• Bystro #1: Medien in Russland

    Bystro #1: Medien in Russland

    Bystro #1: Ein schneller Überblick über die russische Medienlandschaft – in sechs Fragen und Antworten. Einfach durchklicken.


    1. 1. Wie steht es um die Pressefreiheit in Russland?

      Russland wird von vielen Politikwissenschaftlern als Autoritarismus beschrieben, also als „eingeschränkter Pluralismus“. Zum Meinungspluralismus gehört auch die Pressefreiheit. Und auch die ist in Russland eingeschränkt: In internationalen Rankings, wie dem von Reporter ohne Grenzen, landet Russland deswegen meist auf den hinteren Plätzen, derzeit auf Rang 148 von 180.

    2. 2. Welche Medien nutzen die meisten? Und was bedeutet der Ausdruck Zombie-Kiste?

      Das dominierende Medium ist das staatsnahe Fernsehen – vor Print, Online und Radio. Und das ist etwas anderes als das öffentlich-rechtliche bei uns: Es steht allein strukturell unter Kontrolle und Einfluss des Staates – und ist damit das wichtigste Propagandainstrument. Als Sombirowanije (dt. Zombie-sierung) wird der Effekt beschrieben, den diese ständige Manipulation auf den Zuschauer hat. Kritiker nennen den Fernseher sarkastisch Zombie-Kiste. Die größten Sender sind Rossija 1, Perwy Kanal (Erster Kanal) und NTW.

    3. ​3. Gibt es überhaupt unabhängige Medien in Russland?

      Ja, die gibt es. Unabhängiger Journalismus spielt sich vor allem online ab, darf allerdings gewisse „durchgezogene Linien“ nicht überschreiten – dazu gehört auch, dass er sich nur in einer Nische bewegen darf und eine bestimmte Reichweite nicht übersteigen sollte. Durch die Dominanz des staatlichen und staatsnahen Fernsehens haben es kritische und unabhängige Medien zusätzlich schwer.

    4. 4. Woher weiß ich denn, ob ein Medium unabhängig berichtet?

      Zunächst hilft es, auf die Struktur des Medium zu schauen: Wer ist der Eigentümer? Die Trennlinie zwischen direkter und indirekter Kontrolle ist allerdings nicht immer scharf zu ziehen.
      Außerdem gibt es Selbstzensur auch in (strukturell) unabhängigen Medien – und es finden sich kritische Beiträge in staatsnahen Medien. So unterscheiden sich etwa die Positionen der Moskauer Nesawissimaja Gaseta (dt. Unabhängige Zeitung), die dem Unternehmer Konstantin Remtschukow gehört, meistens nicht von den offiziellen. Der Radiosender Echo Moskwy hingegen, der zur staatsnahen Holding Gazprom-Media gehört, gilt als regierungskritisch.
      Einigen unabhängigen Medien (vor allem in den Regionen) kann man vorwerfen, dass sie zwischen Aktivismus und Journalismus nicht wirklich unterscheiden.

    5. 5. Wie finanzieren sich unabhängige Medien?

      Vor allem durch Abos und Spenden. Die Werbeeinnahmen sinken stetig – auch, weil es sich für Unternehmen geschäftsschädigend auswirken könnte, in kritischen Medien Werbung zu schalten.
      Zudem könnte eine Änderung im Mediengesetz, die im November 2017 von der Duma beschlossen wurde, für unabhängige Medien fatal sein. Denn damit ist es nun möglich, Medien mit dem Status des „ausländischen Agenten“ zu stigmatisieren. Dieses Label bekommen zivilgesellschaftliche Organisationen bereits seit 2012, etwa, wenn sie Geld aus dem Ausland erhalten. Ein Medium kann nun im Grunde zum „Agenten“ erklärt werden, wenn seine Abo- oder Spendeneinnahmen aus dem Ausland kommen. Noch dazu können Websites von „ausländischen Agenten“ unter Umständen ohne Gerichtsbeschluss blockiert werden.
      Ob und gegen wie viele Medien dieses Gesetz dann zum Einsatz kommt, weiß keiner. Aber allein dadurch, dass es existiert und diskutiert wird, kann es abschreckend wirken und die Selbstzensur (s. o.) verstärken.

    6. 6. Wie sieht das Deutschlandbild in russischen Medien aus?

      Auslandskorrespondenten in Deutschland können sich nur russische Staatsmedien leisten. Den Westen als Feind und Bedrohung zu stilisieren, ist Hauptthema in der offiziellen Rhetorik nach innen – ein Thema, das diese Medien gerne variieren (berühmtestes Beispiel in Deutschland ist der „Fall Lisa“).
      Unabhängige russische Medien bringen hauptsächlich Agenturmeldungen. Oder ein Experte schreibt seine Analyse vom Schreibtisch in Russland aus. Alltagsreportagen von vor Ort gibt es kaum, manche Themen werden gar nicht erst aufgegriffen.



    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.



    Text: dekoder-Redaktion
    Stand: 14.02.2018

    Diese Veröffentlichung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Tanz der freien Bürger

    Tanz der freien Bürger

    In Unterhosen, sonst gerade mal mit Pilotenmütze, einer Krawatte oder Hosenträgern bekleidet – so lassen die Pilotenschüler aus Uljanowsk die Hüften kreisen, zu den Klängen von Satisfaction des italienisches DJs Benny Benassis. Das Video stellten die Kadetten im Netzwerk Vkontakte ein. Was sie sicher nicht ahnten: Ihre Parodie auf das Musikvideo Satisfaction ging viral.

    Ähnliches hatten britische Soldaten bereits 2013 gemacht. Doch in Russland löste das Video einen Sturm der Entrüstung aus, Politiker, Medienschaffende, alle mischten sich ein: Sergej Krasnow, Rektor der Hochschule für zivile Luftfahrt in Uljanowsk, drohte zunächst gar, die beteiligten Kadetten (deren Gesichter man im Video nur schwer erkennt) von der Schule zu schmeißen. Von einer „Schande“ sprachen manche, andere stuften die Aktion als „pervers“ ein.

    Doch mit der Empörung kam auch eine Welle der Solidarität: Das Katastrophenschutzministerium, die russischen Biathletinnen, Rentnerinnen aus St. Petersburg … es ist eine lange Liste von Namen, die sich am virtuellen Flashmob beteiligten und ebenfalls Satisfaction-Parodien ins Netz stellten, die mitunter ebenfalls viral gingen.

    Warum ein harmloses Vergnügen von Jugendlichen dem Staat Angst macht, das analysiert Andrej Archangelski auf The Insider.


     

     


    Pilotenschüler aus Uljanowsk lassen zu Satisfaction die Hüften kreisen – das Video ging viral

    Die vorliegende Geschichte hat mich als Autor rund eine halbe Stunde Recherche im Netz gekostet – für einen Journalisten ein ganz gewöhnlicher Aufwand. Doch diesen Aufwand muss, wie es aussieht, mittlerweile jeder Mensch leisten. Das Internet ist eine Parallelwelt, außerdem ist es eine Welt der Postmoderne – und um die Zitate, Parodien und Parodien der Parodien dieser neuen Welt zu verstehen, muss man ihre Sprache lernen.

    Es ist allerdings nur schwer vorstellbar, dass die folgenden Personen sich die Mühe gemacht haben zu recherchieren: 1) Sergej Krasnow, Rektor der Hochschule für zivile Luftfahrt. Er verglich die Studenten mit „Pussy Riot, die in der Kathedrale ihren Spott getrieben hatten“ und versicherte, dass „diese jungen Männer keinen Platz in der zivilen Luftfahrt finden werden“, erst recht diejenigen nicht, die „Fünfen haben und im Rückstand sind“. 2) Andrej Beljakow, der stellvertretende Vorsitzende der Rosawiazija [Föderale Agentur für Lufttransport dek], der die Prüfung des Instituts eingeleitet hat. Seine Behörde sprach im Zusammenhang mit dem Ereignis von „empörenden Filmaufnahmen“, einem „hässlichen Vorfall“, „frivolen Tänzen“ und einer „Beleidigung aller Mitarbeiter der zivilen Luftfahrt“. 3) Sergej Morosow, Gouverneur der Region Uljanowsk. Er stufte das Ganze als „äußerst pervers“ ein und sandte eine weitere Kommission in die Hochschule; er hatte befunden, das Video beleidige nicht nur die Region, sondern auch die Veteranen.

    Das Fernsehen spricht von „schwulem Feuerchen“

    Es ist nicht mal sicher, dass jene diesen Rechercheaufwand betrieben haben, die den Tanz zu einem Ereignis von nationaler Bedeutung aufbauschten – die Mitarbeiter des staatlichen Senders Rossija 24, wo das Video als „schwules Feuerchen“ bezeichnet und wo behauptet wurde, die „Jungsparty in Lack und Leder“ habe mit der Exmatrikulation aller geendet, die mit Vorliebe andere Körperteile in die Kamera strecken als ihre winkende Hand. Was die Exmatrikulation betrifft, war der Sender zum Glück etwas voreilig.

    Der Satz „Das Video sorgte bei den Nutzern der Sozialen Netzwerke für Empörung“ ist ein Paradebeispiel für Propaganda. Diese Floskel wird später sicher mal im Unterricht beim Thema „Geschichte der russischen Propaganda“ durchgenommen. Wenn die Propaganda Präsident Poroschenko oder die Regierungschefs Frankreichs, Deutschlands, der USA oder anderer Feinde Russlands verspotten will und keinen triftigen Grund dazu hat, hält die „Meinung der Nutzer Sozialer Medien“ als Informationsquelle her. Es ist ein Versuch im Namen einer nicht existenten sozialen Gruppe zu sprechen, die nicht einmal gemeinsame Merkmale aufweist. Dieser „Empörung der Nutzer Sozialer Netzwerke“ liegt eine Sowjetformel zugrunde, die so alt ist wie die Welt: „Empörung des arbeitenden Volkes“. Unter Bezugnahme darauf war beispielsweise 1937 möglich.

