дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Am stärksten ist die Selbstzensur”

    „Am stärksten ist die Selbstzensur”

    Der Anschlag auf Tatjana Felgengauer vor rund einem Monat war ein Schock für die unabhängige russische Medienlandschaft. Ein Mann war in das Redaktionsgebäude eingedrungen und hatte die Moderatorin schwer verletzt. In einem nach der Tat veröffentlichten Video machte der Attentäter wirre Aussagen, er sprach auch von einer „telepathischen Verbindung“ zu Felgengauer.

    Tatjana Felgengauer ist Moderatorin und stellvertretende Chefredakteurin von Echo Moskwy. Mehrheitsaktionär des Sender ist die staatsnahe Gazprom-Media Holding, zu der etwa auch der TV-Sender NTW gehört. Dennoch gilt Echo als kremlkritisch. Nicht zuletzt deswegen gab es zahlreiche Stimmen, die nach dem Anschlag die öffentliche Hetze gegen kritische Journalisten für das Attentat mit verantwortlich machten: Etwa durch den Fernsehmoderator Wladimir Solowjow, der in einer Radiosendung gefordert hatte, kritischen Journalisten „das Maul zu stopfen”.

    Einen Monat nach dem Attentat spricht The New Times mit Alexej Wenediktow, Chefredakteur von Echo Moskwy, über das Attentat, die Sicherheit von Journalisten in Russland, Selbstzensur und politische Umbrüche.

    Alexej Wenediktow, Chefredakteur von Echo Moskwy / © Valerij Ledenev/flickr.com
    Alexej Wenediktow, Chefredakteur von Echo Moskwy / © Valerij Ledenev/flickr.com
    The New Times: Nach dem Angriff auf Tatjana Felgengauer wurde in Sozialen Netzwerken viel darüber geschrieben, dass der Hass, den die staatlichen Sender und Moderatoren wie Kisseljow und Solowjow schüren, solche Straftaten befördere…

    Alexej Wenediktow: Lassen Sie uns das Ganze aus dem keck-publizistischen in den dröge-juristischen Diskurs übertragen. Ich habe den Ermittlern meine Überlegungen bezüglich Anstiftung mitgeteilt. Anstiftung fällt unter Paragraph 33 Strafgesetzbuch, sprich, es ist eine Straftat. Nun ist es an den Ermittlern zu ermitteln – oder auch nicht, das hängt wohl davon ab, wie überzeugend ich war. Wir haben denen alle nötigen Unterlagen zur Verfügung gestellt, die aus unserer Sicht belegen, dass es sich um Anstiftung handelt.

    Es gibt einige sehr ernsthafte Fragen, zum Beispiel: Woher kannte dieser Mistkerl [Boris Griz, der Attentäter Tatjana Felgengauers – Anm. d. Red.] die genaue Uhrzeit, wann Tatjana das nahe beim Wachschutz liegende Büro verließ und wann sie dorthin ging [in das Büro, wo das Attentat stattfand – Anm. d. Red.]? Weder Zeit noch Ort waren typisch für Tatjana. Dennoch ist dieser Mensch genau drei Minuten nach Ende meines Meetings hier hochgekommen. Diese Frage ist nicht geklärt und die Ermittler gehen dem nach.

    Unser Beruf geht in diesem Land mit einem ernsthaften Risiko einher

    Die Sache ist also nicht so einfach – es war nicht einfach irgendein Verrückter, der irgendwo hinkommt und jemanden in den Hals sticht, nein. Wir verlassen uns darauf, dass der Ermittler für äußerst wichtige Angelegenheiten diesen Fall auch wie eine äußerst wichtige Angelegenheit behandelt – wenn ihn schon Bastrykin [Leiter des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation – Anm. d. Red.] höchstpersönlich damit beauftragt. Deswegen bleibt uns nur zu beobachten und abzuwarten. Ich möchte nochmals betonen, dass wir in jeder Hinsicht mit den Ermittlern kooperieren und dies auch weiterhin tun werden. Wir werden sehen, was letzten Endes in den Prozess Eingang findet.

    Vielleicht sollten die Journalisten geschlossen etwas unternehmen?

    Wir können nichts unternehmen, weil unser Beruf in diesem Land mit einem ernsthaften Risiko einhergeht. In den letzten 15 Jahren ist der Beruf des Journalisten in der Statistik der zivilen Berufsgruppen, was die Zahl der Toten und Verletzten betrifft, auf Rang zwei gerückt – gleich hinter den Bergarbeitern. Hinzukommt, dass Attentate auf Journalisten kaum aufgeklärt werden.

    Was passiert denn gerade? Ist es so etwas wie eine Systemkrise der Medien, die sich auch auf Russland auswirkt? Oder ist das eine spezifisch russische Situation?

    Selbstverständlich betrifft das nicht nur Russland. Dennoch ist, wie wir sehen, das Berufsrisiko in unserem Land wesentlich höher. Obwohl der Vorfall von Charlie Hebdo zeigt, dass unser Beruf in keinem Land geschützt ist. Denn ein Journalist rührt unweigerlich an Interessen von Machtstrukturen, wenn er Informationen oder investigative Recherchen veröffentlicht. Ganz egal, um welche Machtstrukturen es sich dabei handelt – ob Politik, Wirtschaft, Ballett oder Sport. Sind seine Informationen wahr, ist es umso gefährlicher. Denn hier gibt es nur eine Lösung: „Ihnen die verdammten Mäuler stopfen“, wie gewisse Personen beim staatlichen Radiosender gern sagen. Nun ja, jetzt hat sich einer gefunden – mit ’nem Messer in den Hals. Ganz einfach.

    Vielleicht sollten sich die Journalisten irgendwie selbst schützen?

    Das ist unmöglich. Wie hätte man Charlie Hebdo schützen können?

    Was ist zurzeit stärker, die Zensur oder der ökonomische Druck auf die Medien?

    Wissen Sie, ich denke, am stärksten ist die Selbstzensur. Denn die Bedrohung des eigenen Lebens, der Gesundheit, der Familie, die Angst, den Job zu verlieren – das alles zwingt Journalisten zur Selbstzensur.

    Vor allem nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs und der Sache mit der Krim ist bei uns die Luft geradezu vergiftet mit Hasstiraden. Es ist eine Atmosphäre, nicht des Krieges, denn einen Krieg gibt es scheinbar nicht, sondern einer Hysterie, die alle vergiftet – nicht nur diejenigen, die brüllen, sondern auch diejenigen, die sich dieses Gebrüll anhören.

    Ich denke, seriöse Journalisten sollten als Inhibitoren fungieren, sprich, diese Vergiftung eindämmen, indem sie die Situation analysieren, vernünftige Fragen stellen und die Situation von verschiedenen Standpunkten aus beleuchten. Das passiert kaum.

    Die Luft ist bei uns vergiftet mit Hasstiraden

    Wenn die Journalisten von Echo Moskwy früher einfach nur den schlichten Auftrag hatten zu informieren, aufzuklären und zu unterhalten, wie alle anderen Medien auch, so ist unser Auftrag nun, die Toxizität zu senken, die Vergiftung zu verzögern, denn auch auf uns wirkt dieses Gift. Wir existieren ja nicht im luftleeren Raum, laufen nicht mit Sauerstoffmasken durch die Gegend.

    Und natürlich ist es meine Aufgabe als Chefredakteur, die Journalisten an ihre berufliche Pflicht zu erinnern. Ich bin mir sicher, dass der Vorfall mit Tatjana viele Journalisten erschreckt hat, in unserer Redaktion und in anderen. Das ist eben jener Preis, den nicht jeder zu zahlen bereit ist – dafür, dass man das sagt, wozu man das Recht hat, wozu dir dein Beruf das Recht gibt und die Meinungsfreiheit.

    Deswegen denke ich, ist die Selbstzensur das größte Problem – zumindest für unseren Radiosender. Wir haben keine Zensur, keine ökonomischen Einschränkungen seitens unserer Aktionäre. Vor 17 Jahren hatte ich ein Gespräch mit unserem Aktionär, ich meine damals mit Gazprom. Wir haben damals ein Modell ausgearbeitet, demzufolge wir auch alles Negative über Gazprom senden, allerdings unter der Bedingung, dass wir uns zeitnah um Kommentare bemühen. Das ist die einzige Einschränkung, die aber inzwischen nicht mehr besonders relevant ist. Deswegen ist für mich die Selbstzensur das Wichtigste, wogegen ich hier kämpfe. Die gibt es, und gegen die kämpfe ich.

    Mich würde interessieren, wie das aussieht.

    Nun, ich kriege mit, wenn gewisse Nachrichten ausgelassen oder bestimmte Personen nicht eingeladen werden. In solchen Fällen bestelle ich den betreffenden Mitarbeiter zu mir und frage ostentativ: Erklären Sie mir, warum Sie diese Nachricht für unwichtig halten, obwohl sie mir ziemlich wichtig erscheint. Was ist das für ein Argument „Vielleicht sollten wir lieber nicht …“? Das passiert selten, aber es kommt vor. Und die, die damit nicht zurechtkommen, würden Echo verlassen müssen. Das sage ich ihnen ganz direkt. Aber bislang kommen alle damit zurecht. Jeder für sich. Das Wichtigste ist, mit sich selbst zurechtzukommen, seine Ängste zu überwinden, die eigenen Horrorszenarien loszuwerden. Angst darf hier kein Ratgeber sein.

    Angst darf kein Ratgeber sein

    Wie stehen Sie zu der Änderung des Mediengesetzes, den ausländischen Agenten? Wird es in Russland am Ende der Präsidentschaftswahlen überhaupt noch freie Medien geben?

    Streng genommen tangiert die Gesetzesänderung mit den ausländischen Agenten die russischen Medien überhaupt nicht, kein bisschen.

    Es ist aber so formuliert, dass es auf jeden angewendet werden kann.

    Nein, eigentlich nicht. Das Problem liegt woanders. Ich denke, das Agentengesetz ist eine Nebelkerze, um von einer ganz anderen Änderung abzulenken, über die bei derselben Abstimmung entschieden wurde. Eine Änderung, die der staatlichen Medienaufsichtsbehörde erlaubt, jede – wie es dort heißt – Organisation, die Informationen verbreitet, außergerichtlich zu schließen. Ich betone: außergerichtlich. Grob gesagt, kann es die Webseite vom Roten Kreuz sein oder die Site der bulgarischen Botschaft oder auch jeder Messenger … Das ist es, was gerade unter den Empörungsrufen zum Agentengesetz durchgewunken wurde.

    Passiert das alles nur, weil die Wahlen anstehen?

    Die Wahlen gehen vorbei, und wir alle wissen doch, wie sie in etwa ablaufen werden – unabhängig davon, wer zugelassen wird und wer nicht. Sehen Sie mal, die dritte – die formal dritte – Amtszeit von Präsident Putin war offenkundig reaktionär. Was kommt bei der vierten? Wie geht es weiter? In welche Richtung wird er sich bewegen? Doch wohl kaum in die liberale, vermutlich nicht einmal in die konservative. Vom Reaktionären gibt es nur zwei Wege: entweder zurück zum Konservativismus oder geradewegs in den Obskurantismus. So sieht’s nämlich aus.

