre ja das Geld aus.    

    Trotz der Zahlungen holten sie mich regelmäßig aufs Revier, prügelten mich, folterten mich mit Strom, verhöhnten und erniedrigten mich. Wollten, dass ich andere Schwule verrate.

    Nach den Prügeln erholte ich mich ein, zwei Tage bei Freunden, bis die blauen Flecken ein wenig zurückgingen, erst dann ging ich nach Hause – meiner Familie sagte ich, das sei von einer Schlägerei. So ging das zwei Jahre. 

    Sie holten mich regelmäßig aufs Revier, prügelten mich, folterten mich mit Strom, verhöhnten und erniedrigten mich. Wollten, dass ich andere Schwule verrate

    Ich komme aus einer normalen Familie, mit vielen Verwandten. Lange Zeit wollte ich mich nicht damit abfinden, dass ich schwul bin, dachte, das sei eine Krankheit, die man bekämpfen und überwinden kann. Ich wollte eine Familie. Habe geheiratet. Ich war sicher, dass das mit der Zeit vergeht. Das Land verlassen (um ein freies Leben zu führen – Anm. Novaya Gazeta) wollte ich nicht – ich hatte Angst um meine Angehörigen. Wenn das bekannt wird, trifft die Schande nämlich sie. 

    Aber irgendwann hielt ich die Misshandlungen nicht mehr aus, ließ alles stehen und liegen und floh nach Moskau. Dachte, ein neues Leben anzufangen. Um mich wenigstens irgendwie zu schützen, machte ich eine Eingabe beim Innenministerium und der Staatsanwaltschaft, dass mich die Polizei in Tschetschenien verfolgt, systematisch prügelt und erpresst. In Moskau nahm man meine Eingabe nicht mal entgegen – es hieß: „Macht das dort unter euch aus. Wir mischen uns nicht ein.“ 

    Ein paar Monate nach meiner Flucht fanden sie mich in Moskau. Schlugen mich. Forderten wieder Geld. Ich wollte mich umbringen. Und hab mich nur deswegen nicht aufgehängt, weil ich Leute gefunden habe, die mir halfen, das Land zu verlassen. Jetzt gehe ich zu einem Psychologen und denke, das hätte ich schon viel früher tun sollen. 

    Lange Zeit wollte ich mich nicht damit abfinden, dass ich schwul bin, dachte, das sei eine Krankheit, die man bekämpfen und überwinden kann

    So eine Hetzjagd auf Schwule, wie derzeit in meinem Land, gab es noch nie. Begonnen hat es nach dem 20. Februar. Da nahmen Polizisten einen Typen fest, der unter Lyrica stand (ein krampflösendes Medikament auf Pregabalin-Basis. Wirkt euphorisierend, beliebt bei Drogensüchtigen. – Irina Gordienko), durchstöberten sein Handy und fanden Pornobilder, Videos, eine Menge Kontakte, Chats mit anderen Schwulen. Das ging alles hinauf bis zum Lord, der drehte durch. Mit den Kontaktdaten begannen massenhafte Festnahmen. Die Leute wurden bei der Arbeit festgenommen, zu Hause, sogar, wenn die Person einfach nur das Pech hatte, in diesem Telefonbuch gelandet zu sein. Es begann eine Kettenreaktion. 

    So eine Hetzjagd auf Schwule, wie derzeit in Tschetschenien, gab es noch nie

    Die Verhafteten wurden gefoltert, auf Flaschen gesetzt, mit Strom gequält. Manche wurden halbtot geprügelt und den Verwandten wie ein Sack voll Knochen übergeben. Konkret weiß ich von zwei Todesfällen …

    Wenn sie dich kriegen, gibt es drei Wege da raus: Entweder du zahlst Riesensummen – ich hab von einer halben Million [Rubel – dek] gehört – oder du verpfeifst andere. Oder sie verpfeifen dich bei deinen Verwandten. Mit den Worten „regelt das selber“. Die meisten, die entkommen sind, flüchten und verstecken sich.

    Zeuge 2

    Das Gelände, wo sie mich hinbrachten, sieht verlassen aus, ist es aber nicht. Es ist eher sowas wie ein geheimes Gefängnis, von dessen Existenz offiziell niemand weiß. Im Nebenraum saßen Syrer – junge Männer, die verdächtigt werden, Kontakt zu Syrienkämpfern zu haben, oder deren Verwandte, oder solche, die aus Dummheit nach Syrien gefahren sind, enttäuscht wurden und nach Hause geflüchtet sind. Die sitzen da Jahre.

    Außerdem sitzen welche, die auf Drogen erwischt wurden. Verschiedene Drogen, aber vor allem das Psychopharmakon Lyrica, für dessen Konsum man in der Republik hart bestraft wird.    

    Wir waren ein paar Dutzend Leute, die Zahl änderte sich ständig, manchmal wurde einer frei gelassen, dann brachten sie neue. In einem großen Raum wurde uns eine kleine Ecke zugeteilt, etwa zwei mal drei Meter, deren Grenze wir nicht übertreten durften. Wir saßen dort tagelang, wochenlang, manche monatelang. Dreimal pro Tag wurden wir raus auf die Toilette geführt, ein Extra-Gebäude.

    Außerdem wurden wir mehrmals am Tag rausgeholt und geprügelt – das hieß Verhör, Prophylaxe, Bearbeitung, wie auch immer. Ihr Hauptanliegen war: an deine Kontakte heranzukommen. Wenn du auf Verdacht festgenommen wirst, denken sie, dass automatisch dein ganzer Bekanntenkreis schwul ist. 
    Deswegen wurden unsere Handys, nachdem sie sie einkassiert hatten, nicht ausgeschaltet: Sie warteten, dass jemand schrieb oder anrief. Jeder Mann, der anruft oder schreibt, ist der nächste Fang. Meistens riefen sie diese Leute zurück und lockten sie unter irgendeinem Vorwand zu einem Treffen.  

    Unsere Handys wurden nicht ausgeschaltet. Jeder Mann, der anruft oder schreibt, ist der nächste Fang

    Die befestigten die Kabel von Elektroschockern an unseren Händen und drehten den Regler auf, sodass Strom floss. Das tut weh. Erst hab ich ausgehalten, dann verlor ich das Bewusstsein und fiel um. Wenn der Strom fließt und dein Körper zu zittern beginnt, setzt irgendwann dein Kopf aus und du beginnst zu schreien. Die ganze Zeit sitzt du da und hörst die Schreie der Menschen, die sie foltern.    