    Doch mir geht es nicht um die banale Tatsache, dass es überhaupt keine einheitliche „Meinung der Netzwerke“ geben kann. Sondern darum, dass jedes unschuldige virtuelle Ereignis in Russland erschreckende reale Konsequenzen nach sich zieht und Anlass für alle erdenklichen Kontrollen, Kommissionen und Exmatrikulationen bietet – und das noch im besten Fall.

    Eine Kluft zwischen den Generationen

    Am meisten verblüfft natürlich die gesellschaftliche Kluft zwischen zwei Generationen, die, wie man meinen könnte, gar nicht so weit auseinanderliegen: den 17-jährigen Studenten und den 30-,40-, und 50-jährigen Leitungspersonen. Da prallen zwei Welten aufeinander, die in unterschiedlichen Dimensionen existieren und einander absolut nicht verstehen.

    Auf der einen Seite ist da die Satisfaction-Welt, eine Welt sich kreuzender Parodien und Zitate mit all ihren ästhetischen Kontexten und Subtexten; auf der anderen die Welt der Kommissionen, Behörden und verletzten Gefühle. Das ist ein echter Konflikt zwischen Moderne und Archaismus, ein Konflikt der Kulturen – zwischen der Welt der Freiheit und des Drills.

     

     


    Am virtuellen Flashmob beteiligten sich auch die russischen Biathletinnen

    Wenn staatliche Kommissionen extra losfahren, um einen Tanz junger Männer zu untersuchen (!), dann sieht das Ganze selbst wie eine noch bösere Parodie des Musikvideos Satisfaction aus.

    Was hat ein staatlicher Sender – und somit auch der Staat – mit dieser Geschichte am Hut?

    Regierungsfreundliche Sender benutzen solche Dinge gern für Verallgemeinerungen wie: „Wir haben die Jugend nicht im Griff“ sowie für obligatorische Aufrufe, „zu bewährten sowjetischen Erziehungsmethoden zurückzukehren“, denn „damals hätte es so etwas nicht gegeben“. Letzten Endes liegt der Schluss nahe, dass all diese Skandale aus dem Nichts wohl nötig sind, um Emotionen anzuheizen mit dem Ziel, die Gesellschaft  durch „abschreckende Beispiele“ zu einen und so eine neue Verhaltensnorm für alle zu etablieren.

    Jedes Mal, wenn sich die Propagandisten auf ein Thema stürzen, das angeblich alle Gemüter erhitzt, müssen sie feststellen, dass sich überhaupt kein Konsens schaffen lässt

    Das Verblüffende daran: Jedes Mal, wenn sich die Propagandisten auf ein Thema stürzen, das angeblich alle Gemüter erhitzt, müssen sie feststellen, dass sich überhaupt kein Konsens bezüglich Verhaltensnormen schaffen lässt, nicht einmal bei echt skandalträchtigen Fällen. Also müssen sie vom Gas gehen und etwas Versöhnliches sagen. Jeder dieser Versuche endet in der Sackgasse, zugegebenermaßen dann, wenn das Publikum – so loyal es auch sein mag – seine Meinung einigermaßen frei äußern kann. Denn es kann keine „einheitliche Anstandsnorm“ in einem Land geben, dass formal immer noch ein demokratischer Staat ist. Es wird auch keine gesamtgesellschaftliche Verurteilung nach sowjetischem Vorbild geben, denn die Sowjetzeit ist nun mal vorbei, das Land ist kein einheitlicher Körper mehr, der sich synchron zum Staat bewegt und atmet.

    Im Grunde genommen sind all diese Versuche, den Tanz zu verurteilen, ein unbewusstes Aufbegehren gegen das Selbst, gegen Individualität. Versuche, den Menschen zu verbieten, sie selbst zu sein und das zu haben, was man Persönlichkeit nennt. Im weitesten Sinne betrifft das jede kollektive oder individuelle Feier – sei es der Sieg, der Schulabschluss oder einfach der Spaß an der Freude. Im Jahr 2016 waren zwei Gruppen solchen Angriffen ausgesetzt: Die Absolventen der Akademie des Föderalen Sicherheitsdienstes, die einen Autokorso in Geländewagen veranstalteten, und die Fußballspieler der russischen Nationalmannschaft, die ungeachtet ihrer Niederlage Sekt tranken und draußen in der Natur Spaß hatten. Auch an diesen beiden Fällen war nichts Kriminelles, und auch hier gab es keine Argumente außer der „Ehre der Uniform“.

    „Ehre der Uniform“: Menschen als Staatseigentum

    Hinter all den Versuchen, einen universellen Anlass zur Empörung zu finden, steht nur eines: eine archaische, nicht einmal sowjetische, sondern imperiale Vorstellung von allen Menschen, die wie auch immer, Hauptsache irgendwie, mit dem Staat in Verbindung stehen, als Soldaten, Hörige, Knechte, Leibeigene. Als Menschen ohne Persönlichkeitsrechte und somit ohne Recht auf Ausdruck ihrer Individualität. Dann wird davon ausgegangen, dass jeder, der eine Uniform anlegt, a priori Staatseigentum ist. Wenn er also tanzt, dann nur kollektiv und authentisch volkstümlich.

    Die Tatsache, dass sogar angehende Piloten und Offiziere ein Privatleben, Hobbies und allgemein Spaß haben, jenseits ihrer Staatspflicht, geht den Bewachern im Fernsehen, die sich selbst als Staatsdiener begreifen, schwer gegen den Strich. Dabei sind die angehenden Piloten einfach nur jung. Sie haben dieselben Interessen wie ihre Altersgenossen weltweit, wie der Flashmob zu ihrer Unterstützung beweist. Darin liegt kein Widerspruch mehr: Auch wenn du im öffentlichen Dienst arbeitest, hast du ein Recht auf Privatleben, dieses Recht ist durch die Verfassung verbürgt.

    Wenn er also tanzt, dann nur kollektiv

    Genau das ruft bei den Hütern der staatlichen Moral unkontrollierbaren Zorn hervor. So handelt es sich also jedes Mal um einen Angriff gegen die Individualität und im weitesten Sinne gegen die Persönlichkeit. Der Staat möchte nicht, dass Menschen zu Persönlichkeiten werden, er reagiert energisch auf jeden solchen Versuch, doch er findet keine hinreichenden Argumente für ein Verbot. Diese Inkongruenz zwischen den erklärten fundamentalen Werten und dem praktischen Leben ist Russlands Hauptproblem.

     

     


    Auch Petersburger Rentnerinnen parodieren Satisfaction

    Auch im 27. Jahr des Bestehens eines formal demokratischen Staates sind die demokratischen Lebensnormen nicht in eine zugängliche, allen verständliche Sprache übersetzt. Ein Rädchen der totalitären Gesellschaft hat nur ein Recht auf Leben, wenn es jederzeit bereit ist, fürs Vaterland zu sterben. In einer Demokratie ist es erlaubt, für sein eigenes, individuelles Glück zu leben – das scheint sehr einfach. Solange ein Mensch sein individuelles Glück sucht, ohne gegen die Gesetze zu verstoßen, hat niemand das Recht ihn daran zu hindern. Im Grunde ist das auch die normale nationale Idee: für sein eigenes Glück zu leben. Würde dieses Konzept als legitim anerkannt und laut ausgesprochen, würde es auch zum nationalen Konsens und zum perfekten Mittel, um derartige Konflikte zu lösen.

    Menschen freuen sich? Haben Spaß? Feiern? Ohne jemandem zu schaden? Das ist ihr gutes Recht. Doch diese simple Idee gilt heutzutage wahrscheinlich auch schon als Beleidigung von Heiligtümern. Der wichtigste offizielle Maßstab für moralisches Verhalten ist nach wie vor die Kriegserfahrung. Aber das Leben in Friedenszeiten sollte sich nicht auf Kriegserfahrung stützen, und sei dieser Krieg noch so gerecht. In Friedenszeiten sollte man nach Gesetzen des Friedens leben, nicht nach denen des Krieges oder Arbeitslagers. Eben dieser Widerspruch führt zu einer Spaltung der Gesellschaft, wo der eine Teil zu Satisfaction tanzt und der andere zu den Worten: Kommission, Behörde, Kontrolle.   

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  • Höllischer Brei

    Höllischer Brei

    In Fellmantel und dicken Filzstiefeln marschiert Putin an den Reportern vorbei. Mantel und Stiefel abgelegt, taucht er anschließend zu feierlichen Gesängen versammelter kirchlicher Würdenträger und vor laufenden Kameras ins eiskalte Wasser des Seligersees, ein Kreuz über der nackten Brust – nicht ohne sich zu bekreuzigen.

    Am 19. Januar feiert die orthodoxe Kirche das Epiphanias-Fest. Das traditionelle Untertauchen im Eiswasser soll dabei an die Taufe Jesu im Jordan erinnern und die Gläubigen von den Sünden reinwaschen. So öffentlichkeitswirksam wie Putin 2018 beging allerdings noch kein russischer Herrscher den orthodoxen Feiertag.

    Dass ausgerechnet der Ex-KGBler die orthodoxen Bräuche pflegt – nicht nur an Epiphanias – verwundert manche. Kurz vor dem Epiphanias-Fest am 19. Januar wurde im staatsnahen Fernsehkanal Rossija 1 außerdem eine Doku über das Kloster Walaam ausgestrahlt. Darin verglich Putin die Mumie Lenins mit Reliquien christlicher Heiliger.

    Andrej Loschak schimpft auf colta.ru darüber, dass die Staatsführung sehr unterschiedliche Ideologien zusammenmische. Mit diesem Sud würde in den nächsten Jahren der Bevölkerung das Hirn durchspült. Das ist Loschaks optimistische Prognose. Er hat auch eine pessimistische.


