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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Der Russe ist einer, der Zäune liebt

    Der Russe ist einer, der Zäune liebt

    Wohnhäuser, Datschen, Gräber, alles wird in Russland eingezäunt, gerne auch blickdicht. Wladimir Rubinski recherchierte für Kommersant über den russischen Wunsch nach Abgrenzung, der, ausgerechnet, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs seinen Lauf nahm.

    Der flächendeckende Zaunbau in Russland kam mit dem Privateigentum. „Als nach der Perestroika massenhaft Datschen in der Moskauer Vorstadt gebaut wurden, wurden sie sogleich hoch umzäunt“, erinnert sich der Kulturwissenschaftler und Historiker für Architektur Wladimir Paperny. „Nicht selten tauchten die Zäune sogar noch vor dem Ziegelsteinpalast auf.“

    In der Sowjetunion habe der Staat das Monopol gehabt, Absperrungen und Grenzen zu errichten. Doch Anfang der 1990er sei dieses Monopol zerschlagen worden. „Weil es plötzlich Privateigentum gab, ging die Idee der Abgrenzung von der zentralisierten staatlichen auf kleinere Institutionen und Privatleute über“, so Paperny. „Die Zentralmacht, die die Zäune baut, zerfällt in kleinere Machteinheiten, die nun ihrerseits  Zäune bauen.“

    Schutz vor ungebetenen Gästen

    Zu dem Thema äußert sich auch Pjotr Saposhnikow, Generaldirektor der Firma Stroisabor, einem der Marktführer der Branche in Moskau und Umgebung. „Die Leute fingen damals – das war Anfang der 1990er – damit an, Privathäuser zu bauen“, erinnert sich Saposhnikow. „Zu der Zeit gab es viele kriminelle Machenschaften, die Menschen wollten sich vor ungebetenen Gästen schützen. Seitdem hat es nicht mehr aufgehört. Dem einen geht es um Schutz, dem anderen darum, etwas zu verbergen. Die Leute haben Angst, etwas zu zeigen.“

    Vom Wunsch nach Abgrenzung zeugen auch die Zugangssysteme in Mehrfamilienhäusern. „Um in seine Wohnung zu gelangen, muss man im Schnitt fünf armierte Türen passieren: drei im Treppenhaus, die vierte im Vorraum auf dem eigenen Stockwerk und die fünfte – die eigentliche Wohnungstür. Dabei haben wir keine besonders hohe Kriminalitätsrate, wir sind nicht in Johannesburg oder Kolumbien“, bemerkt Sergej Medwedew, Politologe und Historiker der Moskauer Higher School of Economics.

    Sergej Medwedew: „Nirgendwo sonst auf der Welt habe ich gesehen, dass Zäune die Grabmale überragen.“ / Foto © Wassili Schaposchnikow/Kommersant
    Sergej Medwedew: „Nirgendwo sonst auf der Welt habe ich gesehen, dass Zäune die Grabmale überragen.“ / Foto © Wassili Schaposchnikow/Kommersant

    Das große Bedürfnis nach Absperrung lässt sich laut Wladimir Paperny damit erklären, dass über 70 Prozent der Moskauer in Kommunalkas gelebt hätten; die eigene Wohnung stelle daher einen Umbruch in den sozialen Beziehungen dar. 

    Ein anderer symbolträchtiger Raum für Zäune ist der Friedhof. „Zäune sind das Hauptmerkmal russischer Friedhöfe. Nirgendwo sonst auf der Welt habe ich gesehen, dass Zäune die Grabmale überragen. Die Zäune sind wichtiger als die Kreuze“, sagt Sergej Medwedew.

    Auf dem Friedhof sind die Zäune wichtiger als die Kreuze

    Im 20. Jahrhundert habe in der Sowjetunion in kürzester Zeit eine Massenumsiedlung vom Land in die Stadt stattgefunden: Anfang des Jahrhunderts hätten 15 Prozent in Städten gelebt, Ende des Jahrhunderts seien es bereits 70 Prozent gewesen. So stelle der Friedhof einen Ort dar, wo der Mensch endlich bekommt, was ihm sein Leben lang fehlte: Privatsphäre und eigene Grenzen.

    Einen Zaun-Bauboom gab es dann Anfang der 2000er Jahre. Bis 2014 wuchs der Markt in der Region Moskau laut Pjotr Saposhnikow exponentiell. Großzügig aufgerundet, wurden pro Jahr allein in der Region Moskau von zehn bis fünfzehn großen Privatunternehmen etwa 3000 Kilometer verschiedenster Zäune errichtet. Würden alle Unternehmen, nicht nur die großen, zehn Jahre lang so produzieren, könnte man den Äquator verzäunen, wie es im Fachjargon heißt. Und wir sprechen hier nur von Privatunternehmen, nur von der Region Moskau, und fast nur von Datscha-Grundstücken.

    „Wie viele Zäune es in ganz Russland gibt, weiß keiner, aber man kann anhand von Datschengrundstücken über ihre Länge spekulieren“, erklärt Andrej Treiwisch vom Institut für Geografie der Russischen Akademie der Wissenschaften. Nach Einschätzung der russischen Gärtnervereinigung gibt es in Russland etwa 16 Millionen Datschengrundstücke. Beziehe man noch die altsowjetischen Datschen und die „Fertigbau-Vorstadtpaläste“ mit ein, komme man auf etwa 20 Millionen. 

    Selbst wenn man von den Angaben des Rosstat ausgehe, der 79.000 private Gärtner-, Gemüseanbau- und Datschenvereinigungen verzeichnet, erreichten die Zäune eine Länge von 790.000  Kilometer (sie könnten die Erde fast 20-mal umrunden).

    Der Zaun symbolisiert die Macht des Eigentümers

    Auf der Moskauer Rubljowka, der hermetischen Wohnwelt für Geschäftsleute und Staatsbeamte, sind die Zäune blickdicht und sechs bis acht Meter hoch. Ähnlich hohe Sichtschutzzäune gibt es sonst nur um Klöster und Gefängnisse herum. „Der Zaun ist ein Segregationsmerkmal im städtischen Raum. Er symbolisiert die Macht des Eigentümers“, bemerkt Alexej Krascheninnikow.

    Für einen amerikanischen Farmer sei ein Zaun in erster Linie eine Markierung, um Streitereien über die Grenzen seines Eigentums zu vermeiden. So etwas sei nur bei entwickelten Institutionen von Recht und Eigentum möglich, und schließe die Hoffnung auf ein faires Gericht mit ein. 

    In Russland liegen die Dinge anders. „In einer Gesellschaft, wo jeder Mensch in der Angst lebte, der Staat oder ein anderer Mensch könne jeden Moment in seinen Bereich eindringen, ist der Zaun ein Symbol des Strebens nach Ruhe und privatem Raum“, schreibt Maxim Trudoljubow in seinem Buch Ljudi sa Saborom (dt. Menschen hinterm Zaun: Privatraum, Macht und Eigentum in Russland). Ihm zufolge gibt es mindestens drei Gründe für die Beständigkeit von Zäunen in Russland: „Erstens waren und sind sie Denkmäler für den nie vollends verwirklichten Traum von Privatheit. Zweitens dienen sie als Pseudolösung für die Probleme mit dem Eigentum – unzulängliche Legitimität und geringer Schutz. Drittens sind Zäune ein konkreter Ausdruck von gegenseitigem Misstrauen der Menschen. Zäune erfüllen überall auf der Welt denselben Zweck, aber bei uns hat sich die Notwendigkeit von Zäunen länger gehalten und ist offenbar stärker ausgeprägt als in anderen Gesellschaften.“

    Pjotr Saposhnikow: „Dem einen geht es um Schutz, dem anderen darum, etwas zu verbergen.“ / Foto © Dimitri Skljarenko/Wikimedia
    Pjotr Saposhnikow: „Dem einen geht es um Schutz, dem anderen darum, etwas zu verbergen.“ / Foto © Dimitri Skljarenko/Wikimedia

    „Zu Sowjetzeiten hat in der Stadt eine andere Kultur dominiert, die mit dem kommunalen Leben und Treiben zusammenhing“, erklärt Alexej Krascheninnikow. Das sei vergleichbar gewesen mit der europäischen Tradition vom Leben in einer local community. Nähmen informelle städtische Gemeinschaften eine zentrale Rolle ein, begünstige dies kooperatives Verhalten unter den Menschen. Allerdings habe es in der Sowjetunion einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied gegeben: „In der westlichen Tradition waren die Bewohner auch Eigentümer. Sie waren in den Regierungsorganen vertreten und hatten ein Stimmrecht. Sie waren Bürger.“ Die Basis des Ganzen sei Selbstorganisation gewesen – in der Sowjetunion sei diese dagegen dagegen unterdrückt und de facto erstickt worden. 

    Der Zaun verdeckt die unansehnliche Wirklichkeit

    Der russische Zaun hat noch eine weitere Funktion: Er verdeckt die unansehnliche Wirklichkeit. 

    2011 hat die Regierung von Uljanowsk im Zuge der Vorbereitungen auf den Besuch des damaligen Präsidenten Dimitri Medwedew einen Gartenverein mit einem zwei Meter hohen Sichtschutzzaun abgeschirmt. Allerdings vergaß man, eine Tür einzubauen. Den Eigentümern schlug man vor, sich zu gedulden, bis der Präsident wieder abgereist sei. Im selben Jahr empfing man Medwedew auch in Lytkarino mit einem Zaun. Dort hatte man ein dreistöckiges Haus, das einer Baracke ähnelte, auf diese Weise „dekoriert“. Auf solche Zäune sind auch Wladimir Putin und Sergej Sobjanin bei ihren Reisen gestoßen.

    Ein aktuelleres Beispiel: Die Regierung von Samara beabsichtigt zur Fußballweltmeisterschaft dekorative Zäune von zwei bis zweieinhalb Meter Höhe entlang der Gästeroute zu errichten. Ausländer, die zur WM kommen, werden also mit allen Ehren empfangen – wie die führenden Politiker des Landes.

    „Den meisten ist es recht so“, erklärt Sergej Medwedew. „Viele sehen die Dinge, wollen aber nichts anrühren, weil sich diese soziale Ordnung etabliert hat. Diese Ordnung infrage zu stellen, hieße das gesamte politische System infrage zu stellen.“

    Der Historiker betont, dass jede Kultur, insbesondere aber die sowjetische und auch die russische, auf eine Begrenzung der Bewegung im Raum ausgerichtet sei. Die Entscheidung, was und wie zu begrenzen sei, werde im Endeffekt von einzelnen Personen getroffen, denen dieses Recht von der Regierung übertragen wurde. „Gerade verwirklichen sich alte, langfristige Modelle der russischen Geschichte, die leicht eingefroren waren“, erklärt Sergej Medwedew. „Das alles rührt von einem Halbkriegsstaat her, der auf sein Überleben bedacht ist. Gerade werden archaische Schichten der russischen Psyche wiederbelebt, und mit diesem russischen Archaismus drängt auch die Sache mit den Zäunen an die Oberfläche.“

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  • „Nur ein Idiot versteht den Ernst der Lage nicht“

    „Nur ein Idiot versteht den Ernst der Lage nicht“

    Da kopulieren ein Stalin-Klon und Chruschtschow, ein Bojar wird hingerichtet, es folgt die Gruppenvergewaltigung seiner Witwe, auch die Sprache ist voller Gewalt und Sex: Vladimir Sorokin verstößt in seinen Werken gezielt gegen Tabus und gilt als enfant terrible der russischen Literatur. Seine umstrittenen Werke sind zu lesen als Parabeln auf das post-sowjetische Russland und seine imperialen Vorläufer. Während die kremlnahe Jugendorganisation Iduschtschije Wmeste 2002 Sorokins Werke öffentlichkeitswirksam in einer Toilettenattrappe versenkte, feiern Sorokins Anhänger seine Bücher als geradezu prophetische Meisterwerke.

    Seine Werke erschienen erst nach der Perestroika auch in Russland, heute lebt Sorokin in der Nähe von Moskau und in Berlin. Zu seinem 60. Geburtstag im Jahr 2015 hatte ihn Andrej Archangelski, bekannter Feuilletonist und Kultur-Redakteur bei Kommersant-Ogonjok, getroffen. Im Interview nimmt Sorokin die zeitgenössische russische Literatur, Politik und Gesellschaft auseinander. Es bleibt nicht viel übrig. Zu Sorokins 62. Geburtstag im August 2017 veröffentlichte Ogonjok das Interview erneut.

    Vladimir Sorokin gilt als enfant terrible der russischen Literatur / Foto © Jewgeni Gurko/Kommersant
    Vladimir Sorokin gilt als enfant terrible der russischen Literatur / Foto © Jewgeni Gurko/Kommersant

    Kommersant-Ogonjok: Wenn die Leute hören, wie alt der Schriftsteller Vladimir Sorokin ist, ist die Verwunderung groß: „Wie ist das möglich?!“ Wundern Sie sich auch selbst?


    Vladimir Sorokin: Nein. Ganz ehrlich, auch wenn das ein wenig anstößig klingt, ich bin innerlich in meiner Studentenzeit steckengeblieben. Hoffnungslos. Im Inneren bin ich ein ewiger Student. Da kann ich gar nichts gegen tun. Ich bin einfach nie erwachsen geworden.


    Sie gelten noch immer, sagen wir mal, schon die letzten 30 Jahre als das wichtigste literarische Ereignis Russlands. Ich möchte Ihnen damit jetzt gar nicht unbedingt ein Kompliment machen – das ist ja eher ein Problem. Sie sind nicht mal ein Produkt der 1990er, sondern der unzensierten Kunst der Sowjetunion. Das heißt, seitdem gab es in der russischen Literatur nichts grundsätzlich Neues. Da stimmt was nicht.


    Andrej, kein Kommentar … Reden wir lieber über andere Autoren. Ich frage meine Bekannten in verschiedenen europäischen Ländern: Was lest ihr von der zeitgenössischen russischen Literatur? Diese Frage habe ich auch einem alten Freund gestellt, dem deutschen Slawisten Igor Smirnow – ein knallharter Fachmann. Er sagte lakonisch: „Ich kann die postsowjetische Prosa nicht lesen. Sie ist einfallslos.“ Dem kann ich mich nur anschließen. Denn die postsowjetische Prosa ist gleichsam aus den Scherben vorheriger Errungenschaften zusammengesetzt. Und das ist ein Problem.

    Ich kann die postsowjetische Prosa nicht lesen. Sie ist einfallslos

    Mir geht es genauso, ich schlage einen neuen Roman auf, lese fünf Seiten und lege ihn weg. Völlig überraschungsfrei. Gibt es also keine Schriftsteller? Aber die Leute schreiben doch, veröffentlichen, werden gelesen. 

    Ich habe dem legendären Verleger Sascha Iwanow, der den Finger immer am literarischen Puls der Zeit hat, dieselbe Frage gestellt: „Wo sind die neuen Sterne am Literaturhimmel?“ Er sagt: „Weißt du, Volodja, da geht es nicht um einzelne Sterne, sondern um den Sternenhimmel.“ 

    Er liegt damit tatsächlich absolut richtig: Von der Literatur erwartet niemand mehr existenzielle Offenbarungen, Erschütterungen. Man erwartet von ihr entweder Behaglichkeit oder euphorisches Vergessen. Was im Prinzip ein und dasselbe ist.

    Wollen Sie damit sagen, dass die Literatur am Ende ist? … Dass es keine objektiven Umstände für ihr Entstehen gibt? Ist es das Ende der Literatur an sich? Oder ist gerade einfach nicht die Zeit dafür? … 

    Hm, was das Ende angeht, weiß ich nicht – solange es noch einen einzigen Leser gibt, ist die Literatur nicht tot. Man möchte glauben, dass das nur eine Phase ist … Aber was danach kommt, weiß niemand. Weil die Welt der digitalen und visuellen Technologien den Menschen immer wieder auf seine Robustheit hin testet. Der Mensch ist so ein formbares Tier – der zerbricht nicht, sondern verbiegt sich. Bis er schließlich in diesem gekrümmten Zustand sich selbst zuwiderhandeln kann. Wenn das Visuelle dann alle wieder langweilt, dann ist vielleicht wieder Platz für wortgebundene Phantasie. Wenn der Mensch zu sich zurückkehren will. Oder klingt das utopisch?

    Was vor 50 oder 40 Jahren noch Merkmal einer bestimmten literarischen Strömung war, des Konzeptualismus, ist jetzt zur Regel geworden. Nun hat sich aber das System der schriftstellerischen Tätigkeit insgesamt sehr wohl verändert. Der Autor setzt sich wieder unter’n Apfelbaum und denkt, jetzt schreib ich wie Turgenjew. Oder wie Schukschin. 

    Da haben Sie recht. Aber was meiner Ansicht nach den meisten zeitgenössischen Autoren fehlt, sind eigene Welten. Sie benutzen quasi fremde Möbel, wollen keine eigenen erfinden, drechseln, zusammenbauen. Du schlägst ein Buch von Prilepin auf und merkst sofort, diese Eichenholzstühle kennst du schon aus der sowjetischen Prosa, nur hat er sie so modisch glänzend lackiert und bunt gepolstert. Aber wir suchen in der Literatur doch das Einmalige. Platonow, Charms, Bulgakow, Schalamow, Sascha Sokolow, Mamlejew, die waren einmalig. 

    Zeitgenössische Autoren benutzen fremde Möbel, wollen keine eigenen erfinden, drechseln, zusammenbauen

    Obwohl es Leute gibt, die gern immer die gleichen Romane lesen. Aber das ist schon eine Art literarisches Fitnesstraining. Jedes Jahr lässt der Autor einen erwarteten und vorhersagbaren Roman vom Fließband plumpsen. Das Fließband der Pop-Literatur läuft ohne Unterlass. Nein, ich bin bei der Literatur für die Einzelanfertigung.

    Auch wenn das im Hinblick auf Ihre Prosa absurd klingt, aber früher hat Sie doch eigentlich der Mensch interessiert. Alles drehte sich um das Individuum, auch wenn es ein grauenhaftes Ungeheuer war. Sie haben versucht, damit zu arbeiten. Und dann haben Sie den Menschen irgendwie fallengelassen. Ich würde sagen, Sie sind enttäuscht vom Individuum.

    Ich kann dazu wenig sagen. Ich verlasse mich schon mein Leben lang auf meine Intuition und wenn ich arbeite, dann funktioniere ich im Grunde wie ein Medium. Deswegen analysiere ich nie während der Arbeit. Ich löse einfach gewisse Konstruktionsaufgaben. Das ist ein komplexer Prozess, den man schwer erklären, formulieren kann.

    Aber wenn Sie schon so eine Frage stellen, (lacht) so eine anthropologische! Ja, ich würde sagen, dass ich vom postsowjetischen Menschen mehr enttäuscht bin als vom sowjetischen. Weil im sowjetischen Menschen eine gewisse Hoffnung lag – dass er früher oder später Sowjetisches, Allzusowjetisches in sich überwinden kann, dass das zusammen mit der Struktur verschwindet. 

    Der postsowjetische Mensch ist nicht fähig, um sich herum eine normale Gesellschaft aufzubauen. Er erzeugt absurdes Theater

    Jetzt ist klar geworden, dass es im 20. Jahrhundert zu derartigen Mutationen kam, begleitet vom Massenterror, dass das genetische Opfer dieser furchtbaren Selektion eigentlich darin besteht, dass der postsowjetische Mensch nicht nur nicht gewillt ist, den sowjetischen Eiter aus sich herauszudrücken, sondern ihn, im Gegenteil, auch noch als frisches Blut wahrnimmt. Aber mit solchem Blut wird er zum Zombie. Er ist nicht fähig, um sich herum eine normale Gesellschaft aufzubauen. Er erzeugt absurdes Theater.

    Es ist mittlerweile banal zu sagen, dass wir seit ein paar Jahren in der von Ihnen im Roman Telluria erdachten Welt leben: Wir haben von protosowjetischen, irgendwie rekonstruierten „Volksrepubliken“ gelesen, in denen Touristen Extremurlaub suchen – ein Wochenendtrip in die alte UdSSR. Das las sich alles als Utopie – genau bis 2014. Und dann wurde das, genauso wie alles andere, was Sie erfunden, was Sie, wie sich herausstellte vorhergesehen haben, zum Gemeinplatz. Macht Ihnen das nicht Angst, dass Sie das alles erfunden haben?

    Diese letzte Frage, Andrej, ist mittlerweile auch schon banal, sorry. Nein, Angst macht mir das nicht … Das Leben ist härter als die Literatur. Ja, tellurische Züge sind in den aktuellen Entwicklungen bereits offensichtlich. 

    Mir kommt es vor, als führen wir mit einem riesigen Schiff, dessen Deck ins Wanken kommt

    Mir kommt es vor, als führen wir mit einem riesigen Schiff, dessen Deck ins Wanken kommt und in Schieflage gerät. Und damit meine ich nicht nur das Schiff Russland. Auf der Europa fangen die Möbel genauso an zu rutschen, auch wenn die Leute hübsch an Deck flanieren, tanzen und an der Bar sitzen.

    Alle Ihre Bücher der 1980er und 1990er handeln, wenn ich das richtig verstehe, von der Grausamkeit, die jeder von uns in sich trägt. Die Lektüre Ihrer Werke hat dann den richtigen Effekt, wenn man beginnt, vor sich selbst auf der Hut zu sein. In jedem von uns schläft die Hölle, die muss man niederhalten. 
    Seit 2014 ist so ein gesellschaftliches Phänomen aufgetaucht, das alles verschlungen hat – eine völlig unmotivierte Grausamkeit ist zum Vorschein gekommen. Die nicht einmal physisch ist, sondern moralisch.

    Sie ist ontologisch. Die russische Grausamkeit hat eine lange Geschichte, über viele Jahrhunderte. Die aktuelle, postsowjetische, ist eine Variation auf dasselbe Thema. Das spüren wir alle auf energetischer Ebene, da geht es gar nicht mal um Fernsehen, Politik oder Kriegshandlungen. Sondern darum, wie sich die Menschen auf der Straße verhalten, in der Metro, am Steuer … Und ich finde, das ist auch ein Symptom dessen, dass die Gesellschaft nicht einfach die Stabilität verliert, sondern den Glauben an die Zukunft. 