    Die Folter beginnt, sobald einer auf dem Gelände ankommt. Strom, Prügel mit Polypropylen-Rohren. Man schlug uns immer nur unter der Gürtellinie – auf die Beine, die Schenkel, das Gesäß, das Kreuz. Sie sagten, wir seien „Hunde, die keine Lebensberechtigung“ hätten.

    Die anderen Häftlinge zwangen sie dazu, uns niederzumachen. Die sitzen dort jahrelang, die meisten haben die Hoffnung auf Freiheit aufgegeben. Die haben nicht wirklich eine Wahl. Wir verstanden das.  

    Man schlug uns immer nur unter der Gürtellinie – auf die Beine, die Schenkel, das Gesäß, das Kreuz. Sie sagten, wir seien ‚Hunde, die keine Lebensberechtigung‘ hätten

    Sie schlugen uns auch mit Stöcken, stellten uns in zwei Reihen einander gegenüber auf, mehrere Dutzend Leute. Sie teilten Stöcke aus, ähnlich wie Baseballschläger. Und jeder musste durch dieses Spalier. Drei, vier Schläge sind schwer zu ertragen, es tut irre weh, aber wenn du durch zwanzig musst – das halten ganz viele nicht aus.

    Ich wusste nicht, was tun mit diesem Schmerz, obwohl ich immer dachte, ich hätte eine hohe Schmerztoleranz. Um dem Schmerz etwas entgegenzuhalten, begann ich, meine Finger blutig zu beißen. Das half.  

    Manche schlugen sie mit besonderer Vorliebe. Einen, den quälten sie besonders, er saß dort schon länger als wir, den hatten sie schon völlig kleingekriegt, schlugen ihn so, dass er offene Wunden hatte. Dann übergaben sie ihn seinen Verwandten und etwas später hieß es, er sei schon unter der Erde.   

    Ich wusste nicht, was tun mit diesem Schmerz, obwohl ich immer dachte, ich hätte eine hohe Schmerztoleranz

    Abgesehen von der physischen Folter, machten sie uns nieder und quälten uns psychisch: beleidigten uns, ließen uns das Gelände putzen, ins Gesicht gespuckt zu kriegen, war nichts Ungewöhnliches. Und die ganze Zeit betonten sie: Ihr habt keine Wohnung mehr, alle lassen euch im Stich, ihr kommt hier nie raus! Täglich brachten sie mehr Leute – die Verhöre und arglosen Anrufe führten zu immer neuen Verhaftungen. 

    Nach mehreren Wochen, wenn die Menschen sich nur mehr wie Tiere vorkamen, riefen sie die Verwandten. Wer sich entschloss, zu kommen, wurde erst ebenfalls gedemütigt, dann händigten sie die Person aus.“

     

    Aufgezeichnet von Irina Gordienko   


    Mitteilungen an die Hotline 29.03.2017 bis 02.04.2017

    Nachrichten, die bei der Hotline des russischen LGBT-Netzwerks eingingen unter kavkaz[at]lgbtnet.org, eingerichtet für Bewohner Tschetscheniens. Die Nachrichten sind zwischen dem 29. März und dem 2. April eingegangen. Alle Geschichten werden mit Zustimmung der Informanten veröffentlicht.  

    1. „Den Sicherheitskräften zufolge war der Befehl zur Festnahme von der Regierung ausgegangen“

    Ein junger Mann aus Grosny, schwul. Kam vor ein paar Monaten nach NN (Name der Stadt zum Schutz der Auskunftsperson anonymisiert – Anm. d. Novaya Gazeta). Wollte sich hier niederlassen, fand aber keine Arbeit und wollte Mitte März zurück nach Tschetschenien. Versuchte, einen Freund zu erreichen, der meldete sich aber nicht. Er meldete sich erst nach einer Woche und sagte, er sei gerade von (tschetschenischen – Anm. d. Novaya Gazeta) Sicherheitskräften freigelassen worden. Sie hatten ihn wegen Verdachts auf Homosexualität festgenommen.

    Um ein Geständnis zu erzwingen, hatten sie ihn mit einem Schlauch geschlagen und mit Strom gefoltert (an seinen Handgelenken wurden Kabel festgeklemmt – Anm. d. Novaya Gazeta). Er sagte, zusammen mit ihm seien an die 30 Leute im selben Raum gefangengehalten worden.

    Den Sicherheitskräften zufolge war der Befehl zur Festnahme von der Regierung ausgegangen. Die Gefangenen wurden gezwungen, die Daten anderer Schwuler herauszugeben. Und je mehr einer erzählte, desto länger wurde er festgehalten. 

     

    2. „Dem Vater kündigten sie an, seinen Sohn im Lokalfernsehen zu blamieren“

    Ein weiterer Mann, der sich mit der Bitte um Hilfe an die Hotline wandte, erzählte, sein Bekannter (die Daten, die eine genaue Identifikation dieser Person erlauben, werden zu Ermittlungszwecken weitergeleitet – Anm. d. Novaya Gazeta) sei ebenfalls wegen Verdachts auf homosexuelle Orientierung festgenommen worden. Anlass dazu sei ein Chat auf VKontakte gewesen. Spätabends sei vor seinem Haus ein schwarzer Toyota Camry ohne Nummernschild vorgefahren.

    Männer in Uniformen des Sondereinsatzkommandos Terek setzten den jungen Mann ins Auto und fuhren an einen unbekannten Ort, ohne seine Familie über den Grund der Festnahme aufzuklären. Er wurde mehrere Tage festgehalten, gefoltert.

    Seine Verwandten konnten den Ort der illegalen Verwahrung ihres Angehörigen ausfindig machen. Dem Vater kündigten sie an, seinen Sohn im Lokalfernsehen zu blamieren und dann freizulassen.

    Der Mann wurde tatsächlich freigelassen, zu welchen Bedingungen, ist unbekannt. Ebenfalls unbekannt ist sein weiteres Schicksal. Bekannt ist nur, dass er Tschetschenien nicht verlassen hat.    

     

    3. „Die Verwandten legten ihm Handschellen an und fuhren mit ihm an einen unbekannten Ort“

    Eine anonymer Informant teilte der Hotline mit, wie er festgenommen wurde. Auf der  Kommandantur wurde er in einer verlassenen Betonbaracke in der Nähe von Argun Zeuge, wie der Homosexualität verdächtigte Männer massenhaft gefoltert wurden.

    Er selbst wurde am 28. Februar gefangengenommen. Zusammen mit ihm befanden sich noch 15 Männer in der Baracke, darunter ein in Tschetschenien bekannter Friseur und ein Fernsehmoderator.

    Die Gefangenen wurden geschlagen und mit Strom gefoltert. Auf den Fotos, die der Informant übermittelte, sind großflächige Hämatome auf Beinen und dem unterem Rücken zu sehen.