    Eisbaden am Tag des Epiphanias-Festes – Wladimir Putin pflegt diese Tradition 2018 am Ufer des Seligersees / Foto © kremlin.ru
    Eisbaden am Tag des Epiphanias-Festes – Wladimir Putin pflegt diese Tradition 2018 am Ufer des Seligersees / Foto © kremlin.ru

    Putin hat die Mumie Lenins mit christlichen Heiligtümern verglichen. Der Vergleich eines blutbefleckten Atheisten mit Märtyrern spiegelt wunderbar die ideologischen Prozesse wider, die in der Staatsführung vor sich gehen. Anders gesagt, er zeigt anschaulich, was für ein höllischer Brei sich da in den Köpfen zusammenbraut.

    Höllischer Brei in den Köpfen

    Ich kenne keine Kreml-Insider, aber wenn ich die Stimmungen in den oberen Rängen mitkriegen möchte, stöbere ich manchmal einfach auf der Website meines Kommilitonen aus dem Journalismusstudium. Der war mal ein lieber, freundlicher Typ – jetzt ist er einer der Chef-Reporter von RTR. Für ihn und seinesgleichen ist das Thema Liberale schon lange erledigt. Die sind Müll, Dreck unter den Füßen, ihre bloße Erwähnung schon eklig. Ein paar angewiderte Posts, unter anderem homophobes Gewitzel über Serebrennikow, das ist alles, was der Reporter in den letzten drei, vier Monaten auf Facebook zum Thema „Liberasten“ von sich gab.

    Viel unterhaltsamer und emotionaler ist der Streit, den  er – der überzeugte Stalinist und sowjetische Revanchist – mit orthodoxen Monarchisten führt. Sogar beim Sender Spas war er dafür. Die Monarchisten regten sich über die Verbrechen des Sowjetregimes auf (schimpften nebenbei natürlich auf den Westen und die Liberalen), und der stalinistische Reporter empörte sich ernsthaft über die „schleichende Ent-Sowjetisierung, bei der die orthodoxe Kirche aus irgendeinem Grund mitmacht“.

    Wenn man sich die Polemik auf Spas ansieht, wird einem klar, dass Russland in den nächsten sechs Jahren genau von diesem verkrampften Ringen der Stalinisten und Monarchisten  bestimmt sein wird. Aus dem für das 21. Jahrhundert lächerlichen Streit zweier überholter Ideologien will die Staatsmacht neue Klammern generieren. Prozessionen von Verkehrspolizisten, Segnungen von Trägerraketen (die dann abstürzen), neue Stalin-Denkmäler im ganzen Land und Verbote, Verbote, Verbote – so ungefähr wird die Zukunft Russlands aussehen. Mit der Zukunft der restlichen Menschheit wird das nichts zu tun haben – das größte Land der Welt hat einfach nur wieder mal beschlossen, einen Sonderweg zu gehen. Den Preis solcher Alleingänge kennen wir gut aus der Geschichte, aber mit sadomasochistischer Sturheit schlagen wir uns immer wieder am selben Rechen den Schädel an.

    Segnungen von Trägerraketen (die dann abstürzen), neue Stalin-Denkmäler und Verbote, Verbote, Verbote – so ungefähr wird die Zukunft Russlands aussehen

    Für die Ideologen des Regimes sind all diese Battles von Revanchisten gegen Orthodoxe Balsam für die Seele. Früher gab es eine Religion, die kommunistische, jetzt gibt es zwei – ist doch klasse!

    Interessanterweise nimmt keiner von denen, die sich ständig einen auf den Sowok runterholen (ein erstaunlich passender Ausdruck), je das Wort Kommunismus in den Mund.  Niemand glaubt an ihn oder erwähnt ihn auch nur. „Mit dem Pflug übernommen, mit der Atombombe hinterlassen“ ist das wichtigste Mantra. Sie huldigen dem Sowok gerade als totalitärem Staat und vergessen dabei ganz, für welche Idee dieser gigantische Gulag eigentlich aufgezogen wurde. Denn die ungeheure soziale Ungleichheit, wenn 25 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben, und daneben eine Handvoll Milliardäre (Freunde des Präsidenten) – das ist so ganz und gar nicht kommunistisch. 
     
    Ähnlich ist die Situation mit Putins Orthodoxie. Keiner der Hierarchen und Staatsmänner spricht von der zentralen Botschaft Christi: von Liebe und Vergebung. Das Wort Gottes ist hinter all diesen heiligen Mächten, wundertätigen Ikonen und Kirchenbannern auf pompösen Prozessionen überhaupt irgendwo verloren gegangen. Würde es Jesus einfallen, im gegenwärtigen Russland wiederzukehren, würde ihm hier eindeutig eine Haftstrafe wegen Verletzung religiöser Gefühle blühen wie im Großinquisitor. Weil er andernfalls umgehend all diese fettgesichtigen Popen verjagen würde, die in Kathedralen Handel treiben und gegen die zehn Gebote verstoßen.

    Würde es Jesus einfallen, im gegenwärtigen Russland wiederzukehren, würde ihm hier eindeutig eine Haftstrafe wegen Verletzung religiöser Gefühle blühen

    Die Staatsmacht braucht keine frohe Botschaft, sondern ein weiteres Sicherheitsorgan – ein furchterregendes ideologisches Amt, das Gedankenverbrechen ahndet.

    Als Folge lässt sich eine interessante Metamorphose beobachten: In vielen Köpfen sind Sowjetwichserei und orthodoxer Monarchismus zu einer bizarren Figur verschmolzen; sowas in der Art haben die Nachtwölfe bei ihrem Festival auf der Krim präsentiert: ein sowjetisches Wappen mit einem zaristischen Doppeladler. Die Apotheose: Sjuganow wünscht alles Gute zu Weihnachten – „dem Fest der Zukunft“. Vor unseren Augen entsteht eine rot-orthodoxe Ideologie.    
     
    Der Film Walaam, in dem unter anderem berichtet wird, wie gut die Rotarmisten mit den Kirchendienern umgingen, ist ein Meilenstein auf diesem Weg: „Spirituell, stark, heiter“ – mit diesen Schlagwörtern kündigten kremlfreundliche Websites den Filmstart an. Diese neue Richtung lässt sich mit Besonderheiten in der Biografie und mit persönlichen Vorlieben unseres Präsidenten leicht erklären. Einerseits entstammt er dem KGB, besucht aber andererseits an Feiertagen den Gottesdienst und bekreuzigt sich vor laufender Kamera. Das muss man ja irgendwie vereinen – und so vereinen sie es so gut es geht. Eine Dekonstruktion von Bedeutungen läuft da, eine Verwandlung von für sich genommen starken Ideen in einen postmodernen Trash-Zirkus, das Lieblingswerk von Putins Ideologen. Und mit diesem elenden Sud wird man offenbar in den nächsten Jahren der Bevölkerung das Hirn durchspülen. Das wäre die optimistische Prognose.

    Es passiert eine Verwandlung von für sich genommen starken Ideen in einen postmodernen Trash-Zirkus. Und mit diesem elenden Sud wird man in den nächsten Jahren der Bevölkerung das Hirn durchspülen

    Die pessimistische Prognose ist im Film Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben beschrieben. Wie alle Geächteten von Weltrang greift Putin immer häufiger zur Waffe und fuchtelt damit als einzigem Argument dem verehrten Publikum vor der Nase  herum. Der ganze militaristische Schaum, der nach der Annexion der Krim geschlagen wurde, schien sich im letzten Jahr wieder aufzulösen. Putin wird kaum Lust darauf haben, zur Karikatur eines Bösewichts à la Kim Jong-un zu mutieren, der die Welt mit Atomwaffen terrorisiert; andererseits lässt er sich selbst keine andere Wahl. Der Krieg mit der Ukraine wird schwelen, solange Putin an der Macht ist. Daher werden sich zum Kalaschnikow-Denkmal bestimmt noch andere Symbole dazugesellen, daran besteht kein Zweifel. Aber hoffentlich zumindest keine neuen Kriege. Dann doch lieber den orthodoxen Sowok als Nordkorea.

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  • Stalin: eine aufgezwungene Liebe

    Stalin: eine aufgezwungene Liebe

    Wie ist das zu erklären: Das renommierte Lewada-Institut hatte im vergangenen Jahr nach der herausragendsten Persönlichkeit Russlands gefragt. 38 Prozent der Befragten nannten Stalin, damit landete der einstige Diktator auf Platz 1, vor Puschkin und Putin.

    Die Politologin Ekaterina Schulmann geht auf Inliberty diesen Zahlen nach und damit der Frage: Warum ist Stalin so beliebt? Und sie stellt die Gegenfrage: Ist er das überhaupt?

     


    Schon seit 2002 gibt es in einer Stadt in Dagestan eine Straße namens Stalin-Prospekt. Sie erhielt diesen Namen auf Initiative des Bürgermeisters – und nicht etwa, weil die Bürger gedroht hätten, andernfalls das Rathaus in Brand zu setzen.

    Wenn man die Aktionen, Maßnahmen und Bekundungen anschaut, die sich als Anzeichen einer schleichenden Re-Stalinisierung oder einer Rehabilitierung Stalins deuten lassen, dann zeigt sich: Jeder dieser Fälle ist direkt oder indirekt von staatlicher Seite initiiert. Das sind keine private Initiativen. So werden die Stalin-Denkmäler, die in letzter Zeit auftauchen und deren Anzahl tatsächlich wächst, meist unter der Ägide des jeweiligen KPRF-Ortsverbands errichtet.