    Es herrscht ein Gefühl, dass da etwas auf uns zu kommt. Das habe nicht nur ich

    Das hat nichts zu tun mit der neuen Reichsidee von wegen „wir sind die Besten“, wir sind von Feinden umzingelt, das geht tiefer. Das hängt eben mit der Schieflage des Decks zusammen. Wenn ein Erdbeben losgeht, versetzt das alle Tiere in Angst und Schrecken. Die einen jaulen verzweifelt, die anderen schnappen zu. Insofern … herrscht ein Gefühl, dass da etwas auf uns zu kommt. Das habe nicht nur ich.    

    In Telluria gibt es viele Typen von Zukunft, aber es gibt keinen, der uns die Realität beschert hätte und den ich als Katastrophentyp bezeichnen würde: Ein Mensch, der der ganzen Welt den Zusammenbruch wünscht – als Strafe für irgendwelche Sünden. 
    Woher kommt eine solche Reaktion nach Jahren voller neuer, nie dagewesener Möglichkeiten – in denen sich der Bewohner Russlands so viel leisten konnte wie nie zuvor?

    Nochmal, die Menschen haben nicht das Gefühl, dass uns glückliche Zeiten bevorstehen. Man muss schon ein Idiot sein, um den Ernst der Lage nicht zu erkennen, in die Russland nach der Krim geraten ist. Von jungen Leuten höre ich ständig: „Ich habe hier keine Zukunft.“ Gespräche über Emigration sind zur Normalität geworden. Die Gesellschaft zittert in unheilvoller Vorahnung. 

    Man muss schon ein Idiot sein, um den Ernst der Lage nicht zu erkennen, in die Russland nach der Krim geraten ist

    Wofür kann sich der postsowjetische Mensch verachten? Dafür, dass er es nicht geschafft hat, frei zu werden, das Prinzip der Staatsmacht zu verändern. Die Staatsmacht war schon immer ein Vampir, und sie ist es auch geblieben. 

    Reden wir darüber, was diesem Bösen entgegentreten soll. Es hat sich gezeigt, dass wir überhaupt keine Friedensethik haben, keine friedliche Tradition, kein Konzept des friedlichen Zusammenlebens. Nach all den Sowjet-Plakaten mit Tauben und durchgestrichenen Atombomben drauf hat sich herausgestellt, dass dieses Friedensprogramm komplett hohl und inhaltsleer war. 

    So wie es auch keine Freundschaft gab, im Grunde. Ich meine dieses sowjetische Seit an Seit … Das war ein grandioser, von der Staatsmacht geförderter Selbstbetrug. In der Kommunalka ist die Freundschaft immer eine erzwungene. Ich glaube, wir haben noch immer eine der am meisten atomisierten und isolierten Gesellschaften. Im Grunde, Andrej, je weiter ich mich zeitlich von der Sowjetzeit entferne, desto hässlicher und fürchterlicher erscheint sie mir. Das war wirklich ein Reich des Bösen. Was war das für ein Weltfrieden, wenn der Krieg der Staatsmacht gegen das Volk unaufhörlich im Gang war – verstecke sich wer kann. 

    Die sowjetische Vergangenheit wurde nicht begraben, und so ist sie in mutierter und gleichzeitig halbverwester Form wieder auferstanden. Und wir müssen jetzt mit diesem Monster leben

    Viele Dinge, die heute passieren, sind nicht verarbeitete Komplexe aus der sowjetischen Vergangenheit, und da schlage ich wieder in meine Lieblingskerbe: Die sowjetische Vergangenheit wurde nicht zur rechten Zeit begraben, also in den 1990er Jahren. Sie wurde nicht begraben, und so ist sie in mutierter und gleichzeitig halbverwester Form wieder auferstanden. Und wir müssen jetzt mit diesem Monster leben. Das diejenigen sehr geschickt erweckt haben, die ganz genau wussten, wie es aussah, wo seine Nervenzentren liegen. Dort haben sie die jeweiligen Nadeln gesetzt. So ist das mit dem vaterländischen Voodoo. Ich fürchte, die Folgen dieses Experiments werden katastrophal sein.

    Und diese neue Sprache des Hasses – erforschen Sie die? Das ist doch Ihr Element.

    Was die Sprache des Hasses angeht, war unser Land schon immer reich. Es genügte schon, in der Stoßzeit im sowjetischen Bus zu fahren. Eine Fundgrube! Da braucht es eigentlich keine besondere Aufmerksamkeit, ich habe feine Ohren. Doch der heutige, neoimperiale, sozusagen offizielle Hass … in dieser Sprache liegt trotz all ihrer Grimmigkeit und Vulgarität etwas Hysterisches, eine gewisse Schwachheit. Man kriegt so ein Gefühl, die Leute würden kapieren, dass sie das jetzt hinausschreien müssen, weil es morgen vielleicht nichts mehr zu schreien und niemanden mehr anzuschreien gibt.Man spürt in alldem eine gewisse Agonie. Wenn man das mit der Rhetorik des alten totalitären Regimes vergleicht, dann wurde damals mit großem Vertrauen in den morgigen Tag gesprochen. Der Massenterror half dabei. Sie wussten, solange es den Eisernen Vorhang gibt, gehört die Zukunft ihnen. Und das spürte man in jeder Zeile der Prawda

    Aber wenn jetzt der Fernsehmoderator sagt: „Wir können die USA jederzeit in radioaktive Asche verwandeln“, dann glaub ich ihm das nicht. Der glaubt sich ja selbst nicht.

    Im Grunde leben wir in einer üüüberaus spannenden Zeit! Das ist schon lange nicht mehr Gogol, sondern Charms … 

    Ist so etwas wie Reue möglich, ein Eingeständnis eigener Fehler, eigener Schuld – als Form der endgültigen Einschläferung dieses Zombies, dieses Monsters? 

    Reue kann es erst nach der Katastrophe geben. Das ist keine Arznei, die man verabreichen kann. Ich glaube, freiwillig wird es hier keine Reue geben. Um zu bereuen, muss man erst ordentlich hinfallen, sich den Kopf anschlagen und, während man sich die Beule reibt, fragen: Was hab ich falsch gemacht? Für die Reue muss man sich selbst von der Seite sehen, als Ganzes und ohne Beschönigung.

    Die Geschichte insgesamt hat auch die absolute Schwäche der zeitgenössischen Kultur aufgezeigt. Ist das nicht ihr grandioses Scheitern?

    Die Kultur ist eine zarte Dame, keine Junge Frau mit Ruder. Für sie war das Déjà-vu mit dem Sowok zu viel des Guten. Sie braucht Zeit, um wieder zu sich zu kommen. Setzt sich erstmal ein Weilchen auf die Chaiselongue und verschnauft.

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  • Was ist eigentlich im Nordkaukasus los?

    Was ist eigentlich im Nordkaukasus los?

    Der Nordkaukasus ist in der Wahrnehmung, auch in der Literatur und Kultur oft Russlands „Anderer”. Als „inneres Ausland” empfinden viele diese ethnisch vielfältige Bergregion im Süden Russlands, in der vorwiegend Muslime leben. Sie reicht von Dagestan im Südosten, über Tschetschenien, Inguschetien, Nordossetien bis Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien.

    Das Gebiet fiel erst im 19. Jahrhundert, nach dem Kaukasuskrieg von 1817 bis 1864 an Russland. Die Separatismus-Bestrebungen, die in die beiden Tschetschenienkriege mündeten, die Geiselnahme von Beslan – auch in jüngster Zeit gibt es viele für die russische Gesellschaft traumatische Ereignisse, die mit dem Nordkaukasus verbunden sind.

    Denis Sokolow, Soziologe an der Hochschule RANCHiGS und Nordkaukasus-Experte, bricht im Interview mit Rosbalt einige Mythen auf: Er macht viele Gemeinsamkeiten und Parallelen zu anderen russischen Regionen aus und betont, wie unterschiedlich der Nordkaukasus vor allem in sich selbst ist. Separatismus-Ängste hält er heute für aufgeblasen – und warnt stattdessen vor ganz anderen Entwicklungen.

    Denis Sokolow / © Foto privat
    Denis Sokolow / © Foto privat

    Tschetschenien wird manchmal als Russlands „inneres Ausland“ bezeichnet. In Dagestan und Inguschetien entwickeln sich die Dinge, wie uns scheint, nach demselben Szenario?

    Heute kann man fast jede Region Russlands als „inneres Ausland“ bezeichnen. Institutionell gibt es im Land keinen Zusammenhalt mehr. Es gibt nur den Homo sovieticus, der die letzten Jahre seines Lebens mit der Elite der Putingeneration verbringt, und eine bröckelnde Vertikale, die sich vor allem auf Geld und Gewalt stützt. Aber Institutionen, die den Staat festigen würden, gibt es eben praktisch keine mehr. Höchstens den FSB – aber das ist eher ein oligopolistisches Netz, das Kontrolle über Gewalt und Geldströme ausübt …

    Inwiefern ist das Fehlen institutioneller Klammern gefährlich für den Nordkaukasus?

    Gerade diese Region gilt als separatistisch gestimmt. Nach 1991 blieb fast keine (russische) Kolonialbevölkerung im östlichen Nordkaukasus.

    Insofern ist hinsichtlich seiner Bewohner der Nordkaukasus, besonders der östliche, schon so gut wie entrussifiziert. Zudem werden die demografischen Prozesse von einer aktiven Re-Islamisierung, einem Import und Wiederaufbau islamischer Institutionen, begleitet.

    Die Gruppen, die irgendeinem separatistischen Projekt die Stange halten, sind aufgrund eines Mangels an Geld, Ressourcen, politischer Organisation und Unterstützern nicht in der Lage, es umzusetzen

    Aber gleichzeitig hat die regionale politische Elite kein eigenes Programm. Die Gruppen, die irgendeinem separatistischen Projekt die Stange halten, sind aufgrund eines Mangels an Geld, Ressourcen, politischer Organisation und Unterstützern nicht in der Lage, es umzusetzen.

    Sind Befürchtungen, die Republiken des Nordkaukasus könnte den russischen Staat als ganzen auf die Probe stellen, also unbegründet?

    Die werden aufgeblasen, weil sie für die, die dort leben, und für die, die der Region das Budget zuteilen, Vorteile haben. Man muss dabei auch bedenken, dass im Fall einer Schwächung des Staates alles anders werden kann.

    Es ist so, dass es in der Region erstens keine richtige politische Elite gibt. Jede ihrer Generationen wurde gesäubert – zuerst vom Russischen Reich, dann von der Sowjetunion und jetzt vom neuen Russland. Menschen, die diese Elite sein könnten, werden entweder in die Moskauer Elite hineingezogen, oder aus dem Bereich des Politischen hinausgedrängt.

    In der Region gibt es keine richtige politische Elite. Jede ihrer Generationen wurde gesäubert – zuerst vom Russischen Reich, dann von der Sowjetunion und jetzt vom neuen Russland

    Eine weitere Zeitbombe sind die vielen strittigen territorialen Fragen. Zweifellos werden außenpolitische Faktoren eine große Rolle spielen – das Verhalten der Nachbarländer, der Türkei, des Irans, Westeuropas etc. Die Chancen auf eine unblutige Lösung denkbarer Konflikte stehen allerdings nicht sehr hoch. Wenn der Staat schwächer wird, müssen wir mit großer Wahrscheinlichkeit durch einen Krieg aller gegen alle durch.

    © Peter Fitzgerald/Wikimedia
    © Peter Fitzgerald/Wikimedia

    Die Situation ist also sehr eigenartig. Der Status quo verhindert die Ausformung einer politischen Elite und die Einrichtung von Institutionen in der Region. Doch die Aufhebung dieses Status quo würde Blutvergießen bedeuten.

    Die Chancen auf eine unblutige Lösung denkbarer Konflikte stehen nicht sehr hoch

    Was zuerst eintreten wird – ob einer bestimmten Gruppe, die von Moskau-gestützten Eliten ausgebeutet wird, der Geduldsfaden reißt, oder ob das System schwächer wird und all diese Konflikte wie in den letzten 100 Jahren gelegte Minen ganze Völker gegeneinander aufhetzen werden? Man wird sehen.

    Wäre es möglich zu versuchen, die Beziehungen zu den nordkaukasischen Republiken nach einem anderen Modell zu gestalten, um eine Verschärfung der Lage zu vermeiden?

    Das politische System, das sich jetzt in Russland etabliert hat, hat die Entwicklung von Institutionen und politischen Eliten im ganzen Land gehemmt. Das soziale Gefüge liegt darnieder. Diesbezüglich würde ich zwischen dem Nordkaukasus und allen anderen Regionen gar keinen Unterschied machen. Vielmehr gibt es im Nordkaukasus immerhin ein Grundgerüst, von dem ausgehend man sich arrangieren kann. Es gibt wenigstens gewisse informelle Eliten – Autoritäten verschiedener ethnischer Gruppen. In anderen Regionen gibt es nicht einmal das.

    Das soziale Gefüge liegt darnieder. Diesbezüglich würde ich zwischen dem Nordkaukasus und allen anderen Regionen gar keinen Unterschied machen

    Glauben Sie mir, wenn dem Kaukasus gute Institutionen angeboten werden, nimmt er sie an. Selbst kann er, wie alle anderen Regionen Russlands auch, keine Alternativen hervorbringen.

    Also sind alle derzeit vorgeschlagenen Angebote zur Entwicklung des Nordkaukasus nur eine Bekämpfung von Symptomen, nicht aber der Krankheit selbst …

    Damit lösen einfach schlaue einflussreiche Köpfe ihre eigenen Probleme. Die einen wollen Minister werden, die anderen zu Geld kommen, die nächsten ihren Platz in der Expertenszene behaupten. Und es gibt keinen Grund zur Annahme, dass ihnen das nicht klar wäre.

    Glauben Sie mir, wenn dem Kaukasus gute Institutionen angeboten werden, nimmt er sie an

    Das Problem ist, dass es aus der gegebenen Situation keinen einfachen Ausweg gibt. Niemand hat Lust, unlösbare Probleme zu lösen.

    Tschetschenien ist eine besondere Region, in der das Leben nach eigenen Gesetzen abläuft – zu dieser Auffassung ist man in den vergangenen Jahren gelangt. Kann man den ganzen Nordkaukasus als eine solche „besondere Region“ bezeichnen?

    Zweifellos ist der Nordkaukasus als Ganzes anders als der Rest Russlands. Gleichzeitig besteht er aber aus mindestens zwei Teilen. Aus dem westlichen Nordkaukasus und dem Nordkaukasus östlich der Georgischen Heerstraße und der Darialschlucht – also Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan. Sie sind sehr unterschiedlich.

    Zweifellos ist der Nordkaukasus als Ganzes anders als der Rest Russlands. Gleichzeitig besteht er aber aus mindestens zwei Teilen

    In den Republiken des westlichen Nordkaukasus, zum Beispiel, besucht nicht mehr als ein Prozent der Bevölkerung konstant Moscheen und Kirchen. In Dagestan, Tschetschenien und Inguschetien dagegen fühlt sich fast jeder Einwohner auf die eine oder andere Weise irgendeiner religiösen Gemeinschaft zugehörig.

    Das liegt daran, dass der westliche Nordkaukasus seinerzeit viel stärker sowjetisiert war. Der östliche Nordkaukasus dagegen wurde in weit geringerem Ausmaß kolonialisiert. Natürlich wurden im Russischen Kaiserreich und dann auch in der Sowjetzeit die regionalen Dschamaas transformiert. Doch gleich die erste postsowjetische Generation stellte die dörfliche und städtische Kultur wieder her, und in den 1990ern begann die islamische Wiedergeburt.

    Für die Bewohner des östlichen Nordkaukasus sind die Beziehungen innerhalb der Dorfgemeinschaft im Grunde wichtiger als Wahlen

    Außerdem wurde in den letzten Jahren der UdSSR wieder das WaqfEigentum eingeführt (eine Art Stiftung einer Religionsgemeinschaft), und der Grundbesitz von Familien fiel als zum Hof gehöriges Land wieder an die früheren Hausherren. Das war nicht schwierig – im Kaukasus weiß jeder, wo die Steine seines Clans liegen. 

    Für die Bewohner der östlichen Republiken des Nordkaukasus sind die Beziehungen innerhalb der Dorfgemeinschaft im Grunde wichtiger als Wahlen, politische Intrigen oder die Konkurrenz verschiedener islamischer Richtungen. 

    Kann man überhaupt sagen, dass Dagestan und Inguschetien Teil des russischen Rechtsraumes sind?

    War denn etwa die Kuschtschowka Teil davon? Eigentlich geht es da doch gar nicht so sehr um den Nordkaukasus als solchen.

    Aber konkreter zu Ihrer Frage: In Dagestan haben sich zum Beispiel zwei parallele Rechtssphären herausgebildet. Eine davon betrifft kleine und zum Teil mittlere Unternehmen. In diesem Bereich hat sich ein System etabliert, das irgendwo zwischen Gewohnheitsrecht und Scharia liegt. Wobei man nicht sagen kann, dass sich dort allgemein eine Rechtsprechung nach der Scharia entwickelt hat. Das ist gewissermaßen ein Modell von Leuten, die sich ihren eigenen Rechtsraum geschaffen haben – weil es kein staatliches Gerichtssystem gibt oder dieses nicht zugänglich ist, weil zu teuer: Dort gewinnt, wer Geld und Einfluss hat. 

    Während man in den meisten Regionen Russlands so tut, als gäbe es ein Gerichtsverfahren, zahlt man in Dagestan gleich Schmiergeld

     

    Dann gibt es noch die Rechtssphäre der Bankiers, Beamten und Großunternehmer, die mit dem Staat gekoppelt ist. Sie kooperiert mit Strafverfolgungsbehörden und Gerichten – und ist genauso strukturiert wie in allen anderen Regionen Russlands auch. Nur geschieht hier alles unverhüllt. Während in Petersburg etwa ein Beamter wegen irgendetwas eingesperrt wird, bringt man ihn im Nordkaukasus einfach um. Oder während man in den meisten Regionen Russlands so tut, als gäbe es ein Gerichtsverfahren, zahlt man in Dagestan gleich Schmiergeld.

    Doch das Verständnis dessen, was ein Rechtsstaat ist, ist in ganz Russland ungefähr dasselbe. Es gibt nur kulturelle Unterschiede.

    Also ist das einfach eine Reaktion auf das nicht funktionierende Rechtssystem in ganz Russland?

    Ja. Der Nordkaukasus ist in vielem extremer: Der Prozentsatz der an der informellen Wirtschaft Beteiligten macht landesweit nur 10 Prozent aus, in Dagestan dagegen liegt er allein offiziell bei über 50 Prozent. Und all diese Unternehmer brauchen ein Gerichtssystem. 

    Warum ist der Schattensektor gerade im Nordkaukasus so explodiert?

    Ein sehr großer Teil der einheimischen Bevölkerung befand sich von Anfang an außerhalb der offiziellen Wirtschaft. In den 1990er-Jahren wurden viele Betriebe geschlossen, die in der Sowjetzeit aufgebaut wurden, und fast alle, die dort gearbeitet hatten, zogen weg. Deswegen verblieben in den nordkaukasischen Republiken praktisch keine Finanz- und Verwaltungsinstitutionen, die die Grundlage der formellen Wirtschaft bilden.

    Welche Rolle spielt die föderale Staatsmacht in dieser Struktur?

    Sie tritt vor allem als Instrument der neuen regionalen Elite auf, zur Abrechnung mit politischen Gegnern.

    Das Verständnis dessen, was ein Rechtsstaat ist, ist in ganz Russland ungefähr dasselbe. Es gibt nur kulturelle Unterschiede

    Im östlichen Nordkaukasus ist eine Art Machthybrid entstanden. Zum einen gehören dazu Vertreter der alten Nomenklatur dazu, auf der Ebene der Sekretäre des Bezirkskomitees, also Leute, die die Kontrolle über Bodenressourcen und Finanzströme behalten haben. Da sie nicht genügend operative Kapazitäten hatten, waren sie gezwungen, sich auf Kriminelle einzulassen. Dann kamen zu diesem Tandem die Silowiki dazu – und im Nordkaukasus sind die Grenzen zwischen Polizei, FSB und Kriminalität eigentlich nicht sehr klar. Dieses Hybrid hat eigene, für Moskau komplett undurchschaubare Spielregeln entwickelt.

    Letztlich nutzen die Repräsentanten der Zentralmacht die regionale „Aufgliederung“ zu eigenen Polit- und Karriere-Zwecken – und als Quelle der Bereicherung durch Korruption.

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  • Wieso ist Stalin heute so populär?

    Wieso ist Stalin heute so populär?

    Den Befehl Nr. 00447 hat NKWD-Chef Nikolaj Jeschow am 30. Juli 1937 unterzeichnet. Mit diesem Befehl Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente begann die umfassendste Massenoperation des Großen Terrors unter Stalin. Hunderttausende wurden auf seiner Grundlage verhaftet, ein Großteil davon erschossen.

    80 Jahre später feiert Stalin eine Art Revival: Einer Umfrage des Lewada-Instituts zufolge halten 38 Prozent aller Russen Stalin für die herausragendste Persönlichkeit aller Zeiten – vor Staatspräsident Putin und vor dem Nationaldichter Alexander Puschkin. Nach wie vor verbinden viele Stalin mit dem Sieg über Hitlerdeutschland. Aber erklärt das allein die große Popularität?

    „Die Ent-Stalinisierung“, so schreibt Meduza, „kümmert in Russland heute kaum einen: die Gesellschaft verhält sich zu Stalin entweder gleichgültig oder gar wohlwollend.“

    Von führenden Wissenschaftlern und Experten wollte Meduza deshalb wissen: Hat denn überhaupt eine Ent-Stalinisierung stattgefunden in Russland? Oder warum ist die Figur Josef Stalin nach wie vor so populär?

    Juri Saprykin

     

    © Mark Nakoykher/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    © Mark Nakoykher/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    Juri Saprykin (geb. 1973) ist ein russischer Journalist. Bekannt geworden ist er durch seine Arbeit als Chefredakteur bei dem Online-Magazin Afisha.ru. 2011/2012 war er maßgeblich an der Organisation der Protestreihe Sa tschestnyje Wybory (dt. Für freie Wahlen) am Bolotnaja-Platz beteiligt. Von 2011 bis 2014 war er Chefredakteur der Mediengesellschaft Afisha-Rambler. 2015 wechselte er zur Moscow Times, wo er als Redaktionsleiter tätig ist..

    Zu Sowjetzeiten war Stalin wie Solschenizyn: irgendwas Verbotenes

    In Russland hat die Ent-Stalinisierung schon einmal stattgefunden. Ich erinnere mich an meine Kindheit, die mit der späten Ära der Stagnation zusammenfiel – damals klang das Wort „Stalin“ in etwa so wie „Solschenizyn“. Das war etwas Verbotenes, das nirgendwo und in keinster Weise zur Sprache kommen durfte. 