    Die Gefangenen bekamen so gut wie nichts zu essen. Sie wurden oft geschlagen, manche starben dabei. Am 5. März wurde ein junger Mann namens NN (die persönlichen Daten sind bekannt und werden zu Ermittlungszwecken weitergeleitet – Anm. d. Novaya Gazeta) von seinem Vater und seinem Bruder aus der Kommandantur abgeholt.    
    Seine Verwandten legten ihm Handschellen an und fuhren mit ihm in einem weißen Auto an einen unbekannten Ort. Er ist nicht nach Hause zurückgekehrt.

    Zu den anderen Gefangenen wurde gesagt: „Wenn ihr Männer in der Familie habt, dann töten sie euch auch wie NN.“

    Der anonyme Informant selbst wurde am 7. März entlassen (die Umstände seiner Entlassung gab er nicht bekannt, er sagte nur, dass er in Tschetschenien offiziell als tot gelte). Er konnte zusammen mit seiner Familie Tschetschenien verlassen. Im Moment hält er sich außerhalb Russlands auf.  

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  • In Trauer gespalten

    In Trauer gespalten

    Die Explosion in der Sankt Petersburger Metro im April 2017 löste unmittelbar heftige Diskussionen in Sozialen Netzwerken und Medien aus, es gab Verschwörungstheorien und Mutmaßungen, wer wohl die Drahtzieher sind: Der IS? Radikale Ukrainer? Das Regime selbst?

    Staatschef Wladimir Putin hatte sich an dem Tag zu Gesprächen mit dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko selbst in Sankt Petersburg aufgehalten. Spätabends kam er an den Tatort, legte Blumen nieder, ein Gespräch mit der Presse gab es nicht.

    Auf Carnegie.ru analysiert Andrey Pertsev die Reaktionen von Gesellschaft und Regierung. Unter anderem stellt er fest, dass das Attentat von Sankt Petersburg die russische Gesellschaft nicht eine. Vielmehr zeige es auf, wie gespalten sie ist. 

    Foto ©  Alexander Korjakow/Kommersant
    Foto © Alexander Korjakow/Kommersant

    Die russischen Behörden begründen neue Verbote und Einschränkungen fast immer mit dem Kampf gegen den Terror. Das Jarowaja-Gesetz, Strafen für Reposts, die Rolle der Silowiki im Leben des Landes und sogar die Intervention in Syrien – all diese Maßnahmen wurden als für die Sicherheit Russlands notwendig präsentiert.

    In Europa, wo Freiheit und Toleranz in den Vordergrund gerückt worden sind, finden Terroranschläge statt – wollt ihr das etwa? Also beschwert euch nicht! So ungefähr lautete der Dialog zwischen Kreml und Gesellschaft.

    Tragische Ereignisse – Terroranschläge, katastrophale Unfälle, Naturkatastrophen – vereinen die Menschen, und Trauer schweißt stärker zusammen als Freude. Wir trauern um die Opfer.

    Aber es ist kein Frevel, wenn wir über die Reaktionen von Gesellschaft und Regierung auf den Terroranschlag nachdenken. Eine Diskussion zu den Ursachen und Folgen stellt keineswegs eine Verhöhnung des Gedenkens an die Opfer dar, allein schon deshalb, weil sie zum Ziel hat, dass es weniger solcher Ereignisse gibt.

    In Europa finden Terroranschläge statt – wollt ihr das etwa? Also beschwert euch nicht! So ungefähr lautete der Dialog zwischen Kreml und Gesellschaft

    Der Kampf gegen den Terror in allen möglichen Spielarten war viele Jahre ein Eckpfeiler für die russische Regierung, stand am Urbeginn und bildete die Grundlage für einen neuen Gesellschaftsvertrag.

    Wladimir Putin trat seinerzeit als Präsident an, der willensstark war und bereit, für Ordnung zu sorgen und gegen den bewaffneten Untergrund im Nordkaukasus vorzugehen.

    Die Vernichtung von Terroristen wurde Anfang der 2000er Jahre zunächst fortgeführt, bevor – der offiziellen Mythologie zufolge – Stabilität einkehrte, weniger in der Wirtschaft als vielmehr im Bereich der Sicherheit.

    Nachdem der Islamische Staat (eine in Russland verbotene Terrororganisation) damit begonnen hatte, in europäischen Staaten Terroranschläge zu organisieren, verstärkte sich dieses Gefühl einer relativen Sicherheit. Dies umso mehr, als offizielle Personen und Propaganda subtil unterstrichen: Wir haben Mitgefühl, dennoch tragen die europäischen Regierungen auch eine gewisse Teilschuld an den Anschlägen.

    Der Antiterror-Konsens bestand lange vor dem Krim-Konsens, und er war stets fester und effektiver. Ihr wollt in Ruhe leben? Also nehmt bestimmte Dinge hin, und ihr werdet es nicht bereuen: Ihr werdet nicht in die Luft gesprengt und nicht erschossen.

    Die Ansicht, dass es in Russland keinen Terrorismus gebe (mit Ausnahme des Nordkaukasus, wo die Lage immer eine besondere war), gerade wegen des harten Regimes, war bald allgemeine Überzeugung. Die scheinbare Sicherheit wog das meiste auf – zum Beispiel Probleme im sozialen Bereich oder die Korruption: Hier gibt es zwar noch Verbesserungsbedarf, dafür ist im Sicherheitsbereich alles in bester Ordnung.

    Aber jetzt zeigt sich, was der Preis dafür ist: Jeder Terroranschlag, der nicht verhindert werden kann, ist für den Kreml ein äußerst heftiger Schlag gegen die Grundfesten dieses Gesellschaftsvertrags.

    Die Fragen-Palette an die Staatsführung ist sehr breit, und überall schwingen Vorwürfe gegen den Kreml mit

    Nach den Terroranschlägen in Sankt Petersburg ist die Fragen-Palette an die Staatsführung sehr breit, und überall schwingen auf die eine oder andere Weise Vorwürfe gegen den Kreml mit.

    Da wären einmal Verschwörungstheorien: Der Terroranschlag kommt den Antikorruptions-Protesten in die Quere, also würden sie der Regierung nützen. Die Präsidentschaftswahlen stehen an, und da käme ein Schwerpunktthema gerade recht, zumal es für Wladimir Putin durchaus vertraut ist. In Wirklichkeit ist dieses Thema für den Kreml aber sehr ungünstig, eben weil es so vertraut und gewohnt ist.