    Jeder dieser Fälle ist direkt oder indirekt von staatlicher Seite initiiert. Das sind keine privaten Initiativen

    Im Jahr 2009, in einer anderen politischen Epoche unter Präsident Medwedew, wurden bei der Restaurierung der Moskauer Metrostation Kurskaja folgende Worte der sowjetischen Hymne wiederhergestellt: „Uns erzog Stalin – zu Treue zum Volk“. Das rief Empörung hervor, wobei die Behörden argumentierten, dass das der historischen Wahrheit entspreche, dass lediglich in ursprünglicher Form wiederhergestellt werde, was hier einst gewesen sei.

    Die Moskauer Metro ist seither bekanntlich zu einem mächtigen Instrument der prosowjetischen und stalinistischen Propaganda geworden: Züge mit Stalinportraits oder Aktionen wie solche im Rahmen des Geschichtsfestivals Zeiten und Epochen 2017. Dabei ist klar, dass all das nicht von unten, aus dem Volk, kommt, sondern von der Metro-Administration und dem politischen Management der Stadt Moskau und der Russischen Föderation.

    2015 wurde in einem Holzhäuschen im Dorf Choroschewo ein Stalin-Museum errichtet, unter der Ägide des Kulturministeriums und mit persönlicher Billigung des Kulturministers.

    In den Jahren 2014, 2015 und 2016 gab es in Moskau Kunstausstellungen mit Stalinportraits und Bildern aus der Stalinzeit, die die bolschewistischen Führer verherrlichten. Diese Kulturschätze wurden nicht etwa auf Verlangen des Kunstpublikums oder der Museumsmitarbeiter in der Tretjakow-Galerie gezeigt. Natürlich gibt es durchaus Menschen – und es ist wichtig sich darüber im Klaren zu sein – die aus eigener Initiative eine Stalinbüste auf ihrem Datschengrundstück aufstellen oder sogar bereit sind, für die Wiedererrichtung eines Stalindenkmals zu spenden.

    Natürlich gibt es durchaus Menschen, die aus eigener Initiative eine Stalinbüste auf ihrem Datschengrundstück aufstellen

    Worin besteht denn die Funktion der Staatspropaganda? Indem sie von einer hierarchisch höheren Position aus agiert, etabliert sie von oben eine Norm. Sie sagt dem Publikum, was richtig, was akzeptabel und was überhaupt möglich ist. Sie schafft den Kontext, der den Leuten klarmacht: dass es ungefährlich, wenn nicht gar lobenswert ist, mit einem Stalin-Plakat herumzulaufen. Dass die zahlreichen Schriften zu seiner Rehabilitierung, die in den Buchhandlungen aller russischen Städte ausliegen, nicht als extremistisch eingestuft werden. Dass all das normal ist, dass es nicht strafbar, sondern womöglich unterstützenswert ist.

    Wenn es im Fernsehen und von staatlicher Seite heißt, man solle „niemanden dämonisieren und beide Seiten sehen, den Krieg haben wir ja schließlich gewonnen“, dann ist das ein Signal: Sowohl die, die tatsächlich positive Gefühle damit verbinden als auch die, die bisher keine Gefühle hatten, werden jetzt plötzlich welche haben; die, die bisher keine Meinung hatten, haben jetzt plötzlich eine, denn man hat ihnen gesagt, dass das normal und sogar gut ist.

    Konformismus ist der psychologische Normalfall – das mag man betrüblich finden, dennoch ist es wahr. Es liegt in der Natur des Menschen, sich auf die Seite der Mehrheit zu schlagen und seine Meinung der landläufigen Meinung anzupassen. Deshalb tragen diejenigen, die im Namen des Staates, der allgemein Mächtigen sprechen, besondere Verantwortung. Das Fernsehen wird bei uns nicht als Informationsquelle, nicht als Nachrichtenmedium wahrgenommen, sondern als Stimme der Macht. So und nicht anders nehmen die Menschen es wahr.

    Fernsehen wird bei uns nicht als Informationsquelle wahrgenommen, sondern als Stimme der Macht

    2008 wurde der TV-Wettbewerb Russlands Name durchgeführt: Es ging um die hundert bedeutendsten Russen. Die Idee ging auf den BBC-Wettbewerb Hundred Greatest Britons zurück, doch sie wurde auf landestypische Weise umgesetzt. Die Fernsehzuschauer sollten die hundert bedeutendsten historischen Gestalten wählen. Von denen sollte dann am Schluss ein Sieger übrigbleiben. Damals wurde keine Mühe gescheut und hartnäckig der Eindruck erzeugt, beim Zuschauervotum habe „eigentlich“ Stalin gewonnen. Da das jedoch unerhört gewesen wäre, habe der Erste Kanal am Ergebnis herumgeschraubt und Alexander Newski zum Sieger gemacht.

    Wie ist die Abstimmung damals wohl wirklich gelaufen? Wir haben seither an Erfahrung und Wissen gewonnen und können uns ungefähr vorstellen, wie eine sogenannte Willensbekundung des Volkes vonstatten geht, vor allem im Fernsehen. Doch hier ist das Modell vielleicht erstmals in dieser Deutlichkeit zu beobachten: „Sie wollen ihren Stalin, aber wir, die Machthaber, gehen vorerst noch nicht darauf ein. Wir versuchen noch, sie irgendwie zu besänftigen.“

     

    Blicken wir der Wahrheit ins Auge: Wir haben es hier mit Staatspropaganda zu tun. Der Staat drängt uns eine bestimmte Vorstellung davon auf, was normal und akzeptabel, was gut und rühmlich, was groß und überragend ist. Diese Vorstellungen finden Anklang, weil sie im Namen der Regierung geäußert werden und sich teilweise auf tatsächlich vorhandene Bedürfnisse stützen.

    Wie lassen sich diese Bedürfnisse beschreiben, die die reale Basis von Stalins Popularität darstellen?

    Bestimmte Vorstellungen finden Anklang, weil sie im Namen der Regierung geäußert werden und sich teilweise auf tatsächlich vorhandene Bedürfnisse stützen

    Diese Frage wurde mir erstmals bei einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin gestellt: „Wie kann es sein, dass Stalin im Volk beliebt ist?“

    Wenn man direkt mit dieser Frage konfrontiert wird, beginnt man dieses ganz grundsätzliche Bedürfnis nach einer bestimmten Art von Gerechtigkeit zu verstehen: nach diesem paradoxen, anti-elitären Stalin. Den haben diejenigen im Sinn, die sagen: „Stalin hätte es euch schon gezeigt.“

    Stalin als Geißel der Nomenklatura, als derjenige, der sich mit den Reichen und Mächtigen anlegt und für die einfachen, armen Leute eintritt: Dieses Bild mag ein absurder Mythos sein, es existiert aber. Vielen, die so reden, geht es um die Berufung auf ein strenges Gesetz, strikte Ordnung und Gleichheit, um eine Art ursprünglicher apostolischer Einfachheit.

    Aus Gesprächen mit Taxifahrern zu zitieren, gehört sich vielleicht nicht als Wissenschaftlerin. Aber auch ich habe mir schon anhören müssen, dass Stalin nur einen Mantel und ein Paar Stiefel hatte, während die jetzigen Machthaber in Saus und Braus leben und sich alles mögliche leisten. Dieses anti-elitäre Bedürfnis spielt hier ganz offenbar eine Rolle. Aber allein die Vorstellung, dass es überhaupt möglich, normal und ungefährlich ist, sich auf ihn als Instanz zu berufen, ist durch die staatliche Propagandamaschine gegeben.

    Stalin als derjenige, der für die einfachen, armen Leute eintritt: Dieses Bild mag ein absurder Mythos sein, es existiert aber

    Anhand von Daten können wir überprüfen, inwieweit die jahrzehntelange Arbeit dieser Propagandamaschine erfolgreich war. Eine ganz einfache Frage des Lewada-Zentrums lautet: „Wie ist Ihre persönliche Einstellung zu Stalin?“ Wenn wir uns die Entwicklung der Antworten von 2001 bis 2015 ansehen, gibt es keine Anzeichen für radikale Veränderungen. Man kann nicht sagen, dass der Respekt, die Bewunderung und die Sympathie für Stalin stark zugenommen hätten.

     

     

     


    Quelle 1: Lewada-Zentrum / Quelle 2: Lewada-Zentrum. Falls die Infografiken nicht laden sollten, bitte hier aktualisieren.

     

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

    Zurückgegangen sind Abneigung und Feindseligkeit. Gleichzeitig ist die Anzahl derer, die Stalin gleichgültig gegenüberstehen, stark angestiegen. Das erklärt sich durch das Fortschreiten der Zeit. Stalin ist als historische Gestalt schon sehr stark mythologisiert. Wenn es in einer Wendung, die uns zu Ohren kommt, heißt „Die Großväter haben gekämpft“, so müssen wir uns klarmachen, dass von der Generation der heute 30- bis 40-Jährigen kein einziger Großvater gekämpft hat. Ihre Großväter und Großmütter waren im Krieg Kinder. Für die jetzt tätige Bevölkerung liegt der Krieg sehr, sehr weit in der Vergangenheit. Die Gestalt Stalins ist allmählich ähnlich in den Pantheon entrückt wie andere historische Persönlichkeiten, zum Beispiel Napoleon, bei dessen Namen man eher an eine Torte als an den französischen Kaiser denkt, oder Hitler, der als lustiges Bild-Mem im sozialen Netzwerk VKontakte herumspukt.

     

    Die Gestalt Stalins ist allmählich ähnlich entrückt wie etwa Napoleon, bei dessen Namen man eher an die Torte als an den französischen Kaiser denkt

    Man mag das richtig finden oder nicht, es ist jedenfalls unvermeidlich. Die lebendige historische Erinnerung verschwindet nach und nach. Was bleibt, ist ein symbolisches Feld. Wir sehen also: Es ist schlichtweg nicht wahr, dass das ganze Volk Stalin liebt und dass das Bedürfnis, ihn zu bewundern und zu idealisieren, immer größer wird.