    Die politische Strategie der geschwächten Kommunistischen Partei bestand darin, Stalin komplett zu vergessen, einfach auszuradieren. Für jemanden, der Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre aufwuchs, existierte diese historische Figur gar nicht.

    Verbotene Volkshelden

    Stalin sah man, neben seinem gelegentlichen Auftauchen in irgendwelchen Kriegsfilmen, vor allem auf kleinen Porträt-Bildchen – hinter der Windschutzscheibe des nächstbesten Autos. Fernfahrer hängten sich bald Stalin, bald Wyssozki in ihre Fenster. Das waren damals Figuren ein und derselben Kategorie: verbotene Volkshelden. In diesem Sinne verkörperte Stalin weder Repressionen noch Massenmorde, sondern eine Ordnung, die dem einfachen Menschen in der späten Sowjetunion fehlte.

    Natürlich wusste niemand von den Repressionen, das Thema kam gar nicht erst auf. Doch es dachte auch keiner an Stalin als den großen Staatsmann, das war längst aus den Geschichtsbüchern gestrichen.

    Wunsch nach starker Führung

    Seit kurzem ereignet sich etwas Unerfreuliches in Russland: die Re-Stalinisierung. Diese schleichende Entwicklung geht einzig und allein auf den Wunsch der Obrigkeit zurück. Es gibt keine Nachfrage nach Stalin-Denkmälern seitens des Volkes, niemand schreibt dem Präsidenten Briefe: „Bringen sie uns Stalin zurück!“ Es handelt sich hier um eine bewusste Politik der Regierung: Das Pflanzen eines zarten Stalin-Kults als gewissen Orientierungspunkt – danach strebt die derzeitige Staatsmacht, das sei gut, dem solle man nacheifern.


    Ella Panejach

     

    © tv2.today
    © tv2.today
    Ella Panejach (geb. 1970) ist eine renommierte Soziologin aus Sankt Petersburg. Nach ihrem Studium der Politikwissenschaft, des Managements und der Finanzen in Sankt Petersburg promovierte sie 2005 an der Universität Michigan, USA. Seit 2015 ist Panejach Dozentin an der Europäischen Universität Sankt Petersburg.

     

     

     

    Sie sagen ,Stalin‘ und meinen: Wir wollen weniger Ungleichheit

    Die erste Ent-Stalinisierung scheiterte, weil es unmöglich war, die Schuldfrage anständig auseinanderzudividieren. Unter Chruschtschow hat sich die sowjetische Regierung in der Nachfolge Lenins positioniert. Doch tatsächlich lässt sich das System Stalins nicht von den ersten Jahre der Sowjetherrschaft trennen.

    Von Anfang an lag der Überwindung des Personenkults eine Lüge zugrunde: nämlich, dass es einen guten Bolschewismus und Kommunismus gegeben habe, aber dann sei Genosse Stalin gekommen und habe alles kaputt gemacht.

    Nur einen Teil des Traumas durfte man zulassen

    Das heißt, einen Teil des Traumas durfte man zulassen, einen anderen wiederum nicht. So musste die Liquidierung des Adels und der Bourgeoisie als Klasse weiterhin befürwortet werden, während die Verfolgung sowjetischer Beamter als Verbrechen und Ausschweifung gelten konnte. Die Tragödien im Zuge der Kollektivierung dagegen durften überhaupt nicht verurteilt werden, als hätte es sie nie gegeben.

    Während der Perestroika begann eine neue Phase der Ent-Stalinisierung. Es konnte darüber diskutiert werden, was wirklich passierte; die Archive wurden geöffnet, es kamen Möglichkeiten auf, diese Informationen auch zu veröffentlichen. Aber diese Tendenz ging einher mit dem relativ traumatischen Zerfall der Sowjetunion und einer tiefen Wirtschaftskrise. So wurden alle Bemühungen, die Vergangenheit zu bewältigen, in Verbindung gebracht mit den unbeliebten 1990er Jahren und der liberalen Politik, die für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht wurde und so weiter. 

    Komplex historischer Mythen

    Für die Jugend heute geht es in dieser Geschichte nicht einmal um ihre Großväter, sondern um noch frühere Generationen, um Menschen, die sie nie erlebt haben. Das heißt also, dass dieses Trauma für sie kein lebendiges Gesicht hat. Ihr Verhältnis dazu ist weniger ein Verhältnis zu aktuellen, realen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit als eher ein Verhältnis zu einem historischen Bild, zu einem bestimmten Komplex historischer Mythen.

    Was hat es mit Stalin heute auf sich? Für den Großteil seiner Bewunderer steht Stalin beispielsweise für effektive Führung, obwohl schon längst belegt ist, dass er kein guter Staatenlenker war. Er steht auch für den Kampf gegen Korruption, doch die gab es auch in der UdSSR, wie Historiker ja wissen.

    Stalin steht auch dafür, dass es in der UdSSR wesentlich weniger Ungleichheit gab als heute. Das ist schon etwas realistischer. 
    Der mythische Stalin verkörpert für seine Befürworter eine Gesellschaftsform, in der die Ungleichheit (und vor allem der demonstrative Luxus der Oberschicht) wesentlich geringer war als in ihrer gegenwärtigen Lebenswirklichkeit.

    Keiner will die Repressionen zurück

    Ich würde darauf achten, was die Leute eigentlich sagen wollen, wenn sie mit Stalin-Porträts auf die Straße gehen. Sie meinen damit nicht: „Wir wollen Repressionen; wir wollen, dass mehr Menschen ins Gefängnis kommen; wir wollen eine Zentralplanwirtschaft; wir wollen die Repression ganzer Völker; wir wollen, dass unsere Regierung einen weiteren Weltkrieg entfesselt.“ 

    Sie meinen damit: „Wir wollen weniger Ungleichheit; wir wollen weniger Korruption; einen sozialeren Staat als wir jetzt haben. Uns gefällt nicht, was wir haben, wir sind es leid, und um das zu artikulieren, wählen wir die Figur, die so grausam und abschreckend ist, wie möglich.“  In etwa das haben sie im Sinn, wenn sie Stalin zum besten Herrscher Russlands erklären.


    Ilja Wenjawkin

    © theoryandpractice.ru
    © theoryandpractice.ru
    Ilja Wenjawkin (geb. 1981) ist ein russischer Philologe und Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt Sowjetische Kultur und Literatur. Neben seiner Forschung leitet er Bildungsprogramme der Diskussionsplattform InLiberty und ist Gründungsmitglied des Internetprojekts Proshito – einer elektronischen Sammlung sowjetischer Tagebücher.

     

     

     

    Die Ent-Stalinisierung ist noch nicht abgeschlossen


    Die Ent-Stalinisierung ist in Russland aus einer Reihe von Gründen nicht abgeschlossen. Üblicherweise wird als [wichtigster] Grund das Vorgehen der russischen Staatsmacht in den 1990er Jahren genannt: Die Aufarbeitung des sowjetischen Erbes war für Boris Jelzin kein substanzieller Teil seiner Agenda. Die Demonstrationen auf der Lubjanka einen Tag nach dem gescheiterten Putsch führten lediglich zur Demontage des Dsershinski-Denkmals. Niemand wagte es, die KGB-Zentrale selbst zu betreten, und weiterhin wurde das Fortbestehen dieser obersten repressiven Instanz des Landes am selben Ort wie vor 70 Jahren kaum noch in Frage gestellt. Im Grunde genommen ist der Versuch, einen offenen [gerichtlichen] Prozess gegen die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) zu führen, im Sande verlaufen.

    Kein fundamentaler Elitenwechsel

    Unter Jelzin hat außerdem kein fundamentaler Elitenwechsel stattgefunden. Zu einem großen Teil sind diejenigen an der Macht geblieben, die die Karriereleiter der UdSSR-Nomenklatura hinaufgestiegen waren. Am auffälligsten wurde die Elitenkontinuität erst unter Wladimir Putin, als klar wurde, dass 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ehemalige Mitarbeiter des sowjetischen KGB und Mitglieder der KPdSU an der Spitze des Staates standen.

    Legitimation des heutigen Regimes

    Es stellt sich heraus, dass wegen des Fehlens einer eigenständigen Ideologie die sowjetische Vergangenheit eine wichtige Rolle für die Legitimation des aktuellen politischen Regimes spielt: Durch die kritische Auseinandersetzung mit Stalin und mit der sowjetischen Vergangenheit könnten die heutigen Machthaber in ernsthafte Bedrängnis geraten.

    Nach 1991 war das Bedürfnis nach Ent-Stalinisierung von Seiten der Gesellschaft nicht stark genug. Wie unlängst der Fall von Denis Karagodin zeigt, der im Alleingang die Namen derjenigen identifiziert hat, die an der Hinrichtung seines Vaters beteiligt waren, können konsequente und durchdachte Bemühungen auf privater Ebene sehr wirkungsvoll sein. Leider gibt es hier immer noch wenige Initiativen solcher Art.

    Gewalt als Norm

    Es ist wichtig zu verstehen, dass es nicht nur die Geschichte des Stalinismus an sich ist, die uns beschäftigt. Vielmehr werden damit auch wichtige Fragen über die Gesellschaftsordnung aufgeworfen, in der wir heute leben.

    Wenn wir heute über die Ent-Stalinisierung sprechen, meinen wir die Notwendigkeit der totalen Entautomatisierung der Gewalt: Wir müssen lernen, die Gewalt zu erkennen, die vielen gesellschaftlichen Institutionen inhärent ist, und aufhören, diese als etwas Normales hinzunehmen.

    In diesem Sinne ist der Kampf um die Rechte der Menschen in Heimen, Gefängnissen, im Militär und an den Schulen heute eine Fortführung der Ent-Stalinisierung der russischen Gesellschaft. Es ist nicht von grundlegender Bedeutung, ob wir Stalin erwähnen oder nicht, wenn wir darüber sprechen, dass keine Regierung dazu befugt ist, die Würde des Menschen mit Füßen zu treten. Dieser Kampf wird auf jeden Fall weitergehen, ob wir dabei auf die Geschichte verweisen oder nicht.


    Nikita Petrow

     

    © Rodrigo Fernandez/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    © Rodrigo Fernandez/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Nikita Petrow (geb. 1957) ist ein russischer Historiker, zu dessen Forschungsschwerpunkten Verbrechen der sowjetischen Geheimdienste zu Zeiten des Großen Terrors gehören. Er arbeitet als stellvertretender Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich für die historische Aufarbeitung der politischen Repressionen und für die soziale Unterstützung von Gulag-Überlebenden einsetzt.

     

    Jede Kritik an der Vergangenheit wird als Intrige des Westens dargestellt


    Die Ereignisse der sowjetischen Epoche liegen in der Vergangenheit, aber was beunruhigt uns heute? Uns beunruhigt, dass das Land im alltäglichen Leben noch immer nicht vom Gesetz regiert wird, dass die bestehenden Gesetze wie Imitate wirken.

    Es gibt eine Verfassung, die Rechte und Freiheiten garantiert, und es gibt den Alltag, in dem das alles mit Füßen getreten wird.

    Willkür statt Gesetze

    Wir sehen, wie wir zu den Praktiken zurückkehren, die es in der UdSSR gab, als der politische Wille der Führung und nicht das Gesetz den Alltag bestimmt hat. Von diesem Standpunkt gesehen ist die Ent-Stalinisierung eine Absage an eine solche Praxis, an die Regeln und Gewohnheiten der Willkür, die sich im sowjetischen System gebildet haben.

    Andererseits muss man juristisch einen klaren Strich ziehen unter die sowjetische Vergangenheit und sagen, dass die sowjetische Epoche nicht nur eine Epoche der Willkür war, sondern auch die eines totalitären und verbrecherischen Staates. Dieser Strich ist momentan noch nicht gezogen.

    Es tut sich was

    Wenn man Ent-Stalinisierung enger versteht als Gedenken an die Opfer der politischen Repressionen, dann tut sich da natürlich etwas. Allerdings im ständigen Widerspruch zu den Versuchen, Stalins Namen zurück auf die russische Landkarte zu bringen [durch die vorübergehende Umbenennung Wolgograds in Stalingrad – dek] oder das Thema 1945 zu forcieren und mit Stalins Persönlichkeit zu verknüpfen. Deswegen befürwortet der Staat nicht mal die vorsichtigsten Ent-Stalinisierungs-Programme.

    Leider haben sich der Staat und unser Volk als unfähig erwiesen, unter rechtsstaatlichen und demokratischen Bedingungen zu leben. Man ist ständig in alte Praktiken verfallen, weil man es so gewohnt ist und anders nicht kann. Das Primat des Staates vor den persönlichen Rechten ist heute die Visitenkarte des Kreml. Auch deswegen ist das Thema Ent-Stalinisierung so unbeliebt unter Russen. Mit Hilfe von Propaganda, Radio und Fernsehen hat man vielen Bürgern eingetrichtert, dass unsere Besonderheit in eine aggressive Xenophobie münden solle. Alle Versuche, die Vergangenheit zu kritisieren, werden als Intrigen des Westens dargestellt.

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  • Editorial: Lesereise durch den russischen Sommer

    Editorial: Lesereise durch den russischen Sommer

    Woran denken Sie, liebe Leser, wenn Sie an den Sommer denken? Denken Sie an Sonne, Wärme, ein Eis am Strand? 

    Denke ich an den Sommer, dann denke ich unweigerlich auch an Russland. An nächtelange Gespräche auf der Datscha, von Mücken zerstochen, am Lagerfeuer, mitten im Wald. An den eigentümlichen Geruch von trockenen Kiefernnadeln, der sich vermischt mit dem von getrocknetem Fisch. Es wird gesungen und gelacht. Fernab vom Lärm der Metropolen lassen sich die Weite und die Stille, die Russland auch ausmachen, für einen kurzen Moment fassen.

    Im verregneten deutschen Sommer lädt das virtuelle Russland-Buch, das dekoder ist, geradezu dazu ein, sich entführen zu lassen in den russischen Sommer: 

    Los geht’s: Machen wir einen Spaziergang durch die WDNCh in Moskau, sowjetische Eiscreme in der Hand, und bestaunen wir die Plastik Arbeiter und Kolchosbäuerin von Vera Muchina. 
    Erleben wir das russische Woodstock auf den leeren Hügeln – mit dem Geschmack von Baltika auf den Lippen und russischer Rockmusik im Ohr. 
    Nehmen wir uns eine Auszeit im Kloster und spüren nach, was die hier arbeitenden Pilger immer wieder zurückkehren lässt, obwohl ein Aufenthalt durchaus harte Arbeit bedeutet. Oder wie wäre es im Gegensatz dazu mit einem Autorennen im Lada Niva, quer durch Schlamm, Pfützen und Gestrüpp?

    Lassen wir uns treiben durch das dekoder-Buch und träumen wir, zusammen mit vielen russischen Kindern, von einem Sommer im Pionierlager. Setzen wir uns im Dorf Koltyschewo neben Polina Pawlowna in ihren Sessel unter den alten Bäumen im Hof und schwelgen mit ihr in Erinnerungen an ein Leben im Gutshaus. Wir könnten Fischer auf Sachalin bei ihrer täglichen Arbeit begleiten, oder wir blicken hinüber zu Russlands Nachbarn, machen einen Bummel durch Zchinwali, die Hauptstadt Südossetiens, und lernen dabei viel über die Geschichte der von Georgien abtrünnigen Kaukasusregion.

    Werfen wir einen Blick in Moskauer Hostels und hören uns an, warum Sergej, Nikolaj und Wladimir seit Monaten dort wohnen. Und ziehen wir mit dem Fotografen Arnold Veber durch die Nächte und die Clubs der Stadt. 

    Wie auch immer Sie Ihren Sommer verbringen, ob in der Hängematte, am Meer oder in den Bergen, dekoder wünscht spannende und inspirierende Begegnungen. Und wer weiß – vielleicht sind Sie ja auch eher ein Freund des Winters?

    Alena Göbel
    Schlussredaktion und Administration

     

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  • Die Cyberwehrmänner

    Die Cyberwehrmänner

    Angeblich geht es um den Schutz der Jugend: Kurz vor der Sommerpause hat die Staatsduma in den vergangenen Wochen mehrere Gesetzesentwürfe verabschiedet, die eine erhebliche Zensur vor allem Sozialer Netzwerke vorsehen.

    So sollen etwa Betreiber sozialer Netzwerke mit mehr als zwei Millionen Nutzern Formulare zur Verfügung stellen, in denen „rechtswidrige Inhalte gemeldet werden können. Die betroffenen Seiten müssen dann binnen 24 Stunden gelöscht werden. Welche Inhalte genau gemeint sind, ist im Gesetzesentwurf allerdings sehr allgemein definiert. Nun muss nur noch der Föderationsrat zustimmen und der Präsident unterzeichnen, dann tritt das Gesetz zum 1. Januar 2018 in Kraft.

    Kritiker warnen, dass es sich dabei um ähnliche „Gummiparagraphen handele, wie etwa beim sogenannten Jarowaja-Gesetzespaket oder beim Paragraphen 282: Die einzelnen Passagen sind so schwammig formuliert, dass sie auf fast jedes Verhalten angewendet werden könnten.

    Im russischen Belgorod, unweit der ukrainischen Grenze, sorgt eine Gruppe Freiwilliger nun auch ohne solche Gesetze für Ordnung im Netz. Während sie sagen, sie würden „helfen“, bezeichnen andere sie als „Denunzianten“. Nikita Aronow hat der Gruppe für Ogonjok einen Besuch abgestattet.

    Manche sind IT-Studenten, aber auch ein angehender Sportler ist dabei – Cyberwehr-Aktivisten in Belgorod / Foto © Dimitri Lebedew/Kommersant
    Manche sind IT-Studenten, aber auch ein angehender Sportler ist dabei – Cyberwehr-Aktivisten in Belgorod / Foto © Dimitri Lebedew/Kommersant

    „So etwas heißt bei uns fertiges Material“, Alexander Melnikow präsentiert auf dem Bildschirm einen Ordner mit einem Dokument und zwei Bildern. In dem Dokument ist ein Link auf das VKontakte-Profil von Alexander L. aus Belgorod, die Bilder sind Screenshots von aufwieglerischen Beiträgen auf seiner Pinnwand. In dem einen werde Unmut über den Präsidenten geäußert, im anderen Einiges Russland beleidigt. Das „fertige Material“ hat Melnikow heute an die Regionalverwaltung des Innenministeriums für die Oblast Belgorod geschickt.

    Alexander Melnikow – korpulent, gründlich, weißes Hemd – ist Vorsitzender des Belgoroder Vereins Stadtjugend und jetzt auch noch wichtigstes Cyberwehr-Mitglied der Stadt. Seine Schützlinge machen quasi das gleiche wie andere offizielle Jugendaktivisten im ganzen Land: Sie veranstalten Flashmobs, Konzerte, Subbotniks, Veteranenhilfe und suchen in Läden nach abgelaufener Ware. Manche gehen sogar zusammen mit der Polizei in der Stadt auf Patrouille. Doch jetzt brauchen die Ordnungshüter auch im virtuellen Raum Hilfe. 

    Eine Bürgerwehr für den virtuellen Raum

    Der Kampf gegen Unrat im Netz ist keine lustige Tätigkeit. Täglich sehen Alexander und seine Kollegen systematisch, eine nach der anderen, die Timelines der jungen Belgoroder durch. Da es hier 44.000 Jugendliche gibt, die Cyberwehr aber nur aus sechs Leuten besteht, und die Social-Media-Pinnwände noch dazu ständig aktualisiert werden, erinnert die Arbeit stark an Wasserschöpfen mit einem Sieb.

    Sein Dienstzimmer im Stadtamt für Jugendpolitik teilt Alexander Melnikow mit dem Leiter des Jugendverbandes der Stadt Belgorod, Sergej Selischtschew. Der gehört ebenfalls der Cyberwehr an, doch in besonderer Funktion – im Internet bekämpft er Extremismus, ohne sich von halbwüchsigen Selbstmördern, Drogenhandel und sonstigem Online-Übel ablenken zu lassen.

    Bewerber als Provokateure und potenzielle Spione abgewiesen

    Insgesamt hat er sieben Cyberwehrleute, laut Kommandeur sowohl männliche als auch weibliche. Manche sind IT-Studenten, aber auch ein angehender Sportlehrer ist dabei. Fast alle sind Aktivisten, die Sergej schon lange persönlich kennt. „Wir haben hier ein geschlossenes Projekt“, erklärt er. In fünf Monaten Einsatz der Cyberwehr wurde nur eine Person von außen aufgenommen. Alle anderen hat Sergej wachsam als Provokateure und potenzielle Spione abgewiesen.

    Mit konspirativer Arbeit im Netz hatte Sergej bereits Erfahrung. 2013 arbeitete er als Koordinator der Mediengarde in Belgorod – ein Projekt der Jungen Garde von Einiges Russland zur Bekämpfung feindlicher Propaganda im Internet. Dort ging es noch konspirativer zu.

    „Den Kurator der regionalen Mediengarde kennen nur drei Leute: der Moskauer Kurator, der Leiter der Regionalstelle und sein Stellvertreter“, sagt Sergej ernsthaft.

    Er fühlt sich an vorderster Front

    „Unser Gebiet ist ein Grenzgebiet. Und in unseren Belgoroder Communitys sind etwa 500 ukrainische Accounts registriert. Die können jederzeit aktiv werden. Wenn sie die Accounts meiner Mitarbeiter und der Leute der Mediengarde kennen, können sie einfach alle unsere Profile gleichzeitig ausradieren, weil bei VKontakte 50 Beschwerden über einen Account genügen, um ihn automatisch für 24 Stunden stillzulegen. Diese 24 Stunden reichen aus, extremistische Aufrufe zu posten, Gleichgesinnte zu suchen und mit ihnen in privaten TelegramKanälen zu verschwinden, wo wir sie nicht mehr überwachen können“, beschreibt Sergej den Ablauf einer möglichen Cyberattacke.

    Gut gerüstet gegen den Feind

    Doch tritt er dem Feind gut gerüstet entgegen. Jeden Tag kontrolliert er alle Belgoroder Postings mit den Hashtags #Revolution und #NiedermitderRegierung. Die letzten drei Tage gab es allerdings oft Fehlalarm – ein Händler bewarb in sozialen Netzwerken Nahrungsergänzungsmittel als eine weitere „Revolution der gesunden Ernährung“.