    Für wie wahrscheinlich halten Sie militärische Umstürze in Russland?

    Von Umstürzen erfahren wir immer, wenn Menschen auf die Senatskaja Ploschtschad gehen oder wenn einer eine Tabakdose gegen die Schläfe kriegt oder wenn meinetwegen der 93-jährige Mugabe plötzlich erfährt, dass alle seine Mitstreiter gegen ihn sind. Aber man hat keinen Gradmesser, um die Wahrscheinlichkeit zu messen.

    Was mich betrifft, so bin ich der Meinung, dass Wladimir Putin im Augenblick trotz allem ein Garant für den Erhalt von Macht und Reichtum seiner Truppe ist, mehr noch: der ganzen Jelzin-Truppe. Deswegen sehe ich die Wahrscheinlichkeit für Umstürze als eher gering an. Aber vielleicht bin ich blind.

     

    Weitere Themen

    „Die Rhetorik derzeit ist komplett putinozentrisch“

    „ … sonst bleibt nur der Revolver“

    Dimitri Kisseljow

    Alles Propaganda? Russlands Medienlandschaft

    Wladimir Solowjow

    Debattenschau № 60: Medien als „ausländische Agenten“

  • Debattenschau № 60: Medien als „ausländische Agenten“

    Debattenschau № 60: Medien als „ausländische Agenten“

    Im Rekordtempo und einstimmig hat die Duma am 15. November 2017 eine Änderung im Mediengesetz verabschiedet: Demnach sollen Medien, die Geld aus dem Ausland erhalten, den Status eines ausländischen Agenten erhalten können. 
    Erklärt wurde der eilige Beschluss damit, dass man habe „symmetrisch“ reagieren müssen: Die USA hatten zuvor den russischen Auslandssender RT als ausländischen Agenten eingestuft. Betroffen sind Auslandssender wie die Deutsche Welle oder Voice of Amerika – aber nicht nur.
    Das eilig verabschiedete Gesetz – das der Präsident noch unterschreiben muss – ist jedoch so formuliert, dass nicht nur ausländische, sondern auch inländische Medien, die Geld aus dem Ausland erhalten, betroffen sein könnten.

    Ist das neue Gesetz auch Druckmittel gegen unabhängige, russische Medien? Wie weit wird die Meinungs- und Pressefreiheit dadurch eingeschränkt? Oder ist alles nur eine adäquate Antwort auf US-amerikanisches Vorgehen?
    dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte, die vor allem in den Sozialen Medien geführt wurde.

    Interfax: Im Informationskrieg

    Waleri Fadejew, Sekretär der Gesellschaftskammer, hält das neue Gesetz für unabdingbar, wie er der unabhängigen Nachrichtenagentur Interfax sagte:

    [bilingbox]Meine persönliche Einstellung, nicht als Sekretär der Gesellschaftskammer, sondern als Journalist: Wenn es keinen Informationskrieg (gegen Russland) geben würde, wäre er gar nicht notwendig, dieser Krieg, den nicht wir angezettelt haben. Dies ist eine notgedrungene Entscheidung, aber sie ist richtig.~~~Мое личное отношение, не как секретаря Общественной палаты, а как журналиста: если бы не было информационной войны (против России), это было бы не нужно, той войны, которую не мы развязали. Это решение вынужденное, но правильное.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2017

    Znak: Auge um Auge

    Das Portal Znak zitiert den bekannten Journalisten Oleg Kaschin, der sicher ist, dass das neue Gesetz nicht nur ausländische Medien bestraft:

    [bilingbox]Normalerweise gelingt es Russland nicht unbedingt, „Auge um Auge“ so wörtlich zu nehmen – egal ob übertriebene Gegensanktionen von Lebensmitteln oder etwas Real-Satire, wie „das Verbot der Einreise eines amerikanischen Generals, der sowieso nicht zu uns wollte“. Verschlechtert das die Gesamtsituation? Noch vor fünf Jahren wäre es schnurzpiepegal gewesen. 

    Erinnern wir uns, wie Putin ungefähr im Jahr 2000 Jelzins Erlass, Radio Svoboda vergünstigte Mieten zu geben, außer Kraft gesetzt hat – das hat doch überhaupt niemand mitbekommen. Svoboda hat damals keine große Rolle gespielt. Innerhalb der letzten drei Jahre sind sie, genau wie die russische BBC oder die Deutsche Welle tatsächlich zu wichtigen russischen Medien geworden, für die nicht unsere schlechtesten Journalisten arbeiten. Ihr Publikum ist stark angewachsen und investigative Aufhänger […] sind heute an der Tagesordnung. 
    In dieser Situation unterscheidet sich die Rolle der BBC nicht sonderlich von der von RBK. Das heißt die Einschränkungen für Ausländer werden zu Einschränkungen für Russen.~~~Обычно все-таки у России не получается так буквально брать око за око — либо чрезмерные «антисанкции» с едой, либо что-нибудь карикатурное типа «запрет на въезд американскому генералу, который к нам и так не собирался». Ухудшит ли это ситуацию? Лет пять назад было бы плевать. Можно вспомнить, как Путин чуть ли не в 2000 году отменил указ Ельцина о льготной аренде для радио «Свобода» — этого же вообще никто не заметил, «Свобода» тогда большой роли не играла. А в последние три года и она, и русская BBC, и DW фактически стали важными российскими СМИ, там работают многие наши не последние журналисты, очень выросла их аудитория, и информационные поводы, […] сейчас случаются регулярно. В этой ситуации роль ВВС не сильно отличается от роли РБК, то есть ограничение для иностранцев станет ограничением для русских […].[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2017

    Facebook: Die pure Dummheit – von allen Seiten

    Der Journalist Alexey Kovalev kritisiert auf Facebook auch die USA.

    [bilingbox]Klar, dass das Auftauchen von RT auf der amerikanischen Liste zu einer völlig unverhältnismäßigen Reaktion und zu weiteren Bomben auf Woronesh führt. Also zu einer Hetze gegen Echo Moskwy oder noch eher zur Hetze gegen eine kleine und regionale Website, deren stellvertretender Chefredakteur beispielsweise auf einem internationalen Forum der Deutschen Welle war. […] 
    Auch die amerikanische Reaktion ist absolut unverhältnismäßig. Und von der Flut von Lügen und der Hysterie zu diesem Thema im russischen Fernsehen werden einem die Ohren klingen. Pure Dummheit, von allen Seiten.~~~Понятно, что попадание RT в американский список вызовет совершенно неадекватную реакцию и очередную бомбёжку Воронежа, то есть травлю условного Эха, или даже скорее маленького регионального сайта, чей замглавред съездил на международный форум Дойче Велле, допустим. […] И американская реакция […] абсолютно неадекватна истинному масштабу, и от потоков вранья и истерики из российского телика по этому поводу тоже уши вянут. То есть какая-то тотальная глупость со всех сторон.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2017

    Meduza: Punktuelle Gegenmaßnahmen

    Das unabhängige Exilmedium Meduza hat den Vizesprecher der Duma Pjtor Tolstoj interviewt. Er war Leiter der Gruppe, die die Gesetzesänderung ausarbeitete. Im Interview versucht er die Kritik zu wiederlegen, es handele sich um einen Gummiparagraphen:

    [bilingbox]Was die Gesetzesänderung angeht, so gibt es eine Begrenzung: Als ausländischer Agent können ausländische Medien eingestuft werden – oder auch [Medien], die Geld aus dem Ausland erhalten. Wir als gesetzgebende Kraft geben der Exekutive die Möglichkeit, in Bezug auf einige Medien punktuell Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

    Das betrifft nicht alle, es ist nicht allgemeingültig, es ist kein direktwirkendes Gesetz, sondern ein Rahmen, innerhalb dessen das Justizministerium handeln kann.~~~Внутри поправок есть ограничитель: иностранным агентом может быть признано иностранное средство массовой информации — или [СМИ] получающее деньги из-за рубежа. Мы как законодатели даем возможность исполнительной власти принимать точечные — ответные — меры в отношении некоторых средств массовой информации. Это не касается всех, это не носит всеобщий характер, это не закон прямого действия, это рамка, внутри которой Минюст может действовать.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2017

    Echo Moskwy: Abschreckung als Standard

    Galina Timtschenko dagegen – sie ist ehemalige Chefredakteurin von Lenta.ru und inzwischen Geschäftsführerin vom Exilmedium Meduza – fürchtet im Radiosender Echo Moskwy weitreichende Konsequenzen:

    [bilingbox]Das Furchtbare daran ist, dass wir nichts vorhersagen können. Wir verstehen einfach nur sehr sehr gut, dass es eine willkürliche Rechtssprechung gibt. Wen man zum Feind erkoren hat, den bekämpft man bis aufs Blut. Wen nicht, nun, der kommt davon. Das ist Standard, dass mit Abschreckung gearbeitet wird.~~~Весь ужас в том, что мы не можем прогнозировать ничего. Мы просто прекрасно понимаем, что есть избирательное правоприменение. Кого назначат врагами, с тех и будут драть три шкуры. Кого не назначат — ну, пронесет. Это очень стандартная ситуация с запугиванием.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2017

    Kommersant FM: Schwierige Zeiten

    Auch Dimitri Drise, Politkommentator bei Kommersant FM, zeichnet ein düsteres Szenario für Medien, die den Status ausländischer Agent haben.

    [bilingbox]Durchaus verständlich, dass nicht jeder zu solchen Publikationen beitragen will [die den Status eines ausländischen Agenten haben – dek], Interviews geben, Nachrichten kommentieren oder der einen oder anderen Veranstaltung Raum geben – das riskiert nicht jeder. Denn man könnte ihn der Zusammenarbeit mit einem ausländischen Agenten beschuldigen und solche Probleme braucht niemand. Besonders in unseren schwierigen Zeiten.

    […]

    Und was die Meinungsfreiheit in Russland betrifft – daran wird sich nichts ändern. Offiziell. Es wird zwar schon immer diskutiert: Gibt es bei uns diese Freiheit oder nicht. Nun – je schlechter das Verhältnis zum Westen, desto größer die Gefahr, dass sie kaum noch vorkommt.~~~Понятно, что сотрудничать с таким изданием — давать ему интервью, комментировать новости или допускать на те или иные мероприятия, например на освещение выборов, — рискнет не каждый. Ведь могут обвинить в сотрудничестве с иностранным агентом – проблемы никому не нужны. Тем более, в наше сложное время.

    […]

    А что касается свободы слова в России – здесь ничего не изменится. Официально. Собственно, всегда была дискуссионной тема, есть у нас эта свобода или нет. А так – чем хуже отношения с Западом, тем больше угроза, что прилетит по касательной.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2017

    Novaya Gazeta: US-Gesetz ist nur ein Vorwand

    In der renommierten unabhängigen Novaya Gazeta zieht Politikredakteur Kirill Martynow Parallelen zum Kalten Krieg:

    [bilingbox]Für ein Verbot ausländischer Medien im heutigen Russland hätte es gar keines speziellen Anlasses bedurft – besser gesagt, jeder Anlass hätte genügt. Sogar wenn die USA in Bezug auf RT nichts unternommen hätten – irgendjemand möchte ganz sicher wieder in unsere großartige Epoche zurück, in der Störsender und Stimmen um Einfluss auf die Geisteshaltung der Landleute wetteiferten.

