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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Editorial: Alles Propaganda?!

    Editorial: Alles Propaganda?!

    dekoder übersetzt russische Medien, die nicht (oder zumindest nicht direkt) vom Staat kontrolliert werden. Aber gibt es überhaupt unabhängige Medien in Russland? Das werden wir immer wieder gefragt.
     
    Tatsächlich dominiert in Russland das Staatsfernsehen: In dem großen Land mit elf Zeitzonen und rund 144 Millionen Einwohnern erreicht es nahezu jeden Haushalt. Und Staatsfernsehen ist etwas anderes als öffentlich-rechtliches Fernsehen, es steht unter direkter Kontrolle und Einfluss des Kreml. (Hier kommentiert Blogger Alexej Kowaljow Putins Aussage „In Russland kontrolliert der Staat die Medien nicht“.)
     
    Aber dennoch gibt es unabhängigen Journalismus. Er spielt sich vor allem online ab, darf allerdings gewisse Grenzen und „Linien“ nicht überschreiten – dazu gehört auch, dass er sich nur in einer Nische bewegen und eine bestimmte Reichweite nicht übersteigen sollte.
    Die Trennlinie zwischen direkter und indirekter Kontrolle ist allerdings nicht immer scharf zu ziehen. So gibt es auch Selbstzensur in strukturell unabhängigen Medien und auch mal kritische Stimmen in staatsnahen Medien.
    Unser Dossier „Alles Propaganda?!“ bietet einen Überblick über die russische Medienlandschaft, über die ich auch am 14. Juli auf der JOE-Tagung an der Universität Köln diskutieren werde, gemeinsam mit Dr. Rolf Mützenich (SPD) und Sergei Tereshenkov (EU Russia Civil Society Forum). Mehr dazu, wie dekoder die Medien auswählt, die es übersetzt, finden Sie hier.
     
    So verstehen wir uns bei dekoder als Sprachrohr für unabhängige Stimmen aus Russland – aber nicht nur: In unseren Debattenschauen bilden wir auch Staatsmedien ab und sehen uns generell als ein Forum, das die Interferenzen im russischen Diskurs einem deutschsprachigen Publikum zugänglich macht. Denn wer dekoder liest, der weiß: Auch die unabhängigen Stimmen sprechen nicht immer aus einem Mund.

    Wie solche – im besten Sinne – alternativen Medien wie dekoder finanziert werden könnten, weshalb Journalismus nicht nur der Information dient, sondern ein Kulturgut ist und welche Rolle gemeinnütziges Geben im Journalismus spielen kann: Zu diesen Themen hat sich dekoder-Herausgeber Martin Krohs unlängst in einem Artikel mit dem Titel Medien, Geld und Gebescham Gedanken gemacht.

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  • Telegram: Privatsphäre first

    Telegram: Privatsphäre first

    Als Don Quijote des russischen Internet feiern ihn große Teile der Web-Community: Pawel Durow, Begründer des facebook-Pendants VKontakte und des Messenger-Dienstes Telegram. Vergangene Woche hat die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor verschiedene Informationen von Telegram eingefordert, um die Organisation in das sogenannte Rejestr (dt. Register) aufnehmen zu können. Andernfalls, so die Drohung, werde der Dienst in Russland gesperrt.

    Mit seinem „Unwillen die [Dechiffrier]-Schlüssel zur Verfügung zu stellen“ helfe Durow Terroristen dabei, weiter ungestraft Morde zu verüben, meinte Roskomnadsor-Chef Alexander Sharow später.

    Doch Durow weigerte sich. In mehreren Mitteilungen auf VKontakte nannte er seine Argumente, warf Roskomnadsor vor, gegen das in der Verfassung garantierte Briefgeheimnis zu verstoßen, den Terrorismus dagegen so nicht wirkungsvoll bekämpfen zu können. Der Streit vollzog sich vor Augen der Social-Media-Community und die feierte Durow für seine Hartnäckigkeit.

    Dann nannte Durow, ebenfalls auf VKontakte, die Bedingungen, unter denen er einer Aufnahme ins Rejestr zustimmen würde, vor allem: kein Zugriff auf die persönlichen Mitteilungen der Nutzer. Sämtliche geforderte Firmen-Angaben seien sowieso öffentlich einsehbar. Am gestrigen Mittwoch schließlich erklärte Roskomnadsor-Chef Sharow persönlich, dass die von Durow erwähnten Firmenangaben ausreichten, Telegram wird damit ins Rejestr aufgenommen.

    „Letzten Endes hat Roskomnadsor eine Möglichkeit gefunden, mit einer Niederlage aus den Verhandlungen zu gehen, ohne aber dabei das Gesicht zu verlieren“, kommentiert der Blogger Ilya Varlamov.

    Durow, der Don Quijote des Internet? Und wie sicher ist Telegram tatsächlich? Noch während der Streit zwischen Durow und Roskomnadsor schwelte, hat Republic-Korrespondent Dimitri Filonow einige Hintergrundinformationen zusammengetragen.

    „Das Recht auf Privatsphäre ist wesentlich wichtiger als unsere Angst vor möglichen negativen Dingen wie Terrorismus“ – Pawel Durow / Foto © TechCrunch/Wikipedia unter CC BY-SA 2.0
    „Das Recht auf Privatsphäre ist wesentlich wichtiger als unsere Angst vor möglichen negativen Dingen wie Terrorismus“ – Pawel Durow / Foto © TechCrunch/Wikipedia unter CC BY-SA 2.0

    Seine Premiere in der Rolle des Gründers von Telegram hatte Pawel Durow bei der TechCrunch-Konferenz im September 2015. Für die Präsentation seiner neuesten Schöpfung wählte Durow die Figur Neo aus Matrix: ganz in Schwarz mit Stehkragen. Einzig die Sonnenbrille fehlte, wäre aber auch zuviel gewesen. 
    „Egal, ob es schon viele Messenger-Dienste gibt – sie stinken alle ab. Und für mich und mein Team stinkt WhatsApp am meisten ab“, lautete Durows zweiter Satz bei seinem Auftritt. Sein geniales Marketingtalent, das ihm schon während der VKontakte-Zeit eine große Hilfe war, brach damals voll durch. Im Zuge der Enthüllungen durch Assange und Snowden setzte er auf Datenschutz: komplette Verschlüsselung, keinerlei Verhandlungen mit Behörden jeglicher Staaten.

    Durows „Nein“ ist alternativlos

    Knapp zwei Jahre später stellten die russischen Behörden Durow vor die Wahl: Entweder Kooperation oder Blockade von Telegram auf russischem Staatsgebiet. Warum ist Durows „Nein“ alternativlos, selbst wenn er es anders wollte?

    Telegram nahm seinen Ursprung in einem Algorithmus, den Pawel Durows Bruder Nikolaj erfunden hat. Die Brüder versicherten, dass nach diesem Algorithmus verschlüsselte Nachrichten nicht entschlüsselt werden können.

    Sie schrieben sogar einen Wettbewerb mit einem Preisgeld von 200.000 US-Dollar aus, für den- oder diejenige, dem dies gelänge. Später wurde die Aufgabe vereinfacht: Bereits für die Entschlüsselung eines Ausschnitts aus einem Nachrichtenverlauf wurde der Zugang zu einem Geldbeutel mit 200 Bitcoins [im russischen Original ist die Summe in 60.000 US-Dollar umgerechnet, der Kurs liegt derzeit allerdings bei 2.500 US-Dollar für 1 Bitcoin – dek] versprochen. Letzten Endes gelang es niemandem, diesen Preis zu gewinnen.

    Die Sicherheit der Kommunikation und das geschützte Übermitteln von Nachrichten wurden zum wichtigsten Marketinginstrument beim Vormarsch von Telegram. Die Ausgangslage dafür war denkbar günstig: Nach den Enthüllungen der weltweiten Internetüberwachung amerikanischer Sicherheitsbehörden durch Edward Snowden stand die ganze Welt Kopf.

    Bruch mit Russland

    Vom ersten Tag an wollte Durow Telegram auf dem globalen Markt etablieren. Öffentlich brach er mit Russland: Er bekam eine zweite Staatsbürgerschaft und gab bekannt, sein Heimatland zu verlassen und das Entwicklerteam ins Ausland auszulagern. Die Entwickler arbeiteten jedoch laut RBK und Sekret firmy weiterhin im St. Petersburger Singer-Haus am Code für Telegram, wo sich auch der Hauptsitz von VKontakte befindet.

    Der Unternehmer Durow ritt gekonnt auf der Welle im Kampf um die Unantastbarkeit der Privatsphäre: „Das Recht auf Privatsphäre ist wesentlich wichtiger als unsere Angst vor möglichen negativen Dingen wie Terrorismus“, erklärte er auf der besagten TechCrunch-Konferenz.

    Nach dem Terroranschlag in Paris kam die Frage auf, ob ISIS-Anhänger den Messenger Telegram anderen Diensten vorziehen würden. Gegenüber den russischen Behörden, die bereits 2015 einen Versuch unternommen hatten, Telegram zu verbieten, reagierte Durow harsch: „Ich schlage vor, Wörter zu verbieten. Es gibt Informationen, denen zufolge Terroristen sie zur Kommunikation nutzen.“

    Übrigens begann man seitdem, die Kanäle von ISIS-Sympathisanten auf Telegram ausfindig zu machen und zu sperren; die Administratoren des Dienstes erstatten in einem gesonderten Kanal täglich Bericht über die Zahl der gesperrten ISIS-Kanäle: Im Juni 2017 waren es bereits 5773.

    Ist Telegram tatsächlich so sicher?

    Aber ist Telegram tatsächlich so sicher, wie Durow beteuert, oder ist das einfach eine Marketingstrategie? Teils, teils: Sicher ist es zwar – aber mit Einschränkungen. 
    Im September 2016 traten Edward Snowden und Pawel Durow in einen Streit bezüglich der Sicherheit. Ursprünglich hatte sich Snowden für den Chat-Dienst Signal ausgesprochen. Müsste er sich zwischen Telegram und WhatsApp entscheiden, würde er aber Letzteren vorziehen. 
    Laut Snowden ist WhatsApp deshalb sicherer, weil in den Einstellungen bereits standardisiert eine End-to-end-Verschlüsselung festgelegt ist, also ein Algorithmus, der das Lesen der Nachrichten nur auf den Geräten des Senders und des Empfängers erlaubt. Bei Telegram hingegen werden auf diese Weise nur Nachrichten in geheimen Chats verschlüsselt, welche aber lange nicht von allen genutzt werden. 

    Darauf erwiderte Durow, dass WhatsApp obligatorisch alle Nachrichten der Nutzer ungeschützt auf seinen Servern in den USA speichere, zu denen die Landesregierung Zugang erhalten könne. „Und die End-to-end-Verschlüsselung kann WhatsApp jederzeit auf seinem Server abschalten“, so Durow. 
    Was die Verschlüsselung in Telegram betrifft, so geschehe das laut Durow tatsächlich nur in geheimen Chats. Das Fehlen einer Verschlüsselung in gewöhnlichen Chatgesprächen würde aber erlauben, die Nachrichten auf verschiedenen Geräten zu synchronisieren, was durchaus nutzerfreundlich sei. 
    Belege für ihre Behauptungen lieferten allerdings weder Snowden noch Durow.

    End-to-end-Verschlüsselung nur in Geheim-Chats

    Wie sieht die Sache in Wirklichkeit aus? Auf der Website von Telegram steht, dass End-to-end-Verschlüsselung nur in geheimen Chats angewendet wird: Die Krypto-Schlüssel liegen dann auf den jeweiligen Endgeräten der Nutzer. Wenn sie in gewöhnlichen Chats miteinander kommunizieren, werden die Daten in den Rechenzentren von Telegram verschlüsselt. „Die Schlüssel werden immer in verschiedenen Rechenzentren aufbewahrt, die sich wiederum in verschiedenen Gerichtsstandorten befinden. Deswegen sind lokale Ingenieure sogar im Falle eines physischen Eindringens nicht in der Lage, Zugang zu den Nutzerdaten zu bekommen“, heißt es auf der Telegram-Seite.

    Dienst für „Terroristen und Drogenhändler“?

    Bereits seit mehr als einem Monat führten die russischen Behörden eine systematische Informationsoffensive gegen Telegram, die sich in den letzten Tagen drastisch zugespitzt hatte [am gestrigen Mittwoch, 28. Juni 2017, haben sich Durow und Roskomnadsor-Chef Alexander Sharow geeinigt, s.o. – dek].

    Am Wochenende wurde auf den drei führenden Fernsehsendern Erster Kanal, Rossija und NTW über Telegram berichtet. Alle stimmten in den Refrain ein, Telegram würde von Terroristen und Drogenhändlern genutzt. „Telegram wird immer mehr zu einem Kommunikationssystem für Terroristen“, so der Moderator des Senders Rossija 1 Dimitri Kisseljow.

    Auch der FSB stimmte ins Mantra der Liebe der Terroristen zu Telegram ein. Die Behörde ließ verlauten, dass die Terroranschläge in Russland, einschließlich der Explosion in der Metro von St. Petersburg, über eben jenen Dienst organisiert worden seien.

    Terror nur als Vorwand?

    „Es ist traurig, wenn die Geheimdienste Russlands eine solche Tragödie zum Vorwand nehmen, um ihren Einfluss und die Kontrolle über die Bevölkerung zu verstärken“, so Durows Reaktion auf die Erklärung aus dem FSB. „Sollte Telegram gesperrt werden, wird das die Tätigkeit der Terroristen und Drogendealer in keinerlei Hinsicht erschweren. Dutzende anderer Instant-Messaging-Dienste mit End-to-end-Verschlüsselung (+VPN) werden ihnen weiterhin zur Verfügung stehen. In keinem Land der Welt sind alle vergleichbaren Chat- oder VPN-Dienste gesperrt. Wenn man den Terrorismus mit Hilfe von Sperren besiegen will, muss man schon das gesamte Internet sperren“, so Durow.

    Null Bite offengelegt

    Natürlich sei eine Übergabe der Krypto-Schlüssel völlig ausgeschlossen – eine andere Antwort war von Durow nicht zu erwarten. Das gesamte Konzept von Telegram wurde im Laufe mehrerer Jahre um die Sicherheit und Privatsphäre von Kommunikation aufgebaut. „Wir werden eure Informationen niemals weitergeben. Bis zum jetzigen Zeitpunkt haben wir Dritten, einschließlich Regierungen, null Bite Nutzerinformationen offengelegt“, heißt es im ersten Punkt der Datenschutzerklärung auf der Homepage von Telegram.

    Lässt sich Telegram jemals auf einen Handel mit den russischen Behörden ein, zerfällt das Image des Vorkämpfers für die Freiheit von Internetnutzern, das Durow Stein für Stein seit dem Start von Vkontakte aufgebaut hat.

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  • „Den Hass haben wir von den deutschen Soldaten gelernt“

    „Den Hass haben wir von den deutschen Soldaten gelernt“

    „Gerade noch hatte Stalin Ribbentrop geküsst“ und schon stürzte am 22. Juni 1941 der deutsche Überfall auf die Sowjetunion das ganze Land in einen kollektiven Schock. Völlig unvorbereitet stemmte sich die UdSSR gegen die deutsche Übermacht, die auf ihrem Vormarsch Tod und Verwüstung hinterließ. Die genauen Opferzahlen sind nicht ermittelbar, nicht zuletzt deshalb, weil sie seit dem Kriegsende ständig zum Politikum gemacht werden: So sprechen neueste Schätzungen aus Russland von rund 42 Millionen sowjetischen Opfern des von Deutschland ausgelösten Großen Vaterländischen Krieges.
    Ein Politikum ist die Kriegsgeschichte selbst: Der Kreml monopolisiere die Geschichtsdeutung, so die Kritik zahlreicher Sozialwissenschaftler. Tatsächlich können abweichende Interpretationen seit 2014 sogar strafrechtlich geahndet werden – als sogenannter „Ausdruck von Respektlosigkeit“.  

    In einer Zeit, in der das abweichende Erfahrungsgedächtnis zusehends einer staatlich-verordneten Erinnerungskultur weicht, werden die Stimmen der Zeitzeugen umso wertvoller. Zu den gewichtigsten gehört Daniil Granin. Mit 22 Jahren kam er an die Front, jung, beherzt und naiv. Schnell eignete er sich eine Kriegslogik an. Nach dem Krieg verarbeitete er seine Erlebnisse in zahlreichen Publikationen, die zum Teil auch ins Deutsche übersetzt wurden.

    Im Interview mit der Novaya Gazeta reflektiert und hinterfragt der mehrfach ausgezeichnete Schriftsteller nochmal das Vergangene sowie den heutigen Umgang damit. Und widerlegt vortrefflich das Klischee, dass „Zeitzeugen die größten Feinde des Historikers“ seien.

    „Die Erinnerung war viele Jahre lang unerträglich.“ – Daniil Granin / Foto © Jelena Lukjanowa/Novaya Gazeta
    „Die Erinnerung war viele Jahre lang unerträglich.“ – Daniil Granin / Foto © Jelena Lukjanowa/Novaya Gazeta

    Daniil Granin: In den ersten Jahren nach dem Sieg verbot uns die Zensur zu erzählen, wie wir 1941 in den Krieg gezogen sind und gekämpft haben. Und auch wir selber erzählten lieber vom späteren Vormarsch. Wie wir in Berlin einmarschierten. Aber wie es am Anfang war, welche kolossalen Verluste wir erlitten hatten, den Rückzug angetreten hatten, getürmt waren, Stadt um Stadt ausgeliefert hatten – darüber wollten wir nicht sprechen. 