    Auf Sergejs Konto gehen etliche Entlarvungen von Extremisten. Zum Beispiel einer jungen Frau, die sich in einer Kirche an einer Kerze eine Zigarette angezündet und davon ein Foto ins Netz gestellt hatte. Sergej hat geholfen (er sagt wirklich „geholfen“), ein Verfahren wegen Verletzung religiöser Gefühle einzuleiten. Im Mai wurde die Rechtsbrecherin verurteilt, doch angesichts ihres neugeborenen Kindes ließ man Gnade walten und beließ es bei einer Geldstrafe. Aber der Nationalist, der dazu aufrief, aufseiten der Ukraine im Donbass zu kämpfen, sitzt Sergej zufolge schon.

    Alle, die zur Verantwortung gezogen werden konnten, waren auf VKontakte aktiv. Dessen Administration, bemerkt der Belgoroder Kommandeur, kooperiert am besten mit Aktivisten und Strafverfolgungsbehörden. Instagram hingegen blockiert, wie er sagt, nur Aufrufe zum Selbstmord.

    Facebook reagiert kaum auf Hinweise

    Noch geringer ist die Resonanz auf Hinweise auf Facebook: „Dort antworten sie uns normalerweise, ihr Gerichtsstand sei in den USA, und die Gesetzgebung Russlands zu Extremismus und Terrorismus betreffe sie nicht“, ärgert sich der Cyberwehrmann. Und fügt noch hinzu, dass sich auch die Strafverfolgungsbehörden ein wenig mehr anstrengen könnten.

    „Ende Februar schickten wir an Roskomnadsor eine Liste mit 1354 Publikationen, die gerichtlich als extremistisch anerkanntes Material enthielten. Ihre Antwort war, dass sie nur 570 Übertretungen feststellen konnten“, grollt Sergej. „Und ihre Kollegen im Extremismuszentrum des Innenministeriums fanden in derselben Liste überhaupt keine einzige Rechtsverletzung!“

    Es begann, wie immer, mit dem Schutz von Kindern

    Alles begann in der Oblast Belgorod, wie immer, mit dem Schutz von Kindern vor schädlichen Informationen. Diese Initiative startete bereits letzten Sommer ein höhersemestriger Student und Programmierer aus Stary Oskol, der, nebenbei bemerkt, auch Mitglied einer normalen Bürgerwehr war und mit roter Armbinde auf Patrouillen ging. Name und Statuten schaute man sich von der Liga der Internetsicherheit ab – einer Organisation des russisch-orthodoxen Milliardärs Konstantin Malofejew (seine Cyberwehren schnappen schon seit 2011 landesweit Extremisten), und dann ging man „ins Feld“ – machte sich an die Durchforstung des Internets nach „Kinder- und Teenagercontent“.

    „Sehen Sie, ich suche Gruppen, wo Boten-Jobs angeboten werden mit Monatsgehältern von 40.000 Rubel [etwa 580 Euro – dek] bei zwei bis drei Stunden Arbeit täglich. Das sind Inserate von Drogendealern, sie suchen auf diese Art minderjährige Kuriere (beim Onlinehandel mit illegalen Dingen ist es üblich, dass der Verkäufer die Waren hinterlegt, das heißt er versteckt die Ware an einem bestimmten Ort und schickt dem Käufer Fotos, anhand derer dieser den Ort findet. – Ogonjok). Finden wir das Profil eines solchen Inserenten, dann reichen wir auf der Website von Roskomnadsor Beschwerde ein“, erklärt Cyberwehrmann Sergej Misyntschuk die Vorgangsweise.

    Schon als Schüler sorgte Sergej für Ordnung im Netz

    Sergej Misyntschuk hat soeben das erste Studienjahr an der Fakultät für Automatisierung und Informationstechnologien des hiesigen Ablegers der Nationalen Technologie- und Forschungsuniversität MISiS abgeschlossen. Er träumt davon, an eine profilierte Fakultät zu wechseln und später in den Reihen der Staatsorgane gegen Cyberkriminalität zu kämpfen. Denn im Netz für Ordnung gesorgt hat Sergej schon als Schüler.

    „Einmal stieß ich auf eine Gruppe Wie man krank wird und nicht in die Schule muss. Dort waren 1200 Kinder, die sich absichtlich Extremitäten brachen und sich anderen Schaden zufügten, um dem Unterricht zu entkommen. Ich fand das Profil eines Mädchens, das ein Foto postete, wie sie sich das Bein bricht. Ich suchte ihre Angehörigen und schrieb ihnen“, erinnert sich Sergej an seine erste Erfahrung.

    Als so genannte Todesgruppen auftauchten und sie auf VKontakte noch nicht automatisch blockiert wurden, suchten die Belgoroder Bürgerwehren Kinder, die sich auf das suizidale Spiel eingelassen hatten, und kontaktierten sie und ihre Angehörigen.

    Der dritte Themenbereich nach Drogen und Selbstmord ist kindliche Nacktheit. Moderne Teenager stellen nicht selten Fotos von sich online, auf denen sie nur Unterwäsche tragen – oder nicht mal die. Und dann werden sie zum Ziel von Mobbing oder Erpressung. Die lokale Community, in der solche Fotos regelmäßig landen, haben die Aktivisten bereits mehrmals geschlossen.

    Blockierst du eine Gruppe, entstehen zwei neue

    „Die steht immer wieder auf wie eine Hydra! Blockierst du eine Gruppe, entstehen zwei neue. In der aktuellen Version gibt es eine Warnung: Zugang für Kinder, schwangere Frauen und Cyberwehren verboten“, erzählt Sergej.

    Kürzlich eingebrachte Initiativen von Abgeordneten, die Internetzugang nur mit Pass und ein Verbot sozialer Netzwerke für Minderjährige fordern, finden die Wehrleute von Oskol gar nicht gut. Das Internet gehört nach Ansicht der Aktivisten nicht gesperrt, sondern aufgeräumt.

    Das Kommando von Oskol war ab letzten Sommer als Experiment im Einsatz. Dann beschloss man, den Versuch auf die ganze Oblast auszuweiten.

    Die aktivsten und effektivsten Mitglieder werden belohnt

    Am 22. Mai unterschrieb der Gouverneur der Oblast Belgorod die erste Verordnung des Landes zur Zusammenarbeit mit Cyberwehren. Den Bezirksverwaltungen und Bildungseinrichtungen wird nun empfohlen, Cyberwehren zu gründen und auszubauen und Aktivisten zu fördern.

    „Anhand der Jahresbilanz werden wir die aktivsten und effektivsten Mitglieder belohnen“, sagt der Verwaltungschef für Jugendpolitik in der Oblast Belgorod, Maxim Tschesnokow. „Wahrscheinlich mit Tablets oder Smartphones – was brauchen Cyberwehrleute heutzutage sonst?“

    Im ersten Stock des staatlich finanzierten Zentrums für Jugendinitiativen befindet sich das Informationszentrum der Cyberwehren. Hier sitzen Lew, Inna und Nastja an ihren Laptops. Lew kommt gerade vom Wehrdienst zurück, Inna aus dem Mutterschutz, und Nastja hat vor kurzem noch diverse Veranstaltungen für Jugendliche kuratiert. Alle drei sind erst zwei Wochen in der neuen Unterabteilung tätig, doch Fotos zu machen oder ihre Nachnamen zu nennen verweigern sie bereits kategorisch.

    Unsere Leute wurden auch schon als Pawlik Morosow und Denunzianten bezeichnet

    „Wissen Sie, es gibt verschiedene Meinungen zu dem Projekt, unsere Leute wurden auch schon als Pawlik Morosow und Denunzianten bezeichnet“, erklärt Pawel Maximow, der alle Bürgerwehren betreut und Maxim Tschesnokow vertritt.

    Alle sind bei der Sache. Nastja, ein Mädchen mit grellrotem Nagellack und dicht tätowierten Händen, hat auf dem Monitor ein Memo kleben „Bezirke durchsehen nicht vergessen“. Und Nastja vergisst es nicht. Im Moment nimmt sie die Bewohner der Kreisstadt Weidelewka unter die Lupe. Das ist eine Siedlung städtischen Typs mit 6412 Einwohnern. Nastja stellt auf VKontakte ein: Wohnort – Weidelewka, Alter – bis 18 Jahre. Und blättert systematisch alle verdächtigen Profile durch.

    „Dieses Mädchen da hat die Hand vor den Augen. Vielleicht hat das nichts zu bedeuten, solche Fotos sind jetzt modern. Aber für alle Fälle prüfen wir das“, kommentiert Nastja. Die Zeit vergeht. Um ein Uhr stehen die Mädchen auf und gehen: „Entschuldigen Sie, wir haben Mittagspause.“ Aber das macht nichts, nach dem Essen kommen sie wieder und machen weiter. Und jeden Tag wird Nastja die Pinnwände von Schülern und Schülerinnen der Oblast Belgorod durchlesen. Acht Stunden am Tag, dazwischen Mittagspause. Fünf Tage die Woche. Das ist jetzt Nastjas Job …

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  • Russian Offroad: Im Lada durch die Sümpfe

    Russian Offroad: Im Lada durch die Sümpfe

    Am 5. April 1977 rollte der erste Lada Niva vom Fließband.
    „Er war für die ländliche Bevölkerung der Sowjetunion entwickelt worden, doch der Niva-Kult breitete sich rasch weit über die Grenzen der UdSSR hinweg aus. Über eine halbe Million Autos wurden in alle Welt exportiert: nach Europa, Lateinamerika, Afrika und Australien.     
    Das Auto hatte ein paar technische Vorteile, eine komfortable Ganzmetallkarosserie und eine Einzelradaufhängung an der Vorderachse – und im internationalen Vergleich war es nicht teuer“, schreibt Roman Koroljow auf Zapovednik

    Nach so viel Theorie hat es ihm der Lada Niva auch in der Praxis angetan: Kurz nach dem Niva-Geburtstag besuchte Koroljow im April eine Niva-Ralley nahe Moskau – bitte anschnallen, und ab geht’s durch Schlamm, Pfützen und Gestrüpp!

    Der Ort wurde speziell für Leute ausgesucht, die meinen, russische Feldwege seien gut befahrbar und „easy“ / Fotos © Stanislaw Tschekmajew/Zapovednik
    Der Ort wurde speziell für Leute ausgesucht, die meinen, russische Feldwege seien gut befahrbar und „easy“ / Fotos © Stanislaw Tschekmajew/Zapovednik

    Mit dem Niva wurden Weltrekorde aufgestellt: Man fuhr damit auf den Mount Everest (auf eine Höhe von 5200 m) und ins tibetische Hochland im Himalaya (5726 m), man warf ihn mit einem Fallschirm über dem Nordpol ab, fuhr damit auf der sowjetischen Antarktis-Station Bellingshausen herum. Überall zeigte sich der sowjetische Offroader als absolut unkaputtbar. Heute gibt es Niva-Fanclubs in Japan, Kanada, Island und Russland. 

    Der Klub Leschi, der schon seit sechs Jahren Orientierungsrennen im Gelände veranstaltet, führte vergangenes Jahr Teilnahme-Beschränkungen ein: Zum Turnier sind jetzt nur noch heimische Autos zugelassen. In diesem Jahr, dem Jubiläumsjahr des Niva, ausschließlich Nivas.

    Das Rennen findet zwei Kilometer vom Dorf Makarowo entfernt statt, nahe dem Flughafen Tschernogolowka. Der Ort wurde speziell für Leute ausgesucht, die meinen, russische Feldwege seien gut befahrbar und „easy“.

    Der Barde Igor Rasterjajew besingt die Romantik des Mähdrescherfahrers

    Auf Holzkohlegrills brutzeln Schaschliks, aus Lautsprechern dröhnen Lieder über richtige Männer. „Die haben keine teure Garnitur / machen sich nichts aus Emo-Kultur / hängen nicht rum auf VKontakte, online / die hauen auf ihren Mähdreschern rein“, besingt der Barde Igor Rasterjajew die Romantik des Mähdrescherfahrers

     

    Denis Basanow, ebenfalls Organisator des Wettbewerbs, gibt den Teilnehmern der Runde ein letztes Wort mit auf den Weg und warnt sie ausdrücklich davor, auf das Gelände des Flugplatzes Tschernogolowka zu geraten: „Wer auf die Startbahn hinauslenkt, muss das selber mit dem Sicherheitsdienst regeln!“

    Am Start stehen zwanzig Nivas. Jeder mit einer Crew aus zwei Personen: dem Fahrer und dem Co-Pilot. Die erste Etappe sind Rundstreckenrennen. Bei jeder Runde kommen drei Teilnehmer dran, und Sieger ist, wer als Erster durch Sümpfe, Gestrüpp, Schlaglöcher und riesige Pfützen hindurch das Ziel erreicht. 

    In der Mitte des Kreises sind ein paar Hügel, von denen aus die Fans zusehen. Sobald einer der Organisatoren mit wehender Fahne das Signal zum Start gibt, rasen die Autos mit Geheule und unter den Rädern hervorspritzenden Matschklumpen los. Die Runden dauern ein paar Minuten, und bald fallen die ersten deutlich zurück. Ein Auto, aus dem dicker Rauch qualmt, wird mit einem Seil abgeschleppt.

    Sieger ist, wer als Erster durch Sümpfe, Gestrüpp, Schlaglöcher und riesige Pfützen hindurch das Ziel erreicht
    Sieger ist, wer als Erster durch Sümpfe, Gestrüpp, Schlaglöcher und riesige Pfützen hindurch das Ziel erreicht

    Im zweiten Teil des Wettbewerbs geht es um Orientierung. Die Organisatoren sind im Umkreis von fünf Kilometern den Wald abgefahren und haben an Bäumen, Baumstümpfen und sonstigen Wegemarken mit grüner Farbe die Zahlen 1 bis 31 aufgemalt und diese Stellen mit GPS-Koordinaten versehen. Wer es schafft, innerhalb der für diese Etappe vorgesehenen vier Stunden die meisten dieser Stationen abzufahren, hat gewonnen.  

    Der Niva ist das Günstigste, was man kaufen und ummodeln kann

    In der zweiten Etappe ist es besonders wichtig, dass Fahrer und Beifahrer gut aufeinander eingespielt sind: Indem er mit dem GPS-Navigator die Punkte sucht, hat der Beifahrer die Rolle des Steuermanns.    

    „Wenn etwas kaputtgeht, kann ich es in der Garage austauschen und zum nächsten Wettkampf fahren.“
    „Wenn etwas kaputtgeht, kann ich es in der Garage austauschen und zum nächsten Wettkampf fahren.“

    „Ich heiße Sergej, der Beifahrer ist Dimitri“, stellt sich mir ein junger Mann mit magerem Gesicht und weißem Helm vor, in einem eigentlich weißen, aber jetzt mit einer Dreckschicht überzogenen Wagen. „Bei mir hat dieser Sport damit angefangen, dass Freunde ein Auto gekauft und Denis Basanow kennengelernt haben. Sie sind gefahren und haben mich zum Zuschauen eingeladen. Ich habe mir das angeguckt und musste sofort auch so ein Auto haben, es präparieren, Offroadsport machen. Meine Finanzen gaben die Wahl des Autos vor: Der Niva ist das Günstigste, was man kaufen und ummodeln kann. Wenn etwas kaputtgeht, kann ich es in der Garage austauschen und zum nächsten Wettkampf fahren. Das Herrichten nimmt viel Zeit in Anspruch – den Motor auszutauschen hat den ganzen Winter gedauert. In einer Werkstatt geht es natürlich schneller.“ 

    Das Gespräch wird vom Startsignal zur zweiten Etappe unterbrochen. Der Großteil der Autos ist bald nicht mehr zu sehen. Wer heute „ohne Pferd“ gekommen ist, hat zwei Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben: Die zu verspotten, die Pech hatten, oder ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Zwei Fahrzeuge bleiben schon nach wenigen hundert Metern im Morast stecken, die Reifen drehen durch.

    Wer sein Auto schonen will, hat hier nichts verloren
    Wer sein Auto schonen will, hat hier nichts verloren

    „Der Sieg hängt von vielen Faktoren ab: vom Auto natürlich am meisten, und sonst – vom Piloten genauso wie vom Steuermann. Manchmal sind nach den Wettkämpfen nur Kleinigkeiten kaputt, manchmal muss man das Auto komplett neu zusammensetzen. Wer sein Auto schonen will, hat hier nichts verloren, zumindest keinen Preis zu gewinnen. Dann wieder sieht einer, dass es etwas zu holen gibt, und tritt das Gaspedal durch“, erzählt mir der Rennfahrer Denis, dessen Eisengaul jetzt zerlegt in der Garage steht, weswegen er nicht am Rennen teilnehmen kann. 

    Im Grunde kommen die Leute vor allem hierher, um sich auszutoben

    „In der Stadt ist es langweilig. Im Grunde kommen die Leute vor allem hierher, um sich auszutoben, im Matsch zu wühlen, etwas zu erleben, um danach etwas zu erzählen zu haben”, so Denis weiter. „Geld kann man ohne Ende reinstecken: immer wieder Stoßstangen, Seilwinden, Luftbälge. Ein Auto ist wie eine Datscha, du kannst einfach damit leben oder reinbuttern und reinbuttern. Wenn es um die praktische Anwendung geht, sind das Ausflüge, Jagd und Angeln. Mit dem Niva kommst du überall hin.“

    Wenn am 21. Juni 2016 nicht das Verbot von Fahrzeugtuning beschlossen worden wäre, würden zehnmal so viele Leute zu Rennen kommen, ist Denis überzeugt. Das Verbot hat alle eigenmächtigen, über die Erstausstattung hinausgehenden Modifizierungen von Fahrzeugen praktisch unzulässig gemacht – also die zentrale Leidenschaft, die die hier Versammelten miteinander verbindet. 

    Der Autobesitzer ist verpflichtet, die vorgenommenen Veränderungen abzumontieren oder in einem speziellen Zertifizierungszentrum zu legitimieren, doch solche Einrichtungen gibt es nur in Moskau und St. Petersburg, und für ihre Dienste zahlt man stattliche Summen.

    Furchen voller Schlammsuppe
    Furchen voller Schlammsuppe

    Der große, korpulente, rundgesichtige Oleg und sein Freund Anton, mit Brille und kurz geschorenem Haar, versorgen ein Team, das mit den Vorderrädern endgültig in einer Furche voller Schlammsuppe feststeckt, mit nützlichen Tipps. Der Fahrer heißt Alexej und ist 37, seine Frau Vera ist drei Jahre jünger und navigiert. Am Anfang stand sie dem Hobby ihres Mannes skeptisch gegenüber, aber vor einem Jahr fuhr sie zum ersten Mal mit auf einen Wettkampf und fing Feuer. Unter all den Männern in schmutzabweisender Tarnkleidung und Trainingsanzügen wirkt Vera in ihrem hell leuchtenden Kurzmantel im wahrsten Sinn des Wortes wie eine „weiße Krähe“. Ihr Mantel ist voller Dreckspritzer, aber das scheint sie nicht zu stören. 

    Die Rettung des Autos dauert eineinhalb Stunden

    Anton sagt, bei Rennen hänge 40 Prozent des Erfolgs vom Intellekt ab, alles andere sei Können. Jetzt brauche es Intelligenz, um das Fahrzeug aus dem Sumpf zu ziehen. Bei den Wettkämpfen hilft jeder jedem und einer der Teilnehmer bindet ein Seil an die Stoßstange. Doch ob dieser Bemühungen versinkt der Niva von Vera und Alexej nur noch tiefer im Schlamm.
    „Na, der hat aber geholfen!“, sinniert Oleg laut. „Wenn der zu jedem hinfahren und ihm so unter die Arme greifen würde: siehst du, wieder ein Konkurrent weniger. Für so eine Hilfe sollte man dem eine reinhauen!“

    „Mit dem Niva kommst du überall hin“
    „Mit dem Niva kommst du überall hin“

    Alexej hebt schnaufend vor Anstrengung die Seiten des Niva abwechselnd mit einer Seilwinde hoch. Motorwinden sind beim Wettbewerb heute verboten – ein eingesunkenes Auto darf man nur mit eigener Muskelkraft herausziehen. Nach dem ebenfalls hier veranstalteten Motocross liegen überall auf den Hügeln Reifen verstreut: Alexej und Vera rollen welche zum Auto und legen sie unter die Räder. Der Niva sinkt trotzdem ein, und Alexej ist schon drauf und dran aufzugeben, doch Oleg macht ihm klar, dass noch nicht alles verloren ist. Wenn man ruckartig aufs Gas steigt, würden die Hinterräder auf die Reifen hüpfen und der Wagen aus dem Loch gehoben. 

    Man muss selbst von oben bis unten verdreckt sein – nur so kriegt man ein Gespür für die Philosophie dieses Sports

    Das funktioniert plötzlich. Die Rettung des Autos hat eineinhalb Stunden gedauert, es hat gerade mal fünf Punkte gesammelt, bevor es steckengeblieben ist. Oleg redet auf die Crew ein, das Rennen nicht auf halbem Weg aufzugeben. Wenn man bedenkt, wie viele Teilnehmer wegen verspäteter Ankunft im Lager disqualifiziert werden, hat das Paar mit seinen fünf Punkten durchaus noch eine Chance auf den Sieg. 

    „Dreck“ ist eines der häufigsten Wörter im Vokabular der Offroad-Rennfahrer
    „Dreck“ ist eines der häufigsten Wörter im Vokabular der Offroad-Rennfahrer

    „So ein Rennen muss man selbst erlebt haben“, sagt Anton zu mir. „Selber fahren, selber fiebern. Man muss selbst von oben bis unten verdreckt sein – nur so kriegt man ein Gespür für die Philosophie dieses Sports. Den Mantel können Sie halt dann in die Tonne werfen.“

    „Dreck“ ist eines der häufigsten Wörter im Vokabular der Offroad-Rennfahrer. Noch öfter als vom Dreck sprechen sie nur von den Autos selbst.

    Öfter als vom Dreck sprechen sie nur von den Autos selbst

    Ich darf als Teil der Crew auf dem Rücksitz Platz nehmen. Alexej drückt das Gaspedal durch, und wir düsen durch den Wald, mit scharfen Kurven und hohen Sprüngen über Schlaglöcher. Zweige schlagen gegen das Autodach, Matschklumpen spritzen an die Seitenscheiben. Das Gespräch wird ständig unterbrochen, weil Alexej alle fünf Minuten Halt macht und aus dem Auto springt, damit Vera sein lachendes Gesicht an jeder nächsten erreichten Station knipsen kann.