    Im Jahr 2000 war es durchaus der Auftakt für ein nationales Projekt. Jetzt aber würde eine Rückkehr zum Thema Terror unweigerlich offensichtliche Fragen aufwerfen: Warum ist nach 17 Jahren Priorität in Sachen Sicherheit alles hin? Es wäre kein Zukunftsprogramm, sondern eine Hinwendung zu Fehlern der Vergangenheit.

    Umso mehr, als man uns erklärt hat, dass es Bombenexplosionen und Angriffe in den europäischen Ländern deshalb gäbe, weil die Regierungen dort schwach und unfähig seien. Und jetzt geschieht ein Terroranschlag in unserem Land – heißt das, unsere Regierung ist genauso … ?

    Kein Land, keine Stadt, niemand ist vor Terroristen sicher. In Europa haben die Menschen ihre Regierungen nach den Anschlägen nur zurückhaltend in die Pflicht genommen: Es wurde nicht gut genug aufgepasst, das ist schlecht, aber die ganze Sache ist einfach sehr ernst.

    In Russland gibt es in Bezug auf Terrorbekämpfung nur ein Ganz oder gar nicht – und es war die Regierung, die dies so absolut gesetzt hat. Wenn du nur lange und hartnäckig genug allen erklärst, dass du der Allerbeste bist, ständig auf Fehler der anderen zeigst und dann aber selbst eine Panne erlebst, dann wird die umso schärfer wahrgenommen.

    Allem Anschein nach ist man sich im Kreml sehr wohl klar darüber, wie ernst das Problem ist, nur weiß man nicht so recht, wie man damit umgehen soll. Wladimir Putin besuchte den Ort des Anschlags, obwohl man eine solche Reaktion des Präsidenten nicht erwartet hatte und es ihm vom Föderalen Dienst für Bewachung FSO untersagt worden war.

    Der Präsident hat spontan gehandelt, das wird durch die Videoaufnahmen klar, auf denen Angehörige des FSO den Bürgersteig von zufälligen Passanten räumen. So etwas hat Putin hat seit langem nicht unternommen.

    Der Kreml weiß nicht so recht, wie er mit dem Problem umgehen soll

    Ungeachtet der offensichtlichen Verwirrung von Kreml und Propaganda rechnet der aktive Teil der Gesellschaft mit neuen Repressionen seitens der Regierung, und mit einer Verschärfung des Internet- und Versammlungsrechts. Die unklare Reaktion des Kreml wird als Heimtücke interpretiert: Erst versteckt man sich, und dann geht man gegen die letzten bürgerlichen Freiheiten vor.

    Im Endeffekt sind in den Medien zum wiederholten Mal die radikalen regierungsfreundlichen Aktivisten und Propagandisten tonangebend: Das Portal Life beeilt sich zu vermelden, dass Andrej Makarewitsch, seit langem ein Feind der Patrioten, seine Konzerte nicht absagen werde, und dass man sich in der Ukraine über den Anschlag freue. Experten sprechen von Spuren, die auf westliche Geheimdienste hinweisen würden. Alexander Prochanow hat im Ersten Kanal einen Zusammenhang zwischen den Anschlägen und den oppositionellen Demonstrationen hergestellt. Und Ramsan Kadyrow ruft dazu auf, sich um den Führer der Nation zu scharen.

    Statt die Nation zu einen, gerät die Tragödie von Sankt Petersburg zum Anlass, wechselseitig Feinden und heimtückischen Verschwörungen nachzuspüren. Das macht einmal mehr die tiefe Spaltung der Gesellschaft sichtbar. Und mit dieser Spaltung geht das Regime in den Präsidentschaftswahlkampf.

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  • Debattenschau № 50: Terroranschlag in St. Petersburg

    Debattenschau № 50:  Terroranschlag in St. Petersburg

    Am 3. April, um 14.40 Uhr Ortszeit explodierte in der St. Petersburger Metro eine Bombe. In der Station Ploschtschad Wosstanija soll ein weiterer Sprengsatz gefunden worden sein, der entschärft wurde. Nach offiziellen Angaben kamen dabei 14 Menschen ums Leben, über 50 wurden verletzt.

    Unmittelbar nach der Tat häuften sich in Sozialen Netzwerken Mutmaßungen und Schuldzuweisungen – der IS stünde hinter dem Anschlag, Terroristen aus dem Kaukasus, oder gar das russische Regime selbst.

    REN TV veröffentlichte das Foto eines Verdächtigen im Kaftan und mit Bart – der Mann ging schließlich selbst zur Polizei, um klarzustellen, dass er an der Tat nicht beteiligt war.  

    Präsident Putin, der sich zu Gesprächen mit dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko in St. Petersburg aufhielt, wollte unmittelbar nach der Tat noch nicht von einem Terroranschlag sprechen und trat zunächst nicht an die Öffentlichkeit. Erst spätabends besuchte er den Tatort und legte Blumen nieder.

    Was man am Morgen nach der Katastrophe weiß, ist nicht viel. Die Generalstaatsanwaltschaft spricht von einem Terroranschlag. Laut Interfax stammt der mutmaßliche Attentäter ursprünglich aus Kirgisistan und habe Verbindungen zu radikalen Islamisten. Fontanka veröffentlichte den Namen des Verdächtigen, er soll Akbarshon Dshalilow heißen und aus dem kirgisischen Osch stammen. Die kirgisischen Behörden bestätigten unterdessen die Information, dass es sich dabei um den mutmaßlichen Attentäter handele.

    Kommersant veröffentlichte einen Bericht, in dem es heißt, die russischen Geheimdienste seien über den drohenden Anschlag informiert gewesen. Ein Syrienheimkehrer mit Verbindungen zum IS habe sie darüber informiert, sogar Nummern übergeben. Nach dem ersten Anschlag hätten die Geheimdienste die Telefone der Terroristen blockiert und so die zweite Explosion verhindert.

    In russischen Medien und Sozialen Netzwerken wird diskutiert: Wer steckt dahinter – der IS oder das Regime selbst? Haben die Geheimdienste versagt? Und welche innenpolitischen Folgen hat der Anschlag? 