    Wie schätzt die Jugend diese historische Ära ein, die für sie so weit zurückliegt? Bei einer Erhebung im Jahr 2015 wurden russische und amerikanische Studenten gefragt, auf welche historischen Ereignisse in der Geschichte ihres Landes man stolz sein könne und welcher man sich schämen müsse.

     

     


    Quelle: HSE/InLiberty

     

     

     


    Quelle: HSE/InLiberty

     

     

     


    Quelle: HSE/InLiberty

     

     

     


    Quelle: HSE/InLiberty

     

    Die russischen Studenten nannten als wichtigsten Grund zum Stolz den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und als wichtigsten Grund zur Scham die Repressionen unter Stalin. Dieser Zusammenhang macht deutlich, dass jeder Versuch einer völligen Ent-Stalinisierung unweigerlich auf halbem Weg scheitern muss, solange der Name Stalin mit dem Sieg assoziiert wird. Dennoch können wir feststellen, dass der moralische Kompass der jungen Leute im Großen und Ganzen gut funktioniert.

     

    Jeder Versuch einer völligen Ent-Stalinisierung muss unweigerlich auf halbem Weg scheitern, solange der Name Stalin mit dem Sieg assoziiert wird

     

    Schauen wir uns die Frage an, in welcher historischen Epoche das Leben in Russland am besten war.

     

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

     

     

    Da sind die Ergebnisse wirklich interessant. Auffällig ist, dass nach 2014 erheblich weniger Leute in ihrer Antwort die Zeit vor der Revolution 1917 nennen. Ich weiß nicht, woran das liegt, aber der Krim-Konsens hat verblüffenderweise dazu geführt, dass die gute alte Zarenzeit – die dobeszarja, wie es jetzt heißt – an Beliebtheit verloren hat. Die Stalinära wird kaum genannt, und es ist hier auch keine Veränderung festzustellen. Stalin zu verehren ist eine Sache, aber in dieser Epoche leben möchte man lieber nicht.

     

    Die Breshnew-Zeit wird als eher behaglich und ruhig angesehen, aber ihre Beliebtheit nimmt ab. Die Perestroika mag niemand, ebenso wenig die Jelzin-Zeit. Viele wissen nicht, was sie antworten sollen. Und da der zeitliche Abstand zwischen 1994 und 2017 ziemlich groß ist, finden die Leute, dass die Jetztzeit bei dieser kärglichen Auswahl doch eigentlich gar nicht so schlecht aussieht.

    Wie verhält sich die Einstellung zu Stalin und zur Stalinära – beides darf, wie wir gesehen haben, nicht gleichgesetzt werden – zu den allgemeinen sozialpolitischen Ansichten der Menschen? Aufschluss darüber geben Daten aus der Studie Protoparteiliche Gruppierungen in der russischen Gesellschaft in den 2000er und 2010er Jahren. Der Autor der Studie ist Kirill Rogow. Es handelt sich um eine zusammenfassende Auswertung von Meinungsumfragen, die das Lewada-Zentrum seit 18 Jahren durchführt.

    Besonders eng mit der Figur Stalins verbunden ist hier die Frage: „Brauchen wir jemanden, der mit harter Hand regiert?“

     

     

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

     

    Auch hier ist nach 2014 eine sehr seltsame Veränderung zu beobachten, für die es noch keine wissenschaftliche Erklärung gibt. Vielleicht werden wir in fünf oder sieben Jahren sagen, dass sich das Jahr 2014 in Russland ganz anders auf die öffentliche Meinung ausgewirkt hat, als es uns im Fernsehen erzählt wurde. Nach 2014 sagten plötzlich immer mehr Leute, keinesfalls solle die ganze Macht einer einzelnen Person überlassen werden.

    Auch bei der Frage danach, welche Rechte den Russen am wichtigsten sind, ist in den letzten Jahren der rätselhafte, kontraintuitive „Post-Krim“-Effekt zu beobachten. Nach 2014 schätzten die Bürger das Recht auf Information und die Freiheit des Wortes drastisch höher ein. In Bezug auf das Eigentumsrecht dagegen zeigten sie sich etwas ernüchtert.

     


    Quelle: Lewada-Zentrum

     

     

    Aus diesem Diagramm lässt sich beim besten Willen nicht schließen, dass das Volk sich Autoritarismus wünscht und von einer harten Hand träumt.

    Der Gesellschaft wird ein bestimmtes Bild von sich selbst aufgezwungen

    Der Gesellschaft wird also ein bestimmtes Bild von sich selbst aufgezwungen. Was ist der Grund dafür? Warum muss man den Leuten sagen, sie würden von der Wiedereinführung der Todesstrafe träumen, obwohl sie das gar nicht tun?
    Warum erzählt man ihnen, sie seien ein Volk, das am liebsten Stalin wieder zum Leben erwecken würde und sich über Massenrepressionen freue?

    Das Regime befindet sich in einer ziemlich vertrackten Lage: Es will Macht und Ressourcen in den eigenen Händen konzentrieren und an der Macht bleiben. Dabei ist es keine vollwertige Autokratie, es verfügt über keinen entwickelten Repressionsmechanismus, über keine herrschende Ideologie, die es den Leuten aufzwingen kann. Es will sich aber auch nicht den Verfahren demokratischer Machtwechsel unterwerfen.

    Also hält es sich durch ein ganzes Arsenal an ziemlich raffinierten Instrumenten an der Macht. Zum großen Teil sind dies verschiedene Simulationsmodelle und -schemata, die zur Propaganda gehören. Einerseits werden demokratische Institutionen und Prozesse simuliert, wie zum Beispiel Wahlen, ein Mehrparteiensystem oder Medienvielfalt. Und bei all ihrer äußerlichen Vielfalt, sagen die Medien, ein- und dasselbe. Es finden Wahlen statt, aber sie führen nicht zu einem Machtwechsel. Es gibt Parteien, aber keine Opposition.

    Es finden Wahlen statt, aber sie führen nicht zu einem Machtwechsel. Es gibt Parteien, aber keine Opposition

    Andererseits müssen Sie als Machthaber die rhetorischen Instrumente der Autokratie simulieren – also, salopp gesagt, sich im öffentlichen Raum furchterregender geben als Sie sind. Dabei sollten Sie sich nicht als schrecklicher Diktator oder blutrünstiger Tyrann präsentieren, sondern, im Gegenteil, als zivilisierte und zurückhaltende Kraft, die ein rohes Volk mit autoritären Neigungen regiert, das sie immerzu bändigen und dessen Blutrünstigkeit sie dauernd beschwichtigen muss.

    Also müssen Sie ambivalente Botschaften aussenden, à la „Wir sollten Stalin nicht dämonisieren, sondern die Sache besser von verschiedenen Seiten betrachten“. Sie müssen den Eindruck erwecken, dass Sie dem ständigen Druck der Gesellschaft, die Archaisierung, Verschärfung, Feuer und Blut fordert, zugleich nachgeben und widerstehen, und dass es nur Ihrem Widerstand zu verdanken ist, wenn hierzulande noch nicht alle an Laternenmasten aufgeknüpft worden sind. Dabei sind Sie selbst der mächtigste Akteur und haben diesen Wunsch überhaupt erst erzeugt.

    Wozu ist es nötig, dem eigenen Volk einen so schlimmen Ruf anzuhängen? Um zu rechtfertigen, dass Sie permanent seine politischen Rechte einschränken, besonders das Wahlrecht. Wenn die Leute rohe, blutdürstige Barbaren sind, kann man ihnen natürlich nicht erlauben, bei den Wahlen ihre Regierung tatsächlich selbst zu wählen. Mal heißt es, sie würden dann einen „Hitler“ wählen, ein nationalistisches Schreckgespenst, dann wieder, sie würden einen „Stalin“ wählen – ein links-etatistisches Schreckgespenst. Beides wird als Argument benutzt, um das Selbstbestimmungsrecht der Bürger einzuschränken. Genau dafür braucht es die hohen Beliebtheitswerte Stalins.

    Der Gesellschaft werden falsche Vorstellungen von sich selbst eingeimpft, damit die Regierung als einziger Europäer in Russland erscheint. Aber das entspricht längst nicht mehr der gesellschaftlichen Realität.

    Der Gesellschaft werden falsche Vorstellungen von sich selbst eingeimpft, damit die Regierung als einziger Europäer in Russland erscheint

    Unsere Gesellschaft ist komplex, vielschichtig und heterogen. Beim Versuch, eine öffentliche Meinung zu ermitteln, eine gemeinsame Wertebasis der Bewohner Russlands, ergibt sich etwa folgendes Bild: Die russische Gesellschaft teilt die gewöhnlich als „europäisch“ bezeichneten Werte. Sie ist individualistisch, konsumorientiert, in vieler Hinsicht atomisiert, kaum religiös und vorwiegend säkular geprägt. Ihre Toleranz gegenüber staatlicher Gewalt ist recht niedrig – wiederum anders als gemeinhin gesagt wird.

    Die Werte der russischen Gesellschaft werden von Forschern in der Regel als „europäisch, aber schwach“ charakterisiert. Die Russen sind im Großen und Ganzen konformistisch und eher passiv und ihre Bereitschaft, die eigene Meinung zu äußern, ist nicht sehr ausgeprägt. Aber sie sind auch nicht aggressiv oder blutrünstig, und sie streben die Einführung eines autoritären Regimes in Russland weder an noch träumen sie davon.

     

    Um eine solche Gesellschaft mit undemokratischen Mitteln zu regieren, muss man sie natürlich falsch darstellen. Man muss ihnen das Stalinfähnchen in die Köpfe hämmern, um dann mit dem Finger auf sie zu zeigen und zu sagen: „Schaut euch doch an, was das für welche sind.“

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Die 33 letzten Kilometer von Lipakowo

    Die 33 letzten Kilometer von Lipakowo

    Wenn Dörfer schrumpfen, werden auch Bahnlinien kürzer. Makar Tereschin hat für Zapovednik die letzten Kilometer einer gar nicht so alten Schmalspurbahn im Gebiet Archangelsk fotografiert, ehe sie verschwinden – wozu es vielleicht aber gar nie kommt.