    Wie durch ein Wunder springt der Niva doch wieder an, und das Rennen geht weiter
    Wie durch ein Wunder springt der Niva doch wieder an, und das Rennen geht weiter

    Das Auto, mit dem wir jetzt fahren, hat drei Jahre herrenlos im Gebüsch gestanden und vor sich hin gerostet, alle Kabel waren durch. Seine Instandsetzung hat Alexej ein halbes Jahr gekostet. Während wir reden, stirbt der Motor nochmal ab, und erfolglose Startversuche nehmen etwa weitere zwanzig Minuten in Anspruch. Wie durch ein Wunder springt der Niva doch wieder an, und das Rennen geht weiter.

    „Ich weiß gar nicht, woher ich diese Begeisterung habe. Aber schon als Kind hat mir genau das gefallen – querfeldein fahren, einfach so. Ich gehe nicht mal jagen oder angeln – nein, das reizt mich überhaupt nicht. Das Wichtigste für mich – lasst mich durch den Dreck ackern! Offroad-Rennen sind wirklich lustig. Wirklich lustig und wirklich teuer“, fasst Alexej Vor- und Nachteile seines Hobby zusammen. 

    Nach diesen Worten rammt das Hinterteil des Autos mit voller Wucht gegen einen auf der Erde liegenden Baumstamm. Schön langsam packt mich der sportliche Eifer, doch das Paar beschließt, mit seinen 15 gesammelten Punkten ins Lager zurückzukehren. Sie hinterlassen, wie die anderen Teilnehmer auch, geknicktes Gestrüpp und von tiefen Fahrspuren zerfurchte Felder.

    Sie hinterlassen geknicktes Gestrüpp und von tiefen Fahrspuren zerfurchte Felder
    Sie hinterlassen geknicktes Gestrüpp und von tiefen Fahrspuren zerfurchte Felder

     

    Russische Textredaktion: Diana Karliner

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  • „Du leckst mir gleich mit der Zunge das Klo aus“

    „Du leckst mir gleich mit der Zunge das Klo aus“

    Wenn Dienstältere systematisch junge Soldaten schikanieren, teilweise sogar quälen oder misshandeln, so hat das in Russland einen Namen: Dedowschtschina. Die Dedowschtschina geht zurück bis in die Zarenzeit, doch bis heute legt sich über die konkreten Fälle meist ein Mantel des Schweigens, Betroffene bleiben den Schikanen hilflos ausgeliefert. Das Verteidigungsministerium spricht von einem erfolgreichen Kampf gegen die Dedowschtschina, seit die Wehrpflicht 2008 auf ein Jahr verkürzt wurde.

    Wie verbreitet ist die Dedowschtschina in der russischen Armee heute? Für Meduza hat Jewgeni Antonow Zahlen zusammengetragen und mit Menschenrechtlern und Betroffenen gesprochen.

    Beim Militär herrscht eine andere Ordnung, eine andere Wahrnehmung / Foto © Pawel Golowkin/Kommersant

    Du leckst mir gleich mit der Zunge das Klo aus

    Mit diesen Worten zerrte eines Tages im Dezember 2014 der kleine pummelige Ainur, seit sieben Monaten Wehrdienstleistender in einem Verband bei Nowosibirsk, den frisch einberufenen Georgi in den Trockner – einen Raum zum Trocknen der Soldatenuniformen. „Bist wohl ein Oberschlaumeier und hast was über Kasachstan zu melden?“

    Eine halbe Stunde zuvor hatte Georgi gesagt, Kasachstan sei ein Land mit niedrigem Lebensstandard. Mit Ainur, der Kasachstan als seine zweite Heimat bezeichnet, kamen noch zwei weitere Mitsoldaten in den Raum. Sie verdrehten Georgis Arme so, dass er sie nicht mehr rühren konnte. Ainur baute sich vor ihm auf, und, kaum war die Tür zugefallen, da verpasste er dem Neuling „eine Kopfnuss, oder vielleicht war’s auch eine Ohrfeige“, erinnert sich Georgi heute. In seinem Ohr klingelte es. Dann schlug Ainur ihm ein paar Mal in den Magen, in die Nierengegend, packte ihn an den Haaren und sagte, so würde das jetzt jeden Tag ablaufen, wenn er nicht vor versammelter Mannschaft erklärte, dass Kasachstan ein großartiges Land sei.

    Ich hatte sogar den Gedanken, dass ich mich umbringen würde, wenn so etwas passiert

    Als Georgis neue Armeekameraden den Trockner verließen, befahlen sie ihm, sich bald zu verziehen und der Führung nichts davon zu sagen, „sonst passiert noch was“. Ainur fügte mit einem Lächeln hinzu, er könnte ihn auch „aufschlitzen“. Aufstehen und das Zimmer verlassen konnte Georgi erst nach einigen Minuten – er hatte starke Schmerzen am ganzen Körper, obwohl er „nicht einmal blaue Flecken hatte“.

    Die Einheit, in die der junge Mann aus Barnaul im November 2014 kam, war den Erfahrungsberichten im Internet zufolge relativ ruhig. Weil er die Schule schlecht abgeschlossen hatte, hatte Georgi beschlossen, zur Armee zu gehen – wegen der erleichterten Zugangsvoraussetzungen an der Hochschule. Und nachdem er in den Sozialen Netzwerken gelesen hatte, dass in den meisten sibirischen Einheiten „alle Gesetze befolgt“ würden, die Angst vor der neuen Erfahrung legte sich, obwohl eine mögliche Dedowschtschina ihn durchaus nervös machte. 
    „Ich hatte sogar den Gedanken, dass ich mich umbringen würde, wenn so etwas passiert“, erinnert er sich. „Aber als es dann passierte, war mir klar, dass ich leben will. Also beschloss ich durchzuhalten.“

    Am nächsten Tag, vor der Bettruhe, erklärte Georgi vor aller Augen, Kasachstan sei das beste Land der Welt. Seine Kameraden nahmen es auf, als wäre das völlig normal: Wie sich herausstellte, war er nicht der erste, der zu solch einer Erklärung gezwungen wurde.

    Viele halten eine Reform der Streitkräfte für eine der drängendsten Aufgaben 

    Im April 2002 erklärte Wladimir Putin in seiner Botschaft an die föderale Versammlung die Verkürzung der Wehrdienstzeit zu einem seiner Hauptziele. Umfragen zufolge hielten die Bürger eine Reform der Streitkräfte für eine der drängendsten Aufgaben der Regierung; die meisten Befragten gaben an, dass sie auf eine Ausmerzung der Dedowschtschina hofften.

    Im Juni 2006 unterzeichnete Putin ein Gesetz, das die Dauer der Wehrpflicht von ehemals zwei Jahren auf ein Jahr reduzierte. Der damalige Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow erklärte, diese Maßnahme diene dazu, ernsthaft gegen regelwidriges Verhalten in der Armee vorzugehen und die Kasten der Dedy und Duchi auszumerzen: Großväter, wie die Altgedienten bezeichnet werden, und Geister – Soldaten, die gerade erst einberufen worden sind.

    Bald darauf hörte das Verteidigungsministerium auf, Namenslisten von Wehrdienstleistenden zu veröffentlichen, die während der Dienstausübung zu Tode gekommen sind (diese Aufgabe obliegt seitdem der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft). Der letzte Bericht bezieht sich auf die Zahlen des Jahres 2008 und spricht von 471 verstorbenen Wehrdienstleistenden (das sind deutlich weniger als früher: 1996 belief sich die Zahl der außerkriegerischen Verluste der Armee auf über 1500 Menschen, 2005 waren es noch über 1000).

    Gleich mehrere Menschenrechtsorganisationen sind sich sicher: Das Fehlen einer Statistik bedeutet nicht die plötzliche Abwesenheit der Dedowschtschina. Georgis Geschichte ist bei weitem nicht die einzige, nicht einmal im Jahr 2014.

    Er hatte seine Eltern mehrfach um Geld gebeten, ohne zu verraten, wofür

    In der Nacht zum 17. Februar desselben Jahres wurde in einer Einheit bei Chabarowsk der Rekrut Alexej Snakin gefunden, an einem Gürtel erhängt. Während seiner Dienstzeit hatte er seine Eltern mehrfach gebeten, ihm Geld zu schicken, ohne ihnen verraten zu wollen, wofür. Ein Jahr später wurde Major Nikolaj Tschabanow angeklagt, den Rekruten erpresst und ihm gegenüber Gewalt angewendet zu haben. Tschabanow wurde wegen Missbrauchs seiner dienstlichen Kompetenzen zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt.

    Im Februar 2016 gelang es Juristen  der Menschenrechtsorganisation Prawo Materi, die Anklage umzuwandeln: Das Gericht verurteilte Tschabanow nach demselben Paragraphen zu dreieinhalb Jahren Strafkolonie.

    Als Todesursache wurde akute Gastritis angegeben 

    Am 14. März 2014 tagsüber kam in der Einheit Jurga im Gebiet Kemerowo der Rekrut Sergej Laptew auf seinem Gefechtsposten ums Leben. Als Todesursache wurden zunächst Herzstillstand und akute Gastritis angegeben – ungeachtet der Erklärungen der Eltern, ihr Sohn habe nie etwas am Magen oder am Herzen gehabt. Sie fochten das Gutachten vor Gericht an, woraufhin es eine erneute Untersuchung gab, bei der die Ärzte einen Durchbruch der Magenwand, eine stumpfe Bauchverletzung und hohen Blutverlust feststellten. 

    Man verurteilte Iwan Kulagin, einen Dienstkameraden Laptews, zu fünf Jahren Haft nach Paragraph 335 Strafgesetzbuch, der regelwidriges Verhältnisse unter Armeeangehörigen unter Strafe stellt.
    Die Liste von Fällen wie diesem ließe sich fortsetzen, und sie enden bei weitem nicht alle mit einer Verurteilung. Die existierende Statistik berücksichtigt nur Strafverfahren, die aufgrund eben dieses Paragraphen 335 eingeleitet wurden: 2014 waren es 939 Fälle, 2015 waren es 901.

    Die Armee ist eine der geschlossensten Strukturen, die es in Russland gibt

    Laut Menschenrechtlern von Organisationen wie Prawo Materi oder Grashdanin i Armija, die mit dem Problem der Gewalt innerhalb der Streitkräfte arbeiten, gibt es im Grunde keine genauen Erhebungen zur derzeitigen Situation beim Militär. 

    „Die Armee ist eine der geschlossensten Strukturen, die es in Russland überhaupt gibt“, bestätigt auch Georgi und berichtet, dass die Soldaten nicht wirklich wissen, an wen sie sich im Falle einer Unrechtssituation wenden sollen. „Das ist, als würdest du in einem Metallkasten sitzen, der kleine Schlitze hat, aber du kommst da nicht durch. Ich persönlich wusste nicht, zu wem ich gehen sollte, als ich geschlagen wurde. Also bin ich zu niemandem gegangen.“

    In jener Einheit in Sibirien verbrachte der junge Mann ein halbes Jahr. In dieser Zeit wurde er vier Mal brutal zusammengeschlagen und musste regelmäßig für Ainur und seine Kumpel Schuhe putzen. Georgi ist der Meinung, Schuld an seinem Leidensweg sei die Illusion gewesen, in Russland gäbe es keine Dedowschtschina: „Wenn ich gewusst hätte, was [in der Armee] los ist, hätte ich eine Möglichkeit gefunden, nicht hinzugehen, oder ich hätte mich wenigstens moralisch vorbereitet. Vielleicht hätte ich einen Selbstverteidigungskurs gemacht.“

    Arseni Lewinson, [Jurist bei Grashdanin i Armijadek], sagt, es komme nicht selten vor, dass Todesfälle vom Militärgericht zu Suiziden oder Unfällen erklärt werden.

    Laut einer Statistik von Prawo Materi wurden 2016 42 Prozent aller Todesfälle als Suizid gewertet,  24 Prozent als Unfall (von allen Fällen, die der Organisation aufgrund von Berichten von Angehörigen der Verstorbenen bekannt sind). Viele Straftaten schaffen es nicht in die Statistik, weil die Opfer sie nicht melden, fügt Lewinson hinzu. So ist es meistens bei Prügelattacken, die nicht tödlich enden – die Mehrheit der Einberufenen, so der Menschenrechtler, „hat Angst und schweigt“.

    Jewgeni wurde 2010 in die Armee einberufen, im Gebiet Pskow. Der Dienst war ruhig, aber die Führung forderte eiserne Disziplin, erinnert er sich. „Wenn sich jemand gehen ließ, seine Uniform nicht sauber hielt, die Befehle der Führung nicht sofort befolgte, musste die gesamte Kompanie hundert Liegestütze machen. Natürlich hat der Schuldige, wenn so was passierte, sofort Prügel bekommen“, erzählt Jewgeni. „Niemand will für jemand anderen herhalten. Die Führung wusste das und nutzte das aus.“

    Jewgeni selbst hat sich nie als Opfer gesehen, obwohl er unmittelbar nach dem Beginn seines Wehrdienstes drei Mal zusammengeschlagen wurde. Ein paar Monate später machte er selbst mit beim Verdreschen seiner Kameraden. „Wir waren immer ganz vorsichtig, sanft“, erläutert der ehemalige Soldat, der mit Meduza nur sprechen will, wenn er anonym bleibt.

    Ein paar Monate später machte Jewgeni selbst mit beim Verdreschen seiner Kameraden 

    „Ich finde immer noch nicht, dass ich irgendetwas falsch gemacht habe. Beim Militär herrscht eine andere Ordnung, eine andere Wahrnehmung. Was im Zivilleben als barbarisch gilt, kann in einer Einheit weit verbreitet sein“, sagt Jewgeni. 

    Er unterstreicht, dass er Gewalt gegenüber seinen Dienstkameraden nur angewendet habe, weil es nicht anders ging: „Wir wollten niemanden belehren, wenn wir zuschlugen, wir haben einfach nach den Regeln gelebt, die bestehende Ordnung weitergeführt.“ Wenn er das Wort Dedowschtschina ausspricht, schwingt beinahe so etwas wie Stolz mit.

    Verschiedene Experten und Menschenrechtler erklären, der Begriff Dedowschtschina sei im Hinblick auf heutige Straftaten in der Armee – streng genommen – nicht mehr ganz korrekt: Es gehe nur noch selten um eine „Erziehung“ der neuen Rekruten; die traditionellen Kasten der Dedy, Tscherepy, Slony und Duchi können sich seit dem Übergang zum einjährigen Wehrdienst schlicht nicht schnell genug formieren. In vielen Fällen spielt es auch gar keine große Rolle, wie lange der Soldat, gegen den man Gewalt anwendet, schon im Dienst ist.

    Arseni Lewinson sagt, die Regelverstöße würden heutzutage andere Formen annehmen: Es würden mehr Straftaten durch höherrangige Militärdienstleistende begangen; Fälle von Erpressung nähmen zu. 

    Fälle von Erpressung nehmen zu

    Jewgeni erinnert sich, dass die Vorgesetzten, wenn die Soldaten sich weigerten, Geld für die Renovierung ihrer Datschen zu sammeln, ihnen die Urlaubsscheine verweigerten oder zusätzliche Dienstschichten aufbrummten, manchmal zertrümmerten sie auch ihre Handys.

    Für das Jahr 2016 konnte Meduza in den Medien und anderen offenen Quellen mehrere Dutzend bekannt gewordene Fälle von Erpressung im Wehrdienst finden: Unter Androhung von Gewalt oder Mord wurden von den Rekruten Geld, technische Geräte oder Lebensmittel verlangt. Laut Berichten von Menschenrechtlern beschränkt sich die Erpressung in der Regel auf Summen von 1000 bis 5000 Rubel [umgerechnet etwa 15 bis 70 Euro – dek] pro Woche. Zunächst wird der Rekrut auf seine Zahlungsfähigkeit hin „abgetastet“: Man verlangt Geld und droht ihm mit dem Tod. Wenn er einknickt und das Geld zahlt, wird mehr gefordert.

    Auch in Georgis Einheit wurde Geld erpresst: Jede Woche, erinnert sich der Ex-Soldat, haben rund 20 Leute jeweils 200 bis 300 Rubel [umgerechnet etwa 3 bis 6 Euro – dek] an Ainur und seine Jungs gezahlt. „Wenn wir nicht zahlen wollten, brachten sie uns in den Trockner und verprügelten uns“, erzählt Georgi. „Besonders die Eisenstange, die dort aus irgendeinem Grund immer stand, liebten sie: Damit schlugen sie uns in die Rippen und auf die Beine.“ Wenn jemand nicht zahlen konnte, wurde er gezwungen, Ainur und seinen Jungs die Schuhe zu putzen oder ihre Dienstschichten zu übernehmen.

    Georgi erinnert sich, dass die größte Summe, die er je auf einmal gezahlt hat, rund 5000 Rubel [etwa 70 Euro – dek] waren, im April 2015, kurz bevor er in eine andere Einheit versetzt und Ainur aus dem Wehrdienst entlassen wurde. Eine verbreitete Praxis, wie die Experten erklären: Vor dem Ende ihrer Wehrdienstzeit sammeln die „Aggressoren“ noch einmal Geld ein; viele verlassen die Armee mit einer ganzen Ausrüstung an teuren technischen Geräten.

    Viele Aggressoren verlassen die Armee mit einer modernen technischen Ausrüstung 

    „Wenn das Militär professionalisiert wird, verschwindet auch die Dedowschtschina“, sagt Veronika Martschenko von Prawo Materi.

    Ein Faktor, der das Verschwinden der Dedowschtschina verhindert, ist vor allem die erwähnte Abgeschlossenheit der Armee: Für die Rekruten ist es schwer, auf die Rechtsbrüche in ihrer Einheit aufmerksam zu machen. „Du kannst auf jeder Etappe Probleme bekommen. Selbst wenn es der Rekrut bis zur Sanitätsstelle schafft oder die Schlagspuren fotografiert – sein Fall wird vom Kommandeur derselben Einheit geprüft. Man könnte vermuten, dass der den Fakt des Verstoßes verheimlichen wollen wird“, sagt Lewinson. „Ein nicht unwesentlicher Teil der Jungs, die sich an uns wenden, sind welche, die eigenmächtig da rausgefunden haben.“

    Werbeagentur oder Hilfsgruppe für Opfer von Gewalt?

    Georgi erinnert sich, wie er einmal einem der Offiziere seiner sibirischen Einheit im Privatgespräch erzählt hat, dass sich Ainur aggressiv verhält und „transnationale Konflikte schürt“. Der Offizier versprach ihm, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, doch das Gespräch blieb ohne Folgen. Seinen Eltern hat Georgi auch nichts erzählt, nur zwei Freunden, die ebenfalls nicht wussten, was er tun könnte.

    Georgi sagt, von seinen Bekannten aus der Armee habe er gehört, dass die Situation in seiner ehemaligen Einheit besser geworden sei. „Sie haben plötzlich angefangen, normale Abendkontrollen durchzuführen, vor kurzem wurden ein paar Leute wegen Schlägereien ins Strafbataillon geschickt, und die Führung hat eine strenge Disziplin eingebracht. Vielleicht gab es tatsächlich einen Befehl von oben“, berichtet er.

    Er selbst konnte nach sechs Monaten endlich in eine andere Einheit wechseln, nachdem er die Führung „buchstäblich mit Gesuchen überschüttet“ hatte. Georgi wollte zum Psychologen gehen, aber als er dann „an einem normalen Ort war, ließ das nach“. Nach dem Wehrdienst schrieb er sich an der Nowosibirsker Uni ein, brach das Studium aber enttäuscht wieder ab. Jetzt arbeitet Georgi in einer Werbeagentur und denkt darüber nach, eine Hilfsgruppe für Opfer von Gewalt zu gründen. „Ich trage niemandem etwas nach. Ich glaube, es ist passiert, weil es passieren musste“, räsoniert der junge Mann. „Natürlich ist das schlimm, man muss das bekämpfen. Aber um der Dedowschtschina ein Ende zu setzen, muss man wohl selbst da durchgegangen sein.“

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    Die Geister der Vergangenheit

    Juri Dmitrijew muss ein „Wahnsinniger“ sein. Das sagen Freunde und Kollegen über ihn, und sein Werdegang legt es nahe: Akribisch und detailversessen, ohne große Institutionen und Gelder im Hintergrund, forschte und grub er in Archiven und in Erdhügeln nach Toten aus der Zeit des Großen Terror. Er sorgte dafür, dass die Ermordeten und anonym Begrabenen wieder einen Namen und einen Gedenkort bekamen. 
    Mit seinen Nachforschungen hat Dmitrijew ein Tabu gebrochen, denn bis heute ist die Zeit des Großen Terrors kaum aufgearbeitet

    Am 13. Dezember 2016 wurde Juri Dmitrijew verhaftet. Der ungeheure Vorwurf lautet: Kinderpornographie. Dabei werden ihm Fotografien zur Last gelegt, die er vor einigen Jahren von seiner Pflegetochter machte. 2008 hatte er das damals dreijährige Mädchen zu sich genommen.
    Die Anschuldigungen und der Prozess erregten großes Aufsehen, viele Beobachter zweifeln die Vorwürfe an, glauben an eine Kampagne, um Dmitrijew zum Schweigen zu bringen. Eine Petition wurde gestartet, zahlreiche Prominente wie der Musiker Boris Grebenschtschikow, die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja oder der Regisseur Andrej Swjaginzew setzten sich für Dmitrijew ein, bislang ohne Erfolg: Der Prozess geht am kommenden Dienstag weiter. Dmitrijew, der sich nun auch an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt hat, drohen bis zu 15 Jahre Haft.

    Schura Burtin hat mit Freunden und Weggefährten Dmitrijews gesprochen, ist den Spuren des Mannes in die dunkle sowjetische Vergangenheit gefolgt. 
    Seine Reportage über den „Fall Chottabytsch“, wie Dmitrijew wegen der äußeren Ähnlichkeit mit dem in Russland populären Flaschengeist genannt wird, wurde viel gelesen und diskutiert. 


    Update, 27.12.2021: Die Lagerhaft von Juri Dmitrijew wurde von einem Gericht in Karelien von 13 auf 15 Jahre angehoben, wie Mediazona berichtet.
    „Dmitrijew kann man mit Worten schwer beschreiben, er flucht ohne Ende Mat und raucht Belomor.“ / Foto © Sofija Pankewitsch
    „Dmitrijew kann man mit Worten schwer beschreiben, er flucht ohne Ende Mat und raucht Belomor.“ / Foto © Sofija Pankewitsch

    Von Juri Dmitrijew habe ich erstmals diesen Winter gehört, nach seiner Verhaftung. Freunde erzählten mir die merkwürdige Geschichte von einem Memorial-Mitarbeiter aus Karelien, der wegen Kinderpornographie festgenommen worden war.