    Bekanntermaßen haben die Stimmen einst haushoch gesiegt, und wie es scheint, wird jedes beliebige Verbot heutzutage den Einfluss ausländischer Berichterstattung auf Russland nur verstärken.~~~[…] возможно, для запрета иностранных СМИ в нынешней России и не требовался специальный повод — точнее, подошел бы любой. Даже если бы американцы ничего не предприняли в отношении RT, кому-то все равно очень хочется вернуться в нашу великую эпоху, где глушилки и «голоса» спорили в своем влиянии за умы соотечественников. Как известно, «голоса» тогда победили с разгромным счетом, и, кажется, любой нынешний запрет будет лишь усиливать влияние иностранного вещания на Россию.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2017

    Facebook: Bomben auf Woronesh

    Das Gesetz ist nur der Anfang, meint der Journalist Wassili Gatow und zeichnet auf Facebook ein düsteres Zukunftsbild für Medien in Russland.

    [bilingbox]Leider werden die Bomben auf Woronesh dieses Mal ein paar konkrete Menschen treffen (von denen viele meine Freunde sind), die für westliche Medien arbeiten. Ich bin fast hundertprozentig überzeugt, dass die Duma die Arbeit für „unerwünschte Organisationen“ (Medien eingeschlossen) zu einem strafrechtlichen Vergehen erklärt.

    Merkt euch diesen Post.~~~К сожалению, „бомбить воронеж“ в этот раз будут по конкретным, немногочисленным людям (многие из которых мои друзья), которые работают на западные СМИ. Я почти с 100% уверенностью могу сказать, что Дума сделает уголовным преступлением работу на „нежелательную организацию“ (и СМИ, к ним приравненные).

    Запомните этот пост.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2017

    Facebook: Der ausländische Agent ist ein Prachtkerl

    Sergei Medvedev, eine der profiliertesten liberalen Stimmen des Landes, versucht den Begriff des Agenten zu einem Trotzwort zu machen, ihn positiv umzudeuten. Auf Facebook untermauert er seinen Anspruch mit Vorbildern.

    [bilingbox]Ich bin ein ausländischer Agent. Ich denke, dass es überhaupt keine Schande, ja, dass es sogar eine Ehre ist, im heutigen Russland ein ausländischer Agent zu sein. Es ist ein besonderes Qualitätsmerkmal einiger weniger unabhängiger, hochwertiger und freier Institutionen in einem unfreien Land: das Lewada-Zentrum, Memorial und jetzt, wie es scheint, auch die westlichen Medien in Russland.

    Historisch wurde seit jeher alles „originär Russische“ mittels aufholender Modernisierung oder imitativer Westernisierung von westlichen Agenten in unser Land gebracht – vom Wodka bis zur Matrjoschka, von der Kalaschnikow bis zu Kirkorows Liedern. Fürst Wladimir und Fürstin Olga waren ebenso ausländische Agenten, wie Zar Peter und Katharina die Große […]. Ausländische Agenten haben den Kreml und die Magnitka gebaut, Jewgeni Onegin und Ein Held unserer Zeit geschrieben. Der ausländische Agent ist ein Prachtkerl. Sei wie ein ausländischer Agent.~~~Я иностранный агент. Думаю, что совершенно не зазорно, а очень почетно называться в России сегодня иностранным агентом, это своеобразный знак качества на немногих неангажированных, качественных и свободных институциях в несвободной стране — Левада-Центр, Мемориал, теперь, видимо, западные СМИ в России. Исторически, все „исконно русское“ в нашу страну догоняющей модернизации и имитационной вестернизации, было принесено иностранными агентами, от водки до матрешки, от автомата Калашникова до песен Киркорова. Иностранными агентами были Князь Владимир и княгиня Ольга, Петр и Екатерина. Иностранные агенты построили Кремль и Магнитку, написали „Евгения Онегина“ и „Героя нашего времени“. Иностранный агент молодец. Будь, как иностранный агент.[/bilingbox]

     

    erschienen am 15.11.2017

    dekoder-Redaktion

    Weitere Themen

    Irina Jarowaja

    „Sie sehen die Dinge einseitig!“

    Das Begräbnis des Essens

    Das Fake-Engagement

    Das Woronesh-Syndrom

    Bürgerrechtler im Agentenmantel

  • Debattenschau № 59: Schweigen über 100 Jahre Revolution

    Debattenschau № 59: Schweigen über 100 Jahre Revolution

    Weltweit wird dieser Tage der Oktoberrevolution vor 100 Jahren gedacht. Doch Russland scheint sich mit diesem Erbe schwerzutun. Den 7. November als Feiertag, wie er zu Sowjetzeiten begangen wurde, hat Putin bereits 2005 abgeschafft. So gab es in Russland am Jahrestag der Revolution „business as usual“. Einige tausend Anhänger und auch Mitglieder Kommunistischer Parteien aus dem Ausland zogen mit Fahnen und Liedern durch Moskaus Innenstadt. Auf dem Roten Platz fand dagegen ein Reenactment der Militärparade vom 7. November 1941 statt – Kriegs- statt Revolutionsgedenken.
     
    In den Medien war der Jahrestag der Revolution kein großes Thema. Unter den Onlineportalen etwa hatten am 7. November überhaupt nur vereinzelte das Revolutionsjubiläum als Aufmacher auf ihrer Startseite. Die staatlichen Sender Perwy Kanal und Rossija 1 hatten jeweils eine Serie zum Thema aufgelegt, die staatliche Agentur TASS eine eigene Multimedia-Site.

    War die Revolution gut, war sie schlecht? Was soll da überhaupt erinnert werden? Und was sagt diese Form des (Nicht-)Erinnerns über das Heute aus? dekoder bringt Debatten-Ausschnitte aus russischen Medien.

    RIA Novosti: Versöhnt euch!

    Der Kommentar von Radiojournalist Ilja Charlamow für die Agentur RIA Novosti ist ganz im Einklang mit der offiziellen „Versöhnungs“-Rhetorik:

    [bilingbox]Einige der sogenannten Historiker und Menschen aus der Politik rufen dazu auf, das sowjetische Erbe auszuradieren, die Revolution zu verurteilen, ebenso wie das aus ihr hervorgegangene Staats- und Gesellschaftssystem.  […]
    Das 100-jährige Oktoberjubiläum – wie sollte es nicht als Anlass dienen, sich zu versöhnen, nein, sich auszusöhnen mit der eigenen Geschichte und den eigenen ideologischen Gegnern. Zumindest sollte man das beharrlich versuchen. Unsere Geschichte ist so wie sie ist. Eine andere gibt es nicht und wird es nie geben.~~~Некоторые так называемые историки и политические деятели призывают перечеркнуть, вымарать советское наследие и осудить революцию, так же как и созданный в ее результате общественно-политический строй. […]
    Столетие Октября – чем не повод помириться, нет, примириться со своей историей и со своими идейными оппонентами. Во всяком случае, настойчиво попытаться это сделать. Она – наша история – такова. Другой нет и никогда не будет.[/bilingbox]

     

    erschienen am 7. November 2017

    Republic: Eine externe Macht war’s

    Andrej Archangelski zieht auf Republic Parallelen zwischen dem Umgang mit der Revolution und der Ukraine:

    [bilingbox]Mehrere Varianten ein und desselben Ereignisses – es ist, als würde von dem eigentlichen Anlass abgelenkt. Es wurde eine Vielgestalt von Bewertungen der Revolution zugelassen, ja sogar befördert: Heute gibt es in den Staatssendern eine eher „rote“ Version der Revolution (die in offiziösen Verlautbarungen zart kritisiert wird); es gibt eine „weiße“, monarchistische; und es gibt eine Verschwörungsversion. Alle existieren in der Informationslandschaft zeitgleich. 

    Das hat den Diskurs über die Revolution auf eine neue dialektische Ebene gehoben – genau wie im Fall der antiukrainischen Propaganda, die die Formel „Man hat uns entzweit“ hervorbrachte. Es ist ein Universal-Verfahren in dem Moment, in dem alles Schreckliche schon getan und gesagt ist. Und die Verantwortung wird einer nicht benannten externen Macht zugeschoben.~~~Множество версий одного и того же события – как способ отвлечения внимания от единственной причины. Многовариативность в оценках революции, как мы видим, допускалась и даже поощрялась: сегодня в государственном эфире присутствует условно «красная» версия революции (которая мягко критикуется официозом), есть «белая», монархическая; есть, наконец, версия заговора – все они существовали в информационном поле одновременно. Это перевело разговор о революции на новый диалектический уровень – как и в случае с антиукраинской пропагандой, породив формулу «нас поссорили»; универсальный способ в момент, когда все ужасное уже было сделано и сказано, переложить ответственность на некую неназванную, могущественную силу снаружи.[/bilingbox]

     

    erschienen am 7. November 2017

    Echo: Eine Revolution? Gab es nicht!

    Oppositionspolitiker Leonid Gosman dagegen prangert in seinem Blogeintrag, den Echo Moskwy veröffentlicht hat, das offizielle Schweigen an:

    [bilingbox]Urteilen Sie selbst.

    Ein Mensch lebt, solange man sich an ihn erinnert. Bei einem Ereignis ist es dasselbe – es lebt, solange man sich daran erinnert.

    Wenn nun vor genau 100 Jahren in unserem Land eine Große Revolution stattgefunden hätte, dann hätte sich das derzeitige Staatsoberhaupt heute an die Nation gewandt, hätte gesagt: Das und das sind die Lektionen, Schlussfolgerungen und so weiter. Hat sich aber nicht an die Nation gewandt.
    Wenn vor genau 100 Jahren in unserem Land eine Große Revolution stattgefunden hätte, dann hätte es heute eine Schweigeminute gegeben, in Erinnerung der Opfer des damals losgetretenen Bürgerkriegs – Weißer, Roter, zufällig Involvierter. Hat es nicht gegeben. […]

    Die Machthaber haben unsägliche, paranoide Angst vor Revolutionen. Die Erinnerung daran, was vor 100 Jahren passiert ist, verletzt die zarten Seelen unserer Führungsriege. Also hat nichts stattgefunden. Eine Parade zu Ehren von 1941 hat stattgefunden. Hurra, Genossen!~~~Судите сами.