    Im Jahr 1947 wurde in Lipakowo ein industrieller Forstbetrieb angesiedelt – in der Produktion arbeiteten ansässige Bewohner, außerdem holte man Gefangene und Verbannte dorthin. Der Bau einer Schmalspurbahn begann. In den 1950er Jahren wuchs das Dorf immer weiter, die Schmalspurbahn führte einige Dutzend Kilometer in den Wald, entlang ihrer Gleise entstanden zwei weitere Dorfsiedlungen.

    Nach dem Zerfall der UdSSR kam die industrielle Forstwirtschaft zum Erliegen, die Gleise wurden demontiert; die Menschen zog es in Städte, wo es mehr Perspektiven gab. Die letzten 33 Kilometer der Bahn haben nur überlebt, weil das der einzige Weg zu zwei Dorfsiedlungen ist, die entlang dieser Gleise entstanden sind.

    Der Zug fährt dreimal die Woche, er befördert Einwohner, Lebensmittel, Sanitäter und den Postboten. Die Lipakowoer Schmalspurbahn (UShD) ist für das Gebiet weiterhin eine Verbindungslinie, die nicht nur für die dortigen Einwohner nützlich ist, sondern auch für die Bevölkerung des nahegelegenen Oneshski Rajons, die zur Holzbeschaffung herkommt.

    Die Lokomotive Baujahr 1986 mit einem Waggon. Sie kommt morgens zum Tanken nach Lipakowo gefahren, aus Sesa, der letzten an den Gleisen gelegenen Dorfsiedlung
    Die Lokomotive Baujahr 1986 mit einem Waggon. Sie kommt morgens zum Tanken nach Lipakowo gefahren, aus Sesa, der letzten an den Gleisen gelegenen Dorfsiedlung

    Schon lange wird über die Umsiedlung der letzten Ortschaften gesprochen, doch Maßnahmen werden keine ergriffen. Eher werden die Bewohner es selbst in die Hand nehmen. Aber vorerst leben die Menschen in den Orten. Und der Zug fährt.

    Gegen 10 Uhr versammeln sich alle im Waggon. Lebensmittel werden eingeladen, und ab geht die Post
    Gegen 10 Uhr versammeln sich alle im Waggon. Lebensmittel werden eingeladen, und ab geht die Post
    Kisten mit Lebensmitteln
    Kisten mit Lebensmitteln
    Auf dem Weg hält der Zug an, um Eisenbahnschwellen abzuladen. Die Gleise verwittern schnell und müssen ständig gewartet werden
    Auf dem Weg hält der Zug an, um Eisenbahnschwellen abzuladen. Die Gleise verwittern schnell und müssen ständig gewartet werden
    Bei Ankunft des Zuges versammelt sich das ganze Dorf, um Post zu holen oder neue Zeitungen oder einfach Brot zu kaufen. Der Laden macht erst bei Ankunft des Zuges auf und schließt nach der letzten Abfahrt
    Bei Ankunft des Zuges versammelt sich das ganze Dorf, um Post zu holen oder neue Zeitungen oder einfach Brot zu kaufen. Der Laden macht erst bei Ankunft des Zuges auf und schließt nach der letzten Abfahrt
    Lushma – die erste Station, an der Lebensmittel und Passagiere den Zug verlassen
    Lushma – die erste Station, an der Lebensmittel und Passagiere den Zug verlassen
    Auch ein Fortbewegungsmittel: Selbstgebaute Motordraisinen, auch Pionerki (dt. „kleine Pionierinnen“) genannt. Sie sind viel gefährlicher als der Zug, eröffnen dem Besitzer dafür jedoch alle Möglichkeiten
    Auch ein Fortbewegungsmittel: Selbstgebaute Motordraisinen, auch Pionerki (dt. „kleine Pionierinnen“) genannt. Sie sind viel gefährlicher als der Zug, eröffnen dem Besitzer dafür jedoch alle Möglichkeiten
    Kabine des Zugführers
    Kabine des Zugführers
    Djadja (dt. „Onkel“) Sascha, der Helfer des Zugführers, erzählt, wie sie einmal über ein altes Funkgerät auf den Kanal von Bewässerungsarbeitern in Kasachstan stießen und sich mit ihnen über das Wetter austauschten
    Djadja (dt. „Onkel“) Sascha, der Helfer des Zugführers, erzählt, wie sie einmal über ein altes Funkgerät auf den Kanal von Bewässerungsarbeitern in Kasachstan stießen und sich mit ihnen über das Wetter austauschten
    Die meisten Häuser in Lushma und Sesa stehen leer. Während des Winters bleiben 20 bis 30 Menschen dort wohnen
    Die meisten Häuser in Lushma und Sesa stehen leer. Während des Winters bleiben 20 bis 30 Menschen dort wohnen
    Natalja, Arbeiterin der Eisenbahn, bei sich zu Hause
    Natalja, Arbeiterin der Eisenbahn, bei sich zu Hause
    Zugführer Pawel
    Zugführer Pawel
    Der Zug erreicht seine letzte Station – Sesa. Das Dorf wird lebendig, wie auch das vorherige. Alle kommen zu den Gleisen, gehen einkaufen, dann verläuft sich die Menschenansammlung, der Zugführer und seine Mannschaft gehen nach Hause Mittagessen
    Der Zug erreicht seine letzte Station – Sesa. Das Dorf wird lebendig, wie auch das vorherige. Alle kommen zu den Gleisen, gehen einkaufen, dann verläuft sich die Menschenansammlung, der Zugführer und seine Mannschaft gehen nach Hause Mittagessen
    Die Mannschaft kehrt nach Lipakowo zurück, sie holen die Einwohner Sesas und Lushmas ab, die morgens aufgebrochen waren, um ihre Erledigungen zu machen
    Die Mannschaft kehrt nach Lipakowo zurück, sie holen die Einwohner Sesas und Lushmas ab, die morgens aufgebrochen waren, um ihre Erledigungen zu machen

    Text und Fotos: Makar Tereschin
    Original: Zapovednik
    Übersetzung: Friederike Meltendorf
    Veröffentlicht am 15.01.2018

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  • „Die Menschen wollen Veränderung“

    „Die Menschen wollen Veränderung“

    Seine politischen Prognosen seien fast so genau wie Wetterberichte, lobte sich einst Waleri Solowei, einer der bekanntesten Politologen Russlands. In der Tat treffen seine Vorhersagen so oft zu, dass der MGIMO-Professor sogar den Spitznamen „politischer Nostradamus“ hat.

    In der Wissenschaft versucht Solowei, demokratische und liberale Positionen mit völkisch-nationalistischen Standpunkten zu vereinen. Über Schwächen und Widersprüche, die jedem Erstsemestler auffallen dürften, geht der Professor mit leichter Hand hinweg. Seine Stärke ist nun mal die politische Prognose – deren hohe Trefferquote vor allem Soloweis Draht zum Kreml zu verdanken sei, so die Einschätzung einiger Beobachter.

    Zum Beginn des Wahljahres resümiert der MGIMO-Professor für die Petersburger Online-Zeitung Fontanka das turbulente 2017 und schaut in seine Glaskugel. Braut sich da etwas zusammen?


    Sein Spitzname ist „politischer Nostradamus“ – Politologe Waleri Solowei / Foto © politdengi.com.ua
    Sein Spitzname ist „politischer Nostradamus“ – Politologe Waleri Solowei / Foto © politdengi.com.ua

    Irina Tumakowa: Waleri Dimitrijewitsch, vor einem Jahr haben Sie vorhergesagt, 2017 würde eine politische Krise ausbrechen, die drei Jahre anhält. Das Jahr ist um. Welche Anzeichen dieser Krise haben Sie beobachtet?

    Waleri Solowei: Vor einem Jahr habe ich gesagt, es würde Bewegung in die Politik kommen, und das ist tatsächlich passiert. Im Herbst war man noch etwas verschlafen, das lag vor allem daran, dass die Opposition nicht in der Lage war, der Gesellschaft ein proaktives Programm vorzulegen und sich politisch zu konsolidieren. Dennoch ist eine deutlich zunehmende Proteststimmung bemerkbar, vor allem auf lokaler Ebene. Sogar laut offizieller Statistik ist die Zahl der Proteste im Vergleich zum Vorjahr um zwei Drittel gestiegen. Sowohl die Regierung als auch regierungsfreundliche Experten sagen, sie würden nach den Präsidentschaftswahlen mit einem neuerlichen drastischen Anstieg rechnen.

    Das ist der erste Punkt, der zweite geht damit einher: Die Wirtschaftskrise in Russland ist nicht vorbei, allen offiziellen Erklärungen zum Trotz. Im November konnten wir regelrecht einen monströsen Einbruch in der industriellen Produktion beobachten, wie es ihn die gesamte Krise hindurch nicht gab.

    Die Wirtschaftskrise ist nicht vorbei

    Das Einkommen der Bevölkerung sinkt schon das vierte Jahr in Folge. Das hatten wir nicht einmal in den 1990er Jahren, mit denen man die derzeitige Stabilität so gern vergleicht. Es gibt auch keinerlei Grund anzunehmen, dass sich die Situation verbessern würde. Bei einem vertraulichen Treffen mit Vertretern der Wirtschaft hat Putin das tatsächlich genauso gesagt: Erwartet nicht, dass sich etwas verbessert, dafür gibt es keinen Grund.

    Bei seiner offiziellen Pressekonferenz hat er doch etwas ganz anderes gesagt. Warum sagt er so etwas bei einem vertraulichen Treffen zu den Wirtschaftsvertretern?

    Wahrscheinlich, weil es nicht besonders förderlich wäre, so etwas zum Auftakt einer Wahlkampagne öffentlich zu verkünden.