    Das war die tragischste Zeit – der Anfang des Krieges. Als unser Militärtransport im Juli 1941 an die Front fuhr, sangen alle Lieder. Wir waren glücklich, dass wir ins Volksheer gekommen waren. Ich war vom Wehrdienst freigestellt worden und arbeitete in einem Konstruktionsbüro für Panzer. Meine Aufnahme ins Volksheer hatte ich nur mit Mühe durchgesetzt. Ich dachte: Wie kann das sein? Es ist Krieg! Und ich soll nicht teilnehmen?! Das ist ein unbeschreibliches Gefühl …

    Im Nachhinein kommt es einem irgendwie einfältig vor, dumm.

    Novaya Gazeta: War das der Glaube an sich selbst oder an das Land?

    Es war die allgemeine Stimmung, aber auch meine persönliche Überzeugung, dass wir bald siegreich zurückkehren würden. Wir hatten keine Ahnung vom Krieg. 

    Da war auch noch ein anderes Gefühl. Das hat uns in den ersten Kriegsmonaten zu schaffen gemacht: Gerade noch hatte Stalin Ribbentrop geküsst und mit ihm angestoßen. Hatte Deutschland „unseren Freund“ genannt. Wir zogen in den Krieg, ohne mit Zorn gerüstet zu sein. In uns wuchs ein Gefühl von Befremden und Kränkung: Wie konnte das sein? Sie hatten uns ohne jegliche Vorwarnung angegriffen.

    Nicht nur unsere Politiker waren den Deutschen auf den Leim gegangen, betrogen worden und in die Falle getappt, sondern auch wir: Wir waren im Wortsinn und moralisch unbewaffnet losgezogen.

    Wir hatten keine Ahnung vom Krieg

    Als der erste deutsche Pilot bei uns in Gefangenschaft geraten war, sprach der mit uns von oben herab, wie mit einer niederen Rasse, mit der Überlegenheit eines Ariers und Militärs. Er kündigte an: „Ihr seid dem Tode geweiht.“
    Wir bemühten uns, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen: Thälmann, Karl Liebknecht, „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“. Das war ja überall präsent, in allen Zeitungen. Es dauerte tatsächlich ein paar Monate, bis wir genug Hass und Zorn beisammen hatten. Bis wir jedenfalls die freundschaftlichen Gefühle und Gesinnungen losgeworden waren.

    Woher nahmen Sie den Hass?

    Von den deutschen Soldaten. Die hinterließen nach ihren Angriffen niedergebrannte Dörfer, zerstörte Städte, Galgen. Aber die hauptsächliche Frage war: Warum? Weswegen? Welcher Kriegsparole folgten sie? Welchen Grund hatten sie?

    Dieser Krieg war ja nicht dazu da, irgendwelche Gebiete zu erobern. Nein. Sie drangen Richtung Moskau vor, um Russland zu zerstören. Leningrad zu vernichten. Hitler sagte wörtlich: „dem Erdboden gleichzumachen“.

    Die hauptsächliche Frage war: Warum? Weswegen? Welcher Kriegsparole folgten sie? Welchen Grund hatten sie?

    Im ersten Kriegsjahr war vieles völlig unbegreiflich. Die hatten keine Gewehre für uns – es gab nicht genug. Ich bekam kein Gewehr. Es wurden Flaschen mit einem Zündgemisch verteilt. Aber wo waren unsere Waffen? Wo unsere Flugzeuge? Warum bombardierten uns die Deutschen, und wir hatten überhaupt nichts zur Verteidigung auf unserem Frontabschnitt, zum Beispiel Jagdflugzeuge?

    Völlig unerwartet trat plötzlich offen zu Tage, wie wenig unsere Armee auf den Krieg vorbereitet war. Es gab nicht mal topografische Karten. Das war entmutigend. Es hatte doch dauernd Militärparaden gegeben. Ständig hatten wir Heldenlieder über Woroschilow und Budjonny gesungen: „Keiner kann ihn uns nehmen, den zurückgelegten Weg, Rote Division, voran, voran, voran …

    Die Enttäuschung darüber, dass wir nicht kampfbereit waren, wuchs. Auch darüber, dass die Deutschen Stalin um den Finger gewickelt hatten. Sie hatten alles vorbereitet, wir nichts. Wir rannten vor ihnen weg. Das ist ein demütigendes Gefühl. Ein panisches Gefühl.

    Die hatten keine Gewehre für uns – es gab nicht genug. Also wurden Flaschen mit einem Zündgemisch verteilt

    Es gibt eine Seite des Krieges, die sich erst Jahre später erschließt, und die den Historikern kaum zugänglich ist. Den Krieg, den ich erlebt habe, findet man nicht in Dokumenten. Auch was konkrete Ereignisse angeht, ist da nicht viel. Aber diese Seite trägt zum Begreifen eines Wunders bei:

    Es ist die Geschichte der Brüderlichkeit unter Soldaten. Wie sich die Stimmung der Soldaten veränderte. Es ist wie ein EKG, das über vier Jahre abgeleitet wird und das sich dauernd ändert: zuerst Prahlerei, dann Hoffnung, dann Enttäuschung, Verzweiflung, ein Gefühl der Katastrophe. Dann – irgendeine Erfahrung und wieder ein Bruch: Dir wird klar, dass man doch auch einen Deutschen töten kann. Dieses EKG lässt sich sehr schwer aufzeichnen, aber genau das hat den Krieg beeinflusst und letztlich entschieden.         

    Es gab dermaßen hoffnungslose Situationen, dass die Erinnerung daran viele Jahre lang unerträglich war.

    Eine sehr große Rolle spielte für uns, dass die Deutschen es nicht schafften, Moskau einzunehmen, in Moskau einzumarschieren, sondern im September 1941 bereits bei Leningrad Halt machten. Außerdem machten sie dort nicht nur Halt, sondern waren gezwungen, den Rückzug anzutreten. Das war der erste spürbare Erfolg, und der markierte einen psychologischen Umschwung.

    Es gab dermaßen hoffnungslose Situationen, dass die Erinnerung daran viele Jahre lang unerträglich war

    Kriegsgeschichte ist nicht nur Geschichte der Schlachten und Verluste, sondern auch die Geschichte darüber, wie sich die Psychologie der Soldaten veränderte. Dieser Teil der Kriegsgeschichte ist nur dürftig abgebildet, sie ist den Historikern nicht zugänglich, es sind nur Erinnerungen von Soldaten und Generälen.

    Niemand konnte voraussagen, dass der Krieg vier Jahre dauern würde – weder die Kriegsherren, noch die Offiziere, noch die einfachen Soldaten. Hätte man mir während meiner Bemühungen um die Aufnahme in die Armee gesagt: „Du kommst, wenn du denn überlebst, in vier Jahren zurück“, hätte ich das nicht geglaubt oder mich nicht als Freiwilliger gemeldet.

    In der Literatur der Nachkriegszeit davon zu erzählen, genierte man sich. Auch die Zensur hielt diese Enttäuschung unter Verschluss. Dieser Teil der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges wurde fast nicht ans Licht gebracht. Darüber durfte nicht gesprochen werden.

    Dass die Zensur viele Jahre lang nicht erlaubte, die Wahrheit zu sagen, dass sie unrühmliche Momente vertuschte – unsere Niederlagen, den Mangel an Waffen – war es richtig, den Patriotismus der Menschen auf diese Art zu steigern? Wer die wahren Umstände nicht kannte, hielt Stalin wahrscheinlich nach wie vor für einen genialen Feldherren.

    Das ist eine schwierige Frage. Zum Beispiel die Heldentat der Panfilowzy … Jetzt weiß ich, dass sie aufgebauscht wurde, doch damals war das hilfreich. Da gab es auch die Losung: „Mit der Brust werfen wir uns dem Feind entgegen“. Mit der Brust wirfst du dich gar niemandem entgegen. Aber ich weiß noch, dass sie halfen, sowohl die Panfilowzy genauso wie Matrossow belebten den Kampfgeist.

    Es gab auch gewisse Großtaten, die moralisch Kraft gaben, von denen man aber gar nichts Genaueres wissen wollte: Wie real war das, wie viel Prozent Wahrheit steckten drin? Solche Dinge waren im Krieg von großer Bedeutung. Deswegen ist die Einstellung dazu äußerst komplex.

    Es gab gewisse Großtaten, die moralisch Kraft gaben, von denen man aber gar nichts Genaueres wissen wollte

    Es gab auch Momente, in denen uns sofort klar war: Das ist reinste Propaganda.

    Stalin hielt gleich zu Beginn des Krieges, 1941, eine Rede und sprach davon, wie viele Millionen Deutsche wir vernichtet, getötet hätten. Er nannte eine so hohe Zahl, dass wir uns fragten: Warum stehen sie dann noch vor uns?!  

    Was, wenn man Ihnen die ganze Wahrheit gesagt hätte, dass wir nicht vorbereitet waren, keine Waffen hatten, dass die Mittel, die Kraft nicht ausreichen würde?

    Das wäre sehr schwer gewesen. Was konnten uns die Kommissare schon sagen? Nicht nur die Hoffnung musste genährt werden, auch der Glaube an weitere Erfolge, und die fehlten die ganze Zeit. Monat um Monat erlebten wir Rückzug, Panik.

    Mein Krieg überlagerte sich noch mit der Tragödie der Blockade. An der Leningrader Front hatten wir zusätzlich das Leid der Zivilbevölkerung vor Augen. An anderen Fronten war das weniger spürbar. Schlimm war es natürlich auch, aber Leningrad bekam es am heftigsten ab.

    Stimmt es, dass die Isaakskathedrale und einige andere Petersburger Denkmäler und Gebäude während des Krieges für die Stadtbewohner Symbole waren, die ihnen Kraft gaben?

    Ja, das stimmt. Wir sahen durch Feldstecher Brände in der Stadt, Rauchsäulen, die nach den Bombardements der Faschisten aufstiegen, und uns zerriss es das Herz. Weil da nicht nur eine Stadt brannte, da brannte der Stolz Russlands. Die Stadt, die man mit Peter dem Großen verband, mit den Dekabristen, mit Puschkin, Lermontow, Gogol, Dostojewski … Sie alle waren an der Verteidigung Leningrads beteiligt.

    War die Stadt Leningrad in diesem Krieg wichtiger als Moskau?

    Für Hitler noch früher als für uns. Er sah die Wurzeln des Bolschewismus in Leningrad und machte es im Plan Barbarossa zum wichtigsten Angriffsziel. Der Führer sah das so: Sobald Leningrad erobert ist, fällt der Widerstand.

    Es gab in der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges zwei bedeutende Brennpunkte des Widerstands: Stalingrad und Leningrad. Stalingrad war militärischer Widerstand, Leningrad – mentaler: das Durchhaltevermögen sowohl der Armee als auch der Bevölkerung.

    Damals wussten wir das nicht, aber nach dem Krieg wurde bekannt, dass Leningrad die Soldaten an anderen Fronten des Landes beflügelt hatte. Zu begreifen, dass die Menschen bis zum Tod standhaft blieben, trotz des Hungers, den sie überspielten, trotz Entbehrungen und Verlusten. 900 Tage! Keine andere Stadt hat in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs einer so langen Einkesselung standgehalten! Solche Dinge halfen natürlich.

    Kürzlich wurden neue Verlustzahlen der UdSSR im Zweiten Weltkrieg genannt – 41.979.000 Menschen. Was denken Sie darüber?

    Diese Zahl erschüttert mich. Die Geschichte dieser Zahl ist ebenfalls typisch. Wir haben Angst davor. Hatten zumindest bisher Angst.

    Begonnen hat die Zählung mit sieben Millionen und stieg dann bis 42. Schrittweise. Jahrzehnt um Jahrzehnt. Eine Zahl unter Stalin, bei Chruschtschow die nächste, bei Breshnew die dritte, bei Jelzin die vierte. Jeder neue Regierungschef hat mal mehr, mal weniger hinzugefügt. Und plötzlich steht diese entsetzliche Zahl vor uns. Aber auch das ist nicht alles.

    42 Millionen Tote – diese Zahl erschüttert mich. Die Geschichte dieser Zahl ist ebenfalls typisch. Wir haben Angst davor

    Was sind 42 Millionen? Das ist keine Zahl. Für die, die am Leben geblieben sind, ist es Einsamkeit. Ich habe niemanden, mit dem ich den Tag des Sieges feiern kann. Von meinen Freunden aus Schul- und Studentenzeit, von meinen Kriegskameraden ist mir keiner geblieben. Nicht nur kraft der Natur, sondern auch, weil sie im Krieg umgekommen sind. Damit ist ein Teil meiner Jugend gefallen, meines Lebens, er ist zusammen mit ihnen verschwunden.

    Es gab einen Umstand, der uns alle sehr traf. Stalin hat niemals (vielleicht irgendwann mal in privaten Gesprächen) einen Trinkspruch zum Gedenken der Todesopfer ausgebracht. Er wusste doch, dass das nicht nur sieben Millionen waren. Und beim Empfang nach dem Sieg hat er nichts über sie gesagt. Sie mit keinem Wort erwähnt. Kein Glas auf sie erhoben. Das ist unverzeihlich.  

    Was ist für Sie heute am schmerzhaftesten, wenn Sie an den Krieg denken?

    Man hat uns den Sieg geraubt. Ich habe mich einmal mit Helmut Schmidt unterhalten. Ich fragte ihn: „Warum habt ihr den Krieg verloren?“ Er antwortete sofort (er hatte eine durchdachte Antwort parat, er ist ein guter Politiker, ein professioneller Historiker, hat selbst gekämpft, hat alles gesehen, weiß alles): „Weil die USA in den Krieg eingetreten sind“.

    Dabei ist Amerika ganz spät eingetreten.

    Man hat uns den Sieg geraubt. Gegen Amerika zu verlieren war um einiges ehrenhafter, als gegen die bettelarme, bloßfüßige UdSSR. Und die amerikanische Propaganda griff das auf

    Ich konnte nicht verstehen, woher diese Version stammte. Und dann wurde mir klar: Gegen Amerika zu verlieren war um einiges ehrenvoller als gegen die bettelarme, bloßfüßige UdSSR. Und die amerikanische Propaganda griff das auf. Und jetzt ist das im Westen überall durchgedrungen, bis hinein in den Geschichtsunterricht. Das ist ungerecht, anstandslos. Die Menschheit ist uns für diesen Sieg verpflichtet, für die Zerschlagung des Faschismus.

    Aber es stellt sich noch eine Frage: „Warum haben wir gewonnen?“ Für mich ist auch da vieles unklar.

    Einmal wurde ich gebeten, mit Schülern über den Krieg zu sprechen. Plötzlich steht ein etwa achtjähriges Mädchen auf und fragt: „Daniil Alexandrowitsch, wie viele Menschen haben Sie getötet?“ Da verstand ich, dass sie diesen Krieg heute völlig anders sehen. Dass es auch diese Seite des Krieges gibt, wo gefragt wird: „Wie viele Menschen haben Sie getötet?“ Nicht Deutsche, nicht Feinde, sondern Menschen. Verstehst du? Wie viele Menschen haben Sie getötet? Ich antwortete: „Ich habe Feinde getötet.“

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  • Debattenschau № 52: Proteste vom 12. Juni

    Debattenschau № 52: Proteste vom 12. Juni

    Der 12. Juni ist der Tag Russlands. Ausgerechnet für diesen Feiertag rief der Oppositionelle Alexej Nawalny erneut zu landesweiten Anti-Korruptions-Protesten auf.

    Tausende Menschen in mehr als 140 Städten Russlands folgten seinem Ruf – Ende März waren es noch unter 100 Städte.

    Bei den Protesten wurde nicht nur gegen Korruption protestiert, auch Slogans wie „Russland ohne Putin“ oder „Putin ist ein Dieb“ waren zu hören. Laut der Menschenrechtsorganisation OWD-Info gab es allein in Moskau rund 700 Festnahmen.

    Auf dem Sankt Petersburger Marsfeld ist für den Tag keine Kundgebung gestattet: Die Polizei wendet sich an die Umstehenden – in ausgesucht freundlichem Ton / Quelle: @ars_ves/Twitter

    Nawalny selbst wurde noch vor Beginn der Aktion in Moskau in seinem Hausflur verhaftet, inzwischen wurde er zu einer Haftstrafe von 30 Tagen verurteilt. Zuvor hatte er die Moskauer Protestaktion von einem abgelegenen Büroviertel ins Zentrum verlegt: Die Demonstrierenden sollten vom zentralen Puschkinplatz aus die Twerskaja-Straße entlangspazieren. Dies war nicht genehmigt worden, an dem Feiertag spielten dort einzelne Gruppen historische Szenen nach.