    Человек жив, пока о нем помнят. Событие тоже — живо, пока о нем помнят. 
    Если бы ровно сто лет назад в нашей стране случилась великая революция, то сегодня нынешний глава государства обратился бы в связи с этим к нации — уроки, мол, итоги и прочее. Не обратился. 
    Если бы ровно сто лет назад в нашей стране случилась великая революция, то сегодня объявлялась бы минута молчания в память жертв развязанной тогда гражданской войны — белых, красных, случайных. Ее не было. […]
    Власть фантастически, паранойяльно боится революции. Воспоминание о том, что случилось сто лет назад, ранит тонкие души нашего начальства. Значит, ничего и не было. А был парад 1941 года! Ура, товарищи![/bilingbox]

     

    erschienen am 7. November 2017

    Izvestia: Offene Diskussionen

    Valentina Matwijenko wiederum, die Vorsitzende des Föderationsrats, findet in ihrem Beitrag in der staatsnahen Izvestia Gründe für das offizielle Schweigen zum 100. Jahrestag der Revolution:

    [bilingbox]Man kann mit aller Bestimmtheit sagen, dass es in unserem Land de facto eine gesamtgesellschaftliche Diskussion gegeben hat. Breit, offen und völlig frei von offiziösen und regulierenden Eingriffen. Nicht zuletzt durch die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien hatten alle die Möglichkeit, ihre Meinung zu äußern, die das wollten. Und die Menschen haben, wie man so sagt, ihr Herz ausgeschüttet. Meiner Ansicht nach, hat das der Debatte einen besonderen Wert eingetragen. Im Grunde ist ein Panorama der politischen und der Ideenlandschaft des modernen Russland entstanden.~~~Можно со всей определенностью сказать, что в нашей стране фактически состоялась дискуссия общенационального масштаба. Она носила широкий, открытый характер, была полностью свободна от налета официоза, регулирования. В немалой степени благодаря современным информационно-коммуникативным технологиям возможность высказаться получили все, кто хотел это сделать. И люди, что называется, выплеснулись. На мой взгляд, это придало обсуждению особую ценность. По сути, мы получили панорамную картину идейного и политического ландшафта современной России.[/bilingbox]

     

    erschienen am 7. November 2017

    Snob: Hass und Angst

    Fjodor Krascheninnikow hat sich für Snob das Kino- und Fernsehprogramm zur Revolution angeschaut:

    [bilingbox]Worüber schweigt der Staat, wo wird gebrüllt? Daran kann man ziemlich gut erkennen, was in den Köpfen der Ideologen des derzeitigen Regimes vor sich geht. […]

    Den Mächtigen ist die Revolution auf den Straßen verhasst. Sie drehen fast durch, so hassen sie die, die das „Boot ins Wanken“ bringen und radikale Losungen skandieren. Keinesfalls möchten sie zeigen, dass im Endeffekt die Revolutionäre siegen, und nicht die orthodoxe Monarchie mit ihren Gendarmen, Metropoliten und Kosaken. Deswegen sehen wir auf dem Bildschirm nur Karikaturen von Randfiguren, die aus der Emigration zurückgekehrt und bereit sind, sogar von Vaterlandsfeinden Geld zu nehmen. Aber wir sehen auf dem Bildschirm nicht die wahren Revolutionäre von 1917.~~~По тому, о чем власть молчит и о чем кричит, можно составить довольно полное представление о том, что происходит в голове у идеологов существующего режима.
    […]
    Власти ненавистна революция на улицах, она до истерики ненавидит тех, кто «раскачивает лодку» и выдвигает радикальные лозунги, и ей совсем не хочется показывать, что в итоге побеждают как раз революционеры, а не православная монархия с жандармами, митрополитами и казачеством. Поэтому на экранах мы увидим лишь приехавших из эмиграции карикатурных маргиналов, готовых брать деньги даже у врагов Отечества. Но мы не увидим на экране настоящих революционеров 1917 года […][/bilingbox]

     

    erschienen am 30. Oktober 2017

    7×7: Lenin vs. Stalin

    Der Archangelsker Journalist Leonid Tschertok kritisiert auf 7×7 den zunehmenden Stalinkult, auch wenn über die Revolution gesprochen wird:

    [bilingbox]Ist Ihnen schon aufgefallen, dass Stalin mit den Jahren immer mehr Anhänger hat und Lenin immer weniger? Es stellt sich so dar, dass der schnauzbärtige effektive Manager die Fehler des Führers, der das R nicht rollen konnte, korrigierte, indem er die Industrialisierung und Kollektivierung in Gang setzte – anstelle der Wirtschaft des zerfallenen Imperiums, die durch den Bürgerkrieg und das Chaos der ersten Sowjetmacht-Jahre zerstört worden war. Übrigens, der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg – was ist das, wenn nicht die Folgenbeseitigung des Friedensvertrags von Brest-Litowsk? Hätten sie Deutschland damals ganz und gar geschlagen … dann wäre dort wohl kaum ein Platz für Hitler gewesen. […]

    Man sagt, dass 1991 verantwortungslose Abenteurer an die Macht kamen … und die von 1917 – was waren sie?~~~Вот ещё одна системная ошибка спорящих о революции. Сталинские репрессии – это впереди, мы же говорим о первопричине, что из чего вылупилось. Кстати, обратили внимание, что с годами всё больше защитников как раз у Сталина, и всё меньше у Ленина? Получается так, что усатый эффективный менеджер исправлял ошибки картавого вождя, введя индустриализацию и коллективизацию взамен разрушенной гражданской войной и общей бесхозяйственностью первых лет советской власти экономики павшей империи. Впрочем, как и победа в Великой Отечественной войне – что это, как не ликвидация последствий того самого «Брестского мира»? Добили бы тогда Германию окончательно… вряд ли в ней потом нашлось место Гитлеру. 
    Говорят, в 91-м к власти пришли авантюристы… а те, из 17-го, кем были?[/bilingbox]

     

    erschienen am 7. November 2017

    Vedomosti: Zerstörung aller Formen

    Der Philosoph Alexander Rubzow meint auf Vedomosti, dass der damalige Verlust einer rechtsstaatlichen Ordnung in gewisser Weise bis heute nachwirkt:

    [bilingbox]Nach einer Revolution geht es ganz allgemein darum, wieder zu einer Form zu finden. Ansonsten herrschen auf ewig Ausnahmezustand und gesetzlose Willkür, wo die Machthaber sogar die formalen Normen brechen, die sie selbst aufgestellt haben. […]     

    Durch den Oktober 1917 wurde nicht nur einfach eine konkrete Form zerstört, sondern das Verhältnis zu allem Formalen. […] Eine Revolution bricht stets das Gesetz und ist in diesem Sinne immer verbrecherisch. Doch wenn sie vorüber ist, schafft sie Raum für eine neue Form. Die Revolutionen im Westen waren weder sauberer noch humaner als unsere. Aber sie blieben zeitlich begrenzte Episoden und wurden nicht zur dauerhaften Existenzweise. […]      

    Zum Allgemeingut geworden, spiegelt sich die Vernachlässigung und Missachtung der Form überall wieder: Zum Beispiel im Sport, wo ein „klar überlegener Sieg“ „unwesentliche“ Formverstöße psychologisch nichtig werden lässt.~~~Выход из революции имеет и более общий смысл: восстановления формы, правильного отношения к ней. Без этого становится хроникой режим чрезвычайного положения и властного беззакония, когда власть легко нарушает даже те формальные нормы, что установлены ею самой. […]

    Октябрь 1917 г. обрушил не просто конкретную форму, но само отношение ко всему формальному. […] Революция всегда нарушает закон и в этом смысле всегда преступна, но, прекращаясь, она уступает место новой форме. Революции на Западе были не чище и не гуманнее нашей, но они были эпизодами, а не способом существования. […][/bilingbox]

     

    erschienen am 6. November 2017

    dekoder-Redaktion

     

     

     

    Diese Debattenschau wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

    Weitere Themen

    Die verlorenen Siege

    Musyka: Soundtrack der Revolution

    Kino #10: Oktober

    Revolutionäre Grüße aus dem Jahr 1917

    „Die Vergangenheit ist uns allen im Blut”

    Oktoberrevolution: Erbe ohne Erben

  • Editorial: Musik der Revolution

    Editorial: Musik der Revolution

    MUSIK DER REVOLUTION,

    liebe Leserinnen und Leser, hörte der Dichter Alexander Blok in den Ereignissen rund um das Jahr 1917. Und er forderte, dieser Musik zuzuhören, um die Revolution mit allen Sinnen zu erfassen. Als das Medium, das nach Russland hineinhört, lauschen wir hier in der dekoder-Redaktion das ganze Jahr, welche Töne in den russischen Medien angesichts des Revolutions-Jubiläums angeschlagen werden. Diese Materialien bündeln wir in unserem, mit Unterstützung der ZEIT-Stiftung zusammengestellten, Dossier 1917//2017.

    Und wir stellen fest: Das Revolutions-Jubiläum geht scheinbar an Russland vorbei, und im Lande herrscht Schweigen. Vergleichsweise, natürlich.

    Ganz unerwartet kommt das nicht, in den Medien fragte man bereits im Januar: Was feiern wir? Wie sollen wir gedenken? Die Revolution, über die kein Konsens herrscht, sollte man lieber einfach vergessen. Warum ist das so? In seinem aktuellen Text gibt Sergej Schelin auf Republic eine mögliche Antwort auf diese Frage: Mit dieser Vergangenheit tun sich alle schwer, die Revolution ist ein Erbe ohne Erben

    In dieser Stille werden die einzelnen Stimmen, die sich zum Thema äußern, umso lauter: wie etwa Boris Kolonizki, ein angesehener Historiker und Experte der russischen Revolution, der an der Europäischen Universität in St. Petersburg lehrt. Kolonizki gab das ganze Jahr über diverse Interviews, von denen wir eins übersetzten. Darin blickt er sowohl auf die Atmosphäre (Teil I) als auch auf die führenden Köpfe des Jahres 1917 (Teil II) zurück. Die Mosaiksteinchen der Ereignisse fügen sich so zu einem bunten Bild zusammen. Genauso bunt und vielfältig, wie die Wahrnehmung des Oktoberaufstandes im Spiegel der Presse aus dem Jahr 1917.

    Dieses Bild wollten wir mit unseren Gnosen nach und nach rekonstruieren: Carmen Scheide wirft einen Blick auf die Lage der Frauen, die mit einer Demonstration den Auftakt für die Februarrevolution gegeben haben, Matthias Stadelmann zeichnet ein Portrait des letzten russischen Zaren Nikolaus II und Frithjof Benjamin Schenk beschreibt die Februarrevolution.

    Auch mit einigen Mythen wird in unserem Revolutions-Dossier aufgeräumt: Frithjof Benjamin Schenk erzählt von Lenins Weg in die russische Revolution im Zug, der eben nicht plombiert war. Oksana Bulgakowa beschreibt, wie ikonographische Bilder der Revolution tatsächlich erst Jahre nach 1917 entstanden sind – etwa in Eisensteins Film Oktober. Robert Kindler macht deutlich, dass die Bolschewiki eine Splittergruppe waren, die erstmal keine große politische Bedeutung hatte. 

    Und was machte Lenin eigentlich zwischen Februar- und Oktoberrevolution? Davon berichtet Benno Ennker. Robert Kindler erklärt außerdem, warum der Erste Weltkrieg für Russland 1917 so fatal war und zeigt anhand zweier Beispiele, wie es zu der Zeit an der Peripherie des Russischen Reiches aussah. 

    Ohne Bilder wäre das Bild jedoch unvollständig. Zusammen mit Monica Rüthers bieten wir daher auch etwas fürs Auge: Revolutionäre Grüße aus dem Jahr 1917.

    Doch die Revolution ist noch nicht vorbei – das Dossier wächst weiter bis zum Ende des Jahres.

    Und hört unbedingt noch rein in die Musik der Revolution!