    Die Nachfrage nach Veränderung ist größer als die Nachfrage nach Stabilität

    Das dritte Anzeichen einer politischen Krise ist die gesellschaftliche Forderung nach Veränderung. Zum ersten Mal seit 25 oder 26 Jahren ist die Nachfrage nach Veränderung größer als die Nachfrage nach Stabilität. Und zwar in allen soziodemografischen Gruppen. Einschließlich der Jugend und der älteren Generation, darunter auch Menschen im Rentenalter. Zum letzten Mal gab es so etwas 1990/91.

    Offen gestanden sehe ich derzeit nicht die Stimmung von 1990.

    Ja, in dieser Nachfrage überwiegt der Wunsch nach sozioökonomischen Veränderungen. Politische Veränderungen stehen für eine Minderheit an erster Stelle. Aber hier geht es nicht um die spezifische Größe dieser Minderheit, sondern darum, dass sie ein offensives Programm vorlegen und die Gesellschaft dafür gewinnen könnte. So oder so, es gibt den Wunsch nach Veränderung. Und der war in den letzten 25 Jahren noch nie so ausgeprägt wie jetzt.

     


    Quelle: RAN

    Wenn die Soziologen das sehen, warum sieht die Regierung es nicht?

     

    Die Regierung sieht das glasklar. Sie hofft darauf, dass sich die Situation verbessert, sucht einen Weg dahin. Allerdings ohne politische Veränderungen. Das ist die grundsätzliche Einschränkung. Eine weitere besteht in Folgendem: Für Veränderungen müsste man mit dem Westen verhandeln und unsere Regierung will unter gar keinen Umständen Kompromisse eingehen. Aus Sicht des Kreml ist offenbar jeder Kompromiss ein Zeichen von Schwäche.

    Aus Sicht des Kreml ist jeder Kompromiss ein Zeichen von Schwäche

    Außerdem hofft man, dass sich die Situation von selbst verbessert. Und das Wichtigste ist: Im Kreml interpretiert man den Westen so, als sei es sein Ziel, Präsident Putin zu stürzen, sich in unsere Wahlen einzumischen und Unzufriedenheit zu schüren, die dann zu einer Revolution in Russland führt.

    Eine andere Ihrer Prognosen aus dem letzten Jahr war, dass der neue stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Sergej Kirijenko ein gutes Verhältnis zu den Kulturschaffenden aufbauen würde. Und rausgekommen ist „der Fall Serebrennikow“.

    Das hängt aber nicht von Kirijenko ab. Es gibt „das Prinzip der zwei Schlüssel“. Der eine Schlüssel liegt in der Hand des politischen Blocks, der andere in der der Silowiki. Kirijenko hat wohl kaum etwas damit zu tun, was mit Serebrennikow passiert ist. Dem politischen Block gefällt es nicht, was in diesem Bereich passiert. Eine Politik der Einschüchterung der Kulturschaffenden halten sie für kontraproduktiv.

    Und wozu soll es für den Block der Silowiki gut sein, die Kulturschaffenden einzuschüchtern?

    Damit stellen Sie eine Frage, die für russische Intellektuelle typisch ist: „Wozu?“ Die richtige Frage lautet hier aber: „Warum?“ Weil sie nicht anders können. Es gibt eine Liste erklärter Ziele. Man nimmt an, dass die Neutralisierung gewisser Objekte zur Stabilität beiträgt, dass man ihnen eine Lehre erteilen muss. Zu diesen Zielen zählen auch Serebrennikow und die Europäische Universität in St. Petersburg.

    Die Europäische Universität fällt auch in dieses Raster?

    Ja, sie stehen auf ein und derselben Liste. Wie andere auch.

    Was ist mit dem Fall Uljukajew? Muss man hier „Warum fragen? Oder geht ein „Wozu“?

    Hier sind beide Fragen angemessen. Denn neben dem Instinkt, der die Vertreter dieser speziellen Gilde antreibt, gab es natürlich auch ein Ziel: Dimitri Medwedew und seinen Unterstützern einen herben Schlag zu versetzen. Und in dem Augenblick, als Uljukajew verhaftet wurde, war zweifellos die gesamte Regierungsspitze in Angst und Schrecken. Alle warteten darauf, nicht bloß gefeuert, sondern verhaftet zu werden.

    Als Uljukajew verhaftet wurde, war zweifellos die gesamte Regierungsspitze in Angst und Schrecken

    Sagt die Tatsache, dass jemand Medwedew einen Schlag versetzen wollte, etwas über dessen Chancen aus, den Posten des Premiers auch 2018 zu behalten?

    Nein, überhaupt nicht. Denn die Entscheidung darüber, wer den Posten des Premiers bekommt, liegt beim Präsidenten, und der Präsident hat keinerlei Interesse daran, die Silowiki noch weiter zu stärken. Ihm ist klar, dass man ihnen nicht die Kontrolle über die Wirtschaft anvertrauen darf.

    Wie konnte er dann die Sache mit Uljukajew zulassen?

    Aus meiner Sicht war das kein besonders produktiver Schritt. Es wäre vernünftiger gewesen, die Eliten kurz vor der Wahl nicht einzuschüchtern. Doch soweit ich weiß, gibt es ernsthafte Bedenken hinsichtlich ihrer Loyalität. Aber so wie ich mir das vorstelle, entbehren die jeder Grundlage, denn die Eliten halten dem Thron die Treue. Aber man hat sich dazu entschieden, ihnen eine Lektion zu erteilen, zu zeigen, dass man niemanden schont, nicht einmal die eigenen Leute: Fürchtet euch alle!

    Das politische Erwachen, von dem sie anfangs sprachen – wohin ist es gegen Ende des Jahres verschwunden? Was ist damit passiert?

    Im Großen und Ganzen ist es nicht gelungen, das Potenzial zu nutzen. Hätte jemand eine Idee für eine gute politische Kampagne gehabt, hätte man dieses Potenzial ausweiten und massenwirksam werden lassen können. Das war eine strategische Frage. Aber es ist nicht passiert. Eine solche Idee hätte von Nawalny kommen können. Nicht durchs Land gondeln und Korruptionsbeweise sammeln, sondern eine Protestkampagne starten. Aber er hat das nicht gemacht.

    Hat ihm die Kandidatur von Xenia Sobtschak geschadet?

    Selbstverständlich spricht sie einen gewissen Teil von Nawalnys Anhängern an. Das ist eines der Motive, warum sie aufgestellt wurde.

    Sie denken also, dass sie „aufgestellt wurde“ und sich nicht selbst aufgestellt hat?

    Das ist doch kein Geheimnis. Ja, man hat ihr vorgeschlagen, es zu tun. Es ihr empfohlen. Und sie hat diese Empfehlung sehr positiv aufgenommen. Wenn auch nicht sofort, sie hat darüber nachgedacht. Übrigens waren nicht alle in der Präsidialadministration davon begeistert. Es gab einige Leute, die dagegen waren, sie kandidieren zu lassen. Sobtschaks Hauptaufgabe besteht darin, die Wahlen aufregend zu machen. Denn die Wahlen sind so vorhersehbar langweilig, dass die geringe Wahlbeteiligung nun zu einem ernsthaften Problem zu werden droht.

    Sobtschaks Hauptaufgabe besteht darin, die Wahlen aufregend zu machen

    Der zweite Grund ist: Sie soll die Protestkampagne übernehmen. Und sehen Sie nur: Sie ist in diesem Wahlkampf die Figur mit der größten Medienpräsenz, sie hat einen Blankoscheck für die staatlichen Sender bekommen. Damit sie Nawalny aus der Medienlandschaft verdrängt. Obendrein kann man jetzt auch noch den westlichen Medien zeigen: Seht her, wie super und liberal es bei uns zugeht, es gibt vielleicht keinen Nawalny, dafür aber eine Kandidatin, die sogar über die Krim sagt, dass sie nach internationalem Recht zur Ukraine gehöre.

    Nawalny war allerdings auch vorher nicht in der „Medienlandschaft“ der staatlichen Sender vertreten, dafür spricht dort jetzt Sobtschak über Dinge, die die Zuschauer ansonsten nie zu hören bekommen. Außerdem hat sie Nawalny ins Programm „aufgenommen“ – sie spricht offen über ihn. Haben die Initiatoren ihrer Kandidatur bedacht, dass sie so weit gehen könnte?

    Natürlich haben sie das. Wobei es Markierungen gibt, die sie nicht übertreten wird. Das ist ihr sehr bewusst, auch das ist alles genau ausgehandelt worden. Und vergessen Sie nicht: Sie ist die Kandidatin „gegen alle“. Ein Kandidat mit einem negativen Programm ist nicht sonderlich gefährlich.

    Wodurch wird sich Putin ab März 2018 vom jetzigen Putin unterscheiden?

    Ich glaube nicht daran, dass ein Mensch 18 Jahre lang einen Typ verkörpern und sich dann plötzlich ändern kann. Sicher, die Apostelgeschichte beschreibt, wie der sture Saulus zu Paulus wurde. Aber so eine Metamorphose ist derart selten, dass sie es sogar in die Bibel geschafft hat.

    Dafür passieren Metamorphosen in die andere Richtung relativ häufig. Das beunruhigt mich viel mehr.

    Ich glaube nicht, dass uns plötzlich grenzenlose Freiheit geschenkt wird, aber ich glaube auch nicht an Gewalt, Verfolgung und Strafen. Ich denke, die Regierung wird zwischen diesen beiden Polen pendeln. Und so ein Gependel ist für die Regierungsstabilität das allerschlimmste. Es tritt meist ein, wenn die Regierbarkeit abnimmt. Und die Regierbarkeit in Russland nimmt gerade ab, das wissen alle, und einige sagen es sogar laut.