    Bereits am 26. März waren tausende Menschen dem Aufruf Nawalnys gefolgt, gegen Korruption zu protestieren. In einem Video hatte der Oppositionspolitiker unter anderem Premier Dimitri Medwedew der Korruption beschuldigt, die er über ein undurchsichtiges Netz von Stiftungen betreibe. Auch Milliardär Alischer Usmanow sei in die undurchsichtigen Geschäfte verwickelt.

    Der anschließende Prozess Usmanows gegen Nawalny und auch öffentliche Diffamierungsversuche (wie ein Video, in dem er mit Hitler gleichgesetzt wird) scheinen dem Oppositionspolitiker, der Putin bei den Präsidentschaftswahlen im März 2018 herausfordern will, nichts anzuhaben.
     
    Die Proteste vom 12. Juni: Zeichen des zunehmenden Bürger-Unmuts? Schreibt Nawalny die Wahlkampf-Gesetze neu? Oder ist es nur mehr Machtkampf eines Einzelnen, während die Protestbewegung an Kraft verliert?

    dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte in russischen Medien.

    Rossijskaja Gaseta: Inszenierung für den Westen

    Die offizielle Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta hält die Proteste für inszeniert:

    [bilingbox]Man fragt sich: Wofür hat die Opposition das alles gemacht? Doch nur, um den westlichen Fernsehanstalten Bilder zu liefern, die dann sagen können: In Moskau gibt es eine Opposition zum Präsidenten Putin! Dafür hat die Opposition, die ein Tausendstel aller Moskauer ausmacht, versucht, die ganze Twerskaja Uliza in einen Drehort zu verwandeln und die Menschen, die den Tag Russlands feierten, als ihre Anhänger darzustellen. Sie haben bewusst die Rechtsschutzorgane provoziert und sie dazu genötigt, harte Maßnahmen zu ergreifen …

    Dank gemeinsamer Anstrengung von Moskauer Behörden, Innenministerium, Nationalgarde und freiwilligen Helfern, die für Ordnung in der Hauptstadt sorgten, ist es ihnen dennoch nicht gelungen, den Moskauern und den Gästen der Hauptstadt die Laune zu verderben.~~~Спрашивается, ради чего оппозиция все это делала? Да только для того, чтобы создать картинку для западных телекомпаний, которые смогут сказать: в Москве у президента Путина существует оппозиция! Вот для этого оппозиция в лице тысячной доли  москвичей и попыталась превратить всю улицу Тверскую в съемочную площадку, а людей, праздновавших День России, представить как своих сторонников. Они специально провоцировали представителей правоохранительных органов, вынуждая их на принятие самых жестких мер…
    И все- таки в целом испортить настроение москвичам и гостям столицы им не удалось благодаря общим усилиям столичных властей, МВД, Росгвардии и народных дружинников, обеспечивавших охрану общественного порядка в столице.[/bilingbox]

     

    erschienen am 12.06.2017

    Echo Moskwy Blog: Regierung sucht den Konflikt

    Nawalny hatte unter anderem beklagt, dass ihm in Moskau keiner das technische Equipment für seine Aktion verleihen wollte, auf Druck der Regierung. Anton Orech kommentiert in seinem Blog auf Echo Moskwy

    [bilingbox]Hätten sie Nawalny doch die Möglichkeit gegeben, Leute zu versammeln und eine Kundgebung abzuhalten: mit Bildschirmen, Tonanlage und Bühne, ohne Spezialeinheiten und Gefängnistransporter – nichts wäre passiert! Kein Lärm in der Welt, keine Festnahmen, keine Prügelopfer. Und so viele Menschen wären dann übrigens auch nicht gekommen.

    Den Bürgern ist ihr Schaschlik wichtiger als alles andere auf der Welt. Aber die Regierung hat es von Anfang an auf einen Konflikt angelegt. Formal wurde alles erlaubt, aber hinter den Kulissen alles dafür getan, dass es nicht funktionieren konnte.

    Die Regierung braucht Zusammenstöße und Tumult viel mehr als Nawalny: um allen Angst einzujagen, die sich in nächster Zeit Straßenaktionen anschließen wollen, um unter dem Vorwand von Chaos alles zu verbieten, was bislang noch nicht verboten ist.~~~Ну, дали бы спокойно Навальному собрать людей, провести митинг — с экранами, сценой и звуком, без ОМОНа и автозаков — и ничего бы не было! Ни шума на весь мир, ни задержанных, ни побитых. И народу, к слову, пришло бы не так много.
    Гражданам шашлыки дороже всего на свете. Но власти с самого начала закладывались на конфликт. Потому формально все разрешали, а за кулисами делали все, чтобы ничего не получилось. Столкновения и беспорядки нужны властям гораздо больше, чем Навальному. Чтобы запугать всех, кто впредь собирается ходить на уличные акции, чтобы под предлогом беспорядков запретить все, что еще не успели запретить.[/bilingbox]

     

    erschienen am 12.06.2017

    Republic: Wahlkampf der Post-TV-Epoche

    Oleg Kaschin diagnostiziert Russland auf dem unabhängigen Portal republic.ru eine ganz neue Art von Präsidentschaftswahlkampf:

    [bilingbox]In gewissem Sinne ist Alexej Nawalny heute der wahre Chef des offiziell noch nicht aufgestellten Wahlkampfstabs von Wladimir Putin […]. Er bestimmt den Terminplan der Wahlkampfveranstaltungen, der Regierung bleibt nur, ihm zu folgen, indem sie Reenactment-Feste veranstaltet, die Jugendpolitik ummodelt oder prophylaktische Diskussionen in Schulen und Hochschulen durchführt.  […]
     
    Derartige Präsidentschaftswahlen hat es in Russland noch nie gegeben. Weder 1996 noch 1999 und erst recht nicht unter Putin fand ein Wahlkampf, wie dramatisch er auch gewesen sein mag, außerhalb der Fernsehwelt statt. Der erste Präsidentschaftswahlkampf der Post-TV-Epoche ist eröffnet und wird angeführt von einem Herausforderer aus dem Internet.
    ~~~В каком-то смысле Алексей Навальный сегодня – реальный начальник еще формально не созданного предвыборного штаба Владимира Путина […]. Он составляет график предвыборных мероприятий, и власти остается только следовать за ним, устраивая реконструкторские фестивали, переформатируя молодежную политику или проводя профилактические беседы в школах и вузах. […]
     
    Таких президентских выборов в России еще не было. И в 1996 году, и в 1999-м, и тем более при Путине каждая предвыборная кампания, какой бы драматичной она ни была, не выходила за пределы мира, существующего в телевизоре. Первую президентскую кампанию посттелевизионной эпохи открыл и ведет оппозиционер из интернета.[/bilingbox]

     

    erschienen am 13.06.2017

    Vedomosti: Neue Protestwelle

    Die Redaktion von Vedomosti zieht Parallelen zu den Protesten von 2011/12 – und sieht doch entscheidende Unterschiede:

    [bilingbox]Nach den Ereignissen vom 12. Juni kann man nun von einer neuen Welle politischer Proteste sprechen. Und diese Welle unterscheidet sich von der Welle der Jahre 2011/12. Der Protest in Russland ist nicht erschöpft, er hat sich politisiert und personalisiert. […]

    Damals war es eine Bewegung der Mittelschicht in den großen Städten, die gehofft hat, den politischen Trend mittels legaler Massenaktionen zu ändern. […] Die heutigen Demonstranten sind bunter gemischt, was Besitz und Alter angeht, sie machen sich keine Illusionen über einen Dialog mit den Machthabern. […] Die, die heute auf die Straße gehen, stehen in Opposition zur Regierung und fordern einen Machtwechsel.~~~После событий 12 июня, пожалуй, уже можно говорить о новой волне политических протестов, и эта волна отличается от волны 2011–2012 гг. Протест в России не исчерпан, он политизировался и персонализировался. […] 
    Тогда это было движение среднего класса больших городов, который наде­ялся изменить политические тренды массовыми легальными акциями. […] Нынешние протестующие более пестры по имущественному положению и возрасту, у них нет иллюзий о возможности диалога с властью. […] Те, кто выходит сейчас, внутренне уже противостоят власти и требуют ее замены.[/bilingbox]

     

    erschienen am 12.06.2017

    Novaya Gazeta: Kampf eines Einzelnen

    Kirill Martynow von der unabhängigen Novaya Gazeta dagegen sieht weniger eine erstarkte Protestbewegung, als den Machtkampf eines Einzelnen:

    [bilingbox]Eine Protestbewegung gibt es nicht mehr, es gibt nur noch den Kampf von Alexej Nawalny um die Macht. Daran ist selbstverständlich nichts Schlimmes. Politik, vor der man bei uns in Russland in den letzten Jahren solche Angst hat, bedeutet ja letztendlich einen Kampf um die Macht. […]

    Nach dem 26. März war klar, dass es eine zweite erfolgreiche Aktion braucht, um den Erfolg der neuen oppositionellen Demonstrationsbewegung zu festigen. Der 12. Juni kam, wenn auch vielleicht nicht im von den Initiatoren gewünschten Maßstab: In dutzenden Städten fanden große Kundgebungen statt.

    Aber bisher gilt es im Spiel Nawalny gegen die Regierung ein Unentschieden zu konstatieren. Zwar hatte der Оppositionelle genug Ressourcen, um mit einem unerwarteten Zug in Moskau den Erfolg vom März auszubauen. Doch die Aktionen auf ein neues Niveau zu heben, das gelang ihm bisher nicht. ~~~Протестного движения больше нет, есть борьба Алексея Навального за власть. В этом, разумеется, нет ничего дурного.
     
    Политика, которой у нас в России так страшатся в последние годы, и представляет собой борьбу за власть.  
    […]
    После 26 марта было ясно, что для закрепления успеха новой оппозиционной уличной повестки нужна вторая успешная акция. 12 июня она состоялась, пусть и не в желаемых ее устроителями масштабах: крупные митинги прошли в десятках российских городов.
    Но пока в игре Навального против власти стоит зафиксировать ничью. Хотя у оппозиционера хватило ресурсов для того, чтобы предложить в Москве неожиданный ход, некоторым образом развить успех, достигнутый в марте, но вывести акции на новый уровень пока не удалось.[/bilingbox]

     

    erschienen am 12.06.2017

    Izvestia: Anführer von Internet-Lemmingen

    Die staatsnahe Izvestia kreidet Nawalny vor allem an, dass er den Ort der Protestaktion kurzfristig verlegte. Und vermutet hinter seiner vorzeitigen Verhaftung persönliches Kalkül: 

    [bilingbox] Es ist schon sehr bezeichnend: Letztes Mal rief er Schüler zu einer nichtgenehmigten Kundgebung im Stadtzentrum auf und setzte sie damit der Gefahr einer Bestrafung durch die Obrigkeit aus. Nun hat der er Anführer des virtuellen Protests wieder vor der Veranstaltung schnell seine Verhaftung provoziert. Damals hat er sein Vergehen bei der Polizei abgesessen, eine kleine Strafe bezahlt und ist dann ruhig nach Hause gegangen, zum Abendessen.

    Nach demselben Schema wurde er heute laut seiner Frau noch vor der von ihm provozierten unrechtmäßigen Aktion auf der Twerskaja im Treppenhaus verhaftet. Er hatte einfach keine Lust, an einer unrechtmäßigen Aktion teilzunehmen und im Gefängnistransporter zu landen. Dorthin hat er seine Internet-Lemminge geschickt. Sollen sie doch in den Gefängnistransportern sitzen und ihre Eltern dann später die Strafen zahlen.~~~Весьма показательно — как и в прошлый раз, призвав школьников на центральную улицу на незаконный несанкционированный митинг, подставляя их под санкции властей, лидер виртуального протеста по-быстрому спровоцировал свое задержание еще до мероприятия. Тогда он отсиделся в отделении полиции, заплатил мелкий штраф и спокойно пошел домой ужинать. 
    Сегодня по той же схеме еще до начала провоцируемой незаконной акции на Тверской Навальный, со слов его жены, был задержан в подъезде. Просто ему на незаконную акцию в полицейский автозак идти неохота. Он туда своих сетевых хомяков отправил. Пусть они по автозакам сидят и потом их родители штрафы платят.[/bilingbox]

     

    erschienen am 12.06.2017

    Radio Echo Moskwy: Die gefletschten Zähne der Macht

    Auch Jelena Lukjanowa, Rechtsprofessorin an der Moskauer Higher School of Economics, sieht die Verlegung der Aktion ins Moskauer Zentrum kritisch. Im Radio-Interview mit Echo Moskwy schildert sie, welch gespaltene Gefühle die Bilder aus dem Moskauer Zentrum – die etwa in den Nachrichten auf dem Staatskanal Rossija 1 nicht gezeigt wurden, sondern vor allem in vielen unabhängigen Onlinemedien – bei ihr auslösten: 

    [bilingbox]Jede Freiheit hat ihre Grenzen, und die Grenzen sind die Interessen der anderen. Und dieser Grenzwert wird in Russland gerade ausgelotet. Das [heutige Übertreten dieser Grenze – dek] obliegt der Verantwortung eines Politikers [wie Nawalny – dek], und genau das gefällt mir nicht. Das bedeutet, die Moskauer in Gefahr zu bringen  […], die gekommen sind, um das Reenactment eines Feiertags anzuschauen, und zweitens auch die Gäste der Stadt. 
    […] andererseits gucken doch viele Fernsehen, wo nichts gezeigt wird, ihnen ist nicht klar, dass die Dinge im Internet auch sie betreffen könnten. Wie die gefletschten Zähne der Macht aussehen. Was willkürliche Verhaftung bedeutet. Was die Polizei ist, die, wie es heute in den Nachrichten hieß, mit Kampfstiefeln auf den Kopf eines jungen Mannes einschlug, der am Ende nur noch in den Armen der Polizisten hing. Wir wissen noch nicht, was da passiert ist. Wir kennen noch keine Ergebnisse. Und wissen nicht, wie viele Opfer betroffen sind. […]

    Zu dem, was die Regierung auf der Twerskaja als Reenactment zu inszenieren versuchte, kamen die wirklichen Ereignisse dieses Tages. Herausgekommen ist ein Reenactment, dem man online deutlich ansah, was heute im Land vor sich geht.~~~У всякой свободы есть предел и предел это интересы других. И этот предел в России сегодня только нарабатывается, где граница. Это, конечно ответственность политика и это то, что мне не нравится. Это поставить под угрозу москвичей, которые, […] пошли посмотреть на реконструкцию на праздник, а во-вторых, гостей [города]. 
    […] ведь многие смотрят телевизор, в котором ничего не показывают, им невдомек, что то, что в Интернете может вдруг коснуться их. Что такое звериный оскал власти. Что такое безосновательное задержание, что такое полиция, которая, прошло сегодня сообщение, что ударил полицейский берцом по голове молодого парня, который повис на руках в итоге. Мы еще не знаем, что там произошло. Мы еще не знаем, каковы результаты. И сколько пострадало.
    […]
    то, что пыталась власть сделать в виде [реконструкторского] спектакля на Тверской, добавилось реальными событиями сегодняшнего дня. это получилась реконструкция, которая абсолютно в онлайн режиме показывала, что сегодня происходит в стране.[/bilingbox]

     

    erschienen am 12.06.2017

    Moskowski Komsomolez: Ein zweiter Revolutionär

    Michail Rostowski, Korrespondent des staatsnahen Moskowski Komsomolez, begegnet dem Oppositionspolitiker mit gemischten Gefühlen: Er kann Nawalny durchaus auch Gutes abgewinnen – und warnt gleichzeitig vor ihm:

    [bilingbox]In der von Putin errichteten Machtvertikale gab es immer genug Feinde und Gegner. Doch einen ständig wachsenden, sich ständig geschickt wandelnden Opponenten wie Nawalny im Sommer 2017, gab es noch nie.

    Ich sehe in den Handlungen Alexej Nawalnys kein Bestreben nach Blutvergießen. Ich sehe in ihnen aber die feste Überzeugung eines Nawalny: An Regeln halte ich mich nicht. Meine Sache ist rechtens. Mein Wort ist Gesetz. 

    Diese Häuptlings-Attitüde erinnert mich an einen anderen Politiker in unserer Geschichte, der sich auch im Jahr 17 „verwirklichte“: Wladimir Lenin.

    Solange es sich im Rahmen hält, ist Nawalnys Einfluss auf den politischen Prozess Russlands ein Einfluss zum Guten. Ein Einfluss, der unsere politische Elite diszipliniert, sie dazu zwingt, nicht auszuufern und sie nicht zur Ruhe kommen lässt.

    Doch falls es Nawalny irgendwann gelingt, operative Freiheiten an sich zu reißen und den verwalterisch-politischen Apparat zu unterwerfen, dann wird er Russland – genauso wie Lenin 1917 –  die wirkliche Bedeutung von „ich werd’s euch schon zeigen“ beibringen. Mir scheint, so weit sollte man es besser nicht kommen lassen. Wir hatten schon einen Lenin. Einen zweiten brauchen wir nicht.~~~У выстроенной Владимиром Путиным вертикали власти никогда не было недостатка во врагах и противниках. Но такого постоянно растущего, постоянно мимикрирующего оппонента как Навальный образца лета 2017 года на ее пути еще не встречалось. […]
     
    я не вижу в действиях Алексеях Навального стремления к крови. Но я вижу в них твердую убежденность Алексея Анатольевича: правила – не для меня. Мое дело правое. Мое слово – закон. И эта абсолютно вождистская установка заставила меня вспомнить о другом политике из нашей истории, который тоже “проявил себя” в семнадцатом году: Владимире Ленине. […]
    В разумных пределах влияние Алексея Навального на российский политический процесс – это влияние во благо. Влияние, которое дисциплинирует нашу политическую элиту, заставляет ее держать себя в рамках и не позволяет расслабиться. 
     