    Euer

    Leonid A. Klimov
    Wissenschaftsredakteur

     

    Weitere Themen

    Editorial: Wenn es kompliziert wird

    Editorial: Lesen, Wischen, Recherchieren

    Editorial: Popcorn!

    Editorial: Buch mit bewegten Bildern

    Editorial: Lesereise durch den russischen Sommer

    Editorial: Good bye, dekoder!

  • Oktoberrevolution: Erbe ohne Erben

    Oktoberrevolution: Erbe ohne Erben

    100 Jahre Revolution: In Deutschland widmen sich dieser Tage und Wochen Zeitungen, Radio, TV und Kulturinstitute dem Jahrestag – das Jubiläum der Oktoberrevolution findet einen adäquaten Programm-Platz. Und in Russland? Wird die Oktoberrevolution behandelt wie ein „Stiefkind“.

    Auf Republic zeigt Sergej Schelin den komplexen gesellschaftlichen Hintergrund dieser Leerstelle auf.

    Der Oktober dieses Jahres wird uns nicht als kollektives Besinnen auf die große Revolution in Erinnerung bleiben, die vor 100 Jahren die Geschichte des Landes umgewälzt hat. Einverstanden? In Erinnerung bleiben wird der Skandal um das Melodrama Matilda. Der kostümierte Schwank aus dem Leben des Thronfolgers und der Ballerina interessiert Russland im 21. Jahrhundert offenbar weit mehr als das Schicksal der eigenen Vorfahren.

    Die Revolution wird, einer intellektuellen Pflicht Gehorsam leistend, von der Intelligenz diskutiert, obwohl die sich eigentlich mehr um das Heute sorgt. Die russisch-orthodoxe Kirche verflucht die Revolution, denn nicht erst der Mord, sondern schon die Entthronung des heiliggesprochenen Zaren war ein Sakrileg. Die Staatsführung gemahnt unterschwellig boshaft, dass das Jubiläum ein hervorragender Anlass zur nationalen Versöhnung sei – und fügt auf jeden Fall hinzu, dass einem nicht sanktionierten Machtwechsel stets eine Verschwörung äußerer und innerer Feinde vorausgeht.

    Ein Kostümschwank interessiert Russland weit mehr als das Schicksal der eigenen Vorfahren

    Doch in den Köpfen der normalen Menschen hat die Revolution von 1917 keinen Platz. Und das liegt nicht nur daran, dass sie lang her ist und keine Augenzeugen mehr am Leben sind.

    Parteien, die auf jene zurückgehen, die einander 1917 oder im Vorfeld bekämpften, gibt es bei uns nicht. Lebendige Parteien gibt es bei uns heute eigentlich sowieso nicht. Aber auch in den 1990er Jahren, als es sie gab – war etwa damals auch nur eine Partei von Konstitutionellen Demokraten wie Miljukow und Nabokow inspiriert, oder meinetwegen von Sozialrevolutionären wie Tschernow oder Spiridonowa? Die postsowjetischen Politiker hatten mit den präsowjetischen absolut nichts zu tun. Dieses Erbe wollte keiner, nicht mal geschenkt. Und das war kein Zufall.  

    Sagen Sie, haben Sie oder Ihre Freunde Vorfahren, die Sozialrevolutionäre waren?

    Sagen Sie, haben Sie oder Ihre Freunde Vorfahren, die Sozialrevolutionäre waren? Ich vermute, wenige würden diese Frage bejahen. Dabei war die Partei der Sozialrevolutionäre 1917 die stimmenstärkste Partei. Mit ihrer legendären Vergangenheit in der Narodnaja Wolja, mit einer Million Aktivisten (ein Vielfaches der Bolschewiki) und mit massenhafter Unterstützung der bäuerlichen Wählerschaft erhielten die Sozialrevolutionäre die Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung und hätten rein rechtlich das Land regieren müssen. Doch die Verfassunggebende Versammlung wurde zunächst von den Bolschewiki gesprengt, ihre Überreste ein Jahr später von General Koltschak.

    Die ersten zwei Jahrzehnte wurden die Sozialrevolutionäre von der Sowjetmacht systematisch verfolgt – zuerst die im Untergrund, dann die, die sich aus der Politik zurückgezogen hatten, und schließlich die, die sich zu den Bolschewiki gesellt hatten.

    Ebenso gründlich wurden ehemalige Weiße, ehemalige vorrevolutionäre und revolutionäre Bürgeraktivisten jeglicher nicht-bolschewistischer Couleur und überhaupt alle beseitigt, die nicht beweisen konnten, dass sie mit Leib und Seele auf die Seite der Sieger gewechselt waren.

    Der Terror tötete. In der ihn begleitenden Revolution qua Lebenslauf der 1920er und 1930er Jahre wurden massenhaft Biografien umgeschrieben. Eltern verbargen ihre Vergangenheit vor den eigenen Kindern, lebendiges Familiengedenken, das die Menschen mit der Geschichte viel stärker verbindet als jedes Lehrbuch, wurde fast gänzlich ausgelöscht.  

    Da ist schon lange niemand mehr, mit dem wir uns versöhnen könnten

    Seit Ende der 1980er Jahre bis zum heutigen Tag erklären sich findige Leute gern zu Adeligen, die kühnsten gar zu titelgeschmückten Aristokraten. Tatsächlich besteht das heutige Russland fast zu hundert Prozent aus Nachfahren von Roten und solchen, denen es gelang, mit ihnen zu verschmelzen. Echte Nachfahren von Weißen dagegen oder einfach Antibolschewiki, die sich die Erinnerung an ihr Weißsein und den Antibolschewismus über Generationen hinweg bewahrt haben, gibt es sehr wenige.

    Die „Versöhnung“, von dem die staatlichen Stimmen sprechen, ist eine fade und geistlose Show, die von zwei Mannschaften aus Clowns derselben Herkunft gespielt wird – die eine trägt rote, die andere weiße Kostüme. Natürlich gewinnt da die entzückende Matilda den Kampf ums Publikum. Die ist wenigstens unterhaltsam.      

    Zum echten Versöhnen gibt es also schon lange niemanden mehr. Aber das ist nur einer der Gründe, warum das Jahr 1917 dem Russland des 21. Jahrhunderts so unverständlich und so egal ist.

    Geschätzt werden bei uns vor allem siegreiche Regime und die Bedrohung durch Feinde von außen

    Auf der Champs-Élysées findet am Morgen des 14. Juli immer eine Parade statt, danach löst ein Vergnügen das andere ab, und am Abend werden die vom Feiern erschöpften Besucher mit einem Feuerwerk beglückt. Der Tag des Sturms auf die Bastille wurde erst Ende der 1870er Jahre, 90 Jahre nach dem historischen Ereignis, endgültig zum großen Feiertag gemacht – als die Dritte Republik ausgerufen wurde und sich ihres Ursprungs besann, wobei sie vieles darin korrigierte und umschrieb.

    Der Kult der Französischen Revolution lebt, weil man darin zu Recht ein Ereignis sieht, das die Welt verändert hat, und zudem einen überwältigenden Ausdruck des französischen Nationalbewusstseins. Den halbverrückten Text der Marseillaise muss man ja nicht unbedingt ergründen. Das Wichtige ist, sie gemeinsam anzustimmen.

    In ähnlichem Stil unsere Revolution und die daraus erwachsene frühbolschewistische Ordnung darzustellen, das ist weitaus schwieriger. Zuviel Vernichtung und zweifelhafte Siege über die Mitbürger hat es von 1917 bis Anfang der 1920er Jahre gegeben. 

    Ganz zu schweigen davon, dass fast alle bolschewistischen Helden, Kommandanten und Heerführer aus der Geschichte gelöscht wurden, zuerst als Trotzkisten, dann als Volksfeinde aller Art. Die nachträgliche Rehabilitation hat sie nicht zurück in Schlüsselpositionen gebracht.

    Was die Weißen angeht, waren Denikin, Koltschak und Wrangel von Anfang an nicht beliebt beim Volk und werden das auch nie sein. Das sind Vertreter fremder Klassen, die ihren Krieg verloren haben, dessen Ziele die einfachen Leute gar nicht verstanden haben. 

    Die Revolution von 1917 ist zu unserem historischen Stiefkind geworden

    Eine kohärente Vorstellung von den Geschehnissen 1917 hat der heutige Bürger Russlands nicht, und er hat auch kein Verlangen, sich eine zuzulegen. Das war sieben Jahrzehnte lang anders. Ein Volksfest zum 7. November im französischen Stil – nicht nur als Tag der Grundlegung von Regime und Staat, sondern auch als Ereignis, das die Welt veränderte – fand bis zum Jahr 1990 statt. Damals marschierte die letzte Revolutionsparade über den Roten Platz. Das Tempo, mit dem die Menschen diesen Feiertag vergaßen, sobald er kein offizieller mehr war, zeugt davon, dass er in ihren Köpfen längst nicht mehr verankert war. Der Zauber der Russischen Revolution entpuppte sich als bei weitem nicht so stabil wie jener der Französischen, obwohl eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden nicht zu leugnen ist.

    Noch in den 1990er Jahren wurde zunehmend der 9. Mai als Tag der Staatsgründung begriffen, und dementsprechend Stalin als Gründervater. Das siegreiche Jahr 1945 wird in der Ära Putin zudem präsentiert als fortwährender Triumph des gegenwärtigen Regimes, das sich als Sieger eines Krieges darstellt, den es ja gar nicht gewonnen hat.

    Doch die grandiose Revolution, die von den ersten Monaten 1917 bis zum Ende des Bürgerkriegs dauerte, ist quasi aus dem willkommenen Lauf der Dinge gestrichen und zu unserem historischen Stiefkind geworden.

    Heute reicht dem Revolutionsjahr 1917 wohl nur die systemkritische linke Jugend die Hand

    Die Schwierigkeit besteht allein darin, dass gigantische Massen derer, die 1917 und in den Folgejahren sozial begünstigt waren, in den 1930er Jahren Opfer des Regimes wurden. Bauern, die sich im Sommer 1917 die Ländereien der Gutsherren teilen durften, wurden kollektiviert, entkulakisiert und tödlichen Hungersnöten ausgesetzt. Die revolutionäre Beamtenschaft, die hunderttausende frei gewordene Führungspositionen eingenommen hatte, wurde niedergemetzelt. In Beschuss geriet damals auch eine beachtliche Menge an Fachleuten, die ihre Spezialisierung dem Zugang zu Bildung verdankte, den die Revolution für die Massen ermöglicht hatte.

    Gegen Ende der Sowjetzeit gab es bei uns in verschiedenen Schichten relativ viele Menschen, die mit ihrer Lebenssituation durchaus zufrieden waren. Doch führten sie ihr Wohlergehen keineswegs auf die Taten ihrer Vorfahren im Revolutionsjahr 1917 zurück.

    Heute reicht dem Revolutionsjahr 1917 wohl nur die systemkritische linke Jugend die Hand. Von der gibt es wenige, aber es werden mehr. Und weil unser aktuelles Regime absolut alle seine ideologischen Ressourcen in die Konterrevolution steckt, wird die Zahl der 1917-Sympathisanten nicht nur von Trotzki-Sympathisanten aufgestockt werden, sondern noch von vielen anderen, die gegen dieses Regime sind.  