    Vedomosti: Schrauben werden angezogen

    Für das liberale Wirtschaftsblatt Vedomosti ist ziemlich klar, wer versagt hat – und es fürchtet vor allem innenpolitische Folgen:

    [bilingbox]Terroranschläge gibt es in vielen Ländern, man kann sich vor ihnen heutzutage nicht schützen. […] In dieser Hinsicht sind wir anderen Ländern ähnlich. […] Der Unterschied ist jedoch, dass bei uns die Geheimdienste keinerlei öffentliche Verantwortung übernehmen. […] [Die Antiterror-Rhetorik] kann praktisch genutzt werden, um schon existierende Ansätze weiterzuentwickeln: die Unterdrückung zivilgesellschaftlicher Aktivität unter dem Deckmantel des Kampfs gegen Extremismus, die Stärkung der Geheimdienste, Verschärfung der Internetkontrolle.~~~Теракты происходят в разных странах, полностью защититься от них сегодня нельзя […]. В этом смысле мы похожи на другие страны, […]. Нашим отличием является отсутствие публичной ответственности спецслужб […]
    Теоретически в повестке сейчас нет таких радикальных инициатив, для поддержки и объяснения которых власти нужна была бы жесткая антитеррористическая риторика. Практически она может быть использована для развития уже имеющихся заделов – угнетения гражданской активности под предлогом борьбы с экстремизмом, усиления спецслужб, усложнения механизмов контроля за интернетом, но конкретное направление действий будет зависеть от хода расследования теракта в метро.[/bilingbox]

     

    erschienen am 04.04.2017

    Facebook Ivan Yakovina: Perfekt für Putin

    Ivan Yakovina ist Ex-Lenta.ru-Redakteur, der jetzt in der Ukraine lebt und arbeitet. Unmittelbar nach dem Anschlag postete er auf facebook

    [bilingbox]Die Explosion kam für Putin zu einem idealen Zeitpunkt. Gerade hatte das Volk wieder begonnen auf die Straße zu gehen – und voilà. Allen wird nun Angst eingejagt vor Anschlägen auf Demonstrationen. Ich würde mich nicht mal wundern, wenn man die Opposition für schuldig erklärt. Nach dem Motto, Nawalny hat das aus dem Gefängnis geplant. Die Schrauben werden sicher angezogen, hundertprozentig. Was für Schweine.~~~Взрыв произошел в идеальное для Путина время. Только народ стал выходить на улицы – и вуаля. Всех будут пугать взрывами на митингах.Вообще, не удивлюсь, если оппозицию назначат виновной. Типа, Навальный из тюрьмы спланировал.Гайки обязательно закрутят, это вообще стопроц.Какие же суки.[/bilingbox]

     

    erschienen am 03.04.2017

    Komsomolskaja Prawda: Wo ist das Beileid?

    KP-Korrespondent Alexander Koz wendet sich am Abend nach dem Anschlag gegen Spekulationen, dass es sich um eine Geheimdienstaktion handle. Und spart nicht mit Kritik an der Opposition:

    [bilingbox]

    „Zum Kotzen. Das erinnert an die Ereignisse in Moskau zu ‚Beginn des Zarenreichs‘“, giftet Michail Chodorkowski.

    Das kommt bei denen anstelle von Beileid. Hunderte Likes, Shares und Kommentare, nach derselben Masche: „Jetzt werden sie die Schrauben anziehen.“ „Ein Machwerk des FSB, die wollen besondere Vollmachten und mehr Geld und die Staatsmacht will weiter die Schrauben anziehen.“ „Nun geht es los … Jetzt werden Terroranschläge des FSB in allen Städten folgen, wo am 26. März protestiert wurde.“

    Ist euch klar, dass wir schon seit anderthalb Jahren im Wortsinne gegen den weltweiten Terrorismus Krieg führen? Wisst ihr, dass die russischsprachige „Diaspora“ im IS […] die größte unter den Gruppen ausländischer Islamisten ist? Werdet ihr euch entschuldigen, wenn der IS sich zu dieser Gräueltat bekennt? Ich bezweifle das.~~~«Погано. Напоминает события в Москве «начала царства», – язвит Михаил Ходорковский. «Вот и началось… Теперь теракты ФСБ начнет по всем городам, где были протесты 26 марта».

    Это у них вместо соболезнований. Сотни лайков, перепостов и комментариев, как под копирку:

    «Теперь под эту тему начнут гайки закручивать». «Дело рук ФСБ, хотят особых полномочий и больше денег, а власть дальше желает закручивать гайки». 
    […] Вы в курсе, что мы уже полтора года в прямом смысле слова воюем с мировым терроризмом? Вы знаете, что русскоязычная «диаспора» в ИГИЛе […] – самая многочисленная из иностранных группировок исламистов? Вы будете извиняться, когда «Исламское государство» возьмет ответственность за это зверство на себя? Сомневаюсь.[/bilingbox]

     

    erschienen am 03.04.2017

    Moskowski Komsomolez: Illusion von Sorge

    Das Massenblatt Moskowski Komsomolez zweifelt am Sicherheitskonzept:

    [bilingbox]Die Explosion in der Petersburger Metro beweist es: Sicherheit kann man nicht kaufen. […] In den vergangenen 17 Jahren wurde die Staatssicherheit zur nationalen Idee. Unglaubliche Geldmengen wurden da hineingepumpt – das Ergebnis ist zweifelhaft. […] Das ganze Land ist voll von Sicherheitspersonal. Es geht dabei nicht um private Wachdienste, die es auch in unzähliger Menge gibt, es geht um die staatlichen, die wir bezahlen.

    In Moskau stehen mittlerweile an jedem Metro-Eingang neben der Aufseherin im Glasbüdchen merkwürdige Personen in Westen mit der Aufschrift „Sicherheit“. Ihre Gesichter flößen einem absolute Überzeugung ein, dass sie keinerlei Sicherheit garantieren können. Außer ihnen findet sich in jeder Station noch eine Polizei-Einheit – sie schlendern auf und ab und unterhalten sich über dies und das. […]

    All diese Metalldetektoren und Wachmänner demonstrieren Sorge um unsere Sicherheit. Die Illusion von Sorge. Und diese Illusion ist am 3. April in der Petersburger Metro wieder einmal zerplatzt. ~~~Взрыв в метро Петербурга доказывает: безопасность купить нельзя. […] За последние 17 лет госбезопасность стала национальной идеей. Деньги в неё закачали невероятные, а результат сомнительный. […] Всю страну заполонили охранники. Речь не про частную охрану, которая тоже бесчисленна, речь про государственную и ведомственную, которую оплачиваем мы.
    На каждом входе в московское метро кроме дежурной в стеклянной будке теперь стоят непонятные люди в жилетках с надписью «Безопасность». Их лица внушают полную уверенность, что никакую безопасность они обеспечить не могут. Кроме них на каждой станции ещё и наряд полиции — бродят взад-вперёд, разговаривая о чём-то своём…
    […] Все эти рамки и охранники изображают заботу о нашей безопасности. Иллюзорную заботу. Эта иллюзия ещё раз взорвалась 3 апреля в метро Петербурга.[/bilingbox]