    Но если Навальный когда-нибудь сможет вырваться на “оперативный простор” и переподчинить себя административно-политический механизм, то он – совсем как Ленин в 1917 году – покажет России истинное значение выражения “ кузькина мать”. Мне кажется, что до этого дело лучше не доводить. Один Ленин у нас уже был. Второго не надо.[/bilingbox]

     

    erschienen am 12.06.2017

    dekoder-Redaktion

     

     

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  • Abgesandte Gottes

    Abgesandte Gottes

    Nach dem Zerfall der Sowjetunion herrschte Aufbruchstimmung in der Russisch-Orthodoxen Kirche. Die jahrzehntelange Unterdrückung durch die Staatsmacht war vorbei, die Kirche konnte und wollte wieder eine Rolle spielen in der Gesellschaft, auch als kritische Instanz gegenüber dem Staat. In der Tat hat sie sich inzwischen zu einer gewichtigen Stimme in Russland entwickelt. Laut Umfragewerten genießt die Russisch-Orthodoxe Kirche mehr Vertrauen in der Gesellschaft als die Presse, die Duma oder gar die Regierung von Dimitri Medwedew.

    Das von Manchen erhoffte Gegengewicht zur Staatsmacht wurde sie allerdings nicht. Maxim Trudoljubow beschreibt auf InLiberty seine enttäuschten Hoffnungen.

    Ich erinnere mich noch: Als ich Ende der 1980er Jahre an der Moskauer Architektur-Universität anfing zu studieren, war sie teilweise noch in den Heiligtümern des ehemaligen Mariä-Geburts-Klosters untergebracht. Im Schwesternflügel, eingeschossig und feucht, war das Studentenwohnheim. In der Kirche des Heiligen Nikolaus, am anderen Ende des Klostergeländes, besuchte ich Vorbereitungskurse – wir zeichneten Gipsplastiken ab.

    Später erinnere ich mich, wie wir Erstsemestler (die meisten waren allerdings Philologen und keine Architekten) uns zu einer damals noch gesetzlich erforderlichen Zwanziger-Schar zusammenfanden: Wir füllten beim Exekutivkomitee irgendwelche Formulare aus und eröffneten dann eine Kirche, eine der ältesten Kirchen Moskaus – die Mariä-Geburts-Kirche in eben diesem Kloster.

    Hätte es damals schon Soziale Netzwerke gegeben, wären sie sicherlich voll gewesen mit Nachrichten über Wiedereröffnungen von Kirchen, Streitereien mit der Regierung, mit Debatten über die Rückgabe enteigneter Kirchengüter sowie über die Umsetzung der Beschlüsse des Landeskonzils von 1917/1918.

    Heute sehe ich in meinem Newsfeed haufenweise Beiträge von Menschen, die von einer Zeitung zur nächsten oder von einem Medienlager ins andere wechseln, sich permanent gegenseitig beschimpfen, aber sich dennoch als Gemeinschaft empfin­den. Damals sah ich etwas ganz Ähnliches: Es wurde lebhaft und leiden­schaftlich diskutiert, allerdings in der analogen Welt und zwar im kirchlichen Umfeld.

    Luken, die in die Freiheit führen

    Portale in eine andere Wirklichkeit gab es damals in Form von berühmten Kirchen mitten in der Stadt: Ohne großen Aufwand konnte jeder junge Mensch unbekann­tes Terrain betreten und dort Luken finden, die über seine Grenzen hinausführen – aber auch über den Schulunterricht, über Teenagerkonflikte und über die starre, gut gefestigte Sowjetrealität hinaus. Das eröffnete unvergleichliche Freiheiten.

    Schon fast peinlich ist es mir heute, aber ich war damals fest davon überzeugt, dass sich die Kirche gleich nach dem Zerfall der Sowjetunion „auf die Seite des Volkes stellen“ würde. Das klingt heute so seltsam, dass ich mir diesen neophytischen Irrtum selbst nur schwer erklären kann.

    Ich dachte zum Beispiel, dass sich Gemeinden entwickeln und starke, unabhängige Stimmen der Kirche erklingen würden. Dass eine Kraft entstehen würde, die die politischen Machthaber durch ihre Autorität zurechtweisen könnte, sollten diese bei Privatisierungen oder Kriegen Gewissen und Anstand verlieren. Die eintreten würde für die Erniedrigten und Beleidigten und die Strafgefangenen. Mit anderen Worten: Ich dachte, dass es jemanden geben würde, der dem Staat von oben auf die Finger schaut.

    Aber nein, daraus wurde nichts. Schon bald wurde mir klar, dass ich zu viel über Polen und Chile gelesen hatte, wo zumindest ein Teil der einflussreichen kirch­lichen Würdenträger gemeinsam mit dem Volk einen moralischen Widerstand gegen den wahnsinnig gewordenen Staat bildete, und zwar unabhängig von der Ideologie – in dem einen Fall war der Staat radikal links, im anderen radikal rechts.

    Effektiver als der Staat

    Als ich in sehr jungen Jahren in die Kirche kam, wurden der Glaube und die Möglichkeit des Gedankenaustauschs mit anderen Gläubigen meine Freiheit. Heute, 25 Jahre später, fühlt sich die Wiedereröffnung einer Kirche nicht mehr an, als würde man eine Kirche wiedereröffnen – die Freude fehlt.

    Ebenfalls heute, 25 Jahre später, bietet die Kirche jungen Menschen eine Möglichkeit der Befreiung, allerdings nicht über die Eröffnung von Kirchen und das Gemeindeleben, sondern über den Protest.

    Nach dem aufsehenerregenden Prozess gegen die jungen Frauen von Pussy Riot, die in der Kirche wild getanzt hatten, wurde eine neue Gesetzesgrundlage geschaffen, und langsam beginnt sie zu wirken.

    Der Videoblogger Ruslan Sokolowski, der sich mehr als einmal Ausfälle gegen die Kirche erlaubt hatte, wurde im letzten Jahr des Extremismus und der Verletzung religiöser Gefühle angeklagt. Auf dem Höhepunkt des Erfolgs von Pokemon Go hatte sich der 22-Jährige auf Pokemonjagd in eine der Kathedralen von Jekaterinburg begeben und es in einem Video festgehalten. Ein Lokaljournalist schrieb daraufhin einen Brief an die Staatsanwaltschaft, in dem er den Organen nahelegte, sich dieses Material anzusehen. Solokowski ist seit September [2016 – dek] in Untersuchungshaft und wartet auf die Entscheidung des Gerichts.

    Im November kam es in Moskau zu Schau-Festnahmen von Teilnehmern einer Mahnwache zum Schutz des Torfjanka-Parks. Sie hatten dagegen protestiert, dass dort eine orthodoxe Kirche gebaut wird. Man drohte ihnen mit Strafverfolgung wegen Verletzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit und wegen der Verletzung religiöser Gefühle. Angestoßen wurden die Ermittlungen durch Anzeigen von Mitgliedern der orthodoxen Bewegung Vierzig mal vierzig.

    Gerade läuft ein Prozess gegen einen Mann aus Stawropol, der beschuldigt wird, in einem Sozialen Netzwerk die religiösen Gefühle seiner Diskussionspartner verletzt zu haben.

    Erst vor kurzem wurde ein Student aus Orenburg der Verletzung religiöser Gefühle angeklagt. Wie die Ortsmedien berichten, habe der junge Mann mittlerweile „vor dem Kirchenvorsteher Buße getan“ (hier wurden offenbar die Instanzen vertauscht: man muss nun vor dem Kirchenvorsteher Buße tun und nicht vor Gott), habe sich bei den Christen im Netz entschuldigt und sei beim weltlichen Gericht mit einer Geldstrafe von 5000 Rubel [etwa 80 Euro – dek] davongekommen.

    Ende letzten Jahres wurde der Programmierer und Yoga-Lehrer Dimitri Ugai der gesetzeswidrigen Missionstätigkeit (nach dem Jarowaja-Gesetz) angeklagt. Man verhaftete ihn letzten Oktober mitten in einem Vortrag, im Januar kam sein Prozess vor das Friedensgericht. Die nächste Verhandlung findet in wenigen Tagen statt.

    Man ist geneigt, diese Vorgänge für eine organisierte Kampagne gegen Andersdenkende zu halten. Aber es scheint komplizierter zu sein. Die Geschichte mit Pussy Riot hätte auch eine Welle von Nachahmungen auf verschiedensten Ebenen nach sich ziehen können – so etwas kommt in Russland vor – aber bisher blieb eine Strafprozess-Flut aus.

    Prozesse als Folge von Denunziationen

    Eine klassische, „von oben“ organisierte Kampagne führen Moskaus Politmanager in diesem Fall wohl nicht. Die obengenannten Prozesse sind allesamt aus der Initiative von Bürgern hervorgegangen oder ganz einfach gesagt: Sie sind die Folge von Denunziationen. Im Fall Sokolowski, im Fall Krasnow, im Torfjanka-Prozess genauso wie in allen anderen Fällen wurden die Anzeigen auf Initiative einzelner Personen erstattet. Im Fall des verhafteten Yogis brachte der Denunziant, der angeblich selbst einmal Opfer einer exotischen Sekte geworden war, den Beamten den Text des Jarowaja-Gesetzes mit und erklärte ihnen sogar, wie sie weiter vorgehen sollen.

    In der Tat arbeitet die Zivilgesellschaft in Fällen von beleidigten Gefühlen wesentlich effektiver als der Staat, und nicht nur dort: Die Beamten haben das Jarowaja-Gesetz noch nicht einmal richtig gelesen, während die Bürger es längst eingehend studiert haben. Diese Entwicklung könnte man auch einfach als Förderung von Denunziantentum bezeichnen oder man nennt es „horizontales Enforcement“.

    Der Mensch ist ein freies und ein kompliziertes Wesen. Man weiß nie, in welche Richtung es ihn plötzlich zieht. Manchmal hat man den Eindruck, dass die offiziellen Mitarbeiter der kirchlichen Sphäre gar nicht mehr tun können, als den Menschen, allen Menschen, subtil Gründe an die Hand zu geben, richtig zu handeln, das Beste im Menschen zum Vorschein zu bringen. Menschen Gründe an die Hand zu geben, einander zu denunzieren, ist das genaue Gegenteil.

    Aber was soll man machen? So will es nun mal die weise Politik, und sie ist immerhin besser als die Politik, alle ins Gefängnis zu werfen. Die Aufsicht über die Bürger wurde komplett an die Sozialen Netzwerke abgetreten, und zwar nicht nur in Fragen von religiösen Gefühlen. Wozu sollte man auch tausende Leute anstellen und dafür bezahlen, dass sie die Bürger überwachen, wenn man sich vollständig auf beinahe freiwillige Mitglieder von befreundeten Organisationen verlassen kann, die von befreundeten Fonds finanziert werden.

    Wozu Gelder aus der Staatskasse aufwenden?

    Totalitarismus ist ein kostspieliges Regime: Alles muss der Staat selbst erledigen. Moderne autoritäre Systeme, darunter auch Russland, sind viel klüger. Wozu sollte man etwas aus der Staatskasse bezahlen, wenn man es auch über Belohnung, Preise und Trophäen regeln kann. Menschen, die eine Polizei-Funktion erfüllen, müssen nicht im Dienst der Polizei oder der Kirche stehen. Es genügt, wenn sie Abgesandte oder Steuerpächter sind, sprich Menschen, die im Namen des Staates Steuern eintreiben.

    Das Geniale an diesem Trick ist, dass der Staat noch so klein und sparsam sein kann, es gibt dennoch niemanden, der von oben auf ihn schauen könnte. Denn alle sind seine Pächter – keine gleichgestellten Partner, und schon gar keine Wider­sacher.

    Selbst der potenziell am besten geeignete Kandidat für diese Rolle, die Kirche, kann sie nicht erfüllen. Wirklich seltsam, wie ich vor 25 Jahren denken konnte, dass nicht nur die Kirche, sondern auch die Kunst und die bürgerlichen Kräfte zutage treten und den Staat durch ihr Bestehen in die Schranken weisen würden. Dass unab­hängige Gemeinden vom Sockel der Tradition und der Erfahrung des katastrophalen 20. Jahrhunderts auf den Staat blicken würden.

    Aber wie sich herausgestellt hat, gibt es niemanden, der so von oben auf den Staat schauen könnte. Alle brauchen und wollen, dass er ihnen etwas zuteilt oder sie an die nächste Kreuzung stellt, damit sie dort Geld eintreiben.

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  • „Heimat! Freiheit! Putin!“

    „Heimat! Freiheit! Putin!“

    Da stehen sie, Aktivisten der Nationalen Befreiungsbewegung (NOD), ein Grüppchen von 10, 15 Leuten, jeder von ihnen hält ein Schild in die Höhe, auf dem stehen Dinge wie „Heimat! Freiheit! Putin!“. Die NOD ist eine politische Randbewegung, ihre Mitglieder, darunter viele Rentner, halten an Putin als Leader fest, gleichzeitig aber hängen sie allerlei Verschwörungstheorien an, hauptsächlich der, dass alles Übel in Russland von den USA gesteuert sei. Politikwissenschaftler sprechen der NOD dennoch eine interessante Funktion zu: Als radikale Kraft lässt sie die Staatsmacht, gegenüber der sie sich stets loyal verhält, gemäßigt erscheinen.

    Viel ist über die NOD nicht bekannt. Um mehr herauszufinden, hat sich Bumaga-Journalist Pawel Merslikin ihr angeschlossen – für einen Monat. 

    I. WIE ICH DER NOD BEIGETRETEN BIN

    Petersburg, Uliza Lomonossowa. Hier, an der Ecke zur Uferpromenade der Fontanka, befindet sich eine Filiale der Russischen Zentralbank. Jeden Freitag von 16.30 bis 18.00 Uhr protestieren hier NOD-Aktivisten. Sie sind der festen Überzeugung, die Zentralbank arbeite für die „Feinde Russlands“.

    Anfang Mai sind sie nur zu dritt: eine füllige Dame in einem unförmigen Pelz und mit einer Mütze, an der eine große Fellblume prangt, sowie zwei ältere Herren in abgetragenen Daunenjacken. Der eine ist etwa 60, der andere wesentlich älter, er hat einen langen grauen Bart.

    „Wir sind Russland“, „Medien, hört auf zu lügen“, „Heimat! Freiheit! Putin“ – mit diesen und anderen Losungen stellen sich die NOD-Aktivisten auf die Straße / Illustrationen © Jekaterina Kassjanowa
    „Wir sind Russland“, „Medien, hört auf zu lügen“, „Heimat! Freiheit! Putin“ – mit diesen und anderen Losungen stellen sich die NOD-Aktivisten auf die Straße / Illustrationen © Jekaterina Kassjanowa

    Man sieht sie schon von weitem. Die NOD-Mitglieder verteilen Zeitungen mit einem Putin-Portrait auf dem Titelblatt. „Für Russlands Souveränität!“, rufen sie den Passanten hinterher und wedeln mit Fähnchen in den Farben des St. Georgs-Bandes. Die meisten Petersburger beachten sie kaum. Es sind vor allem Rentner, die auf die Aktivisten reagieren. Sie kommen auf das Dreiergespann zu und beginnen ein Gespräch über das Schicksal Russlands.

    „Was steht ihr denn hier rum?“, fragt eine ärmlich gekleidete Frau um die 65 die Aktivisten, wobei ihr Blick schnell von einem zum anderen springt.
    „Für Putin stehen wir hier. Zur Unterstützung.“
    „Na, wozu denn dann hier rumstehen? Sind doch sowieso alle für ihn. Meine Freunde und Bekannten, wir alle haben ihn gewählt.“

    Die NOD-ler nicken wohlwollend. Man kommt auf die neuesten Nachrichten zu sprechen. Die Aktivisten berichten von Nawalnys Film Nennen Sie ihn nicht Dimon. Sie sind überzeugt: Alles, was darin gesagt wird, ist Lüge.

    „Nawalny hat in den USA studiert. Er ist ein amerikanischer Agent. Es versteht sich doch von selbst, wessen Interessen er vertritt. Dabei zahlen wir den Amis auch so schon genug Abgaben. Eine Milliarde pro Tag, stellen Sie sich das mal vor!“, erklären die Aktivisten.
    „Eine Milliarde am Tag? Und warum?“
    „So sind nun mal unsere Gesetze.“

    Es sind vor allem Rentner, die auf die Aktivisten reagieren

    Nach beendeter Diskussion über die „Abgaben an die Amis“ und die „tote“ Jugend von heute bekommt die Rentnerin noch die offizielle NOD-Zeitung in die Hand gedrückt, in der erklärt wird, Russland sei eine Kolonie der USA, dann geht sie. Nun trete ich näher und sage, ich würde gern der Bewegung beitreten.