    Eine längst vergangene, komplett verschimmelte Geschichte kann plötzlich neue Mythen für die aktuelle Politik liefern

    Eine längst vergangene, man sollte meinen, komplett verschimmelte Geschichte kann plötzlich neue Mythen für die aktuelle Politik liefern. Das haben wir kürzlich in den USA beim Konflikt um die Denkmäler für Südstaaten-Generäle beobachtet. Derzeit befindet sich die Russische Revolution sozusagen im Alter ihrer geringsten ideellen Attraktivität. Doch nach historisch kurzer Zeit kann sie wieder Teil des nationalen Mythos werden. 

    Wo die Revolution nun Jubiläum hat, sollten wir über ihre Lehren sprechen. Das ist so üblich, auch wenn man aus der Geschichte bekanntlich keine Lehren ziehen kann. Trotzdem ist es ein netter Brauch.

    Man kann zum Beispiel daran erinnern, dass der Zarismus als Regime verurteilt war, und es ist klar, warum. In seinem letzten Jahrzehnt hatte er keine Chance mehr. An einer linken Revolution führte in Russland kein Weg mehr vorbei. Aber sie hätte nicht unbedingt so sein müssen, wie sie war. Das bei allen revolutionären Umschwüngen siegende Prinzip The Winner takes it all führte innerhalb weniger Jahre, schon gegen Ende 1918, zu einer totalitären Diktatur. Und der rückhaltlose Glaube der Sieger, dass die Geschichte auf ihrer Seite steht und bleiben würde, lockte sie in die historische Falle.

    In der Geschichte Russlands, die jetzt neu geschrieben und immer wieder umgeschrieben wird, gesteht man diesen Ereignissen einfach keinen Platz zu. In unserem heutigen Klima ist das logisch und nachvollziehbar. Morgen oder übermorgen wird man sich sehr darüber wundern.  

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

    Weitere Themen

    Der Große Terror

    FAQ zum Revolutionsgedenken 1917

    Musyka: Soundtrack der Revolution

    Lenin in der russischen Revolution

    Debattenschau № 56: Matilda

    Kino #10: Oktober

  • Perestroika bei dekoder

    Perestroika bei dekoder

    Liebe dekoder-Leser, Freunde und Förderer,
     
    es ist viel los bei dekoder, eine kleine Perestroika findet statt:
     
    Wir bauen eine neue Community auf, den dekoder-Klub – und haben eine neue Geschäfts-Struktur.
     
    Dabei geht es insgesamt für den dekoder nun um die Wurst: Die Fördermittel aus der Erbschaft unseres Gründers Martin Krohs reichen noch knapp ein Jahr. Aber dekoder hat noch viel vor:

    Und dazu brauchen wir euch, liebe Leser!

    dekoder-Struktur

    dekoder hat ja als Idee von Martin Krohs begonnen. Er hat seine Erbschaft eingesetzt, um dekoder zu gründen. Nach ein paar Monaten waren wir als Team komplett und packen seitdem unsere ganze Energie hinein. Martin hat sich von Anfang an vor allem als Initiator gesehen, zumal er eigentlich aus einer anderen Ecke stammt, der Philosophie. Dorthin wechselt er jetzt wieder komplett und hat uns vorgeschlagen, dekoder auch geschäftlich in die eigene Verantwortung zu übernehmen. Nun sind wir dekoder-Gesellschafter – das fühlt sich gut an und wir haben viel vor.
     
    Zu unserem neuen Geschäftsführer haben wir Anton Himmelspach bestimmt, der zugleich dekoder-Politikredakteur ist. Insgesamt spielt die dekoder-Band für euch weiter in der bewährten Besetzung: Alena Göbel managt Content und Controlling, Daniel Marcus trommelt die Sozialen Medien, Leonid Klimov bedient die Wissenschaft, Friederike Meltendorf kuratiert die Übersetzungen, und Tamina Kutscher ist die Chefredakteurin.

    dekoder-Finanzen

    Martin bleibt dekoder nicht nur als Mit-Gesellschafter, sondern auch als Förderer erhalten: Die von ihm gegründete Konvert-Stiftung unterstützt dekoder weiterhin. Doch diese Gelder sind begrenzt. Und obwohl auch andere Stiftungen vereinzelt Projekte auf dekoder fördern: Der laufende Betrieb ist nur noch für knapp ein Jahr gesichert.
     
    Also was tun? Wir sprechen derzeit mit vielen Stiftungen und potentiellen Förderern. Wir suchen nach unterschiedlichen Möglichkeiten der Finanzierung. In einem Punkt sind wir uns sicher: Unsere Inhalte sollen weiterhin allen Menschen frei zugänglich bleiben. Schließlich sind wir eine gemeinnützige Gesellschaft, die sich der Bildung und Völkerverständigung verschrieben hat.

    dekoder-Klub 

    Neben der neuen Struktur hier unsere andere große Neuigkeit: der dekoder-Klub! 

    Ab zwei Euro im Monat könnt ihr beitreten, dafür bekommt ihr einen Premium-Newsletter mit wichtigen Texten und Links zu aktuellen Russlandthemen. Außerdem sind Klub-Treffen in Hamburg und Berlin geplant. So könnt ihr uns und wir können euch kennenlernen und wir alle können uns miteinander austauschen.

    Mit eurer Klub-Mitgliedschaft helft ihr, dekoder am Laufen zu halten. Und ihr tragt dazu bei, dass wir euch unabhängige Stimmen aus Russland sowie fundiertes Russland-Wissen dauerhaft zugänglich machen können. Wir freuen uns, wenn ihr dabei seid!

    Es gibt also viel Neues. Schaut euch den Klub doch mal an.
     
    Macht mit! Werdet Teil von dekoder!

    Herzliche Grüße
    Eure dekoder-Redaktion

    Tamina Kutscher, Friederike Meltendorf, Daniel Marcus, Leonid Klimov, Anton Himmelspach, Alena Göbel
mit Franziska Knapp (studentische Mitarbeiterin) und Peregrina Walter (Praktikantin)
    Tamina Kutscher, Friederike Meltendorf, Daniel Marcus, Leonid Klimov, Anton Himmelspach, Alena Göbel mit Franziska Knapp (studentische Mitarbeiterin) und Peregrina Walter (Praktikantin)
  • Editorial: Good bye, dekoder!

    Editorial: Good bye, dekoder!

    Good bye, dekoder,

    oder, wie es natürlich besser heißen sollte: До свидания! Nein, keine Sorge: dekoder wird weiter Russland entschlüsseln. Aber nun sind die Redakteure die alleinigen Herren und Damen im Haus! Und ich kehre, zwei Jahre nachdem ich dekoder gegründet habe und das Portal im Herbst 2015 online ging, auf meine alten, wissenschaftlichen Bahnen zurück. Was das für dekoder bedeutet – davon später.

    Im Dezember 2014, dem Jahr der Ukraine-Krise und der Krim-Annexion, hielt ich es nicht mehr aus: Jeder sprach von Russland, dem Land, in dem ich zehn Jahre lang gelebt habe, das ich so liebe und das mich doch gleichzeitig so oft beunruhigt. Aber dabei schien kaum jemand von dem Russland zu reden, das ich kannte, vom Russland meiner russischen Freunde, vom Russland der unabhängigen russischen Medien, die ich jeden Tag las.

    Ich wollte die Stimmen dieser Medien hierher in den Westen bringen, und ich wollte sie hier verständlich machen. Dafür habe ich mir das dekoder-Konzept ausgedacht, mit seiner Mischung aus Journalismus und Entschlüsselungs-Texten aus der Wissenschaft. Und dieses Konzept hat sich bewährt: Innerhalb dieser zwei Jahre ist dekoder zu einem Modellprojekt des jungen, innovativen Journalismus aufgestiegen.

    Ich war in der glücklichen Lage, die dekoder-Idee dank einer persönlichen Erbschaft direkt verwirklichen zu können. Wer die Geschichte von dekoder verfolgt hat, weiß, dass das Portal derzeit hauptsächlich von meiner Konvert-Stiftung finanziert wird, in die ich diese Erbschaft eingebracht habe – aber auch, dass die Mittel dieser Stiftung begrenzt sind. 

    Ohne Geld kann dekoder nicht funktionieren. Aber was dekoder ausmacht, das sind die Menschen – ihre Kompetenz, ihr Wissen, ihre Leidenschaft. Die Menschen, die Tag für Tag, Woche für Woche für euch Russland entschlüsseln. Und wenn ich als Gründer mich für etwas wirklich glücklich schätzen kann, dann dafür, dass sich genau diese Menschen gefunden haben. Ihr, die Leser, kennt sie alle aus Editorials, Interviews, Newslettern oder einfach, weil ihr der Redaktion Mails und Messages geschrieben und mit den Kollegen diskutiert und debattiert habt. 

    Meine Ansicht ist, dass dekoder denjenigen gehören soll, die auch tagtäglich den Content erstellen, neue Ideen entwickeln, das Schicksal des Projekts gestalten. Deshalb waren wir neulich alle gemeinsam beim Notar, haben die Übergabe an die dekoder-Macher besiegelt und nachher ein klein wenig diesen wichtigen Tag gefeiert – so, wie es sein soll! Ich bin von nun an bei dekoder nur noch Mit-Gesellschafter.

    Für mich persönlich geht es nun dort weiter, wo ich 2014 unterbrochen habe. Wenn ihr euch manchmal fragt, wie eigentlich die Bäume, Vögel, Bakterien um uns herum und natürlich auch wir selbst zustandekommen und ob eure Vorstellungen dazu up-to-date sind, dann klickt ruhig einmal hier: Re-imagine Evolution! Ich denke, dass dieser Text euer Bild von der Welt des Lebendigen ein ganzes Stück verändern wird (natürlich ist auch Russland wieder mit von der Partie – ganz ohne geht’s einfach nicht). Und wenn ihr generell Interesse an Online-Publishing habt, dann könnte auch das neue Publishing-Tool Pleks etwas für euch sein, das ich derzeit entwickle.

    Aber die Hauptsache in diesem Brief ist natürlich dekoder. Die Finanzen, die ich zur Verfügung stellen kann (nicht jeder ist ein Warren Buffett) reichen noch für knapp ein Jahr. Große deutsche Stiftungen, die sich ebenfalls den gemeinnützigen Journalismus auf die Fahnen geschrieben haben, fördern immer wieder Einzelprojekte bei dekoder. Aber eine neue Grundfinanzierung für den laufenden Betrieb muss bald gefunden werden – das gesamte dekoder-Team hat schon seine Fühler in alle denkbaren Richtungen ausgestreckt. 