     

    erschienen am 03.04.2017

    Echo Moskvy Blog Denis Dragunsky: Es geht um alte Probleme 

    Denis Dragunsky, Politologe, Schriftsteller und Journalist, vermutet in seinem Blog auf Echo Moskvy die Regierung nicht als Drahtzieher – dennoch trage diese die Schuld:

    [bilingbox]Ich glaube nicht, dass es eine „Provokation seitens der Regierung“ ist. Einige Experten [meinen], dass die Regierung angeblich die Schrauben anziehen will und deswegen … Beruhigt euch. Wenn die Regierung einen härteren Kurs fahren möchte, dann kann sie das auch einfach so, als weitere Festigung von Demokratie und Rechtsordnung, mit voller Unterstützung des Parlaments und der Mehrheit der Wähler. […]

    Schuld an den Ereignissen ist jedoch selbstverständlich die russische Staatsmacht. Aber diese Schuld betrifft nicht den gestrigen Tag, ja nicht mal das letzte Vierteljahrhundert. Wer auch immer den Anschlag verübt hat – es geht hier um sehr alte Probleme, die im Endeffekt auf der ethnosozialen Konstruktion der Russischen Föderation beruhen, die wir von der Sowjetunion und dem Russischen Reich geerbt haben. […]

    Auf der Tagesordung steht eine vorsichtige, aber konsequente Strukturveränderung des russischen Föderalismus. […] Mir scheint, die Föderation muss unbedingt symmetrischer werden, ausgeglichener, einheitlich – selbstverständlich unter voller Berücksichtigung aller Interessengruppen der Bevölkerung Russlands.~~~Не думаю, что это «провокация со стороны власти». Некоторые эксперты, что якобы власть хочет потуже закрутить гайки, и вот, мол… Успокойтесь. Если власть захочет ужесточить режим, она это сможет сделать просто так, в порядке дальнейшего укрепления демократии, законности и правопорядка, с полной поддержкой парламента и большинства избирателей. […]
    […]
    Однако в происшедшем, разумеется, виновата российская власть. Но вина эта — не вчерашняя и даже не четвертьвековой давности. Кто бы ни был террористом — речь идет об очень старых проблемах, которые в конечном итоге упираются в этносоциальную конструкцию РФ, унаследованную от СССР и Российской Империи. […]
    На повестке дня — осторожное, но последовательное изменение структур российского федерализма. […] Мне кажется, необходимо делать федерацию более симметричной, более равновесной, единообразной — разумеется, при полном учете интересов всех заинтересованных групп российского населения. [/bilingbox]

     

    erschienen am 03.04.2017

    actualcomment.ru: Terror macht Wahlkampf

    Der Politikwissenschaftler Gleb Pawlowski glaubt nicht an das bevorstehende Anziehen der Schrauben. Auf der Analyse-Plattform Aktualnyje Kommentarii fragt er, wie der Kreml sonst reagieren kann:

    [bilingbox]Das Attentat von Piter ist ein Schlag auf den Kopf der Bevölkerung. Ein ernsthaftes Trauma. Doch solche Traumata verheilen bei uns recht schnell. Das Attentat wird auch dem Präsidentschaftswahlkampf einen Schlag verpassen, es wird ihn ins Primitive ziehen, ich hoffe nur für kurze Zeit. […]

    Es sind noch zwölf Monate bis zu den Wahlen. Die Wahlkampagne darf nicht auf dem Kampf gegen Terrorismus aufbauen, die Menschen wollen etwas Positives.~~~Питерский теракт нанесет удар по мозгам населения. Это – серьезная травма. Но травмы такие у нас довольно быстро зарастают. Теракт также нанесет удар по повестке президентских выборов и примитивизирует ее, надеюсь, на короткое время. […] 
    До выборов – двенадцать месяцев, и на борьбе с террористами ст[р]оить  повестку нельзя, люди хотят чего-то позитивного. [/bilingbox]

     

    erschienen am 03.04.2017

    dekoder-Redaktion

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    Es waren auffällig viele junge Leute: Teenager und Schüler. Manche hatten ihre Gesichter grün bemalt, manche hielten Schildchen mit Badeenten darauf in die Höhe. Und sie waren fast überall: nicht nur in Moskau und Sankt Petersburg, sondern auch in Jekaterinburg, in Nowosibirsk, in Wladiwostok und vielen weiteren Städten in den russischen Regionen. Beobachter sprechen von den größten Demonstrationen in Russland seit den Bolotnaja-Protesten 2011/2012.

    „Ich vermute, auch Putin und Nawalny sind verblüfft vom Ausmaß der Anti-Korruptions-Proteste“, twitterte Spiegel-Korrespondent Christian Esch am Sonntag aus Moskau. 

    Oppositionspolitiker Alexej Nawalny war es, der zu den Protesten aufgerufen hatte. Zuvor hatte sein Fonds für Korruputionsbekämpfung (FBK) einen Bericht über Premier Medwedew veröffentlicht. Das Video auf Youtube hat nach dreieinhalb Wochen derzeit über 12,5 Millionen Klicks. 

    Bei den Protesten am Sonntag griff die Polizei durch, zumal die Demonstrationen meist nicht von den örtlichen Behörden genehmigt worden waren: Allein in Moskau gab es laut Menschenrechtlern rund 900 Festnahmen, die Polizei spricht von etwa 500. Jugendliche filmten noch aus Polizeiwagen heraus, die Videos wurden über das Internet verbreitet.

    Auch Nawalny selbst war während der Proteste am Sonntag in Moskau verhaftet worden, wurde am heutigen Montag dem Richter vorgeführt und zu einer Strafe von 20.000 Rubel [rund 320 Euro] verurteilt. Außerdem muss er für 15 Tage in Haft.

    Auftrieb für die Proteste dürfte außerdem auch der Videomitschnitt einer Diskussion über Nawalny und andere politische Themen zwischen Schülern und Lehrerinnen in der Oblast Brjansk gegeben haben. Das Video, von Nawalnys Wahlkampfteam vergangene Woche im Netz verbreitet, wurde zum Hit, die selbstbewussten Schüler zu „Helden des russischen Internets“. 

    Ein ereignisreiches Wochenende, und nicht nur in Russland: In Belarus, wo seit Wochen protestiert wird, griff die Staatsmacht am Samstag durch. Hunderte wurden verhaftet, die Polizei ging teilweise sehr brutal gegen die Demonstrierenden vor. 

    Während russische Staatsmedien kaum berichten und die landesweiten Proteste darin weitgehend marginalisiert werden, kommentieren vor allem unabhängige Medien: Nawalny, der Retter Russlands? Frühlingserwachen der russischen Zivilgesellschaft? Was wird bleiben von den Protesten?