    Man reicht mir ganz selbstverständlich ein abgewetztes Plakat, das die Zentralbank auf­fordert, den Basiszins auf Null herabzusetzen. Eine Minute später stehe ich damit neben der Aktivistin Tatjana; sie hält ein Plakat, auf dem versichert wird, Lukaschenko arbeite mit den „Ukro-Faschisten“ zusammen.

    Es scheint, als hätten sich die NOD-ler heute nur versammelt, um mich willkommen zu heißen. Die Aktivisten wirbeln um mich herum, schütteln mir die Hand und lassen sich einer nach dem anderen mit mir fotografieren. Wenige Minuten später nennen mich die angestammten NOD-ler schon vertraulich Paschenka.

    Tatjana sagt zu ihren älteren Gleichgesinnten: „Da seht ihr es, die Jugend kommt. Wir stehen also nicht umsonst hier.“

    II. WIE NOD-AKTIONEN ABLAUFEN

    Wladimir hat von klein auf vom Meer geträumt. Doch Seefahrer zu werden klappte nicht. Im Laufe seines Lebens hat er ein Dutzend Berufe gewechselt: vom Anschläger bis zum Einrichter für medizinische Geräte. Heute ist Wladimir über 70, seit mehreren Jahren in Rente und hat nach eigener Aussage nur zwei große Aufgaben im Leben: den Enkel zur Schule zu bringen und in den Reihen von NOD für die Souveränität Russlands zu kämpfen. An den großen Traum vom Meer erinnert nur noch die in der Jugend gestochene Anker-Tätowierung auf seinem Handrücken.

    Zur NOD kam der betagte Petersburger vor etwa einem Jahr, nachdem er im Netz zufällig auf ihre Seite gestoßen war und ihr Programm regelrecht verschlungen hatte. Nun trifft man Wladimir immer donnerstags auf der Uliza Lomonossowa. Auch bei der traditionellen NOD-Sonntagsdemo ist er dabei.

    Bei drei der wöchentlichen Veranstaltungen stand ich Schulter an Schulter mit Wladimir. Sie folgten alle demselben Schema:

    Gegen 13.00 Uhr befestigten wir rasch ein mehrere Meter langes, abgewetztes Banner mit der Aufschrift: „Putin ist unser nationaler Leader“. Wir stellten uns dazu, griffen uns einen Stapel Propagandazeitschriften und versuchten sie zu verteilen. Wer keine Zeitungen verteilen wollte, konnte sich aus einem Haufen eines der alten, abgewetzten Plakate nehmen. So stand ich bei den Aktionen unter anderem mit Plakaten a là „USA, Finger weg von der Kiewer Rus“ oder mit einem riesigen Foto von Putin in Pelzmütze mit der Aufschrift „Wie geht’s unserem Alaska?“. Ein unangenehmes Gefühl.

    Weg mit der Fünften Kolonne – so lautet eine der Forderungen auf den Plakaten
    Weg mit der Fünften Kolonne – so lautet eine der Forderungen auf den Plakaten

    Für gewöhnlich kamen zu den Pikets drei bis sechs Leute. An guten Tagen waren es maximal 15 bis 20. Mehr aktive Mitglieder hat die Petersburger NOD offenbar gar nicht. Fast die Hälfte davon sind Rentner mit zu viel Freizeit und Sowjet-Nostalgie. Ansonsten trifft man bei den Aktionen noch eine Handvoll sehr bescheiden gekleidete Petersburger über 40 und ein paar patriotische Studenten.

    Ungeachtet ihrer Außenwirkung, sind die Aktionen der Bewegung von innen betrachtet ausgesprochen langweilig. Ihre Atmosphäre erinnert an einen Rentnerplausch auf der Datscha. Über Politik wird nicht diskutiert, meistens wird einfach geschwiegen. Wenn doch mal ein Gespräch aufkommt, geht es um Rückenschmerzen oder die guten Leistungen des Enkels in der Schule.

    III. WORAN GLAUBEN NOD-LER?

    Die ersten NOD-Aktivisten tauchten im Herbst 2012 auf russischen Straßen auf, kurz nach der Bolotnaja-Geschichte. Die Ideologie der Bewegung ist schnell zusammengefasst: An allem Übel in Russland sind die USA schuld.

    Es ist nämlich Amerika, das Gebühren anhebt und neue Steuerabgaben einführt, die Medien kontrolliert und die Staatsduma zwingt, Gesetze zu verabschieden, die Russland schaden. Amerika bringt auch die Schüler auf die Straßen. Außerdem glaubt man bei der NOD, der Maidan und der Konflikt im Donbass seien die Folgen eines im Grunde offenen Krieges, den die USA gegen Russland führen. Der Terror­anschlag in der Petersburger Metro sei nur ein Symptom dieses Krieges, so die feste Überzeugung in der Bewegung. Den Aktivisten zufolge sind amerikanische Geheimdienste an der Vorbereitung beteiligt gewesen.

    Mit der Theorie über die allmächtigen Feinde aus Amerika erklärt die NOD ausnahmslos alle Probleme in Russland, ohne dabei je von der offiziellen Linie der Regierung abzuweichen. Die protestierenden Fernfahrer erklärt man für geheime ukrainische Terroristen, die demonstrierenden Studenten für Satanisten, und korrupte Beamte für amerikanische Agenten.

    Die protestierenden Fernfahrer erklärt man für geheime ukrainische Terroristen, die demonstrierenden Studenten für Satanisten, und korrupte Beamte für amerikanische Agenten

    Die Aktivisten sind der Auffassung, die weitreichenden Befugnisse der USA seien gesetzlich verankert: Nach dem Zerfall der Sowjetunion habe Russland eine von „westlichen Beratern“ geschriebene Verfassung angenommen und sei zu einer Kolonie der USA geworden. Seitdem regiere Amerika das Land mithilfe der allgegenwärtigen Fünften Kolonne, der Zentralbank, der Medien und Oppositioneller wie Alexej Nawalny.

    Nur eine Handvoll Russen leiste Widerstand gegen die Okkupation, aber der wichtigste Kämpfer gegen die Amerikaner sei selbstverständlich Wladimir Putin, so die NOD-Mythologie. Während seiner 16 Jahre an der Macht habe er viel bewirkt. Doch Russland endgültig zu befreien, sei ihm schlichtweg physisch nicht möglich. „Die Amerikaner würden ihn gleich aus dem Weg räumen. Ja, auch die Staatsduma, in der sich die Fünfte Kolonne breitgemacht hat, würde das nicht zulassen“, erklären mir die NOD-ler anhand ihres Agit-Materials und nennen Putin einen Weltrevolutionär.

    Sie sehen nur einen Ausweg aus der Situation: Ein Referendum, mit dem die Verfassung geändert und das Primat des internationalen Rechts und der Verzicht auf Ideologie gestrichen wird. Außerdem: Putin muss uneingeschränkte Macht eingeräumt werden. Indem man beispielsweise Rechtsstrafen für Beamte einführt, die sich nach dem Willen der Amerikaner Putins Befehlen widersetzen.

    IV. WER DIE NOD ERFUNDEN HAT

    Gegründet wurde die NOD samt ihrer wirren Ideologie von Jewgeni Fjodorow, einem Dumaabgeordneten mit dem Aussehen eines Informatiklehrers.

    Wie er sagt, sei ihm immer schon klar gewesen, dass die Amerikaner Russland regieren. „Ja, die Duma verabschiedet nur Gesetze, die im Westen geschrieben wurden. Aber das hat mich nie davon abgehalten, meiner Arbeit nachzugehen. Genauso wenig wie es mich davon abgehalten hat, morgens aufzustehen und mich zu rasieren“, erzählt Fjodorow.

    Der NOD-Gründer sagt, es sei ihm immer schon klar gewesen, dass die Amerikaner Russland regieren

    Bekanntheit erlangte der Abgeordnete jedoch nicht durch seinen langjährigen Staatsdienst, sondern durch die Niederlagen, die er bei Debatten gegen Nawalny einstecken musste und bei denen erstmals der Slogan „Partei der Gauner und Diebe“ fiel. Außerdem noch durch die Gründung der NOD und durch einige aufsehenerregende Gesetzesvorhaben, die er initiiert hat. Darunter das Dima-Jakowlew-Gesetz, das Gesetz über ausländische Agenten, das Verbot von „Homosexuellenpropaganda“ und viele mehr. All diese Gesetze betrachtet er als Ergebnisse seiner Arbeit im „Hinterland des Feindes“ und als erste Schritte auf dem Weg zur Befreiung vom „amerikanischen Joch“.

    Dabei schreibt der Abgeordnete nicht wenige Veränderungen in der russischen Realität sich und seiner Bewegung zu. So hätten, wie der NOD-Anführer berichtet, Aktivisten mehrere Verschwörungen und Revolutionen in Russland verhindert, die Fünfte Kolonne bekämpft und wären sogar an Medienskandalen beteiligt gewe­sen. Sie hätten beispielsweise den Führungswechsel im Medienunternehmen RBC erwirkt.

    Auf dem Papier gibt es in der NOD ein „ideologisches Komitee“, eine Rechtsabteilung, Verantwortliche für humanitäre Spendensammlungen und Zusammenarbeit mit Unternehmern, eine Zeitung und sogar eine eigene, wenn auch wenig aktive Partei Nationaler Kurs. Allerdings tagen die Komitees laut Aussage der NOD-ler nur alle paar Monate. Die Bewegung werde eigentlich von gewöhnlichen Aktivisten aufrechterhalten.

    V. WER IST IN DER NOD?

    NOD-Gruppen sind derzeit in allen einigermaßen großen russischen Städten aktiv: Sie demonstrieren in Moskau und Nowosibirsk, halten Pikets vor der US-amerikanischen Botschaft in Petersburg ab oder tauchen zwecks Disput bei Aktionen der Opposition in Barnaul auf.

    Nicht selten arten diese Streits in Handgreiflichkeiten aus. Allein im letzten Jahr berichteten die Medien von NOD-Angriffen auf Alexej Nawalny, Ljudmila Ulitzkaja, den Petersburger Fotografen David Frenkel und sogar auf Schüler. Die NOD-ler weisen die Anschuldigungen zurück und behaupten, die Angreifer seien keine NOD-ler gewesen. Zudem betonen sie, sie würden ausschließlich mit gesetzeskonformen Mitteln für Russlands Wandel kämpfen.

    Insgesamt existieren in Russland mittlerweile über 200 NOD-Gruppen. Die Gesamtzahl der Aktivisten soll nach Angaben der Anführer der Bewegung bei über 160.000 liegen. Wobei  Fjodorow und seine Anhänger überzeugt sind: In Wirklichkeit sind es viel mehr. So zählen sie beispielsweise Wladimir Putin zu ihren Mitstreitern – ihn nennen sie den wahren Leader der Bewegung – und den Großteil der Silowiki.

    Die NOD sieht auch Wladimir Putin als ihren Mitstreiter – ihn nennen sie den wahren Leader der Bewegung – und den Großteil der Silowiki

    NOD-Aktivist zu werden ist ausgesprochen einfach. Es genügt ein Online-Formular auszufüllen oder bei einer der zahlreichen Aktionen zu erscheinen. In Petersburg finden zum Beispiel vier bis fünf NOD-Pikets pro Woche statt.

    Ein Neuling sollte allerdings keine aufsehenerregenden Großtaten erwarten. Die Aktivität der NOD beschränkt sich beinahe auf die täglich stattfindenden Aktionen von 3 bis 15 Personen mit Losungen wie „Heimat! Freiheit! Putin!“ oder „Unser Land, unsere Regeln!“, und hitzige Diskussionen neuester politischer Ereignisse in Sozialen Netzwerken.

    Waleri, ein kleiner, kräftiger Bauarbeiter von 55 Jahren, kommt regelmäßig zu den Aktionen, ungeachtet seiner gesundheitlichen Probleme und der mehrmonatigen Krankschreibungen. Bei der NOD ist er schon über ein Jahr, davor war er in einer anderen patriotischen Organisation mit verschwörungstheoretischer Schlagseite – der Partei Großes Vaterland (PWO) von Nikolaj Starikow.

    „Bei der PWO habe ich in der gesamten Zeit fast 50.000 Rubel [knapp 800 Euro – dek] ausgegeben, stell dir das mal vor!“, beschwerte er sich, während wir gemeinsam auf dem Newski mit einem Plakat zum Ruhme Putins standen. „Hier hingegen gibt es keine Monatsbeiträge, nichts.“

    Die Atmosphäre bei NOD erinnere an einen Rentnerplausch auf der Datscha, meint Journalist Pawel Merslikin
    Die Atmosphäre bei NOD erinnere an einen Rentnerplausch auf der Datscha, meint Journalist Pawel Merslikin

    Tatsächlich habe auch ich während meiner einmonatigen NOD-Mitgliedschaft gerade mal 500 Rubel [knapp 8 Euro – dek] ausgegeben: Zum 8. März haben wir für ein Weltfrauentagsgeschenk für eine der Aktivistinnen zusammengelegt.

    Die Finanz-Situation wirkt sich dennoch aus. Den Großteil der Agitationsmaterialien drucken die Aktivisten auf eigene Kosten, was dazu führt, dass sie jahrelang dieselben Plakate hochhalten und veraltete Zeitungen verteilen. Im März 2017 standen wir mit Materialien aus 2016 bei den Aktionen. 
    „Keine zentralisierte Finanzierung zu haben ist unser Prinzip. Die NOD ist eine Bewegung von unten nach oben“, erläutert Jewgeni Fjodorow. Wobei der Abgeordnete selbst womöglich durchaus über Finanzierungen verfügt.

    VI. WAS DIE NOD-FÜHRUNG MIT MILLIONENSCHWEREN FÖRDERUNGEN ZU TUN HAT

    Auf Anfrage von Bumaga hat die internationale Antikorruptionsorganisation Transparency International die Finanzierung der NOD analysiert.

    Die Experten stellten fest, dass russische regierungsfreundliche Bewegungen, die sich den Verzicht auf eine zentralisierte Finanzierung auf die Fahnen schreiben, ihre Gelder oftmals über ein gut entwickeltes Netz von nicht-öffentlichen, gemeinnützigen Organisationen und Stiftungen beziehen. Beispiele dafür sind Transparency zufolge das Projekt „Set“ oder Ofizery Rossii [dt. Offiziere Russlandsdek]. So ein Finanzierungssystem ermöglicht es, Umfang und Verwendung der erhaltenen Mittel zu verschleiern.

    Innerhalb der Organisationen, mit denen der NOD-Anführer Jewgeni Fjodorow in Verbindung steht, finden sich zudem einige, die Fördermittel vom Präsidenten erhalten. So hat zum Beispiel das Institut für Wirtschaft und Gesetzgebung, das auf Fjodorows offizieller Webseite oft Erwähnung findet, bereits drei Mal solche Förderungen erhalten.

    Fjodorow selbst räumt zwar ein, dass eine Verbindung zwischen ihm und den Fördermittelempfängern bestehe, hebt jedoch hervor, dass die NOD kein Geld von ihnen erhalten würde. Außerdem verfügt die NOD über zwei Spendenkonten, legt jedoch keinerlei Abrechnungen über die Finanzströme vor. Nach eigenen Angaben erhalte die NOD allein für die Unterstützung von Noworossija monatlich zwischen 47.000 [etwa 740 Euro – dek] und 329.000 Rubel [etwa 5.200 Euro – dek].

    Transparency stellt fest, dass an solch einem System de facto nichts illegal sei. Allerdings ermögliche es, Mittel nicht offenlegen zu müssen. Gleichzeitig betonen die Korruptionsgegner, dass die NOD keine hohen Geldsummen brauche, um ihre Aktivität auf dem bestehenden Level zu halten. Nach Einschätzung von Transparency reichten der Bewegung monatlich 300.000 [etwa 4700 Euro – dek] bis 400.000 [etwa 6300 Euro – dek] Rubel.

    Einer der Leiter der NOD-Gruppen stimmte dieser Einschätzung im Gespräch mit uns weitestgehend zu und nannte einen Richtwert von 200.000 Rubel [etwa 300 Euro – dek] im Monat.

    „Die Zentralverwaltung kann uns nur Bücher, Flyer, Plakate und Fahnen zur Verfügung stellen. Wobei wir den Großteil selbst herstellen: Beispielsweise schmeißen alle je 50 bis 100 Rubel [knapp 1 bis 2 Euro – dek] zusammen – für einfache Druckerpatronen, Papier und solche Sachen. Es gibt eine materielle Ebene, aber das ist nicht das Wichtigste. Ein Gehalt bekommt keiner“, hob er hervor.

    VII. WARUM ES DER NOD NICHT GELINGT, GROSSE MENSCHENMASSEN ZU MOBILISIEREN

    Der NOD gelingt es nicht, große Menschenmengen für ihre Aktionen zu mobilisieren. So war es auch am 18. März, als die Petersburger Aktivisten den Jahrestag der Krimangliederung feiern wollten. Es kamen keine 20 Personen, und es blieb bei einer Reihe von Einzelpikets auf dem Newski-Prospekt. Am darauffolgenden Tag veranstaltete die NOD eine weitere Demonstration auf der Malaja Sadowaja. Auch zu dieser Aktion kamen wieder nur dieselben 15 Leute.