    Ich kam nach Hause, suchte im Netz und sah Fotos von einem dürren, bärtigen Mann mit grauen Zotteln und schwerem Blick. Aus der Anklage war schwer zu ersehen, was von der Sache zu halten ist. Einerseits kann man sich von einem Memorial-Mitarbeiter so etwas Abwegiges schwer vorstellen. Andererseits – kein Rauch ohne Feuer: Die Ermittler konnten das doch nicht alles erfunden haben!

    Harsche, emotionale Person mit schwierigem Charakter

    Ich spreche mit verschiedenen Menschen, die Dmitrijew kennen. In Moskau sind es zwei feine, kluge Frauen: Irina [Galkowa, Leiterin des Memorial-Museums] und Olga Kersina, Leiterin des Moskauer Kinokolledsh. Beide unterstützen Dmitrijew. Aus ihren Erzählungen wird bald klar, dass er ein ziemlich ungewöhnlicher Typ sein muss, ein Original. Mir wird eine harsche, emotionale Person mit schwierigem Charakter beschrieben (fast alle benutzten das Wort „kratzbürstig“), auf der anderen Seite sehr direkt und offenherzig; ein emsiger Technik-Freak mit dem Charakter einer Schukschin-Figur.

    „Naja, er ist schon, sagen wir, eigen …“ Das höre ich von fast allen, die ich nach Dmitrijew frage. „Schickt dich auch schon mal zum A****, wenn’s sein muss …“

    „Dmitrijew kann man mit Worten schwer beschreiben, er flucht ohne Ende Mat und raucht Belomor. Lebt mit Katze, Tochter und Enkeltochter zusammen. Sie kleben an ihm, und er: ‚Immer hübsch der Reihe nach, ihr Hurenkinder!‘ Zum Abschied bekam ich von ihm zu hören: ‚So, und jetzt verpiss dich.‘ Aber immer mit einem Lächeln, ironisch, nicht böse …“  

    In seiner Jugend besuchte er eine Weile die medizinische Fachschule, wollte Arzthelfer werden, brach sie dann ab. Saß ein paar Jahre wegen einer Schlägerei ein, arbeitete als Schlosser bei einem Wäscherei- und Saunakombinat, als Hilfsarbeiter in einer Mineralien-Fabrik, betreute Heizanlagen für die Wohnungsverwaltung. Führte Touristen durch Karelien, lernte, im Wald zu überleben. Heiratete, bekam zwei Kinder, sparte auf eine Wohnung. Während der Perestroika flammte bei ihm, wie bei vielen, das Interesse an Politik auf – aus der Zone war er als Antisowjet zurückgekehrt. 1988 wurde Dmitrijew, mitgerissen vom Kampf gegen die führende Rolle der KPdSU, ehrenamtlicher Assistent eines Volksabgeordneten. Eines Tages rief ein Reporter der Zeitung Komsomolez bei ihm an: In der Garnisonsstadt Bessowez hatte man menschliche Überreste entdeckt.

    „Also hab ich zum Chef gesagt: ‚Wir müssen dahin.‘ Folgendes Bild: Ein Bagger steht da, ein paar Typen von der Staatsanwaltschaft, der Ermittler, Bezirksbeamte jeder Couleur, so an die fünfzehn Leute waren dort versammelt. Alle stehen rum, wissen nicht, was sie mit diesem Fund anfangen sollen. Ich war ja mal auf der medizinischen Fachschule und weiß ein bisschen was über Anatomie, also habe ich anhand der Knochenanordnung gesehen, wo der Kopf war, den Schädel rausgeholt, die Erde abgerieben – und da sehe ich am Hinterkopf eine runde Öffnung. Erschossen.

    Was also tun? ‚Wieder vergraben und gut ist’s!‘ Und ich: ‚Wie – vergraben? Und was ist mit beerdigen?‘ ‚Ist doch nicht unsere Aufgabe.‘ Und stehen so da, gucken sich an. ‚Na gut, wenn euch das alles schnurz ist, mach ich’s eben selbst …‘

    Und dann bin ich ein paar Wochenenden lang rausgefahren, hab die Knochen eingesammelt, in Säcke gepackt und in Garagen gebracht. Eines Tages fand ich einen Schuh mit abgenutzter Galosche. Und hinten drin – ein Stück Zeitung, damit die Galosche nicht rutschte. Ich brachte das Beweisstück zur Staatsanwaltschaft, aber die sagten: Man kann nichts lesen. Ich hab mir also einen feinen Pinsel und Kinderseife genommen – und zwei Wochen mit dieser Zeitung zugebracht. Als der Text zum Vorschein kam, bin ich in die Bibliothek und hab die passende Zeitung gesucht. Wie sich herausstellte, war es die Krasnaja Karelija [dt. Rotes Karelien dek], von September 1937 …“

    Erste Etappe

    Eines Tages, Mitte Oktober 1937, legten am Hafen der Solowezki Inseln drei Lastkähne aus Kem an. Die Lagerinsassen wurden zu einer unerwarteten Generalüberprüfung nach draußen gescheucht. Eine ellenlange Liste wurde verlesen, mehr als tausend Namen von Menschen, die in Etappen verschifft werden sollten.

    Von den Menschen, die in diesen Kähnen ablegten, hat nie wieder jemand etwas gehört. Sie sind weder irgendwo angekommen noch in irgendwelchen Dokumenten oder Memoiren aufgetaucht. Es ging die Legende, die Kähne wären im Weißen Meer versenkt worden. Den Angehörigen wurden jahrzehntelang falsche Auskünfte erteilt: „Zehn Jahre ohne Recht auf Briefverkehr“, „Aufenthalt in entlegenem Lager“, „Verstorben an Lungenentzündung, Herzinfarkt …“. Erst mit der Perestroika wurde bekannt, dass man diese Menschen alle erschossen hatte.

    Das geschah folgendermaßen: Man holte die Häftlinge [die man per Schiff nach Medweshja Gora transportiert hatte – dek] einzeln aus den Zellen, unter dem Vorwand einer medizinischen Untersuchung. Dann brachte man sie in das „Handfesselzimmer“, wie es die Tschekisten unter sich nannten. Nach Abgleich mit der Liste erklang ein Codewort: „Etappentauglich“. Sofort packten zwei Tschekisten den Gefangenen an den Armen, verdrehten sie auf dem Rücken, während ein dritter sie fest verschnürte. Wenn der Häftling schrie, wurde er mit einem Knüppelschlag auf den Kopf „bewegungsunfähig“ gemacht, ihm wurde mit einem Handtuch so lange die Luft genommen, bis er das Bewusstsein verlor. Die Mörder hatten Angst vor den Schreien: Die Gefangenen sollten nicht wissen, wozu man sie nach Medweshja Gora gebracht hatte. Wenn jemand versehentlich starb, schaffte man die Leiche in den Waschraum.

    Wenn 50 bis 60 Menschen zusammen waren, wurden sie von einem Begleitkommando auf Lkw-Ladeflächen gezerrt, dicht an dicht auf den Boden gelegt und mit Planen zugedeckt. Eine Karawane aus mehreren Lkws und einem Pkw als Schlusslicht brach in Richtung Wald auf. Dort hatte ein Arbeitskommando bereits tiefe Gruben in den lockeren Sandboden gegraben. Feuer wurden entzündet, damit die Begleitmänner es warm und hell hatten. Die Autos fuhren dicht an die Gruben heran, einer nach dem anderen wurden die Menschen von der Ladefläche gezogen. In den Gruben warteten die Mörder. Die waren ein halbes Jahr später fast alle selbst tot. Erschossen, wie so viele der am Großen Terror Beteiligten.

    Aus ihren Aussagen bei den Kreuzverhören kennen wir das Hinrichtungsmuster. „Dem Gefangenen wurde befohlen, sich mit dem Gesicht nach unten in die Grube zu legen, woraufhin er mit einem Nahschuss aus dem Revolver getötet wurde“, berichtet Matwejew, ein Hauptmann der Staatssicherheit, in seiner Aussage.

    War das Erschießungskommando mit einer Gruppe fertig, kehrte ein Teil des Kommandos nach Medweshja Gora zurück, um den nächsten Schub zu holen, während ein anderer Teil dort blieb und neue Gruben schaufelte. In einer Nacht schaffte man bis zu vier solcher Durchläufe. Frauen wurden gesondert transportiert. Gegen vier Uhr morgens beendete man die Operation.

    „Einmal hatte der Lkw mit den Menschen hinten drauf während der Fahrt eine Panne und blieb im Dorf Pinduschi liegen. Da fing einer der Verurteilten so an zu schreien, dass man es draußen hören konnte. Um die Geheimhaltung unserer Arbeit zu wahren, musste ich entsprechende Maßnahmen ergreifen, aber es war nicht möglich, im Auto zu schießen, und man konnte ihm den Mund auch nicht mit einem Tuch zubinden, weil die Verhafteten dicht an dicht auf dem Boden der Ladefläche lagen. Also habe ich, um den schreienden Verurteilten ruhigzustellen, ihn mit einem Eisenstab aufgespießt, wie mit einer Stichwaffe, und so sein Schreien beendet.“

    Wo die Menschen nicht hingehen

    Dmitrijew freundete sich mit Iwan Tschuchin an, dem Leiter des Petrosawodsker Memorial. Auch der kannte sich mit dem Thema aus: Ein Oberstleutnant der Miliz, der sich für die Geschichte des Weißmeer-Ostsee-Kanals interessierte und mit Haut und Haar in die Vergangenheit abgetaucht war. Tschuchin arbeitete an einem Buch, den Totengedenklisten Kareliens von 1937 bis 1938, den Jahren des Großen Terrors. Dmitrijew begann ihm zu helfen.

    „Ich saß beim FSB, füllte all diese Karteikarten aus, mehrere tausend Stück – Datum der Festnahme und so weiter, alle Details. Und als ich mit den Karten durch war, begriff ich, dass wir riesige Lücken in den Listen hatten. Ich ging wieder zum FSB und sagte: ‚Ich brauche nicht die ganzen Akten. Gebt mir die Protokolle der Troika-Sitzungen.‘ Das war vielleicht was! Sie ließen mich keine Kopien machen, keine Fotos. Ich musste alles von Hand abschreiben – was schafft man da schon in acht Stunden? Also nahm ich ein Diktiergerät mit, sprach die Protokolle ein, die angehefteten Schriftstücke, von vorne bis hinten … Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe. Dann ging ich nach Hause, hörte es die halbe Nacht ab, schrieb alles auf, glich die Erschießungen mit den Listen der Repressierten ab, ging wieder hin, nahm alles auf und so weiter. Und erst so schufen wir langsam eine mehr oder weniger zuverlässige Grundlage.“

    Den Archiven entnahm Dmitrijew, dass es in Karelien sehr viele Hinrichtungsstätten gegeben haben musste. Aber sie wurden streng geheimgehalten, in den Dokumenten sind nie konkrete Orte genannt. Den Erschießungsort kannte nicht einmal die Führung, nur der Kommandeur des Erschießungskommandos und das Kommando selbst. In den Akten fanden sich nur vereinzelt indirekte Hinweise.

    Er las eine Schäferhündin auf und brachte ihr bei, Grabstätten aufzuspüren / Foto © Alexander Zepljanow
    Er las eine Schäferhündin auf und brachte ihr bei, Grabstätten aufzuspüren / Foto © Alexander Zepljanow

    Und so begann Dmitrijew zu suchen: Den Winter verbrachte er im Archiv, im Sommer ging er in die Wälder. Wie Erschießungsgräber aussahen, das wusste er bereits.

    Er las eine Schäferhündin von der Straße auf, nannte sie Wedma, Hexe, und brachte ihr bei, Grabstätten aufzuspüren. Die beiden wurden ein unzertrennliches Paar, verschwanden monatelang zu zweit in den Wäldern. Und so kennen Dmitrijew alle: dürr, schroff, immer in Matrosenshirt und Tarnanzug, mit der immergleichen Belomor-Zigarette zwischen den Zähnen und Wedma auf der Rückbank des verbeulten Niva.

    „Alles, was er wissen will, erfährt er innerhalb von zehn Minuten. Er spricht alle Omas an. Er hat uns beigebracht, welche Fragen man stellt. Man darf nicht nach den konkreten Ereignissen fragen, sondern zum Beispiel: Welche Stellen werden hier gemieden? Vor welchen Orten haben die Menschen Angst?“

    Alle Grabstätten waren getarnt.

    „In Sulashgora bin ich einmal fast durchgedreht … Ich weiß ja, wie der Mensch aufgebaut ist, wo welcher noch so kleine Knochen am Skelett hingehört. Aber da waren die menschlichen Knochen mit etwas anderem vermischt. Ich bin zum Tierarzt gelaufen – ein Schwein! Eine Aasgrube war das. Warum? Weil es Jäger mit Hunden gibt. Die Hunde wittern was, fangen an zu scharren, dann gräbt vielleicht auch mal der Jäger und findet plötzlich einen Toten. Also hat man am Ende immer ein totes Schwein oder irgendwas reingeworfen: Hier ist eine Aasgrube, haltet euch fern.“

    Abgesackte Böden

    1997 wurde Dmitrijew von den Petersburger Memorial-Mitarbeitern Wenjamin Iofe und Irina Flige gebeten, nach der Hinrichtungsstätte der ersten Gefangenen-Etappe von Solowezki zu suchen. Die Suche gestaltete sich äußerst schwierig. Die Bahnstation Medweshja Gora liegt mitten in der Taiga. Aus den Aussagen wusste man nur, dass die Lastwagen mit den Verurteilten das Dorf Pinduschi passierten, sie also irgendwo im näheren Umkreis der Straße nach Powenez erschossen worden waren. Aus der Anzahl der Fahrten pro Nacht und anderen indirekten Hinweisen schlossen die Memorial-Mitarbeiter, dass die Fahrtzeit zum Zielort etwa eine halbe Stunde betragen haben musste, circa 20 Kilometer.

    Die Zeiten waren andere – die Kreisverwaltung leistete Unterstützung, wo sie konnte, die Führung der hiesigen Armeeeinheit stellte einen Trupp Soldaten bereit, um bei der Suche zu helfen.

    „Ich gehe mit dem Oberleutnant langsam den Waldweg entlang und überlege: Welche Stelle hätte ich wohl gewählt? In einem der Verhörprotokolle hatte ich gelesen, wie sie instruiert wurden: Nicht weiter als zehn Kilometer vom Ort der Internierung und so, dass man die Schüsse nicht hörte, das Licht der Scheinwerfer, den Widerschein der Lagerfeuer nicht sah. Hier? Nein, zu nah an der Straße. Dort? Schon eher, aber noch etwas weiter. Ja, hier ist es genau richtig … Und plötzlich, während ich das denke, fallen mir zu beiden Seiten der Straße gerade, rechteckige Erdmulden auf, mit abgesackten Böden. Und als wir uns umsehen, wimmelt es überall nur so von diesen Erdmulden …“

    So weit das Auge reichte war der Wald übersät von Gräbern. Gleich bei den ersten Grabungen entdeckte man Schädel mit Einschusslöchern darin. Bei der Menge der Grabstätten war sofort klar, dass hier nicht nur die Häftlinge der Solowezker Etappe erschossen worden waren, sondern noch sehr viele andere Menschen. Viele von ihnen waren den Memorial-Mitarbeitern bereits bekannt.

    Unter den Opfern waren Leute, deren akademische Titel eine Schreibmaschinenseite sprengten und deren Liste wissenschaftlicher Arbeiten so dick war wie ein Schreibheft. Etliche Intellektuelle, Soldaten und Offiziere der Weißen Armee und natürlich Geistliche, darunter vier, die von der Kirche heilig gesprochen wurden. Insgesamt um die 9000 Menschen.

    Es ist eines der größten Massengräber des Stalinistischen Terrors, zu nennen in einer Reihe mit der Lewaschowo-Brache, dem Butowo-Poligon, Kommunarka, Kuropaty und Katyn.

    Der Ort hatte keinen Namen. Bei der Durchsicht alter Karten entdeckte Dmitrijew in der Nähe den Flurnamen Sandarmoch. Also wurde die Fundstelle nach diesem Waldstück benannt.

    Sandarmoch

    Im Norden ist es still. Die Geräusche – das Klopfen eines Zuges, das Gepolter von Steinen, die vom Kipplaster rutschen, das Dröhnen eines Motors auf der Landstraße – zerreißen diese Stille nur kurz. Nach Sandarmoch sind es drei Stunden mit dem Zug von Petrosawodsk bis zur Bahnstation Medweshja Gora und dann zwanzig Kilometer mit dem Bus, der nach Powenez fährt. Eine unmerkliche Kurve, vierhundert Meter einen Waldpfad entlang, am Ende – eine kleine Lichtung mit einem scharfkantigen Stein und einer Holzkapelle, dahinter wieder Wald, ein gewöhnlicher karelischer Wald, karelische Kiefern. Und an jedem Stamm: das Portrait eines hier ermordeten Menschen. Es duftet nach Nadelholz, unter den Füßen knirscht der Schnee, die Schatten werden blau, ein Specht klopft den Takt. Und von jedem Baum blicken mich Menschen an, Schwarzweißfotos. Ich gehe durch den Wald, zwischen den Bäumen hindurch – und sie sind überall, Tausende von Menschen. In diesem Leben wurden all diese Menschen zu Bäumen. Und jeder Baum erzählt mir, was für ein Mensch er einmal war.

    Von jedem Baum blicken mich Menschen an, Schwarzweißfotos / Foto © Tomasch Kisny
    Von jedem Baum blicken mich Menschen an, Schwarzweißfotos / Foto © Tomasch Kisny

    Ich verliere mich, wandere lange durch den Wald. Komme wieder an der Lichtung heraus, wo der große Felsblock steht, den Dmitrijew und sein Freund Grischa Saltup hier vor zwanzig Jahren aufgestellt haben. Darauf eine Inschrift: „Menschen, tötet einander nicht!“ Dieser scheinbar banale Aufruf hallt beim Verlassen des Waldes wie deine eigene, inständige, naive Bitte.

    Bis aufs Grab genau

    „Er ist ja gar kein Historiker“, sagt die Leiterin des Memorial-Museums Irina Galkowa, „aber er kennt sich unheimlich gut aus, und er hat ein unglaublich feines Gespür für Details, für sachliche genauso wie archivarische. Ich kenne keinen anderen, der durch Tausende von Akten gehen und dabei die immergleichen langweiligen Daten herausschälen könnte, alles miteinander vergleichen, Kärtchen ausfüllen … Ein Grab auszugraben ist an sich ja schon ein makaberes Unternehmen. Aber dann ist da ja noch diese ganze langatmige Arbeit – vergleichen, vermessen, Details gegenüberstellen. Wofür macht man das alles? Um den Erschießungsbefehl zu finden, der zu diesem konkreten Grab gehört. Dieser Erschießungsbefehl erlaubt es, alle Ermordeten mit Namen zu nennen – die konkreten Menschen, die in diesem einen Grab liegen. Eine ungeheure Arbeit, niemand in Russland macht sie außer ihm.“

    Die Entdeckung von Sandarmoch wurde zum zweiten Schlüsselmoment in Dmitrijews Leben. Für viele Jahre tauchte er in die Schicksale der dort hingerichteten Menschen ein. Innerhalb von zehn Jahren hat er den Großteil der Erschießungsbefehle zugeordnet, für etwa siebeneinhalbtausend Menschen. Es ist die einzige Hinrichtungsstätte in Russland, bei der die meisten der Opfer namentlich bekannt sind, viele bis auf die Grube genau.

    Katja

    Kurz vor der Entdeckung von Sandarmoch hatte Dmitrijew eine Stelle als Wachmann angenommen und eine verlassene Militärfabrik am Stadtrand bewacht. Das war genau das richtige für ihn: Es gab genug Freizeit und ein minimales Gehalt. Alle seine Suchaktionen bezahlte Dmitrijew aus eigener Tasche, er hat nie im Leben Forschungsgelder erhalten, nicht eine müde Kopeke. Er ließ sich einen Bart und lange Zotteln wachsen – seine Freunde tauften ihn Chottabytsch. Mitte der 1990er hatte seine Frau ihn verlassen, seine beiden Kinder, Jegor und Katja, damals etwa zehn und elf, blieben bei ihm.

    „Er blieb allein, bis die Kinder erwachsen waren“, erzählt Irina. „Wenn er davon sprach, klang das immer, als wäre das ein Gesetz: ‚Meine Kinder sollen keine Stiefmutter haben.‘ Er hat eine etwas pathetische Einstellung dazu, was ein Vater sein muss. Eine Familie, die von ihm abhängt und der er sich bedingungslos aufopfert, ist ihm ungeheuer wichtig.“

    Dmitrijews Zuhause ist eine Junggesellenwohnung im obersten Stockwerk einer Chruschtschowka in einer Vorstadtsiedlung. Jetzt, nach seiner Verhaftung, lebt hier seine Tochter Katja mit ihren Kindern. Es riecht nach Hund und kaltem Belomor-Rauch. Eine altersschwache Wohnzimmerschrankwand mit Kristallgeschirr, lauter Krimskrams über dem typisch chaotischen Schreibtisch à la sowjetischer Ingenieur …

    „,Naja, er ist schon, sagen wir, eigen ... ‘ Das höre ich von fast allen, die ich nach Dmitrijew frage“ / Foto © Ekaterina Makhotina
    „,Naja, er ist schon, sagen wir, eigen … ‘ Das höre ich von fast allen, die ich nach Dmitrijew frage“ / Foto © Ekaterina Makhotina

    Katja ist etwas über 30, eine eher grobe, schroffe, schnörkellose junge Frau, die beim Notdienst der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft arbeitet. Schreit ihre Kinder an wie ein Feldwebel. Das macht mich anfangs etwas nervös, aber dann verstehe ich, dass das nur eine Angewohnheit ist, vermutlich hat sie das von ihrem Vater. Es sind gute Menschen, und sie haben ein gutes Verhältnis zueinander. Danik bringt mir einen Teller Borschtsch und Mayonnaise.