    Moskowski Komsomolez: Putin ist in der Pflicht

    Das Massenblatt Moskowski Komsomolez sieht Wladimir Putin nun vor großen Herausforderungen:

    [bilingbox]Der Präsident trägt in unserem Land die komplette Verantwortung. Er ist unmittelbar verpflichtet, seine Untergebenen bei der Stange zu halten. Am Vorabend der Wahlen vom 26. März 2000 erklärte WWP [Wladimir Wladimirowitsch Putin – dek] den Bürgern in einer TV-Sondersendung: „Wir wählen einen Präsidenten, der dazu verpflichtet ist, dem Land wieder zu Ansehen zu verhelfen.“ Die Anschuldigungen Nawalnys an die Adresse Medwedews, die bislang ohne befriedigende Antwort geblieben sind, haben zwar kaum das Ansehen unseres Landes beeinflusst, haben aber das Ansehen der russischen Machthaber eindeutig ruiniert. Mal sehen, ob Wladimir Putin das wieder aufbessern kann.~~~Президент в нашей стране отвечает за все. Держать в тонусе своих подчиненных – это прямая обязанность Владимира Владимировича Путина. Накануне выборов 26 марта 2000 года ВВП заявил в специальном телевизионном обращении к гражданам: “ Мы выбираем президента, чья обязанность – вернуть стране ее престиж”. Оставшиеся пока без содержательного ответа обвинения Навального в адрес Медведева вряд ли повлияли на престиж страны, но вот престиж российской власти они точно уронили. Посмотрим, сумеет ли Владимир Путин вновь его поднять.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    Kommersant: Der Kreml hat die Wahl  

    Auch Stanislaw Kutscher schaut in der Tageszeitung Kommersant auf die mögliche Reaktion des Kreml – und sieht es dabei als entscheidend an, wen mögliche Strafmaßnahmen treffen werden:

    [bilingbox]In der Bevölkerung herrscht ein klares Bedürfnis, gegen die Korruption anzukämpfen – das zu ignorieren ist unmöglich. Deswegen wäre meines Erachtens die klügste Reaktion seitens der Regierung, erneut eine demonstrative Antikorruptionskampagne loszutreten.

    Kurz gesagt, der Kreml hat die Wahl, und die lautet ganz einfach: Wer wandert ins Kittchen?
    ~~~Запрос общества на борьбу с коррупцией очевиден, игнорировать его невозможно, а потому самым умным ответом – на мой взгляд – была бы очередная демонстративная антикоррупционная кампания со стороны самой власти.

    Итак, если коротко, повторю, у Кремля есть выбор, и формулируется он просто: кого сажать?

    [/bilingbox]

     

    erschienen am 27.03.2017

    Republic: Ein Teufelskreis

    Für Oleg Kaschin dagegen scheint klar, dass auch die neue Generation der Protestierenden nichts ausrichten kann. Auf auf dem unabhängigen Portal Republic schreibt er:

    [bilingbox]Völlig verständlich ist der Enthusiasmus derer, die den vereinten Protest vor fünf Jahren genug beweint haben und jetzt plötzlich die neuen Gesichter auf der Twerskaja entdeckt haben. Ein Generationenwechsel dieser Art allerdings, bei der jede vorige Generation die nächste anschaut und hofft, ihr möge das gelingen, was den Älteren nicht gelang – das ist ein klassischer breit angelegter Entwicklungsweg, der beinahe garantiert, dass irgendwann zur Hälfte der nächsten Amtszeit Putins schon eine neue Jugend antreten wird. Und die, die heute auf der Twerskaja waren, werden ihnen zuschauen mit genau den Hoffnungen, mit denen die ehemalige Bolotnaja-Bewegung auf die heutigen Teenager schaut. Es mutet an wie ein Teufelskreis, was sich da gerade hinter neuen Gesichtern verbirgt, die aber sowieso nichts erreichen werden. […]

    Demokratien vermeiden ihr Zerbersten mithilfe von Machtwechseln. Der russische Autoritarismus (lässt er sich noch mit einem anderen vergleichen?) vermeidet das Zerbersten, indem er alle fünf Jahre die Teilnehmer auf Protestkundgebungen auswechselt.~~~Понятен энтузиазм тех, кто успел оплакать слитый протест пять лет назад и вдруг увидел новые лица на Тверской. Но смена поколений в таком формате, когда каждое предыдущее поколение смотрит на новое и надеется, что у него получится то, что не получилось у старших – это классический экстенсивный путь развития, почти гарантирующий, что где-нибудь к середине следующего путинского срока придет уже новая молодежь, а те, кто был сегодня на Тверской, будут смотреть уже на нее с той же надеждой, с которой бывшая Болотная смотрит на тинейджеров сегодня. Ощущение замкнутого круга прячется теперь за новыми лицами, но все равно никуда не девается.
    […] 
    Демократии избегают взрыва с помощью ротации власти. Российский авторитаризм (и с кем его здесь сравнить?) избегает взрыва с помощью ротации людей на протестных митингах раз в пятилетку.[/bilingbox]

     

    erschienen am 27.03.2017

    Colta: Korruption ist der Zündstoff

    Jegor Sennikow sieht auf colta.ru die Korruption als Zündstoff und gleichzeitig als Klammer, die viele im Land vereint:

    [bilingbox]Vergessen darf man allerdings auch nicht, dass das Thema Korruption als Zündstoff für die heutigen Proteste gedient hat, und dies gänzlich vom Zettel zu streichen wäre falsch. […]

    Zu irgendeinem Zeitpunkt wurde vielen klar, dass du zwar gleichzeitig die Spielregeln beachten und den vorgesehenen Abläufen folgen kannst, aber als Reaktion erntest du weder aufrichtiges Mitgefühl noch das geringste bisschen Gerechtigkeit, auch in der Rechtsprechung. Das alles ist so durchsichtig, dass es sowohl Schüler verstehen, die von ihren Lehrern bearbeitet werden, als auch Rentner, die das Fernsehen bearbeitet. […] 
    Ganz sicher ist jedoch, dass in Russland – und zwar nicht nur in Moskau und Petersburg – eine neue gesellschaftliche Bewegung herangereift ist.~~~Но нельзя забывать и то, что коррупционная тема послужила запалом сегодняшних протестов — и скидывать ее со счетов целиком совсем не стоит. […] В какой-то момент многим стало понятно, что ты можешь играть по правилам и следовать установленным процедурам, но в ответ ты не дождешься ни искреннего сочувствия, ни хотя бы условной справедливости и правосудия. Символ этот такой зримый, что понятен и школьникам, обрабатываемым своими учителями, и пенсионерам, обрабатываемым телевизором. […]
    [Но] о чем можно говорить сегодня совершенно точно, что в России — а не только в Москве или в Петербурге — вызрело какое-то новое общественное движение.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    Komsomolskaja Prawda: Vorsicht Falle!