    Wieder nur dieselben Aktivisten – wieder sind an allem Übel die Amis schuld, "Agenten des Westens, raus aus Russland" steht da etwa.
    Wieder nur dieselben Aktivisten – wieder sind an allem Übel die Amis schuld, „Agenten des Westens, raus aus Russland“ steht da etwa.

    Für das Scheitern der Krim-Aktion hatte man allerdings sofort eine Erklärung parat: Die Amerikaner sind schuld. „Die haben Poltawtschenko gesagt, es darf keine Massenveranstaltungen geben“, erklärte mir eine der Aktivistinnen und fügte hinzu, auch innerhalb der Bewegung gäbe es Spione, die verhinderten, dass man viele Aktivisten auf die Straße brächte. Dem stimmt auch Fjodorow zu, der immer wieder betont, es brauche noch ein, zwei Jahre bis zum „endgültigen Sieg der NOD“.

    Keine noch so große Oppositionsdemo vermag die NOD-ler zu entmutigen. „Da versammeln sich Nawalny-Kämpfer, Schwule, Weißbändchenträger und die Fünfte Kolonne. Natürlich können die diese Großaktionen als Sieg verbuchen. Aber sie gewinnen nur eine Schlacht, wir werden den Krieg gewinnen. Mit jeder unserer Aktionen rückt Russlands Souveränität näher. Es dauert nur noch ein Jahr. Wenn Putin 2018 wieder Präsident wird, ist Schluss mit den Amis“, erzählte mir der betagte Aktivist Waleri und machte sich nach einigen Klagen über Schmerzen in den Beinen und den Streit mit der Ehefrau gemächlich auf den Heimweg von seinem Einzelprotest.

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    Der Traum vom apolitischen Protest

    Apolitisch sei das Volk, so heißt es oft über Russland. Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein, so lautet der Gesellschaftsvertrag. Immer wieder stellt sich in den letzten Jahren auch die Frage, inwieweit dieser am Bröckeln sei.

    Mitte Mai gingen in Moskau nun mehrere tausend Menschen auf die Straße – um gegen den Abriss ihrer Wohnhäuser zu protestieren.

    Bis zu 8000 Moskauer Häuser, zumeist Plattenbauten aus den 1950er und 1960er Jahren, sollen abgerissen und ihre Bewohner umgesiedelt werden. Knapp 1,6 Millionen Menschen könnten betroffen sein. Einige davon werden jetzt von den Moskauer Behörden dazu aufgerufen, für oder gegen das Programm zu stimmen. Nichtwähler werden als Befürworter gezählt, der Abstimmungsprozess insgesamt wird von vielen als intransparent empfunden. Dies und die Angst um ihr Eigentum trieb auch Menschen auf die Straße, die sonst noch nie oder nur selten auf Protest­veranstaltungen waren. Es ist naheliegend, dass viele von ihnen generell mit der Staatsmacht zufrieden sind.

    Die Veranstalter bestanden darauf, dass dieser Protest nicht politisch sei. Warum? – das analysieren Nikolay Epplée und Andrej Sinizyn auf Vedomosti.

    Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru
    Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru

    Die Demonstration im Moskauer Stadtzentrum richtete sich gegen das Renovierungs­gesetz – die wichtigste politische Meldung der letzten Monate – und war als „unpolitisch“ angekündigt worden. Die Organisatoren hatten die Teilnehmer gebeten, keine Parteisymbole zu verwenden. Sie wollten auch nicht, dass auf der Bühne „Politiker“ sprechen.

    Diese abgesteckten Grenzen wurden schließlich überschritten, und der Ausschluss Alexej Nawalnys samt Familie aus den Reihen der gewöhnlichen Demonstrations­teilnehmer sorgte in den Sozialen Netzwerken für einen sinnlosen Skandal.

    Das Wort „Politik“ hat in Russland ein Eigenleben

    Das alles drängt die Frage auf, wo in Russland heute die Linie zwischen Politik und Nicht-Politik verläuft. Die Frage ist fast schon linguistisch. Das Wort „Politik“ hat in Russland ein Eigenleben. Fast könnte man damit Kinder erschrecken.

    Die Entwicklung des politischen Systems seit Beginn der 2000er Jahre hat allmählich dazu geführt, dass unter Politik entweder das legitime Ausüben der Macht oder ein illegitimer Kampf um Macht verstanden wird. Demnach liegt das Politik-Monopol beim Kreml; alle anderen sind entweder loyal, oder sie bekämpfen die bestehende staatliche Ordnung für eine Handvoll Dollars vom State Department (und gehören deswegen bestraft).

    Lösung von Problemen „ohne Ausweitung ins Politische“

    Also ist es durchaus verständlich, dass Menschen, die aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen demonstrieren, jeglichen politischen Anstrich fürchten.

    Jedes Mal wieder hoffen die vom Mautsystem Platon getriezten Fernfahrer oder die Ärzte, die ihr Gehalt nicht bekommen, oder die Bewohner der Pjatietashki, die um ihre Wohnungen bangen, dass es ihnen gelingt, sich ohne „Ausweitung ins Politische“ mit der Regierung zu einigen und ihr spezielles Problem zu lösen.

    Die Situation birgt ein strukturelles Scheitern: Es gibt in Russland keine normale politische Repräsentation, die Systemparteien vertreten niemanden, und die außersystemischen Parteien können in Machtfragen keinen Wettstreit antreten.

    Als Instrument zum Schutz von Bürgerinteressen bleibt nur die Straße. Und das Internet und die Medien.

    Es bleibt nur die Straße

    Übrigens sind einige Proteste, die mit anscheinend unpolitischen Parolen geführt wurden, sehr wohl erfolgreich gewesen: Auf Druck der Bürger wurde der Bau des Ochta-Zentrums in St. Petersburg abgeblasen, die Errichtung eines Denkmals für Fürst Wladimir auf den Moskauer Sperlingsbergen aufgegeben und die kommer­zielle Bebauung der Ländereien der Timirjasew-Akademie unterlassen. Allerdings ist die Zahl der Proteste, deren erklärte Ziele nicht erreicht wurden, sehr viel größer.

    Bedürfnis nach politischer Teilhabe

    Das Wichtigste aber ist, dass die Proteste in Wirklichkeit immer politisch waren und politisch sein werden. Eine Protestaktion könne nicht unpolitisch sein, sie sei eine politische Handlung, sagt die Politologin Ekaterina Schulmann. Die treibende Kraft dahinter sei das Bedürfnis nach politischer Teilhabe und danach, dass die Meinung der Bürger, die Interessen der Bürger berücksichtigt werden. Bei den Moskauer Demonstrationen gehe es um das Bedürfnis nach einer funktionierenden Verwaltung; in dem System, wie es sich derzeit darstellt, würden die Interessen der Bürger nicht vertreten.

    Die Geschichte mit der „Renovierung“ ist umso pikanter, als deren offizielle Ankündigung bei einem Treffen von Bürgermeister Sergej Sobjanin mit Wladimir Putin erfolgte. Der erfolgreiche Beginn des Programms soll (nach Ansicht vieler Experten) Teil des Moskauer Präsidentenwahlkampfes sein. Natürlich ließen Bürgermeister und Präsident das Politik-Monopol dabei unangetastet. Die Demonstranten aber könnten es antasten. Oh, bewahre!

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  • Debattenschau № 51: Ukraine bannt russische Internetseiten

    Debattenschau № 51: Ukraine bannt russische Internetseiten

    Zensur oder Sicherheitsmaßnahme? In einem Dekret hatte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko Anfang der Woche angekündigt, dass mehrere russische Internetseiten, darunter Soziale Netzwerke und Email-Provider, in der Ukraine gesperrt werden – für mindestens drei Jahre. Betroffen sind unter anderen das russische Facebook-Pendant VKontakte, Odnoklassniki, die Suchmaschine Yandex oder der Email-Provider mail.ru – sie gehören zu den Top-10 der beliebtesten Seiten in der Ukraine.

     

    Quelle: TNS Ukraine

    Die überraschende Ankündigung entfachte entsprechend aufgeregte Debatten in der Ukraine und auch in Russland. Vor allem seitens der ukrainischen Zivilgesellschaft und junger liberaler Politiker hat das Vorhaben viel Kritik geerntet. Sie sehen die Meinungsfreiheit bedroht. Befürworter dagegen bewerten es als notwendigen Schritt für die nationale Sicherheit und zur Abgrenzung gegenüber Russland. All diese Argumente werden auch in russischen Medien diskutiert: dekoder bringt Debatten-Ausschnitte aus beiden Medienlandschaften.

    Blog Ukrainska Pravda: Sicherheitslücke füllen

    Der Westukrainer Maksym Sawanewskyj, Online-Experte und Leiter der PR-Agentur PlusOneDa, unterstützt im Blog der Ukrainska Pravda das Verbot vor allem aus Sicherheitsgründen:

    [bilingbox]Es ist kein Geheimnis, dass alle bedeutenden IT-Firmen in Russland von den Geheimdiensten kontrolliert werden oder Informationen mit ihnen austauschen. Die Leute verstehen oft nicht, welche Fülle an Informationen sie den Sozialen Netzwerken übergeben: Informationen über Chats, Freunde, Vorlieben – alles, was man liked, teilt und kommentiert; Webseiten, die man besucht. […]~~~Ні для кого не секрет, що всі значущі ІТ-компанії Росії так чи інакше контролюються або обмінюються інформацією з російськими спецслужбами.

    Люди часто не усвідомлюють, який масив інформації вони передають соцмережам:

    – інформація про коло друзів

    – переписка з ними

    – ваші уподобання – що ви лайкаєте, поширюєте, коментуєте

    – сайти, які ви відвідуєте […][/bilingbox]

     

    erschienen am 16.05.2017

    Meduza: Tipps vom russischen Staats-TV

    Beim Exilmedium Meduza wundert man sich, dass ausgerechnet der staatliche Fernsehsender Rossija 24 in seinem Programm erklärt hat, wie man mit Hilfe von Anonymizern und anderen Tricks die Sperren umgehen kann:

    [bilingbox]Ungeachtet dessen, dass ein föderaler [russischer – dek] Fernsehsender die Benutzung von Anonymizern empfiehlt, werden diese in Russland aktiv bekämpft. Roskomnadsor beispielsweise fordert, dass Anonymizer keinen Zugang zu Seiten geben dürfen, die offiziell in der Russischen Föderation gesperrt sind – und natürlich blockiert die Behörde Anonymizer.

    Hervorzuheben ist, dass die Anleitung für die Ukrainer auf einem Kanal gezeigt wurde, der seit 2014 in der Ukraine verboten ist.~~~Невзирая на то, что федеральный телеканал советует пользоваться анонимайзерами, в России с ними активно борются. Роскомнадзор, в частности, требует, чтобы анонимайзеры закрывали доступ к сайтам, официально заблокированным в РФ — и, конечно, блокирует сами анонимайзеры.
    Отдельно следует отметить, что инструкцию для украинцев показали на телеканале, который с 2014 года запрещен на Украине.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.05.2017

    Vedomosti: Doppelte Standards

    Auch im Wirtschaftsblatt Vedomosti sprechen Pawel Aptekar und Nikolay Epplée von einer widersprüchlichen Haltung russischer Offizieller zum Thema Internetsperren:  

    [bilingbox]Wenn es um Russland geht, wird oft das „souveräne Recht des Staates“ betont, „die Informations-, Technologie- und Wirtschaftspolitik im nationalen Segment des Netzes ,Internet‘ zu bestimmen“. Werden in den Ländern Zentralasiens den jeweiligen Regierungen gegenüber kritische russische Internetseiten blockiert, tun russische Offizielle so, als wüssten sie von nichts. Wenn aber die Ukraine russische Internetseiten sperrt, dann ist das natürlich „politisch motivierte Zensur“.~~~Когда дело касается России, важно «суверенное право государства определять информационную, технологическую и экономическую политику в национальном сегменте сети «Интернет». Когда в странах Центральной Азии происходит блокировка российских интернет-ресурсов, критически настроенных к властям этих стран, российские официальные лица как бы не в курсе. Но если российские ресурсы блокирует Украина, это, конечно, «цензура по политическим мотивам».[/bilingbox]

     

    erschienen am 17.05.2017

    Echo Moskwy: Eine Identitätsfrage

    Alexander Baunow, Chefredakteur von Carnegie.ru, sieht im Interview mit Echo Moskwy die Entscheidung vor allem in der ukrainischen Identitätsfrage begründet:

    [bilingbox]Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Staatsmacht und öffentliche Meinung [in der Ukraine – dek] mehr oder weniger einigen können, ist der: Die Ukraine ist nicht Russland. […]

    Bei der ganzen Geschichte geht es darum, dass dieses Land tatsächlich spürt: Es kann seine Identität nicht aufbauen, solange es in engem Kontakt mit Russland steht, weil die Ähnlichkeit so groß ist, das Gravitationszentrum aber aufgrund der unterschiedlichen Masse in jedem Fall in Richtung Moskau rückt. Der gemeinsame russisch-ukrainische Raum sollte deswegen so wenig wie möglich gemein haben.~~~главный вектор всех сил, на котором более-менее сошлись власти и общественное мнение – что Украина не Россия. […]
    Это все история про то, что действительно это страна чувствует, что свою идентичность, находясь в тесных связях с Россией, она не может построить в связи с тем, что сходство велико, а центр тяжести из-за разности масс все равно, так или иначе, будет откатываться в сторону Москвы. Этого общего российско-украинского пространства поэтому должно быть как можно менее общим.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.05.017

    Nowoje Wremja: Poroschenkos Pseudo-Patriotismus

    Serhij Leschtschenko, einer der führenden liberalen Politiker der Ukraine und Abgeordneter des Block Petro Poroschenko, kritisiert in der ukrainischen Nowoje Wremja das Vorhaben heftig:

    [bilingbox]Das wird alles übel enden. Denn Poroschenkos Plan ist es, die öffentliche Aufmerksamkeit zu verschieben: vom Kampf gegen Korruption hin zu einem Pseudo-Patriotismus. Er wird immer neue Ideen haben, um die Illusion zu erzeugen, dass ausgerechnet er der wichtigste Schutzschirm gegen die russische Aggression ist. Und parallel wird er Szenarien zur Vernichtung des Nationalen Antikorruptionsbüros der Ukraine und zur Diskreditierung von Korruptionsbekämpfern vorantreiben. […]

    Hauptsache ist, möglichst laut über „Moskaus Hand“ zu schimpfen und alle, die nicht einverstanden sind, als „Putins Agenten“ zu bezeichnen.~~~Все это плохо закончится. Потому что идея Порошенко – перевести фокус общественной дискуссии: с борьбы с коррупцией на тему псевдопатриотизма. Он будет выдумывать все новые и новые идеи, призванные создать иллюзию, что именно он – главный заслон от российской агрессии. И параллельно будет продвигать сценарий уничтожения НАБУ и дискредитации антикоррупционеров.
    […] Главное – погромче кричать о „руке Москвы“ и называть „агентами Путина“ всех несогласных. [/bilingbox]

     

    erschienen am 16.05.2017

    Facebook: Social-Media-Flüchtlinge

    Oleksij Tschupa, Poetry-Slammer aus der Ostukraine, gehört zu denen, die die Aufregung wegen des Verbots eher lächerlich finden und ironisch kommentieren:

    [bilingbox]Ein wahrlich hartes Schicksal haben die Ukrainer. Nicht nur, dass viele von ihnen im Laufe ihres Lebens die Stadt oder das Land, ihren Beruf oder ihre Sprache wechseln müssen – jetzt sind sie auch gezwungen, ihr bevorzugtes Soziales Netzwerk zu wechseln. Ach du meine Güte. Schande dem Diktator Poroschenko. […] Wenn es Flüchtlingslager für die Flüchtlinge aus VKontakte und Odnoklassniki geben wird – sagen Sie mir Bescheid, ich werde ihnen ein Brötchen überweisen.~~~Справді трагічна доля випала українському народові. Мало того, що багатьом доводить упродовж життя змінювати місто та країну проживання, доводиться кілька разів за життя змінювати професію чи мову спілкування, так тепер ще й змушені будуть змінювати пріоритетну соцмережу.
    Лышенько-лышенько
    Ганьба диктаторові Порошенку.
    […]
    Коли з’являться табори для біженців із ВК та ОК – дайте знати, перекажу їм булочку.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.05.2017

    Sekret Firmy: Infrastruktur fehlt

    Sergej Petrenko, Ex-CEO des ukrainischen Yandex, äußert im Interview mit dem russischen Business-Portal Sekret Firmy Zweifel in Bezug auf die Umsetzbarkeit des Vorhabens:

    [bilingbox]Anders als Russland verfügt die Ukraine nicht über die Infrastruktur für derartige Blockierungen. Es gibt kein Roskomnadsor oder eine andere Stelle, wo eine Liste der zu sperrenden Seiten veröffentlicht wird. […] 
    Die einzig reale Möglichkeit für eine solche [Sperrung] wäre es, die 1500 Provider (oder wieviele wir hier haben) abzuklappern und sie davon zu überzeugen, bestimmte IP-Adressen zu sperren. Ich weiß nicht mehr, wieviele IP-Adressen Yandex genau hat, aber ein paar Zehntausend sind es sicher.~~~Дело в том, что у Украины, в отличие от России, нет инфраструктуры для таких блокировок. Нет Роскомнадзора или другого места, где публикуется общий список адресов, которые нужно заблокировать. […]
    Единственный реальный способ это сделать — ногами обойти 1500 (или сколько там у нас) провайдеров и уговорить их заблокировать определённые IP-адреса. Я не помню, сколько именно IP-адресов у «Яндекса», но несколько десятков тысяч точно есть.[/bilingbox]

     

    erschienen am 16.05.2017

    dekoder-Redaktion, Inga Pylypchuk

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    Der von Deutschland ausgelöste Krieg forderte schätzungsweise 25 bis 42 Millionen sowjetische Todesopfer. Die offizielle russische Geschichtspolitik zelebriere einen regelrechten „Kult um den Sieg“, meint Sergej Medwedew, eine der profiliertesten Stimmen des liberalen Lagers. Dabei verwandle sich das Erinnern zunehmend in einen Marketing-Gag, die dunklen Epochen der russischen Geschichte würden übertüncht.