    Und wie es immer so ist: Je mehr Leute mit anpacken, desto einfacher wird es – gerade jetzt, wo die Finanz-Sanduhr läuft. Daher gibt es künftig für die Leser, die sich regelmäßig für dekoder engagieren wollen, eine dekoder-Community: den dekoder-Klub. Macht mit – es gibt viel Neues zu entdecken! Zu den Einzelheiten erzählen die Kollegen euch hier mehr

    Nun aber ist es Zeit, wirklich zu sagen: Пока, dekoder. Mach es gut, mach deinen Weg. Macht es gut Tamina, Leonid, Rike, Alena, Daniel, Anton. Dieses schöne Stück Publizistik, das wir gemeinsam aufgebaut haben, liegt in euren Händen, und es sind die besten Hände, die man sich wünschen kann. Und euch, liebe Leser, wünsche ich weiter viel aufschlussreiche Lektüre, hörenswerte, relevante Stimmen aus Russland und fundierte, sachliche Erläuterungen dazu. 

    In diesem Sinne! Euer

    Martin Krohs

    Weitere Themen

    Editorial: Wenn es kompliziert wird

    Editorial: Lesen, Wischen, Recherchieren

    Editorial: Popcorn!

    Editorial: Buch mit bewegten Bildern

    Editorial: Alles Propaganda?!

    Editorial: Lesereise durch den russischen Sommer

  • Trakt – Weggesperrte Frauen

    Trakt – Weggesperrte Frauen

    Im Jahr 2014 hat die Fotografin Elena Anosova, Preisträgerin des World Press Photo Award 2017, mehrere Monate in Frauenlagern in Sibirien fotografiert. Während die Porträts entstanden, bat sie ihre Modelle, einen ihnen wichtigen Gegenstand zu finden: Eine nahm eine Blume, eine andere eine Bibel. Bei manchen fand sich im Lager gar kein solcher Gegenstand.

    „Ich beobachte Leben, das in Isolation und unter ständiger Beobachtung stattfindet. Und bemühe mich, die Beziehungen und Beschränkungen in geschlossenen Gemeinschaften darzustellen“, so die Fotografin Elena Anosova.

    „Wenn man im Lager ist, ist es unmöglich, ganz bei sich zu bleiben. Der Verlust eines intimen Raumes deformiert den Menschen, das Gefühl von Sicherheit verschwindet. Trakt (im russ. Original Otdelenie) zeigt die Veränderungen, die sich mit den Frauen in Haft schrittweise vollziehen.

    Ich beginne mit den Bildern junger und schöner Mädchen, die so fotografiert sind, dass nicht gleich klar wird, dass sie an Orten des Freiheitsentzugs entstanden sind. Dann zeige ich erwachsene Frauen – wir sehen die Spuren des Lebens auf Gesichtern und Körpern. Am Ende kommen Porträts von Frauen, die schon deformiert sind, niedergeschlagen, manchmal sind Spuren von versuchtem Suizid und Gewalt erkennbar.

    All das führt zu Fragen danach, wie Häftlinge in unserer Gesellschaft aufgenommen werden, Fragen nach Wiedereingliederungsprogrammen und Organisationen, die fähig sind, sie zu unterstützen.“

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    Bilder: Elena Anosova
    Übersetzung: dekoder-Team

    Weitere Themen

    Aus der Tiefe

    Die Silikonfrau

    HIV und AIDS in Russland

    „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder”

    Schläge als Privatsache?

    Unter die Haut

  • Ukrainisches Sprachen-Manöver

    Ukrainisches Sprachen-Manöver

    Heftige Debatten um ein neues Bildungsgesetz in der Ukraine: In Schulen soll ab der fünften Klasse Ukrainisch die Unterrichtssprache sein. Das betrifft in erster Linie die Schulen der Minderheiten, die dann ab der fünften Klasse nur noch die eigene Geschichte oder Literatur in ihrer jeweiligen Sprache lehren dürfen. So will es ein neues Bildungsgesetz, das derzeit für heftige Diskussionen sorgt – nicht nur in den Nachbarländern, sondern auch im Inland.

    Hauptargument der Bildungsreformer ist, dass viele Absolventen der Minderheitenschulen nicht ausreichend gut Ukrainisch könnten, um dann an einer ukrainischen Hochschule zu studieren.

    Doch vor allem Russisch ist in der Ukraine stark präsent: Je nach Fragestellung geben in unterschiedlichen Umfragen 30 bis 40 Prozent der Ukrainer das Russische als ihre Muttersprache an. Die Frage, ob man Russisch oder Ukrainisch spricht, ist allerdings mehr und mehr ein Politikum – angesichts von Ideen wie Russki Mir und spätestens seit der Angliederung der Krim an Russland und dem Krieg in der Ostukraine.

    Die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti titelte sogleich „Russisch wird aus den Schulen vertrieben“, doch auch in anderen Nachbarländern wie Ungarn regt sich heftiger Protest. Der ukrainische Minderheitenbeauftragte Wadim Rabinowitsch postete einen Kommentar auf Facebook, in dem er Präsident Poroschenko bittet, das Gesetz nicht zu unterschreiben, da es die Rechte der Minderheiten untergrabe.

    Auf Republic begreift Oleg Kaschin das Gesetz als „Abschaffung russischsprachiger Schulen“. Theoretisch dürfen diese allerdings weiter bestehen, müssen aber ab der fünften Klasse hauptsächlich auf Ukrainisch unterrichten.

    Kaschin kommentiert, dass die Ukraine mit dem neuen Gesetz nur nach der Logik ihres russischen Gegners handle – und mutmaßt gleichzeitig, ob alles nicht eventuell nur ein schlaues „Manöver“ für weitere Verhandlungen zwischen beiden Ländern sei.

    Die angekündigte Abschaffung von russischsprachigen Schulen in der Ukraine – auf das entsprechende Gesetz hat Russland drei Jahre lang gewartet. Es hat darauf gewartet, damit es sagen kann: Seht her, diese Nazis, das ist ein Genozid, eine humanitäre Katastrophe, wir können nicht wegsehen, wir entsenden Truppen, und wenn wir keine entsenden, dann unterstützen wir jede Separatistenrepublik, die dort entsteht, oder helfen selbst, dass welche entstehen.

    Russland hat drei Jahre lang auf dieses Gesetz gewartet – vergeblich. Man musste sich mit weniger bedeutenden Vorkommnissen zufriedengeben, darunter frei erfundenen (so die Geschichte vom „gekreuzigten“ Jungen). 

    Russland hat auf die Nazis geschimpft, mit Katastrophen gedroht, Separatisten unterstützt und ihnen dazu verholfen, ihre Republiken auszurufen, hat, wenn auch heimlich, Truppen entsandt, Soldaten beerdigt – auch das heimlich. Wahrscheinlich ist es selbst darüber erschrocken, was es angerichtet hat. Und ist in diesen drei Jahren sehr viel zurückhaltender geworden. Hat das Wort Noworossija hervorgeholt und wieder vergessen, und als jemandem das Wort Malorossija wieder in den Sinn kam, wurde er offenbar dermaßen zusammengestaucht, dass er es gleich wieder vergaß. 

    Das Motiv des ,Russki Mir‘ hat sich in der offiziellen Rhetorik erschöpft und ist versickert

    Das Motiv des Russki Mir (dt. Russische Welt) hat sich in der offiziellen Rhetorik erschöpft und ist versickert. Über die Banderowzy berichtet nicht mal mehr die Komsomolskaja Prawda. Das Thema Russisch in der Schule ist mittlerweile in Russland selbst ein wunder Punkt – gerade erst wurde ein weiterer Sprachenstreit zwischen Moskau und Kasan durch einen Kompromiss beigelegt, und es war sicher nicht der letzte.

    Vor drei Jahren wäre ein Verbot russischsprachiger Schulen in der Ukraine für Russland das Ereignis des Jahres gewesen, ein zweiter Brand von Odessa, und die Propaganda hätte es nicht besonders schwer gehabt, bei den Russen echte und aufrichtige Empörung auszulösen. Wahrscheinlich haben sich die Ukrainer deshalb drei Jahre lang zurückgehalten, damit Russland diese grundlegend verstörende Nachricht mit einer in dieser Situation maximal möglichen Gleichgültigkeit aufnimmt. 

    In der Ukraine gibt es Landstriche mit einer ungarischen Mehrheit, aber künftig soll nur noch Ukrainisch als Unterrichtssprache erlaubt sein. Das ungarische Außenministerium reagierte mit einem empörten Statement, das rumänische Außenministerium zumindest mit einem Statement, Russland reagierte nicht einmal damit, denn was sollte in diesem Statement auch stehen?

    Hätte die Ukraine russischsprachige Schulen vor drei Jahren verboten, wäre es für Russland das Ereignis des Jahres gewesen

    Die Beziehungen werden leiden? Bereits geschehen. Wir werden Separatisten unterstützen? Schon passiert. Wir werden Truppen schicken? Sind längst da. Alle möglichen Worte sind bereits gesagt, manches Gesagte ist sogar schon wieder zurückgenommen. 

    Russland hat das moralische Recht verspielt, die Ukraine für das verabschiedete Gesetz zu kritisieren, mehr noch – Russland scheint dieses Recht nicht einmal mehr für sich zu beanspruchen, dessen Notwendigkeit  teils schon vor drei Jahren erschöpft war, teils durch andere außenpolitische Bedürfnisse von Syrien bis Myanmar ersetzt worden ist. 

    Die Ukraine wiederum hat das moralische Recht auf eine Entrussifizierung der Schulen bekommen und gefestigt – das Verbot russischsprachiger Schulen wird heute als Selbstverteidigungsmaßnahme wahrgenommen, denn die letzten drei Jahre haben gezeigt, dass die russische Sprache, wenn sie nicht eingedämmt wird, Volksrepubliken, burjatische Panzerfahrer und in persona den toten Motorola nach sich zieht. 

    Russland hat das moralische Recht verspielt, die Ukraine für das verabschiedete Gesetz zu kritisieren

    Der Zusammenhang von Sprache und Krieg erscheint derart unbestreitbar, dass sicher auch unter den russischsprachigen Bürgern der Ukraine viele sind, die es gut finden, wenn in den Schulen ihrer Kinder sämtliche Sätze des Pythagoras und Ohmschen Gesetze, jegliche Blütenstempelchen und -fädchen ins Ukrainische übersetzt werden, auch wenn sie es selbst gar nicht können. Sogar in der ATO war die Beteiligung russischsprachiger Ukrainer bekanntlich relativ hoch, und das Thema Schule wiegt, so wichtig es auch sein mag, immer noch weniger als der Krieg. 

    Selbst wenn die Entrussifizierung der Schulen in Wirklichkeit lange vor dem Krieg geplant war – beweisen kann das heute niemand mehr: Das Gesetz wurde 2017 verabschiedet, der Krieg begann 2014.

    Und hier ist das Paradoxe an der ukrainischen Schulreform: Deren Initiatoren gehen quasi davon aus, dass die Frage der russischen Sprache in der Ukraine eine Frage der russisch-ukrainischen Beziehungen ist. Das heißt: Nun ist es die ukrainische Seite, die die alten Kreml-Losungen von dem Russki Mir aufgreift, wonach Russland überall, wo russischsprachige Menschen leben, besondere Interessen hat. 

    Vor drei Jahren hat Russland versucht, ein Monopol auf die russische Sprache für sich zu beanspruchen, und genau das war die größte Schwachstelle der ganzen Russki-Mir-Rhetorik. Kein Staat der Welt hat die Exklusivrechte an irgendeiner Sprache. Es fällt ja auch, sagen wir mal, Großbritannien nicht ein, die USA zu seinem Interessenbereich zu erklären, nur weil die Amerikaner Englisch sprechen. 