    „Er hat immer nur vier Stunden geschlafen – die ganze Zeit war er mit diesen Listen zugange! Ist doch klar, dass du völlig fertig bist. Aber ewig Kaffee und Papirossy – nach dem Motto ich muss, ich muss! … Jura, sage ich, rasier dich mal. Du siehst aus wie ein Waldschrat! Lass mich, sagt er. Und ich: Dann komm ich nachts und rasier dich! Nein, sagt er, solange das Buch nicht fertig ist, werd ich mich nicht rasieren, und meine Haare bleiben auch dran … Als dieses große Gedenk-Buch rauskam, hieß es, es würde sich vielleicht verkaufen lassen. Da sagt er: Was heißt denn verkaufen? Vielleicht ist es für irgendein Großmütterchen, irgendeine Rentnerin, ihr ganzer Lebenssinn? Er kratzte hier und da was zusammen, packte seine Sachen – und zog wieder los, ließ sich seinen Bart wachsen.“

    Sekirka

    Sandarmoch bescherte Dmitrijew eine weitere Leidenschaft: Er beschloss, koste es, was es wolle, die beiden anderen Solowezker Etappen zu finden, die zweite und die dritte. Die Suche nach der zweiten Etappe führte Dmitrijew in die Gegend bei Lodeinoje Pole [in der Nähe von St. Petersburg – dek]. Gefunden hat er sie noch immer nicht, aber er durchkämmt weiter jeden Sommer dort die Wälder.

    Die dritte Etappe hat, wie ihm klar wurde, niemals abgelegt: Die Schifffahrtssaison war vorbei, und so wurden die Häftlinge gleich dort, auf den Solowezki Inseln, erschossen. Bei seiner Suche nach der dritten Etappe stieß Dmitrijew auf die Erschießungsgruben am Sekirnaja Gora – wohl einem der schrecklichsten Orte der Menschheitsgeschichte.

    Der Strafisolator auf dem Sekirnaja Gora befand sich in einer großen zweistöckigen Kirche, die niemals geheizt wurde. Bei der Ankunft wurde der Häftling komplett entkleidet, sämtlicher persönlicher Gegenstände entledigt und in einen Kittel aus Leinsäcken gesteckt.

    Zu Essen gab es auf Sekirnaja Gora so gut wie nichts – 300 Gramm von irgendeinem Moder, der in den umgeschlagenen Kittelsaum gekippt wurde. Den ganzen Tag mussten die skelettgleichen, schmutzigen, halbtoten Menschen auf speziellen Sitzstangen ausharren, die so angebracht waren, dass die Füße kaum bis zum Boden reichten, und durften sich nicht rühren. Im Winter bei grausamster Kälte, im Sommer übersät von Tausenden von Mücken. Wer nicht gehorchte, wurde mit Stöcken geschlagen, gefesselt oder in die „steinernen Säcke“ gezwängt – Nischen, die seinerzeit Mönche zur Aufbewahrung von Lebensmitteln in den Fels gehauen hatten. Geschlafen wurde auf dem reifbedeckten Steinboden, zusammengedrängt zu sogenannten „Wärmegruppen“ (die Beine des einen geschlungen um den Hals des nächsten), oder in drei Reihen übereinander gestapelt, immer abwechselnd. Jede Nacht starb jemand aus der untersten Reihe, die Aufseher zogen die Leichen heraus, und die Häftlinge, völlig von Sinnen, hinderten sie daran – aus Angst, sich auf den Steinboden legen zu müssen.

    Sekirnaja Gora war der Vernichtungsort des Lagers, länger als zwei Monate überlebte dort niemand. Schon im Voraus, im Herbst, wurden am Fuß des Berges Gräben für die Leichen gegraben. Genau hier fand auch der Großteil der Erschießungen von Solowezki statt. Auf dem Sekirnaja Gora gab es sechs hauptamtliche „Henker“. Den Erinnerungsberichten nach zu urteilen, wurden dort wöchentlich um die zehn Menschen hingerichtet. Aber es gab auch Massenerschießungen: 140 ehemalige Weißgardisten, die der Vorbereitung eines Aufstands bezichtigt wurden (der sogenannten Solowezker Verschwörung, ein von der OGPU fabrizierter Fall); 125 Häftlinge, die bei der Verladung von Holz für die Ausfuhr gearbeitet und Hilferufe in die Stämme geschnitzt hatten; 148 gläubige Christen, die sich weigerten, „für den Antichrist“ zu arbeiten – das sind die Fälle, die belegt sind.

    Eine dieser Begräbnisstätten mit 70 Erschossenen darin hat Dmitrijew entdeckt. Es gelang ihm nicht, die Namen herauszufinden – die Archive des Solowezki-Lagers sind entweder vernichtet oder streng geheim. Also bat er einfach die Mönche, eine Messe für die Toten abzuhalten, beerdigte sie und stellte Kreuze auf.

    Charon

    Ich versuche immer noch zu verstehen und frage alle danach: Was hat diesen Mann dazu bewegt, völlig uneigennützig dreißig Jahre seines Lebens dem unappetitlichen und eintönigen Herumwühlen in Knochen und Karteikarten zu widmen, den Reisen ins Reich der Toten? Es ist ja eine Sache, einen Friedhof zu finden, oder zwei, drei … aber dreißig Jahre?

    Ein Schreibtischgelehrter hätte niemals wirklich in das damalige Leben eintauchen, es zu seinem eigenen machen können. Da wäre immer eine unüberwindbare Grenze geblieben hinter der durchsichtigen Schicht der Zeit. Aber Dmitrijew hat ein magisches Ritual gefunden, das ihre Schicksale zu einem Teil seines eigenen macht. Er grub die Toten aus, gab ihnen Namen, beerdigte sie wieder – und trat damit in ihre Leben, all diese Menschen wurden zu seinen Angehörigen. Ihre Knochen wurden zu seinen Knochen. Er wurde zu Charon, der einen kleinen Teil ihrer Seelen wieder in die Welt der Lebenden zurückbrachte. Er stand ganz offenbar in irgendeiner Verbindung zu den Toten.

    „Er sagte, er würde die Stimmen der Toten hören – in den schlaflosen Nächten, wenn er in den Karteikarten blättere, und im Rascheln der Äste im Wald“ / Foto © Ekaterina Makhotina
    „Er sagte, er würde die Stimmen der Toten hören – in den schlaflosen Nächten, wenn er in den Karteikarten blättere, und im Rascheln der Äste im Wald“ / Foto © Ekaterina Makhotina

    Naturgemäß wurde Dmitrijew zu einem Gläubigen, einem Mystiker. Er sagte, er würde die Stimmen der Toten hören – in den schlaflosen Nächten, wenn er in den Karteikarten blättere, und im Rascheln der Äste im Wald.

    „Auf dem Friedhof in der Nähe der achten Schleuse am Belomorkanal zündete ich eine Kerze an, begann, für den Seelenfrieden der Verstorbenen zu beten, und ich hörte von allen Seiten: Denk auch an mich, und mich, und mich …“

    In diesen dreißig Jahren hat Dmitrijew überwältigend viel getan – niemand in Russland hat so viel ausgegraben wie er. Er schuf Geschichte, die es vor ihm nicht gegeben hat, und er veränderte Stück für Stück die Welt um ihn herum. Nicht jeder Historiker kann das von sich behaupten.

    Einer nach dem anderen entstanden in Karelien Orte, die zum Nachdenken bewegen. Scheinbar war dort alles in Ordnung – und plötzlich, nach zwanzig Jahren, finden die Bürger heraus, dass sie umgeben sind von Gräbern voller Erschießungsopfer. Und jetzt müssen sie etwas mit dieser Geschichte tun, es ist nicht mehr möglich, sich abzuwenden, zu vergessen …

    Gefahr

    Den Gesprächen mit seinen Freunden entnehme ich, dass Dmitrijew im vergangenen halben Jahr sichtlich nervös war, mehrfach äußerte, dass man ihn holen würde.

    Chottabytsch spürte, dass man ihn beobachtet, aber er wusste nicht, was er genau verstecken sollte. Im November vergangenen Jahres veröffentlichte Memorial die aufsehenerregenden sogenannte Henkerslisten – Listen mit den Namen von NKWD-Mitarbeitern, die unmittelbar am Großen Terror beteiligt waren. Dmitrijew hatte an diesem Projekt nicht mitgewirkt, allerdings bekam er in den ersten Dezember-Tagen mehrere Anrufe von einer anonymen Person, die herauszufinden versuchte, ob er Informationen über die Massenmörder besaß.

    „Er hatte schon länger davon gesprochen, dass jemand in seinem Computer herumwühlt, dass man ihn abhört“, erzählt Katja. „Ich hab zu ihm gesagt: ,Hör auf zu spinnen, James Bond!‘ Und dann rief er mich an: ‚Komm bitte morgen früh und bleib ein bisschen hier. Es muss jemand da sein morgen.‘ Ich sagte: ‚Ich kann nicht, ich muss arbeiten.‘ ‚Was ist mit Danik?‘ Ich fragte: ‚Was ist passiert?‘ Und er: ‚Schon gut …‘“

    Am 10. Dezember 2016 bekam Dmitrijew Besuch von einem Polizeibeamten, der ihn bat, am nächsten Tag wegen irgendwelcher Formalitäten auf dem Revier zu erscheinen. Dmitrijew erschien und wurde vier Stunden lang zu irgendwelchen Jagdgewehren ausgequetscht. Als er nach Hause kam, wurde ihm klar, dass jemand in seiner Wohnung gewesen war und seinen Computer durchforstet hatte.

    Einen Tag später wurde Dmitrijew wegen des Verdachts auf Herstellung von Kinderpornographie festgenommen. Als Beweismittel dienten Fotos der nackten Nataschka.

    Nataschka

    Als Jegor und Katja erwachsen waren, heiratete Dmitrijew zum zweiten Mal. Seine Frau und er nahmen ein dreijähriges Mädchen aus dem Kinderheim bei sich auf, Natascha. Alle sagen, das sei ein ungeheuer wichtiger Moment für ihn gewesen. Dmitrijew, selbst ein Heimkind (er war noch ganz klein, als seine Eltern ihn zu sich nahmen), betrachtete dies als seine Pflicht. Man wollte ihm kein Kind geben, es hieß, er sei zu alt. Aber Dmitrijew zog vor Gericht, durchbrach alle Mauern, besuchte Kurse für Pflegeeltern – und bekam Nataschka.

    „Ich habe als letzte davon erfahren“, erinnert sich Katja. „Weil sie wussten, wie eifersüchtig ich bin … Ich liebe meinen Papa sehr, seine Aufmerksamkeit ist mir sehr wichtig. Als sie es mir sagten, war ich wie erstarrt, meine erste Reaktion war: ,Hoffentlich kein Mädchen?‘ Allein die Vorstellung, dass er zu jemandem anders Töchterchen sagt … Naja, und dann kam diese Natascha, komisch war die. Furchtbar dünn, unterernährt, schielte, hatte den Kopf voller Läuse. Später erst, da wurde sie der Chef. Da staunst du nur so!“

    „Als seine Frau gegangen ist, war er natürlich erstmal etwas ratlos“, erzählt Katja. „Aber mit vereinten Kräften ging es irgendwie. Natürlich war ich jeden Tag da, hab geholfen, Essen gemacht. Und dann komm ich eines Tages, und siehe da – er hat sich dran gewöhnt, überall hängt Wäsche, wie bei einer Hausfrau. Wir waren ständig zusammen. Er ging auf seine Expeditionen, ich nahm Nataschka zu mir, später nahm er sie mit. Meine Kinder waren ständig dort, sie gingen auf dieselbe Schule. Er schleppte sie zu allen möglichen Kreisen, überallhin, er hat sich ihr richtig angenommen.“

    „Nataschka entwickelte sich sehr langsam“, sagt Olga Kersina vom Moskauer Kinokolledsh. „Dmitrijew machte sich Sorgen, dachte, das wäre, weil sie sich schon so an seine Frau gewöhnt hatte. Er ist zu allen Ärzten gerannt, die sagten, dass sie nicht wächst, weil sie emotional schwer traumatisiert sei. Er suchte nach Fachärzten, dachte, er würde sie in Moskau finden. Er hatte einen ziemlichen Tick, was ihre Gesundheit anging.“

    „Eine Verbundenheit wie im Krieg war das, Wahnsinn!“, sagt Irina Galkowa. „Dass Nataschka auch ein Mensch mit einem schlimmen, von Beginn an schwierigen Schicksal ist, an dem er nun teilhat und wofür er verantwortlich ist – das war Juri sehr bewusst.“

    „Er hat sie auf dem Sekirnaja Gora taufen lassen. Das war im August, ein furchtbarer Tag, windig, grau, kalt. Aber es war ihm sehr wichtig, sie genau dort taufen zu lassen. Ich saß vorher mit ihr in der Banja [zur obligatorischen Waschung vor der Taufe – dek], wir haben das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis gelernt, das war sehr schön. Auch sehr ernst, weil Papa gesagt hat, es muss sein. Und als sie getauft war, kam die Sonne raus – es war unglaublich. Er war sehr glücklich, und sie war auch glücklich. Da war so viel Liebe.

    Das, was danach geschah, ist eine scheußliche Geschichte, denn er hat sie ja sehr lieb.“

    Verhaftung

    „Als es passierte, hatte ich an die 40 Grad Fieber“, erzählt Katja weiter. „Ich stand unter Schock, sie haben mich vor dem Gefängnis festfrieren lassen, ich stand vor dem Eisentor, niemand hat mich beachtet. Und Nataschka konnte ich nicht finden. Der Ermittler wollte nicht mit mir reden, ich schrie in den Hörer, war völlig hysterisch, ich verstand überhaupt nichts mehr. Dann durfte er mich anrufen, er sagte: ‚Die wollen mir irgendwas mit Pornographie anhängen, ich soll Fotos ins Internet gestellt haben …‘ Was für ein Schwachsinn, er hatte keinen blassen Schimmer wie man im Internet überhaupt irgendwas macht … Er sagte: ‚Katja, ich verstehe ja selbst nichts, aber mit so einer Anklage hat man im Lager kein ruhiges Leben … Da kriegt man vielleicht acht bis zehn …‘ Und ich: ‚Tage?‘ ‚Nein, Jahre.‘“

    Zuerst verstand niemand etwas. Dann stellte sich heraus, dass es um Fotos von Natascha ging, die Dmitrijew für die Vormundschaftsorgane gemacht hat.

    „Ich rufe Nataschka an – das Handy ist aus. Es ist schon dunkel, die Schule gleich zu Ende, ich weiß nicht, wo das Kind steckt! Ich renne zurück nach Hause, da ist sie nicht … Ich bin fast verrückt geworden. Dann, mitten in der Nacht, ruft sie mich an: ‚Wo ist Papa?‘ Das Jugendamt hat sie von der Schule abgeholt, um zehn Uhr morgens, als sie auch ihn abgeholt haben, und in ein Heim gebracht. Ich bin losgefahren, hab dieses Heim gefunden, die Frauen dort waren nett, zeigten Mitgefühl und ließen mich zu ihr. Sie hatte ihnen schon alles erzählt: Wie sie ihren Papa liebt, wie sie mich liebt, und Sonja und Danik, und dass sie Sambo betreibt. Sie hängte sich an mich ran: ‚Warum ist Papa nicht gekommen?‘ Ich sagte: ‚Wenn Papa nicht kann, dann komme ich und nehme dich mit, warte nur ein bisschen.‘ Und dann bekomme ich einen Anruf vom Jugendamt: Der Ermittlungsrichter hat verfügt, dass Verwandte von Juri Alexejewitsch nicht mit Natascha sprechen dürfen.“

    Etwa einen Monat verbrachte Natascha im Heim, dann kam sie zu ihrer leiblichen Großmutter, in ein Dorf im Norden Kareliens.

    „Als Nataschka das mit ihrem Vater im Internet gelesen hatte, rief sie mich an: ‚Katja, warum machen die das?! Das ist doch alles nicht passiert! Was wollen die von ihm?‘ Sie schreibt ihm Briefe, dass sie ihn sehr liebt, dass sie nach Hause will. Die Oma sagt zwar, dass sie sich schon eingelebt hat – doch sie kämpft wieder ihre Kämpfe ohne Regeln, in der Schule und überall. Ich rufe immer an, halte sie zum Lernen an, halte die Oma an, ihre Hausaufgaben zu kontrollieren.“

    Rauch ohne Feuer

    Das Unterfangen, ein nacktes Kind zu fotografieren, kam selbst mir anfangs, ehrlich gesagt, ziemlich seltsam vor. Wenn man hört, dass jemand der Herstellung von Kinderpornographie beschuldigt wird, fällt es schwer, locker zu bleiben – selbst wenn man vermutet, dass die Anklage stark überzogen ist. Wenn ich jemandem von diesem Fall erzähle, reagieren die meisten mit: „Ja, aber warum hat er sie fotografiert?“

    Drei Wochen lang führte ich Gespräche mit verschiedenen Leuten, in Petrosawodsk, Petersburg, Moskau, fragte sie nach Dmitrijew, Nataschka, den Bildern. Ich glaubte nicht an die Pornoversion, aber ich versuchte trotzdem zu verstehen, welche Merkwürdigkeit ihn dazu bewogen hat, seine nackte Tochter zu fotografieren.

    Irina und andere Freunde von ihm berichten, dass das Mädchen völlig unterernährt und stark entwicklungsgestört aus dem Kinderheim gekommen sei. Das Verhältnis zu den Behörden war anfangs angespannt, weil Dmitrijew sich das Kind erkämpft hatte. Bald kam es zu einem Konflikt im Kindergarten: Die Erzieherinnen behaupteten, Natascha hätte blaue Flecken – wie sich herausstellte, waren es in Wirklichkeit Farbspuren von einer Zeitung, die seine Frau unter die wärmenden Senfpflaster gelegt hatte.

    Im Grunde alles Kleinigkeiten, aber Dmitrijew machte es sich daraufhin eisern zur Regel, Nataschka einmal im Monat nackt zu fotografieren – vier Aufnahmen: von vorne, von hinten, von links und von rechts. Am Anfang einmal im Monat, dann alle drei bis vier Monate, und vor ungefähr zwei Jahren hörte er ganz damit auf.

    „Auf seiner Festplatte waren 144 Fotos in nach Jahren sortierten Ordnern“, sagt sein Rechtsanwalt Viktor Anufrijew. „Davon sind überhaupt nur neun Gegenstand der Klage. Wenn sein Interesse sexueller Natur wäre, wäre das Verhältnis doch wohl nicht neun aus 114, sondern umgekehrt, oder? Von diesen neun ist die Hälfte völliger Humbug, da rennen Natascha und Katjas Kinder zusammen ins Badezimmer, sitzen in der Wanne. Auf den anderen steht sie einfach nur da. Darauf wären die Genitalien zu sehen, sagen sie – das kann ich nicht beurteilen, ich bekomme die Fotos mit schwarzen Quadraten. Und einmal hat er sie fotografiert, als sie nackig geschlafen hat. Ich sage Ihnen ganz klar: Hier wird kein Tatbestand erfüllt, da gibt es nichts zu diskutieren.“

    Dmitrijew ist nicht einmal auf die Idee gekommen, die Fotos seiner Tochter zu löschen, obwohl er schon ahnte, dass die Ladung aufs Polizeirevier dazu diente, ihn aus der Wohnung zu bekommen.

    Die Ironie des Schicksals liegt gerade darin, dass er die Aufnahmen aus Angst davor aufbewahrte, Nataschka zu verlieren, er sah sie als Beweis für ihre Gesundheit.

    „Das war so ein beruflicher Tick von ihm – alles zu dokumentieren, abzufotografieren“, sagt Olga Kersina. „Wenn sich jemand dreißig Jahre lang mit Knochen beschäftigt, hat er ein völlig anderes Verhältnis zum menschlichen Körper, einen distanzierten Blick. Er muss bestimmen, was das für Menschen sind, welchen Geschlechts, wie alt, woran sie gestorben sind … Alles muss festgehalten werden, genau fotografiert, verschriftlicht. Vielleicht hat ihm der Vorfall mit den blauen Flecken gezeigt, dass er Fotos als Beweismittel braucht. Nataschas Gesundheit steht für ihn an oberster Stelle. Diese Fotos sind eindeutig Gesundheitstagebücher. Es liegt eben einfach in seiner Natur: Er schießt gerne übers Ziel hinaus, geht bei allem bis zum Äußersten, bis auf den Grund.“

    „Vor allem: Jura ist dermaßen weit entfernt von diesem Vorwurf!“, sagt sein Freund Anatoli Rasumow. „Seine Moralvorstellungen sind dem völlig entgegengesetzt! Mit Leuten, die das tun, was sie ihm vorwerfen, würde er sonstwas machen.“

    „Man muss schon pervers sein, um da Pornographie zu sehen“, sagt Katja. „Wenn ein Mann 50 ist und die Frau 30 – schon das findet er verrückt: ‚Wie kann man nur?‘ Er ist 60, also muss die Frau 50 sein, und selbst das sind für ihn junge Hüpfer. Will sagen, er ist für Beziehungen auf Augenhöhe, schon mit 20 Jahren Altersunterschied kann er nichts anfangen, hat mich immer nur mit großen Augen angeschaut: ‚Aber Katja, was ist denn das …‘“

    Zunächst wurde Dmitrijew nur die Herstellung von Pornographie zur Last gelegt. Aber der Paragraph umfasst auch die Veröffentlichung und Verbreitung. Genau das haben die Ermittler gleich behauptet, und danach auch der Fernsehkanal Rossija 24. Aber Dmitrijew hatte mit dem Internet nichts am Hut, er hat nicht einmal Bilder per E-Mail verschickt. Nachträglich etwas ins Netz stellen konnte man nicht – eine solche Fälschung wäre viel zu kompliziert. Wahrscheinlich wurde die Anklage wegen Verbreitung deshalb schnell wieder fallengelassen, aber der Porno-Paragraph selbst blieb.

    Das Gutachten darüber, ob diese Aufnahmen als pornographisch zu werten sind, bestellte die Ermittlungsbehörde beim Zentrum für soziokulturelle Expertisen, einer „unabhängigen gemeinnützigen Organisation“. 
    Dabei handelt es sich um eine bekannte Firma, die in industriellen Mengen Gutachten produziert, die vom Zentrum E und dem FSB in Auftrag gegeben werden. Zu ihren jüngsten Werken gehören: Die „Verletzung religiöser Gefühle von Gläubigen“ im Torfjanka-Park und die Aufdeckung der extremistischen Natur der Zeugen Jehovas
    Vier Experten sind dort zugange: ein Kunsthistoriker, ein Mathe-Lehrer, ein Politikwissenschaftler und ein Englisch-Übersetzer. Diese Leute wurden bereits der Aneignung gefälschter akademischer Grade überführt, der direkten Unterschiebung (sie schrieben Dinge in die zu analysierenden Texte, die dort nicht standen) und natürlich der massenhaften Erstellung von Gutachten zu Themen, von denen sie keine Ahnung haben. Berühmtheit erlangte das Zentrum dadurch, dass es eine Bibel, die man den Zeugen Jehovas abgenommen hatte, als extremistische Literatur einstufte. Nach Meinung der Experten sei eine „Bibel, als Buch begriffen, nicht mehr die Bibel, zu der wird sie einzig und allein in der Kirche“.