    Auf republic.ru analysiert Medwedew, inwiefern das Tragische des Krieges zunehmend als spielerische Farce inszeniert wird.

    Nachrichten aus der Welt des Schönen: Einen Monat vor dem Tag des Sieges kam heraus, dass sich Russen nun eine Hitlerfrisur schneiden lassen können.

    Die Facebook-Userin Olga Makarowa hatte die Preisliste eines Kinderfriseurs in einem Moskauer Einkaufszentrum gepostet, wo Kunden das „Modell Hitlerjugend in zwei Stylingvarianten“ angeboten wird.

    In den sozialen Netzwerken herrschte Aufregung, die Friseurin entschuldigte sich und ließ die strittige Bezeichnung verschwinden. Aber im Zuge der Diskussion wurde klar, dass „Hitlerjugend“ in Friseur-Fachkreisen ein allgemein gebräuchlicher Terminus ist und dieser Haarschnitt in Salons und Barbershops russlandweit angeboten wird.

    Wieso denn immer gleich Hitler?

    Das könnte man kurios finden, für ungeschicktes Naming und eine unerfreuliche Ausnahme halten, aber das Problem liegt viel tiefer. In den letzten Jahren ist in Russland eine ganze Schicht von Wörtern und Begriffen rund um den Zweiten Weltkrieg enttabuisiert worden.

    So wurde etwa das Wort „Faschist“ zu einer derart gängigen Beleidigung, dass es seine Bedeutung komplett verloren hat.

    „Faschismus“ wird heute jegliche für den Sprecher unangenehme Erscheinung genannt: Faschismus findet man in Kiew und im Kreml, in den Reden von Marine Le Pen und Alexander Dugin, bei den Donezker Separatisten und den estnischen Nationalisten. Seit Beginn des Krieges mit der Ukraine hat sich das Wort bis zum endgültigen Bedeutungsverlust abgenutzt.

    Ebenso armselig sind die jüngsten Versuche des Staates, Nawalny mithilfe eines anonymen Videos zu diskreditieren, in dem er mit Hitler verglichen wird – die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens sah man sogar im Kreml ein.

    Hitler ist mittlerweile zum Internet-Mem geworden: Im Netz kursiert ein Demotivator, wo der beleidigte Führer aus einem Zugfenster heraus fragt: „Wieso denn immer gleich Hitler?“    

    Als Ergebnis dieser Wort-Inflation taucht der Haarschnitt Hitlerjugend auf, der gewitzte Unternehmer in Nowosibirsk nennt seine Banja Abwehr und versieht sie mit dem Slogan Mal so richtig Auschwitz-en1, und die Schwestern Karatygin, zwei Studentinnen aus Moskau, antworten im TV-Quiz auf die Frage „Was ist der Holocaust?“ „Ein Tapetenkleister“.

    Wozu denn so an Worten kleben?  

    Ähnliche Fragen warf der Eistanz von Tatjana Nawka und Andrej Burkowski in Auschwitz-Lagerkluft auf. Sie tauften ihn Tanz mit Sternen, da auf den Hemden gelbe Judensterne aufgenäht waren. Und obwohl damit nur das Sujet des Films Das Leben ist schön von Roberto Benigni künstlerisch umgesetzt wurde, war ein so unbeschwerter Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust – in Form einer Unterhaltungsshow, mit applaudierendem Publikum und lächelnden Tänzern – nur durch diese Wertminderung der Wörter und Begriffe möglich, durch die Umwandlung der Katastrophe vom tragischen Symbol in eine choreografische Komposition mit historischem Thema und sicherem Sieg.

    Will man manchen Leuten erklären, warum Frisuren wie Hitlerjugend moralische Konventionen sprengen, stößt man auf offenes Unverständnis: Ist doch ein stylischer Haarschnitt! Wozu denn so an Worten kleben?   

    Dieselbe Abnutzung von Wörtern und Bedeutungen findet sich beim Thema der Stalinschen Säuberungen. Ende letzten Jahres wurde in Moskau in der Uliza Ostoshenka das Restaurant NKWD eröffnet, und obwohl das Schild ein paar Tage später verschwand und man im Restaurant beteuert, die Abkürzung stehe für „Nationale Küchen der Großmacht“, prangen auf der Speisekarte Portraits von Stalin und Dsershinski, im Saal hängt ein großes Portrait des sowjetischen Führers, und die Kellner tragen die Militärhemden aus der Stalinzeit.

    In Tjumen gibt es eine Security-Firma namens Tschekist, die Kindergärten bewacht, in Sotschi die Firma Stalinism, in Barnaul gab es mal einen Erdbaubetrieb namens Gulag und in Wolgograd die OOO Berija. Ihre Besitzer sind wohl kaum überzeugte Verfechter der Säuberungen (auch wenn man das nicht ausschließen kann). Wahrscheinlich wollen sie provozieren und finden, diese Namen hätten Witz und Schärfe, und moralische Bedenken kennen sie nicht.

    Zwei Arten von historischem Gedächtnis

    Hier muss man einräumen, dass im modernen Russland zwei Arten von historischem Gedächtnis existieren: das traumatisierte und das spielerische.

    Zunächst zum traumatisierten: Das entstammt der Erinnerungskultur der Nachkriegsgenerationen, basiert auf dem Trauma des Krieges, der Liste von Verlusten, auf der Idee, der Krieg sei eine fundamentale Katastrophe gewesen und ein Opfer, das die Nation gebracht habe.

    Der sowjetische Diskurs über den Krieg war abgesteckt von moralischen Markern und Tabus, von inneren Beschränkungen und stilistischen Vorgaben. Es war nicht üblich, laut von Heldentaten und Siegen zu sprechen, der Kameraden gedachte man schweigend, ohne mit den Gläsern anzustoßen, ja, und sogar der Tag des Sieges hatte noch 30 Jahre nach dem Krieg, als die Mehrheit der Veteranen noch lebte, den Charakter eines Gedenkrituals, eines frühlingshaften, weltlichen Osterfestes: Ein Fest, begangen mit Augen voll Tränen trifft es am besten.

    Faschisten gab es in der Propaganda, aber nicht im Alltag

    Das Wort „Faschist“ trug eine ernsthafte moralische Ladung, vor allem für die Generation, die den Krieg miterlebt hatte.

    Genauso war der Name „Hitler“ ein mystischer Fluch, den man nicht achtlos aussprechen durfte, da er beim Sprecher blanken Hass auslöste. So erzählte mir meine Mutter, wie sie sich als Kind nachts grausame Hinrichtungen für ihn ausgedacht hatte.

    Und dann gibt es noch ein anderes Kriegsgedenken: das Spiel. Kinder haben es immer gespielt: Als Schuljungen konnten wir einander als „Faschisten“ und Hitler beschimpfen, doch den Erwachsenen war das verboten.

    Außerdem kamen Faschisten in der Propaganda vor, aber nicht im Alltag.

    Ins normale Leben hielten die Faschisten in den 1990ern Einzug. Dieser Wendepunkt ist in Brat 2 von Alexej Balabanow deutlich markiert (zusammen mit Brat 1 eine bis heute gültige Enzyklopädie des russischen Unbewussten): Danila wird zum Waffenkauf in einen Keller geführt, die Figur des Verkäufers trägt den Namen „Faschist“ und eine Wehrmachtsjacke. Danila, mit seinem moralischen Bewusstsein, sagt verblüfft: „Also, mein Opa ist im Krieg gefallen“, worauf Faschist phlegmatisch meint: „Soll vorkommen.“

    Und das war’s dann – das Ende der normativen Kultur, der Beginn der Spiel-Realität, in der Danilas Augen beim Anblick der Schatzkammer voller Waffentrophäen zu glänzen beginnen („Hör mal, woher ist das alles?“ – „Ein Echo des Krieges.“).

    Pathos von Größe und Selbstgefälligkeit

    In den 2000er Jahren drang die spielerisch-kindliche Vorstellung vom Krieg in die offizielle Ideologie und ins Massenbewusstsein durch – der Krieg wurde als harmloses Soldatenspiel betrachtet, die Erinnerung mythologisiert und kommerzialisiert, sie wurde zur gefragten Ware auf dem Markt der Ideologien und Identitäten. Die Epoche der historischen Rekonstruktion und politischen Restauration hatte begonnen.

    Anhänger des zweiten spielerischen Erinnerungstyps sind ebenfalls erfüllt von moralischem Bewusstsein, aber hier ist es bereits Pathos von Größe und Selbstgefälligkeit, von Hochmut und Selbstisolierung.

    Die Opfer sind Anlass zum Stolz, nicht aber zur Trauer. Während das traumatische Gedenken wie eine Beschwörung wiederholt „bloß kein Krieg mehr“, verkündet die spielerische Erinnerung großmäulig: „Wir können das auch wiederholen!“

    Pyrotechnik ersetzt Patriotismus

    In diesen Maitagen läuft in Russland wieder das Festival der Wiederholer, und an den Autos tauchen widerliche Sticker auf, auf denen unter eben diesem Motto Hammer und Sichel ein Hakenkreuz vergewaltigen. Das Land versenkt sich in ein endloses Sarniza-Spiel, in dem der Krieg inszeniert und rekonstruiert und Patriotismus durch Pyrotechnik ersetzt wird – von Alexander Saldostanows Biker-Pride auf der Krim bis zur heiteren Stürmung des Sperrholz-Reichstags im Freizeitpark Patriot.

    Extra zu erwähnen ist die Live-Rekonstruktion des Zweiten Weltkriegs im Donbass mit Hilfe von militärhistorischen Klubs: Die Schlacht um Awdijiwka verwies direkt auf Gefechte des Großen Vaterländischen Kriegs, ukrainische Kriegsgefangene wurden durch Donezk getrieben wie deutsche 1944 durch Moskau. Und Strelkow erschoss Plünderer und Marodeure auf Grundlage einer Verordnung Stalins von 1941.

    Die Grenze zwischen Tragödie und Trolling verschiebt sich

    Für das spielerische Erinnern ist charakteristisch, dass Menschen zu Spielzeugsoldaten werden, zu Hieroglyphen auf einem Plakat, zu den Steinen eines Brettspiels. Die Inflation von Erinnerung und Trauer führt dazu, dass Personen und Dinge, die wir uns nicht getrauten, beim Namen zu nennen, jetzt zu Memes, Werbegags, Markennamen werden – und dann gibt es eben Hitlerjugend-Haarschnitte und Holocaust-Tänze. Vor unseren Augen verschiebt sich die Grenze zwischen Tragödie und Trolling, Schmerz und Witz, Traumata werden enttabuisiert und bereinigt.

    Das ist wahrscheinlich der Zeitgeist, die Postmoderne. An die Stelle der Generationen, die mit Kriegs- und Lagerprosa aufwuchsen, tritt eine Generation, die mit Fjodor Bondartschuks Stalingrad und Sachar Prilepins Obitel aufgewachsen ist, mit Memes, Videogames, bunten Kriegsfilmen und einer Light-Version der Geschichte.

    Auch der Staat macht gern auf postmodern, veranstaltet Reenactments und Paraden, betäubt die Erinnerung an Tragödien und verstärkt den Kult um den Sieg und die Erfolge der UdSSR.

    Spiel statt Trauma, Anästhesie statt Schmerz, Cosplay statt Katharsis: Vor unseren Augen ist das neue, ungetrübte Bewusstsein der 2000er Jahre geboren, das sich ohne Zögern das Georgsband anheftet, die Kinder in Tschekistenkostüme steckt und mit derselben Leichtigkeit beim Friseur oder in der Propaganda den Namen Hitlers dekliniert – die Geschichte ist ein Rummelplatz geworden, auf dem alles tanzt.


    1.Der Slogan aus dem russischen Original – Освенцим отдыхает (Oswenzim otdychajet, wörtl.: „Auschwitz erholt sich“) – verwendet eine weitverbreitete Redewendung aus der Umgangssprache, in der das Verb „sich erholen“ im Sinne von „ist nichts dagegen“, „kann einpacken“ gebraucht wird. Ein direktes deutsches Äquivalent dafür gibt es nicht. In einer ersten Übersetzungsvariante hatten wir uns für die wörtliche Version entschieden („Auschwitz erholt sich“) – ein Teil der Bedeutungsaspekte des Originals muss hier ja in jedem Fall geopfert werden. Nachdem uns ein Leser auf die entstehenden Verständnisschwierigkeiten hingewiesen hat, haben wir nun mit der Konstruktion eines neuen Slogans, der dem russischen in Sinn und Duktus weitgehend analog ist, eine, wie wir finden, gute Alternativlösung gefunden.

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    „Weißt du, da war Krieg“

     

    Das Erinnern an den Großen Vaterländischen Krieg ist in Russland eine feierliche Sache – und war es auch schon zu Zeiten der Sowjetunion: Am Tag des Sieges, der am 9. Mai gefeiert wird, gibt es eine große Parade am Roten Platz in Moskau. Hunderttausende im ganzen Land gehen auf die Straße und feiern den Sieg der Sowjetunion über den Faschismus. Die heutigen militärischen und propagandistischen Ausprägungen des Feiertags – einem der wichtigsten in Russland – werden allerdings immer wieder auch kritisch hinterfragt.

    Eine neue, privatere und persönlichere Form des Erinnerns läutete in jüngster Zeit etwa die Aktion Unsterbliches Regiment ein, eine ursprünglich zivilgesellschaftliche Initiative. Auch wenn diese teilweise von offizieller Seite vereinnahmt wird (auch Wladimir Putin lief bereits mit einem Bild seines Vaters bei einem solchen Gedenkmarsch mit), ist der Ursprungsgedanke, die Geschichte der eigenen Großeltern zu erfragen und zu bewahren. Politische oder kommerzielle Aussagen sind bei dieser Art des Gedenkens dagegen unerwünscht.

    Zum persönlichen Gedenken, das die Geschichte der eigenen Vorfahren würdigt, aber auch kritisches Nachfragen erlaubt, motiviert die Aktion des unabhängigen Exil-Mediums meduza: Es rief seine Leser in diesem Jahr dazu auf, ihnen die Kriegserinnerungen der Eltern und Großeltern zu schreiben. Einzelne Redakteure steuerten außerdem Geschichten aus der eigenen Familie bei. Einige davon hat dekoder übersetzt – und stellt sie an diesem für beide Länder wichtigen Tag neben die russischen Originale.

    Wladimir Zybulski

    Wladimir Zybulskis Großvater Wladimir (rechts) mit einem Kameraden / Foto © Wladimir Zybulski/meduza
    Wladimir Zybulskis Großvater Wladimir (rechts) mit einem Kameraden / Foto © Wladimir Zybulski/meduza

    [bilingbox]Ich bin nach meinem Großvater benannt. Einen Großteil meines Lebens wusste ich Folgendes über ihn: Mit 18 kam er an die Front in den Nachrichtentrupp, er kämpfte bei Stalingrad, arbeitete nach dem Krieg in einer Lokomotivfabrik und hat einmal in einem Film mitgespielt. Ich habe nie mit ihm gesprochen: Er starb zwei Jahre vor meiner Geburt.

    Mama und Oma erzählten immer, dass Großvater sehr zurückhaltend war und dass es Großmutter große Anstrengung gekostet hat, bis er bei seinen Chef um eine Wohnung bat. Außerdem wurde noch erzählt, dass die Orden auf dem feierlichen Portraitfoto in Wirklichkeit nicht seine waren. Er hatte all seine Orden und Medaillen verloren, als er in Berlin in den Zug stieg, und das Portrait musste dann mit den gleichen, aber eben den Orden von jemand anders gemacht werden. Großvater hat lange Jahre an das Ministerium geschrieben, damit sie ihm neue machen, aber vergeblich.

    Wofür genau mein Opa all seine Orden bekommen hat, wurde mir allerdings nie erzählt: Ruhmesorden II. und III. Klasse, den Orden des Großen Vaterländischen Krieges I. Klasse und einige Medaillen.