    Die regierungsnahe Komsomolskaja Prawda warnt vor der Teilnahme an den ungenehmigten Protestaktionen:

    [bilingbox]Ganz offensichtlich war es kein friedlicher Spaziergänger, der den Polizisten geschlagen hat. Wahrscheinlich war es ein Aktivist aus dem Lager, das zu der illegalen Demonstration aufgerufen hatte. Der Täter konnte untertauchen, nun wird er anhand von Bildern der Überwachungskameras gesucht.

    Das ist die Lektion für alle, die auf nicht genehmigte Demos gehen: Leute, vielleicht steht ihr einfach nur da und seid ganz friedlich. Aber man kann euch leicht in eine Falle locken und in Krawalle hineinziehen.~~~И бил полицейского явно не мирно гуляющий прохожий. Наверняка это был активист из лагеря тех, кто собирал незаконный митинг. Он успел скрыться, его ищут по изображениям с камер наблюдения…
    И это урок тем, кто выходит на несанкционированные шествия — ребята, вы, может, и будет просто стоять, никого не трогая. Но вас могут легко подставить, втянуть в беспорядки.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    Echo Moskwy Blog: Nawalny fehlt ein Plan

    Kristina Potuptschik, bis 2012 Pressesprecherin der Jugendorganisation Naschi, galt für viele als die Personifizierung der sogenannten Kreml-Blogosphäre. Seit einigen Jahren hört man von ihr gemäßigte Töne. Auf ihrem Echo-Blog kann sie der oppositionellen Euphorie nur wenig abgewinnen:

    [bilingbox]Sehr viele Jugendliche waren da, Schüler von gestern und heute. Der wichtigste Ort war Piter und nicht Moskau. Das sind die Hauptunterschiede zu Bolotnaja. Außerdem gab es damals nach den Protesten dieses deutliche Empfinden: Es passiert etwas. Das fehlt diesmal. […] Nawalny steckt in einer misslichen Lage: Die Menschen haben sich getroffen, sind wieder auseinandergegangen, und dann? Nichts. Nawalny hat dem Protest nichts anzubieten, kein Programm und keinen Handlungsplan. Und das begreifen sogar die Schüler.~~~Очень много молодежи, вчерашних и нынешних школьников. Главным городом стал Питер, а не Москва. Эти же пункты — главные отличия от Болотки. А еще то, что тогда после протестов было четкое ощущение — что-то Происходит. Сейчас такого ощущения нет. […] И Навальный сейчас в ситуации крайне неудачной — ну погуляли, ну разошлись, а дальше что? А дальше — ничего. Предложить Навальный протесту ничего не может, программы и плана действий у него нет, и понимают это даже школьники.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    Facebook Alexander Morosow: Geschichte geschrieben

    Der renommierte Politologe Alexander Morosow dagegen zollt auf seinem facebook-Account dem umstrittenen Oppositionspolitiker Nawalny allen Respekt: 

    [bilingbox]

    Wie auch immer das alles ausgeht – die heutige Aktion in 80 Städten wird in die politische Geschichte Russlands eingehen. So viel  ist bereits klar. […]

    Drei Jahre schon publiziert Nawalny Anti-Korruptions-Materialien. Mit dem Beginn seiner spielerischen Wahlkampagne und nun dem Video über Dimon hat Nawalny ordentlich politisch Kapital geschlagen. Er ist ohne jegliche Übertreibung ein großer Zeitgenosse. Gehörigen Respekt verschaffen ihm sein Verstand, seine Beharrlichkeit und seine geniale Medienkompetenz.~~~Чем бы это все не закончилось, но сегодняшняя акция в 80 городах войдет в политическую историю РФ . Это уже ясно. […]
    Трехлетнюю историю антикоррупционных публикаций Навальный мощно капитализировал одним роликом про димона и началом своей игровой президентской кампании. Он без всякого преувеличения великий современник. Вызывают огромное уважение его ум, упорство и медиа-гениальность.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    Facebook Batscho Kortschilawa: Ukraine als Vorbild

    Batscho Kortschilawa ist ehemaliger Presseattaché der georgischen Botschaft in der Ukraine. Auf seinem facebook-Account kommentiert er die Proteste in Russland und Belarus, dabei schreibt er der Ukraine eine wichtige Rolle zu:

    [bilingbox]Werden die aktuellen Demonstrationen in Russland und Belarus irgendetwas verändern? In den nächsten Jahren nicht. Weil Derartiges dort regelmäßig passiert, aber ohne jedes Ergebnis.

    Wisst ihr, warum ich nicht daran glaube, dass sich in den beiden Ländern – besonders in Russland – aktuell irgendwas verändern wird? Ganz einfach: Weil dort bisher Positiv-Beispiele im großen Maßstab fehlen. Die baltischen Länder und Georgien können hier nicht als Vorbild dienen. Aber falls die Ukraine zu einem entwickelten, wirtschaftlich starken, stabilen und demokratischen europäischen Staat werden sollte, könnte sie nicht nur zum Vorbild, sondern auch zum Impuls für große Veränderungen werden. Und erst dann wird es zu einer Demontage der derzeitigen Regimes in Belarus und Russland kommen. Aber in der gegenwärtigen Lage braucht ihr nicht zu erwarten, dass sich dort irgendetwas verändert.

    Veränderungen in der gesamten Region werden von der Ukraine ausgehen und nicht anders. Und falls solche Veränderungen beginnen, dann wird die UKRAINE zum echten Anführer der Region. ~~~Изменят ли что то в России и Белорусии митинги которые проходят? В ближайшие годы нет. Потому что такое переодически там происходит, но не имеет никакого результата. 
    Знаете почему я не верю в то что сейчас в этих двух странах, а особенно в России может что-то изменится? Ответ прост – у них нет пока положительного примера в большом масштабе. Страны Балтии и Грузия для них примером служить не может. А вот пример Украины, если она сможет стать развитым, экономически сильным, стабильным и демократическим европейским государством, сможет послужить не только примером, но и импульсом к большим изменениям. И только тогда произойдёт демонтаж тех режимов, которые сейчас в Белорусии и России. 
    А пока так как есть, не ждите что там что-то изменится. Изменения во всем этом регионе начнутся с Украины, и никак по другому. А если такие изменения начнутся, то УКРАИНА станет реальным лидером региона.[/bilingbox]

     

    erschienen am 26.03.2017

    dekoder-Redaktion

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