    Die Fotografien von Natascha erklärten sie zu Pornographie – und das ist das Einzige, worauf sich die Anklage stützt. Dmitrijews Rechtsanwalt stellte einen Antrag auf Begutachtung durch ein beliebiges Zentrum für Sexualpathologie – der natürlich abgelehnt wurde.

    Vier Monate später präsentierte die Ermittlungsbehörde Dmitrijew zwei weitere Anklagen: wegen unzüchtiger Handlungen und illegalen Besitzes von Waffen. Die unzüchtigen Handlungen bestanden aus Sicht der Ermittler im Akt des Fotografierens eines nackten Kindes. Und die Waffen, die Dmitrijew besaß, waren völlig legal: In seiner Jugend hatte er gejagt, in den ganzen letzten Jahren trug er bei seinen Wanderungen im Wald eine Pistole mit sich – in Karelien wimmelt es vor Bären. Aber vor einigen Jahren hat er ein paar Jungs im Hof eine uralte, rostige Flinte abgenommen. Sie war völlig kaputt, zum Schießen untauglich – aber sicher ist sicher … Und ebendiese Flinte haben sie bei der Durchsuchung gefunden. Nach Aussage des Rechtsanwalts lässt sie sich unmöglich reparieren: „Und selbst wenn, womit sollte man schießen? Solche Patronen kann man seit 50 Jahren nicht mehr kaufen.“

    Schatten

    Ich verliere mich lange in Mutmaßungen, wem Dmitrijew wohl im Weg war, dieser wenig bekannte Memorial-Mitarbeiter aus Petrosawodsk, der weder politisch noch als Menschenrechtler aktiv war. Ist Chottabytsch etwa wirklich einem der Mächtigen im hiesigen Mikrokosmos auf den Senkel gegangen? Oder gab es eine Order aus Moskau zur Einschüchterung von regionalen Memorial-Zentren? Oder wurde alles nur für diese Sendung auf Rossija 24 eingefädelt (Nataschas Fotos landeten seltsamerweise gleich nach der Verhaftung beim Fernsehsender WGTRK)? Oder war es bloß Zufall: Hatte man routinemäßig die hiesigen Aktivisten beobachtet, auf der Festplatte gewühlt, die Fotos entdeckt und beschlossen, die Sache aufzurollen?

    Aber langsam ergab sich aus den diversen Gesprächen ein Bild. Wie das Schicksal es will, trat ein Schatten hinter den zugewachsenen Gräbern von Sandarmoch hervor. Die Begräbnisstätte vereint sehr viele Nationalitäten, was im Wesentlichen jener ersten Etappe geschuldet ist. Es liegen dort Massen von Ukrainern, Polen, Finnen, Georgier, Aserbaidschaner, Tataren, Wainachen begraben, sogar Schweden und Norweger. Jedes Jahr am 5. August besuchen verschiedene Delegationen diesen Ort. So ergab es sich, dass die Gedenkfeiern in Sandarmoch von Anfang an internationale Veranstaltungen waren. Es kamen offizielle Persönlichkeiten, und auch hohe Regierungsvertreter mussten immer hin, ob sie wollten oder nicht.

    „Es duftet nach Nadelholz, unter den Füßen knirscht der Schnee, die Schatten werden blau, ein Specht klopft den Takt, und an jedem Stamm – das Portrait eines hier ermordeten Menschen“ / Foto © Ekaterina Makhotina
    „Es duftet nach Nadelholz, unter den Füßen knirscht der Schnee, die Schatten werden blau, ein Specht klopft den Takt, und an jedem Stamm – das Portrait eines hier ermordeten Menschen“ / Foto © Ekaterina Makhotina

    So ging es bis 2016, als, so heißt es, eine Anordnung durch die Verwaltungsbehörden ging: keine Sandarmoch-Besuche mehr. Zum ersten Mal waren weder Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche anwesend, noch fand die traditionelle Kreuzprozession statt (obwohl noch 2010 Patriarch Kirill höchstpersönlich die Messe abgehalten hatte). Dafür wimmelte es vor Journalisten der offiziellen karelischen Medien. „Sie bekamen spezielle, von den Behörden vorbereitete Fragen ausgeteilt und befragten die ausländischen Gäste, warum sie hergekommen waren und so weiter. Das wurde nie für irgendwelche Publikationszwecke genutzt, ist einfach irgendwo nach oben geflossen …“

    Besonders häufig wird Sandarmoch von Polen und Ukrainern besucht – mit der Solowezker Etappe hatte man große Teile der ukrainischen Intelligenz und zahlreiche polnische Geistliche ermordet. 2015 hatte die Botschafterin Katarzyna Pelczinska die Gedenkfeier besucht und Dmitrijew das Goldene Verdienstkreuz überreicht, eine der höchsten Auszeichnungen Polens. Offenbar beschloss man daraufhin, dass mit Sandarmoch nun langsam Schluss ist. Zumal der Friedhof 2017 ein Jubiläum feiert – zwanzig Jahre seit seiner Entdeckung, dazu jährt sich der Große Terror zum 80. Mal. Den Behörden dämmerte, dass die Leute in Scharen kommen würden.

    Gleichzeitig begann im vergangenen Sommer in Petrosawodsk eine Kampagne, die regionale Geschichte umzudichten. Erst tauchte in der Presse eine Nachricht von Juri Kilin auf, einem Professor an der Universität von Petrosawodsk. Er äußerte die Vermutung, in Sandarmoch seien nicht nur Repressionsopfer begraben, sondern auch Kriegsgefangene, die von Finnen erschossen worden seien.

    „Eine Behauptung, die aus der Luft gegriffen ist“, sagt Irina Galkowa. „In Analogie dazu, dass die Finnen die Lager des Gulag für ihre eigenen Kriegsgefangenen benutzt haben. Nach dem Motto, wenn sie die Lager benutzten, dann haben sie wohl auch Erschießungen durchgeführt. Eine krude Logik. Aber die These hat gefruchtet. Und wenn es im ersten Stadium eine bloße Vermutung war, dann war es im dritten und vierten schon eine Feststellung, und im fünften – eine Negierung der Tatsache, dass es überhaupt irgendwelche Repressionen gegeben hat: ‚Ach so ist das, Memorial macht so einen Wind, dass es die eigenen Leute waren, und in Wirklichkeit waren’s die irren Deutschen!‘“

    Am 4. August 2016, am Vorabend der Gedenkveranstaltung, brachte der TV-Kanal Swesda eine Sendung: Die zweite Wahrheit des Konzentrationslagers Sandarmoch – wie die Finnen Tausende unserer Soldaten ermordeten.

    Dort war die Rede von geheimen FSB-Dokumenten, die dem Fernsehsender vorlägen und aus denen hervorginge, dass in Sandarmoch sowjetische Gefangene beerdigt seien.

    In Wirklichkeit zeigte man den Zuschauern einen Bericht des SMERSch über ein kleineres, 250 Menschen fassendes Kriegsgefangenenlager in Medweshjegorsk, das sich auf dem ehemaligen Gelände einer Abteilung der BelBaltLager befand. Darin wird von der Erschießung zweier Gefangener berichtet. In dem Beitrag allerdings hieß es, hier seien „verschiedenen Quellen zufolge 19.000 bis 22.000 Menschen umgekommen. Und natürlich muss dort ein Denkmal für die ermordeten Kriegsgefangenen errichtet werden“.

    „Auf wen hören die? Was glaubst du? Auf Dmitrijew, einen stadtbekannten Verrückten, oder auf die Onkel mit den Dienstgraden …“, fragt ein Freund von der Petrosawodsker Uni Irina Galkowa. „Und was ist damit, dass der Verrückte Dokumente zu Sandarmoch hat, zu siebeneinhalbtausend Menschen? Ich habe versucht, mit Dmitrijew darüber zu diskutieren, aber er winkte nur ab: ‚Ist doch alles Mist. Das sind angefütterte Bisons, die fressen aus der Hand, aus der sie fressen müssen. Und ich bin ein wilder Wolf, der frisst, was er will …‘“

    Das war das ganze Problem. Eine Abmachung mit Dmitrijew zu treffen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Es war klar, dass er diese Gedenkfeiern organisieren würde, solange er lebt. Wenn man die Party beenden wollte, musste man Chottabytsch wegsperren.

    Wenn ein Fall konstruiert ist, kommt das normalerweise im Laufe der Verhandlung raus. Es ist natürlich ein Leichtes, einen Unschuldigen zu verurteilen. Aber wenigstens sehen die Leute dann, was da in Wirklichkeit los ist. Darauf kann Dmitrijew allerdings nicht hoffen. Die unglückseligen Fotos wird nie jemand zu Gesicht bekommen: Er wird eines Sexualverbrechens an einer Minderjährigen beschuldigt, und deshalb wird die Verhandlung hinter verschlossenen Türen geführt.

    Ja, natürlich, Chottabytsch spürte, wohin es geht. Ich werde das Gefühl nicht los, dass das alles – Dmitrijew selbst, die Seelen der Toten, die FSBler, die Fernsehleute von Rossija 24 – dass sie alle irgendeiner weisen und segensreichen Macht unterstehen. Dass wir noch immer in einer Welt leben, in der es solche Menschen und Geschichten gibt. In der der Herr noch immer jedem sein wundersames Schicksal schenkt und jeder Held einen Drachen findet, gegen den er kämpfen kann. Vor dreißig Jahren ist Dmitrijew mit seinem Feldspaten ausgezogen, gegen ihn anzutreten. Er bekam zu hören, dass es keine Drachen gebe, aber er ging immer weiter, von Grab zu Grab, durch Wälder, Schleusen, über Inseln, suchte die Spuren des Monsters im Staub von Karteikästen, stur und unnachgiebig. Und bitte sehr, hier ist er, der Drache.

     

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    Ein Held ist, wer nicht schießt

    „Von diesem Abend“, so sagt Kirill Serebrennikow, Leiter des Moskauer Gogol Centers, „werden wir noch unseren Enkeln erzählen.“ Zu Gast ist Swetlana Alexijewitsch. Es ist ihr erster öffentlicher Auftritt in Moskau, seit sie 2015 den Literaturnobelpreis erhielt.

    Die Belarussin, die in der Ukraine geboren ist und auf Russisch schreibt scheint selbst ein homo (post-)sovieticus, dem sie in ihren Büchern nachgeht. In ihren „Stimmen-Collagen“ behandelt sie die großen Themen, wie den Großen Vaterländischen Krieg, den Afghanistan-Krieg oder den Alltag während und nach den wilden 1990ern. Die Geschichten, die ihre Protagonisten erzählen, wirken dabei wie eine Gegenerzählung zur offiziellen Propaganda, zu sowjetischen Mythen und „Heldengeschichten“.

    Bis heute positioniert sich Alexijewitsch politisch, kritisiert das Regime Alexander Lukaschenkos in Belarus oder den Krieg in der Ostukraine. Das macht ihr nicht nur Freunde. Unlängst erschien auf Regnum ein Interview mit der Schriftstellerin, das diese abgebrochen und dessen Veröffentlichung sie untersagt hatte. Während des Gesprächs ist der Journalist Sergej Gurkin die Schriftstellerin immer wieder für ihre Positionen angegangen. Als Alexijewitsch beispielsweise Verständnis für „den ukrainischen Kampf gegen die russische Sprache“ – wie es Gurkin ausdrückte – äußerte, unterstellte er ihr, den Leuten verbieten zu wollen, in der Sprache zu sprechen, in der sie denken.
    Gurkin führte das Interview ursprünglich für das Wirtschaftsblatt Delowoi Peterburg, das sich jedoch gegen den Abdruck entschied. Schließlich publizierte er den Text bei der Nachrichtenagentur Regnum, die für ihre kremlfreundlichen Positionen bekannt ist. Auf Social Media waren sowohl das Interview selbst als auch die Vorgehensweise des Journalisten heftig diskutiert worden. Gurkin wurde von Delowoi Peterburg entlassen.

    An dem Abend im Gogol-Zentrum jedoch blieben ähnliche Zwischenfälle aus. Die Novaya Gazeta druckt die Rede von Swetlana Alexijewitsch ab: Sie ist ein bedingungsloses Plädoyer für den Frieden.

    „Man kann sagen, dass wir Kriegsmenschen sind, und jedes Unglück wirft uns zurück.“ – Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch / Fotos © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta
    „Man kann sagen, dass wir Kriegsmenschen sind, und jedes Unglück wirft uns zurück.“ – Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch / Fotos © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta

    Ich glaube, das, was ich heute sagen will, kann man nicht als Vortrag bezeichnen: Ein Vortrag braucht Distanz. Bei dem Thema Ich will nicht über den Krieg schreiben habe ich die nicht – es ist das Thema, das mich in den 40 Jahren meiner Tätigkeit am meisten bewegt hat. 

    Als ich in Afghanistan war, sah ich einen unserer Soldaten. Gerade noch hatte er unsere Dokumente kontrolliert – und als wir den Generalstab verließen, lag er tot da. Getötet nicht von Naturgewalten, sondern von einem anderen Menschen. Ich bin absolute Pazifistin. Niemand wird mich überzeugen, dass das menschliche Leben mit irgendetwas aufzuwiegen ist – es ist ein Gottesgeschenk, und wir haben es nicht bekommen, um im Donbass oder in Syrien zu sterben. Die Absage an den Krieg muss jeder selbst beschließen, aus diesem System aussteigen und nicht daran teilnehmen. Ich glaube, unsere Nachkommen werden uns für Barbaren halten, weil wir so mit dem menschlichen Leben umgehen.  

    Die Absage an den Krieg muss jeder selbst beschließen

    Die Köchinnen, die am Zweiten Weltkrieg teilnahmen, erzählten, sie hatten riesige Kessel. Darin kochten sie Brei und Suppe für 400 bis 500 Menschen, aus der Schlacht kamen dann aber nur zehn zurück. Sie kamen völlig verändert wieder, wussten nicht, wer sie waren, konnten den anderen nicht in die Augen sehen. Die Grenze zwischen Tier und Mensch war praktisch ausgelöscht. Ich glaube, das ist uns in der Verherrlichung des Sieges entglitten. Das ist ein Sieg, der sich kaum von einer Niederlage unterscheidet.

    Man kann sagen, dass wir Kriegsmenschen sind, und jedes Unglück wirft uns zurück. Jetzt sind wir fast bis ins Mittelalter zurückgeworfen. Als ich durch Moskau fuhr, sah ich unglaublich viele Menschen, die irgendeiner religiösen Zeremonie beiwohnten. Das ist eine Form der Flucht vor dem, was derzeit passiert. Eines Tages sind wir von dem rechten Weg abgekommen, den wir scheinbar eingeschlagen hatten, aber auf dem wir doch nie ins 21. Jahrhundert geschritten sind.

    Die Grenze zwischen Tier und Mensch war praktisch ausgelöscht

    Als ich im Jahr 2000 in Europa war, freuten die sich für uns, sagten: „Endlich gehört ihr zu uns.“ Die Angst vor dem Atomkrieg hatte die Welt gelähmt. Wir müssen verstehen, wie wir wieder zu Kriegsmenschen wurden, warum wir vergessen haben, was uns die Väter erzählten.

    Für mein Buch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht erzählte mir eine Frau: Bei Verkündung des Kriegsendes verschossen sie und ihre Kameraden die gesamte Munition aus dem Waffenarsenal – Granaten, Patronen – hintereinander weg. Am nächsten Tag kam eine Kommission in diese Einheit und wollte die Schuldigen finden – und alle waren aufrichtig erstaunt: Wieso denn? Die Leute dachten, nach all den Tränen, all dem Leid könne es nie wieder Krieg geben. Doch im russischen Fernsehen werden wieder Drohungen laut – „zu radioaktiver Asche“ soll da jemand werden.

    Die Leute dachten es könne nie wieder Krieg geben. Doch im russischen Fernsehen werden wieder Drohungen laut

    Mir scheint, Frauen und Kinder verfügen über ein Wissen um den menschlichen Irrsinn, der sich auf welche Weise auch immer in unserer Natur festgesetzt hat. Eine meiner Heldinnen sagte: „Ich erzähle Ihnen von einem solchen Krieg, bei dem sogar ein General kotzen muss“ – das ist eine der besten Geschichten in dem Buch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Sie erzählte: Wenn der Nahkampf beginnt und die Leute ganz dicht voreinander stehen, verschwindet der Mensch und es bleibt nur mehr Biomasse. Wenn sie einander in Augen und Bäuche stechen, wenn sie nicht schreien, sondern brüllen, wenn einzig der Instinkt funktioniert – dann zeigt sich, dass wir eigentlich nur hauchzart mit Kultur bestäubt sind.

    Viele Frauen, die den Krieg erlebt haben, sagten, man müsse nicht über den Sieg reden und sich daran erinnern. Erinnern müsse man sich an die Erfahrung, ein Mensch zu bleiben, nicht zu töten. Neulich habe ich im Fernsehen gesehen, wie Soldaten von Blasmusik begleitet in den Donbass geschickt werden. Aber ich finde, heute ist der ein Held, der nicht schießt.

    Wenn der Nahkampf beginnt, dann verschwindet der Mensch und es bleibt nur ein biologisches Wesen

    Dostojewski hat in seinen Tagebüchern davon geschrieben, wie viel Mensch im Menschen steckt. Es sind gar nicht so viele, die darüber nachdenken und persönliche Verantwortung für das Weltgeschehen übernehmen. Nicht einmal die heutige Religiosität hat dazu geführt. Sondern sie hat alle zu einer Art Volkskörper gruppiert, der bekanntlich fühlt, aber nicht denkt.

    In meinen Büchern will ich Versionen von Menschen zeigen, die aus verschiedenen Perspektiven auf ein bestimmtes Ereignis blicken. Eine Pilotin hat den einen Krieg erlebt,  eine Frau, die im Nahkampf war, einen anderen, und eine MG-Schützin einen dritten. Aber alle sagten hinterher: Hauptsache, man sieht dem, auf den man schießt, nicht in die Augen. Denn Krieg verlangt Dumpfheit, nur so kann man töten.

    Strelkow sagte, im Donbass sei es in der ersten Woche am schwierigsten gewesen, die Leute dazu zu bringen, aufeinander zu schießen. Weil man dafür aus Friedenszeiten heraustreten muss an einen Ort, wo man für etwas, wofür man normalerweise eingesperrt wird, Medaillen bekommt. Und am Anfang haben die Leute das ungern gemacht, gezwungenermaßen.

    Als ich im Krieg war, wurde mir klar, dass ein Mensch, der eine Maschinenpistole in die Hand nimmt, ein anderer wird und nicht mehr der ist, den die Mama zum Beispiel in die Ballettschule gebracht hat. Als ob sich ein Dämon einnisten würde, ernährt von Kriegskultur, die unsere Gesellschaft durchdringt und bedingungslos beherrscht.

    Ein Mensch, der eine Maschinenpistole in die Hand nimmt, ist nicht mehr der, den die Mama einst zum Ballett gebracht hat

    Das Böse ist besser trainiert als das Gute. Die Kunst hat übrigens eine dunkle Seite, die vom Bösen inspiriert ist.

    Im Krieg habe ich gesehen, wie viel Schönheit es da gibt, dass Tod und Schönheit immer nahe beieinander liegen – wenn Geschosse im Nachthimmel fliegen, wenn die Kameraden abends singen, jeder in seiner Sprache. Im Angesicht des Todes offenbaren die Menschen das, was sehr tief in ihnen verborgen liegt. In den ersten Wochen meiner Zeit in Afghanistan stieß ich auf eine Ausstellung moderner Waffen. Der Mensch hat sehr viel Zeit dafür aufgewendet, das Böse schön zu machen.

    In Zukunft erwarten uns noch schrecklichere Kriege – nicht mehr Mensch gegen Mensch, sondern Mensch gegen Natur. Sie wird uns auf die Probe stellen, wie bei Fukushima. Ein starker Taifun kann die Zivilisation in einen Haufen Müll verwandeln.

    Im Krieg habe ich gesehen, dass Tod und Schönheit immer nahe beieinander liegen

    Ich war in Tschernobyl, als die Leute von dort evakuiert wurden. Ein Soldat sagte, eine Frau dort bekämen sie nicht einmal gewaltsam aus ihrem Haus gezerrt. Als ich hinkam, sah sie mich, allein unter Männern, und sagte: „Kindchen, ist das denn Krieg? Schau, die Vögel fliegen, sogar eine Maus hab ich heut früh gesehen, unsere Soldaten sind hier – und ich soll diesen Grund und Boden verlassen?“ Die Welt ringsum ist unverändert – der Himmel, die Blumen, die Erde scheinbar so, wie wir sie kennen. Doch auf die Erde darf man sich nicht setzen, die Blumen darf man nicht pflücken, die Früchte nicht essen. Das neue Böse hat keinen Geruch. Du hörst es nicht und  spürst es nicht, weißt nicht, auf wen du schießen sollst. Tschernobyl hat die Menschen von einer Realität in die andere geworfen. Als ich durch diese Zone fuhr, fühlte ich mich weder als Russin noch als Belarussin noch als Französin, sondern als Vertreterin einer biologischen Art, die vernichtet werden kann. Wir haben sehr in die Zukunft geschaut, aber tun so, als wäre nichts geschehen.

    Tschernobyl hat alles verändert. Was bedeutet „nah“ und „fern“, wenn am vierten Tag die radioaktiven Wolken über Afrika schweben? Was heißt „unsere“ und „fremde“: Wir haben in Belarus keine eigenen Atomkraftwerke, aber der Wind wehte ein paar Tage von der Ukraine in den Norden, und Tschernobyl wurde auch unser Problem.

    Was wir heute Krieg nennen, sieht nicht mehr so aus wie früher. Das Böse hat viele neue Gesichter, die wir oft nicht auseinanderhalten können. Für die Zukunft sind wir überhaupt nicht bereit.   

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