    Vor ein paar Jahren entdeckte ich dann die Website podvignaroda.ru, auf der man etwas über Verwandte erfahren konnte, die im Krieg waren. Dort fand ich auf Auszeichnungs-Listen, dass mein zurückhaltender Großvater mit 21 Jahren nach Korrektur des Frontverlaufs deutsche Maschinengewehrschützen entdeckt hatte, die um den Beobachtungsposten verteilt waren. Er erschoss damals 15 Deutsche, die übrigen entkamen. Ein bisschen später dann in Berlin „stürmte er ein Haus, in dem Deutsche waren – durch Kugeln aus seiner Maschinenpistole starben acht deutsche Soldaten, drei nahm er gefangen“.

    Ich erzählte meiner Mutter von meiner Entdeckung und die zeigte es meiner Oma. Keine von ihnen wusste, was mein Großvater im Krieg gemacht hatte. Wenn du über Morde im Krieg in Büchern oder in Interviews mit Frontsoldaten liest, ist es das eine; wenn du erfährst, dass auch dein eigener naher Vorfahre getötet hat, beziehst du es auf dich und dir wird ganz schön mulmig. Aber du spürst auch Stolz – auf den Mut deines Opas.~~~Меня назвали в честь деда. Большую часть моей жизни я знал про него следующее. В 18 лет его забрали на фронт связистом, он воевал под Сталинградом, после войны работал на тепловозостроительном заводе и однажды засветился в одном фильме. Сам я никогда с ним не разговаривал: он умер за два года до моего рождения.

    Мама с бабушкой рассказывали, что дед был очень скромный, и бабушке больших усилий стоило заставить его попросить у начальства квартиру. Еще рассказывали, что медали, которые у него на портрете, на самом деле не его. Все свои медали и ордена он потерял, когда садился в поезд из Берлина, и парадный портрет пришлось делать с такими же, но чужими. Дед потом долго писал в министерство, чтобы ему сделали новые награды, но тщетно.

    Чего мне не рассказывали, так это того, за что именно дед получил все свои награды: ордена славы II и III степеней, орден Отечественной войны I степени, ордена Славы II и III степеней и несколько медалей.

    Несколько лет назад я узнал про сайт «Подвиг народа», где можно узнать про воевавших родственников. Там я нашел наградные листы, и выяснилось, что мой скромный дед в 21 год, возвращаясь после исправления линии, обнаружил немецких автоматчиков, окружающих наблюдательный пункт. Тогда он застрелил 15 немцев, остальные разбежались. А чуть позже, уже в Берлине, «ворвался в дом, где находились немцы, и огнем своего автомата убил восемь немецких солдат и троих пленил».

    Я рассказал про свою находку маме, та показала бабушке. Никто из них тоже не знал, что дед делал на войне. Когда читаешь про убийства на войне в книгах или в интервью фронтовиков — это одно; когда узнаешь, что и твой самый ближайший предок убивал тоже, примеряешь на себя — и становится жутко. Но и гордость чувствуешь — за смелость деда.[/bilingbox]


    Lika Kremer

    Lika Kremers Großeltern Marianna und Mark mit Sohn Gidon / Foto © Lika Kremer/meduza
    Lika Kremers Großeltern Marianna und Mark mit Sohn Gidon / Foto © Lika Kremer/meduza

    [bilingbox]Ein Jahr bevor die Deutschen Riga eroberten, bekamen mein Opa Mark und seine Frau – nach 13 Jahren kinderloser Ehe – endlich eine Tochter.

    Der Bruder meines Opas hatte ein Geschäft für Männerhemden, darum hat man ihn gleich nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen 1940 mit seiner Familie als „Kapitalisten“ nach Sibirien deportiert. Mein Opa blieb. Er war Geiger, spielte außerdem Saxophon und leitete ein kleines Unterhaltungsorchester, das in Restaurants auftrat und Stummfilme im Kino Splendid Palace begleitete.

    Als die Gefahr einer deutschen Okkupation aufkam, wussten Opa und seine Familie nicht, ob sie emigrieren sollten oder nicht. Letztlich entschieden sie, dass man mit einem Kleinkind besser nicht ins Unbekannte flieht, und blieben. Zum eigenen Schutz ließen Mark und seine Frau eine Lettin bei sich einziehen, in der Hoffnung, dass die Familie verschont bleibe, wenn die eine Lettin den Pogromverbrechern die Tür öffnet.

    Ab August 1941 gab es in Riga ein Ghetto, in das man meinen Opa mit Frau und Tochter schickte. Vier Monate später nahm man ihnen ihre anderthalbjährige Liba weg, verschleppte sie in den Rumbulski-Wald und tötete sie. Die Frau meines Opas kam ins Konzentrationslager Kaiserwald.

    Mit allen, die arbeiten konnten, durchquerte Mark jeden Morgen unter Aufsicht die ganze Stadt, um Zwangsarbeit zu verrichten. Eines Tages entschied er sich mit einem Mithäftling, Willi Kaplan, zur Flucht.

    Elvira Ronis, jene Lettin, die kurz vor der Deportation bei meinem Opa eingezogen war, lebte noch immer dort. Sie war eine feinfühlige, mutige Frau. Mein Opa erklärte es damit, dass sie einen Buckel und deswegen viel durchgemacht hatte. Als mein Opa noch im Ghetto lebte, kam Elvira täglich an den Zaun und brachte ihm und seiner Familie heimlich Milch. Als Mark und Willi flohen, versteckte sie die beiden schließlich im hintersten Zimmer jener Wohnung.

    Sie lebten dort eine Weile, doch dann entwickelte sich eine Affäre zwischen Elvira und einem deutschen Offizier. Der Offizier schöpfte Verdacht, dass irgendwas in der Wohnung nicht stimmt.

    Aus Angst, aufzufliegen, mietete Elvira eine Werkstatt in der Terbatas Straße 56. Opa und sein Kamerad hoben unter dem Boden eine große Grube aus und versteckten sich in dieser Erdhöhle. Elvira brachte ihnen regelmäßig zu essen. Manchmal setzte sich mein Opa eine Sonnenbrille auf, klebte sich einen Schnurrbart an, verließ das Versteck und ging auf den Markt, um verbliebene Gegenstände zu verkaufen, damit Elvira Geld für Lebensmittel hatte.

    Mein Opa verbrachte ein Jahr und sieben Monate in der Grube. Anfangs waren dort nur zwei untergetaucht, zum Ende des Kriegs hin waren sie zu siebt.

    Am 13. Oktober 1944 hat die Rote Armee Riga befreit. Mein Opa erhielt eine Stelle als Stimmführer der zweiten Geigen beim Orchester des Rigaer Radios. Dort lernte er meine Großmutter Marianna kennen.

    Meine Oma kam gebürtig aus Deutschland, aus der Familie eines erfolgreichen schwedischen Geigers. Ihre Mutter war Jüdin, deshalb war die Familie nach Estland geflohen, als Hitler an die Macht kam. Das wohlhabende deutsche Mädchen lernte über den Sommer alle 14 Fälle der estnischen Grammatik und ging in Tartu in die Schule. Fünf Jahre später wurde Estland sowjetisch, dann begann der Krieg. Meine Oma fuhr mit ihren Eltern per Zug durch das riesige fremde Land bis nach Alma-Ata.

    Während der Evakuierung spielte meine junge Großmutter im Orchester des Mossowet-Theaters, litt Hunger, lernte Russisch sprechen, mit Gewehr überm Rücken Ski fahren und Zuckerrüben ernten. In ihrer Freizeit strickte sie den Schauspielerinnen Pullis mit Hirschen und Sternen und tauschte sie gegen Kartoffeln. Nach dem Krieg zog die Familie nach Riga. Meine Oma begann beim Radio-Orchester zu arbeiten, traf meinen Opa und … mein Papa wurde geboren.

    Ende der 1970er Jahre wanderten meine Großeltern nach Westdeutschland aus. Meine Oma Marianna begann dort ein neues, aufregendes Leben. Sie wurde zur Modenärrin, reiste viel, liebte es, Geschenke zu machen und andere zu überraschen. Und fast alles, was ich machte, kommentierte sie – ohne das „r“ zu rollen, wie es sich gehört – mit dem Wort „Horror“. ~~~За год до того, как немцы захватили Ригу, у моего дедушки Марка и его жены, после тринадцати лет бездетного брака, наконец родилась дочь.

    У дедушкиного брата был магазин мужских сорочек, поэтому сразу после ввода советских войск в 1940 году его вместе с семьей депортировали в Сибирь как «капиталиста». А дедушка остался. Он был скрипачом, играл на саксофоне и руководил небольшим эстрадным оркестром, который выступал в ресторанах и сопровождал немое кино в кинотеатре «Сплендид палас».

    Когда возникла опасность немецкой оккупации, дедушкина семья никак не могла понять, стоит эмигрировать или нет. Решили, что все-таки с маленьким ребенком бежать неизвестно куда нельзя — и остались. Чтобы обезопасить себя, Марк с женой поселили в квартиру латышку, надеясь, что если дверь погромщикам откроет она, семью не тронут.

    В августе 1941-го в Риге появилось гетто — их с женой и дочкой отправили туда. Через четыре месяца полуторагодовалую Либу отобрали, отвезли в Румбульский лес и убили. А дедушкину жену отправили в концлагерь «Кайзервальд».

    Вместе со всеми, кто мог работать, каждое утро Марк шел под конвоем через весь город на принудительные работы. И однажды они, с еще одним узником, Вилли Капланом, решились бежать.
    Эльвира Ронис, та самая латышка, которую дедушка поселил у себя незадолго до депортации, все еще жила у него дома. Это была чуткая и смелая женщина, дедушка объяснял это тем, что у нее был горб — и она сама много натерпелась. Когда дедушка еще был в гетто, Эльвира каждый день приносила к решетке и тайно передавала ему и его семье молоко. В итоге она спрятала сбежавших Марка и Вилли в дальней комнате в той же самой квартире.

    Они прожили там какое-то время, но тут у Эльвиры случился роман с немецким офицером. Офицер начал подозревать, что в квартире что-то не так. Опасаясь разоблачения, Эльвира сняла мастерскую на улице Тербатас, 56. Дедушка и его товарищ вырыли под полом большую яму и спрятались в этой землянке. Эльвира регулярно приносила им продукты. Время от времени дедушка надевал темные очки, наклеивал усы, выходил из укрытия и шел на рынок — продавать сохранившиеся вещи, чтобы добыть для Эльвиры деньги на еду.

    В этой яме дедушка провел год и семь месяцев. Сначала беглецов было двое, но к концу войны стало уже семеро.

    13 октября 1944 года Красная армия освободила Ригу. Дедушка получил место концертмейстера вторых скрипок в оркестре рижского радио. Там он познакомился с бабушкой Марианной.

    Бабушка родилась в Германии в семье успешного шведского скрипача, ее мама была еврейкой, поэтому когда Гитлер пришел к власти, семья бежала в Эстонию. Благополучная немецкая девочка за лето выучила все 14 падежей эстонского языка и пошла в школу Тарту. Через пять лет Эстония стала Советским Союзом, а потом началась война. Бабушка с родителями проехала на поездах через огромную чужую страну и оказалась в Алма-Ате.

    В эвакуации юная бабушка играла в оркестре театра Моссовета, голодала, училась говорить по-русски, бегать на лыжах с винтовкой и собирать сахарную свеклу. В свободное время она вязала артисткам свитера с оленями и звездами и меняла их на картошку. После войны семья переехала в Ригу. Бабушка пошла работать в оркестр радио, встретила дедушку — и у них родился мой папа.

    В конце 1970-х дедушка с бабушкой эмигрировали в Западную Германию. Там бабушка Марианна зажила новой увлекательной жизнью. Стала модницей, много путешествовала, обожала дарить подарки, устраивать сюрпризы. И почти про все, что я делала, бабушка, не выговаривая букву «р», говорила «кошмар».[/bilingbox]


    Galina Timtschenko

    Galina Timtschenkos Großvater Pjotr Iwanowitsch Zerkowny  / Foto © Galina Timtschenko/meduza
    Galina Timtschenkos Großvater Pjotr Iwanowitsch Zerkowny / Foto © Galina Timtschenko/meduza

    [bilingbox]Unmöglich ist es, sich zu erinnern, wann sie dir das erste Mal gesagt haben: „Weißt du, da war Krieg.“ Du blätterst im Fotoalbum mit den Portraits von Opa in Uniform mit den Rauten am Kragen; du siehst, wie Omas Gesicht anfängt zu zittern, wenn sie über ihn spricht; du weißt, dass Mama jedes mal den Ton ausschaltet, wenn sie im Radio oder Fernseher hört Erhebe dich, du großes Land [Wstawai, strana ogromnajadek]; merkst, dass sie deinem Vater nie Kartoffeln auftun und erklären, dass „sie im Krieg nur gefrorene Kartoffeln gegessen haben“; voll Entsetzen schaust du auf den buckeligen orthopädischen Schuh und gewaltigen Stock von Omas Bruder.

    Meine Mama war sechs, als der Krieg anfing. Opa war zu dieser Zeit Hauptmann bei der Roten Armee. Er fuhr schon am 22. Juni los an die Front. Oma und Mama gelang es wie durch ein Wunder in die ihre Heimat nach Perwomaisk in die Ukraine zu gelangen. Einen Monat später wurde das Gebiet [von Deutschen – dek] besetzt.

    Sie unterteilten die vier Jahre unter den Deutschen in die Zeit, „als die Ingenieure da waren“ – damals sorgten die Deutschen für Infrastruktur und zogen gen Osten; „als die Italiener kamen“ – da erinnerte sich Oma, dass die „nie etwas wegnahmen, im Gemüsegarten ernteten sie Tomaten und brachten im Tausch entweder Wäsche oder Brot; „als die Rumänen kamen – da wurde das Haus ratzeputze leergeräumt“; „als die SS-Einheiten kamen“ – das war eine Strafoperation, nachdem sie den Untergrund aufgespürt hatten; und schließlich, „als unsere Leute vorstießen“ – da wurde die Stadt drei Tage bombardiert, und alle saßen drei Tage im Keller.

    Die ganzen vier Jahre nahm meine Urgroßmutter die vier Fotos mit Männern in Uniform nicht von der Wand: ihre drei Söhne Alexej, Pjotr und Nikolai und ihr Schwiegersohn (mein Großvater) Pjotr. Alle waren an der Front, und bis Kriegsende hatte sie von keinem Nachricht.

    Ihr ältester Sohn Alexej war seit 1942 verschollen. Der mittlere Pjotr beendete den Krieg der Garde als Hauptmann und Ordensträger. Der jüngste kämpfte als Infanterist und Oberfeldwebel, ausgezeichnet mit dem Orden des Roten Sterns; aufgrund einer Splitterverletzung hinkte er sein ganzes Leben.

    Mein Großvater, Hauptmann Pjotr Iwanowitsch Zerkowny, war seit Juni 1941 in der Nähe der Stadt Uman verschollen. Nach dem Tod meiner Großmutter fand ich in ihren Unterlagen einen Stapel Suchanfragen an das Verteidigungsministerium. Die letzte hat sie 1991 abgeschickt.~~~Невозможно вспомнить момент, когда тебе впервые сказали: «Знаешь, была война». Ты просто листаешь альбом с портретами деда в военной форме с ромбами на воротнике; видишь, как начинает дрожать лицо у бабушки, когда она говорит о нем; знаешь, что мама каждый раз выключает звук, если слышит по радио или в телевизоре «Вставай, страна огромная»; замечаешь, как отцу никогда не кладут на тарелку картошку, объясняя, что «в войну только мерзлую картошку и ели»; с ужасом смотришь на горбатый ортопедический ботинок и здоровенную трость бабушкиного брата.

    Моей маме было шесть, когда началась война. Дед, к тому времени капитан Красной армии, уже 22 июня уехал на фронт, а бабка с мамой чудом смогли доехать до родного дома в Первомайске (Николаевская область Украины). А через месяц оказались в оккупации.

    Они делили прожитые «под немцем» четыре года на «когда стояли инженеры» — это немцы налаживали сообщение, двигаясь на восток; «когда пришли итальянцы» — тут бабка всегда вспоминала, что те «никогда ничего не отнимали, собирали в огороде помидоры и приносили то белье, то хлеба в обмен»; «когда пришли румыны — и в доме не осталось ничего»; «когда пришли эсэсовцы» — это в городе была карательная операция после обнаружения подполья; и, наконец, «когда наступали наши» — город бомбили трое суток, и все трое суток они просидели в подвале, а во дворе под грушей до 46 года лежала неразорвавшаяся бомба — и прабабка поставила вокруг плетень «от греха».

    Все четыре года прабабка не снимала со стены четыре фотографии мужчин в военной форме: трое сыновей Алексей, Петр и Николай и зять (мой дед) Петр. Все были на фронте, и ни от кого из них до конца войны не было вестей.

    Старший ее сын пропал без вести в 42-м. Средний Петр закончил войну гвардии капитаном и орденоносцем. Младший воевал в пехоте, гвардии старшина, награжден орденом Красной звезды, остался навсегда хромым из-за осколочного ранения.

    Мой дед, капитан Петр Иванович Церковный пропал без вести в июле 1941 года под городом Умань. После бабкиной смерти в ее документах я нашла пачку запросов в министерство обороны, последний из них она отправила в 1991 году.[/bilingbox]

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