    Kein Staat der Welt hat die Exklusivrechte an irgendeiner Sprache

    Auf einmal ist es nun die Ukraine, die ein Monopol Russlands auf die russische Sprache postuliert. Versteht man die Entrussifizierung als ein Mittel der Verteidigung gegen Russland, dann bedeutet das, dass die Ukraine dem russischen Staat Exklusivrechte auf das Russische zuspricht und Russland als Vaterland all derer anerkennt, die auf Russisch sprechen und denken. Übersetzte man das in die Sprache der Losungen, lautete die getreue Übersetzung: „Russland den Russen“ – etwas, das Russland selbst nie laut aussprechen würde und das Artikel 282 des russischen StGB unter Strafe stellt. 

    Millionen künftiger Opfer der Entrussifizierung drohen durch eine Lücke zu fallen: zwischen der ukrainischen Vorstellung von Russland als Nationalstaat und dem, was Russland tatsächlich ist. Sie werden sich entweder gezwungen sehen, nach Russland zu gehen, wo niemand auf sie gewartet hat, oder – und das ist wahrscheinlicher – sich damit abfinden müssen, dass die primäre Sprache ihrer Kinder und Enkel Ukrainisch sein wird.

    Wieder einmal müssen Menschen, die auf Russisch sprechen und denken, feststellen, dass sie keine Heimat haben und dass die Bewahrung der eigenen Identität ihre Privatsache ist, mehr noch – ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann und den die Mehrheit nicht braucht. Prorussische Kommentatoren (allen voran ehemalige ukrainische „Regionale“ [Anhänger der Partei der Regionendek]) drohen mit gesellschaftlichen Ausbrüchen und Protesten, doch das klingt nicht sehr überzeugend – die Wahrscheinlichkeit russischsprachigen Protests ist in der Ukraine momentan ziemlich gering. Der Russki Mir ist und bleibt eine Propaganda-Mär, die nur bei politischer Notwendigkeit aus den staubigen Schränken hervorgeholt wird, so wie es vor drei Jahren geschehen ist. Aber die Russen jenseits der russischen Staatsgrenze werden mithilfe eines still und leise verabschiedeten Gesetzes zu unglücklichen Geiseln gemacht.

    Nur ein gewaltiges Мanöver?

    Womöglich ist aber gerade diese demonstrative Geiselhaft als Zeichen der Hoffnung zu sehen. Einer riesigen nationalen Minderheit (zwischen einem Drittel und der Hälfte der Bevölkerung des Landes) ein grundlegendes Menschenrecht zu entziehen, das ist ein allzu gewaltiges, allzu monströses Projekt – und allzu fragwürdig in Bezug auf seine Realisierbarkeit. Es wirkt mehr wie ein Instrument im Gefeilsche mit Russland, und Anlass für solche Händel hat die Ukraine immer genug. 

    Mit diesem gewaltigen Manöver hat Kiew sich neuen Raum für Zugeständnisse geschaffen: Bei den nächsten Verhandlungen in Minsk könnte das Thema der russischen Schulen leicht gegen ein Entgegenkommen von russischer Seite eingetauscht werden. Und vielleicht werden wir dann schon morgen offizielle Stimmen aus Russland hören, die von einem weiteren Triumph des Russki Mir sprechen: Die Ukraine nimmt das Verbot russischsprachiger Schulen zurück, und dafür werden die Grenzen in den Donezker und Luhansker Gebieten wiederhergestellt – so oder so ähnlich.

    Weitere Themen

    Krim

    Gibt es Leben in Donezk?

    Russischer Winter

    Debattenschau № 51: Ukraine bannt russische Internetseiten

    Ein Held ist, wer nicht schießt

    Die verlorene Halbinsel

  • Der Mann, der den Atomkrieg verhinderte

    Der Mann, der den Atomkrieg verhinderte

    Stanislaw Petrow starb bereits im Mai 2017 nahe Moskau. Erst im September wurde sein Tod zufällig bekannt. Stanislaw Wer?

    Als eines der ersten Medien überhaupt berichtete die deutsche WAZ über seinen Tod, nachdem der Oberhausener Karl Schumacher, der Petrow persönlich kannte, auf seinem Blog darüber geschrieben hatte. Petrows Geschichte ist bis heute kaum bekannt, dabei hatte er während des Kalten Krieges eine folgenschwere Entscheidung getroffen.

    Meduza über den Mann, „der den Atomkrieg verhinderte“.

    Stanislaw Petrow hatte 15 Minuten Zeit, um die richtige Entscheidung zu treffen / Foto © Screenshot Movie Clips Film Festivals & Indie Films/YouTube

    Die Nacht zum 26. September 1983, Geheim-Einheit Serpuchow-15, unweit von Moskau. Stanislaw Petrow ist verantwortlicher Diensthabender auf dem Befehlsstand des Raketen-Frühwarnsystems. Um 0:15 Uhr gibt der Computer das von den sowjetischen Militärs am meisten gefürchtete Signal: Von US-amerikanischem Gebiet ist eine ballistische Rakete abgeschossen worden, Ziel ist die UdSSR. 
    Laut Anweisung hätte Petrow der Führung umgehend Meldung davon machen müssen, um den Befehl für einen Gegenschuss zu erhalten – doch das tat er nicht. 

    „Das System zeigte an, dass die Information höchst zuverlässig ist“, erinnert sich Petrow in einem seiner Interviews. „An der Wand leuchteten große rote Buchstaben: START. Also war die Rakete ganz sicher losgeflogen. Ich schaute auf meinen Aktionsplan. Einige waren von ihren Plätzen aufgesprungen. Ich erhob die Stimme, befahl allen, umgehend ihre Plätze einzunehmen. Das musste alles nachgeprüft werden. Es war unmöglich, dass tatsächlich eine Rakete mit Sprengköpfen …“

    Das System meldet einen US-Raketenangriff

    Vom Moment des feindlichen Raktenabschusses an bis zur Entscheidung über einen Gegenschlag hatte die sowjetische Führung nicht mehr als 28 Minuten Zeit. Petrow selbst hatte 15 Minuten, um die richtige Entscheidung zu treffen. Er bezweifelte, dass die USA sich zu einem Atomschlag gegen die Sowjetunion entschieden hatten. Er wie auch die anderen Offiziere waren instruiert, dass, im Falle eines echten Angriffs, Raketen von mehreren Basen gestartet werden müssten. Petrow meldete über die Hochsicherheitsleitung, dass der Computer eine Störung hätte. Untersuchungen ergaben später, dass die sowjetischen Sensoren von Wolken reflektierte Sonnenstrahlen als amerikanischen Raketenabschuss gewertet hatten.

    Petrow, so erinnerte er sich später, sollte befördert werden, gar einen Orden bekommen, doch stattdessen bekam er einen Verweis – sein Dienstprotokoll war nicht vollständig. 
    1984 trat Petrow außer Dienst und ließ sich mit seiner Familie in Frjasino bei Moskau nieder. Bis 1993 war der Vorfall von Serpuchow-15 ein Staatsgeheimnis; von dem Dienst an diesem Tag wusste nicht einmal seine Frau.

    Im September 1998 las Karl Schumacher aus Oberhausen, von Beruf Bestatter und ein politisch aktiver Mensch, eine kleine Zeitungsnotiz in der Bild, in der Petrows Name erwähnt wurde. „Da hieß es: Der Mensch, der einst den Atomkrieg verhindert hat, lebe in einer ärmlichen Wohnung in der Stadt Frjasino, seine Pension reiche nicht zum Leben, und seine Frau sei an Krebs gestorben“, erzählt Schumacher Meduza.

    Schumacher lud Stanislaw Petrow zu sich ein. Er wollte, dass Petrow den Ortsansässigen von jener Episode aus dem Kalten Krieg erzähle. Stanislaw Petrow folgte der Einladung und, dort angekommen, gab er ein Interview in einem lokalen Fernsehsender. Einige Regionalzeitungen berichteten über seinen Besuch.

    „Dem Menschen, der den Atomkrieg verhinderte“

    So erfuhr nach und nach die Welt von Stanislaw Petrows Geschichte. Nach dem Besuch in Oberhausen schrieben Medien weltweit über ihn, darunter Der Spiegel, Die Welt, Die Zeit, CBS, Radio1, die Washington Post und Daily Mail. Am 19. Januar 2006 bekam er im UNO-Hauptquartier eine kleine Kristallskulptur überreicht: eine Hand, die die Weltkugel hält. Darin war der folgende Schriftzug eingraviert: „Dem Menschen, der den Atomkrieg verhinderte.“

    Am 17. Februar 2013 wurde ihm der Dresdner Friedenspreis verliehen, für die Abwendung bewaffneter Konflikte. Der einzige weitere russische Preisträger dieser internationalen Auszeichnung war Michail Gorbatschow im Jahr 2010.

    Im Jahr 2014 erschien der dokumentarische Spielfilm Der Mann, der die Welt rettete. Petrow sagte in einem Interview mit der Komsomolskaja Prawda, Kevin Costner, der darin mitgespielt hat, habe ihm, Petrow, 500 Dollar überwiesen und sich bei ihm bedankt, dass er die Raketen mit Atomsprengköpfen nicht gestartet hatte. 

    500 Dollar und ein Dank von Kevin Costner

    In Interviews mit russischen Medien erklärte Petrow, er habe die Welt nicht gerettet. Das sei einfach ein schwieriger Arbeitsmoment gewesen. So lebte er weiter dort in Frjasino. Ende der 1990er Jahre habe er angefangen auf dem Bau zu arbeiten – als einfacher Wachmann.

    Am 19. Mai 2017 ist Stanislaw Petrow gestorben. Weder russische noch ausländische Medien haben darüber berichtet. Warum – das ist schwer zu sagen. Petrows deutscher Bekannter Karl Schumacher hat zufällig von seinem Tod erfahren. Er rief Petrow jedes Jahr am 7. September an, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Doch diesmal teilte ihm Petrows Sohn mit, dass sein Vater gestorben sei, bereits im Mai.

    „Mich hat seine Geschichte bis tief in die Seele berührt“, sagte Schumacher Meduza. „Ich habe in Westdeutschland gelebt, 35 Jahre lang habe ich die reale Bedrohung des Kalten Krieges gespürt. Ich war sicher, wenn die UdSSR Raketen abfeuert, dann landen die auf meinem Haus. Ich finde, dass Stanislaw den Friedensnobelpreis mehr als jeder andere verdient hat. Ehrlich gesagt habe ich einst ein [Nominierungsverfahren] organisieren wollen. Aber Stanislaw sagte zu mir, wenn er den Nobelpreis bekomme, dann werde er keine einzige Minute mehr Ruhe haben.“

    Weitere Themen

    Wie Russland lernte, die Bombe zu lieben

    Der Krieg ist abgesagt

    „Den Hass haben wir von den deutschen Soldaten gelernt“

    Ein Held ist, wer nicht schießt

    „Nur ein Idiot versteht den Ernst der Lage nicht“

    Siemens in Russland und der Sowjetunion