    Ich glaube nicht, dass uns plötzlich grenzenlose Freiheit geschenkt wird, aber ich glaube auch nicht an Gewalt, Verfolgung und Strafen

    Das Land lässt sich auf allen Ebenen schlechter regieren. Es liegt eine signifikante Regierungskrise vor. Sie wurde hervorgerufen durch einen naturgemäßen Verfall, der wiederum eine Folge des Abbaus von Ressourcen und der Krise des vorherigen Regierungsmodells ist. 

    Früher garantierten die Machthaber Loyalität und konnten im Gegenzug Korruption betreiben. Es war genug Geld da, um alle Schandtaten zu verdecken. Sowohl um Olympia auszurichten und um die Sozialleistungen zu erhöhen und um das Militär neu aufzurüsten. Heute ist kein Geld da. Man braucht es dringend, aber kann es nirgends hernehmen. Deswegen werden die fiskalpolitischen Maßnahmen zunehmen und der Steuerdruck auf die Bevölkerung wachsen.

    Und das vor dem Hintergrund der Proteste und der Forderung nach Erneuerung? Ist es nicht gefährlich, das zu tun?

    Was sollen sie sonst tun? Die Regierung braucht Geld. Wie früher Kredite beim Westen aufzunehmen ist nicht mehr möglich. Deswegen wird es eine nahezu Stalinsche Modernisierung geben, allerdings in einer vegetarischen Variante. Man setzt auf die eigenen Kräfte.

    Es wird eine nahezu Stalinsche Modernisierung geben, allerdings in einer vegetarischen Variante

    Die Preise für Benzin, Tabak und Alkohol werden steigen – alles wie immer. Aus Sicht der Regierung verfügt die Bevölkerung über kolossale Geldressourcen: Fast zwei Billionen Rubel [30 Milliarden Euro – dek] liegen unter Kopfkissen. Denn über zwei Drittel der Bevölkerung glauben nicht daran, dass die Krise überstanden ist und bleiben weiterhin auf Sparkurs. Sie geben ihre Groschen nicht aus. Und zumindest einen Teil davon will die Regierung einziehen.

    Und wenn die Menschen ihr Geld behalten wollen?

    Wird man sie zwingen. Sehen Sie nur, wie schnell die Verarmung in Moskau und Petersburg voranschreitet, von der Provinz ganz zu schweigen. Die Menschen bekommen nur mit Mühe das Geld für Lebensmittel zusammen, zu der Qualität der Lebensmittel will ich lieber gar nichts sagen.

    Und wie soll es weitergehen?

    Tja, da steht nur ein großes Fragezeichen. Hier wirkt ein Axiom aus der politischen Soziologie: Die Dynamik der Massen ist nicht vorhersehbar. Die Regierung hofft darauf, dass sie es aussitzen kann, das ist ihre klassische Strategie.

    Und wenn wir ganz weit nach vorn blicken: Wozu werden diese Tendenzen nach 2024 führen, wenn Putin geht?

    Wenn Putin verschwindet, verschwindet auch das „System Putin“. Das heißt ja nicht umsonst so. Es steht und fällt mit Putin. Wenn er verschwindet, wird eine Demontage des Systems einsetzen. Demontage ist noch gelinde ausgedrückt, es wird wohl eher ein Zerfall. Aber bitte keine Übertreibungen, eine Katastrophe wird es auch nicht, Russland bleibt. Aber es wird unweigerlich tiefschürfende Veränderungen geben.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Wörterbuch der wilden 1990er

    Wörterbuch der wilden 1990er

    Lederjacken, Gangs, Sexi-Pepsi, leichte Mädels, Omis, Händler, Sauferei – alles, was heute über die 1990er gerappt wird, begann vor 25 Jahren, genauer: nach dem Erlass über den freien Handel. Er trat im Januar 1992 in Kraft, aber der Handel blühte erst auf, als es wärmer wurde – im Sommer. Sekret Firmy wirft einen Blick zurück in die Zeit.


    Straßenhandel

    Der Handel trieb überall wilde Blüten – monatelang ohne Lohn, wurden die Menschen zu Gewerbetreibenden / Foto © Brian Kelley/flickr.com, 1992
    Der Handel trieb überall wilde Blüten – monatelang ohne Lohn, wurden die Menschen zu Gewerbetreibenden / Foto © Brian Kelley/flickr.com, 1992

    Am 29. Januar 1992 trat der Erlass des Präsidenten Boris Jelzin Über die Freiheit des Handels in Kraft. Er erlaubte sowohl Unternehmern als auch einfachen Bürgern Handel zu treiben, wo es ihnen beliebte: frei Hand, vom Verkaufstisch oder aus dem Fahrzeug heraus, ohne zusätzliche Genehmigung.

    Vor dem Hintergrund, dass zu diesem Zeitpunkt (laut Angaben von Rosstat) bereits über 40.000 Unternehmen die Löhne monatelang nicht auszahlten, wurden Millionen Menschen im ganzen Land zu Gewerbetreibenden. Der Handel spross allüberall wild empor: auf Plätzen und Boulevards, entlang den Straßen, an Haltestellen, in Straßenunterführungen, in Krankenhäusern und Schulen, in Stadien und vor Geschäften.

    Viele Menschen überwanden ihren Stolz und trieben Handel. Zum Mai hin, als die Temperatur auf 10 °C anstieg, tauchten die ersten regulären Märkte auf. Die größten befanden sich anfangs vor den Kaufhäusern GUM und Detski Mir.


    Markt

    „Für den anderthalb-Mann-hohen Marktstand in Lusha benutzten wir damals das Modewort ‚Jammer‘. So hieß auch die beliebteste Damen-Lederjacke.“ / Foto © altyn41/livejournal, 1996
    „Für den anderthalb-Mann-hohen Marktstand in Lusha benutzten wir damals das Modewort ‚Jammer‘. So hieß auch die beliebteste Damen-Lederjacke.“ / Foto © altyn41/livejournal, 1996

    Im Frühjahr 1992 beschloss die Moskauer Stadtregierung den Sportkomplex Lushniki zu privatisieren, um hier einen Markt aufzubauen. Nach Aussage des Stadionleiters Wladimir Aljoschin, stammte diese Idee von Bürgermeister Juri Lushkow.

    Lushniki, im Volksmund Lusha (dt. Pfütze) genannt, entwickelte sich zum größten Einzelhandelsmarkt Russlands. 2002 versuchte man ihn in Brand zu stecken, 2006 kam es zu Anschuldigungen, dass hier mit Fälschungen gehandelt würde, doch offiziell geschlossen wurde er erst im Jahre 2011. Der Tscherkisowoer Markt, oder kurz Tscherkison genannt, wurde zur gleichen Zeit eröffnet, ebenfalls im Jahr 1992, und existierte bis 2009.


    Rentner

    Mit dem Verkauf von Hab und Gut die kärgliche Rente aufstocken – für viele Alltag / Foto © Brian Kelley/flickr.com, 1992
    Mit dem Verkauf von Hab und Gut die kärgliche Rente aufstocken – für viele Alltag / Foto © Brian Kelley/flickr.com, 1992

    Im Mai 1992 wird das Rentengesetz der UdSSR außer Kraft gesetzt, es gelten nun neue Bestimmungen. Laut denen werden die Renten gekürzt (Rentengesetz 90, wie es in den Medien genannt wurde). Für 35 Millionen Rentner wurde der reale Rentensatz um die Hälfte gesenkt, die Renten vieler lagen nun unter dem Existenzminimum. Im Sommer 1992 waren der Großteil der Verkäufer auf den Straßen der Städte Babuschkas.


    Schlangen

    Schlange vor einer Bäckerei, nach Schwarzbrot und Weißbrot / Foto © altyn41/livejournal, 1992
    Schlange vor einer Bäckerei, nach Schwarzbrot und Weißbrot / Foto © altyn41/livejournal, 1992

    Es gab private und staatliche Läden. Während erstere vorwiegend mit Importwaren handelten, vertrieben letztere heimische Produkte für den täglichen Bedarf und zogen gigantische Schlangen an.

    „Für Besucher von auswärts war einkaufen in Moskau ein Ritual“, erinnert sich die Rentnerin Jengelina Tarejewa. „Im Sommer 1992 war im GUM noch mehr los als gewöhnlich. Die Menschen aus den Sowjet-Republiken versuchten ihre sowjetischen Rubel loszuwerden, keiner wusste, wie lange man damit in der Heimat noch würde bezahlen können.

    Auch die Russen erwarteten eine Abwertung des Geldes. Ich wusste nicht, was ich kaufen sollte. Ich machte mir ähnliche Sorgen wie zu Kriegszeiten – und im Krieg habe ich am meisten darunter gelitten, dass es keine Seife gab, vier Jahre lang haben wir keine zu Gesicht bekommen. Deswegen habe ich täglich einige Stücke Seife gekauft. Weil ich drei Monate lang täglich ins GUM ging, waschen wir uns heute immer noch mit Seife von 1992.“


    Alkohol

    Zum Bier ein Trockenfisch, ein echtes Muss – genau wie Kaviar (links auf dem Verkaufstisch) zu Wodka / Foto © Eddi Opp/Kommersant, 1992
    Zum Bier ein Trockenfisch, ein echtes Muss – genau wie Kaviar (links auf dem Verkaufstisch) zu Wodka / Foto © Eddi Opp/Kommersant, 1992

    Im Juni 1992 unterschrieb Jelzin einen Erlass über die Aufhebung des staatlichen Monopols auf den Vertrieb und Handel mit Spirituosen. Wodka wurde überall und rund um die Uhr zugänglich, er wurde sogar im Fernsehen beworben.

    Die staatlichen Standards [GOST Gossudarstwenny Standard], nach denen Alkohol früher hergestellt worden war, wurden nicht mehr eingehalten – durch das Land floss billiger Sprit (der bekannteste davon war Royal). Alkohol wurde zur wichtigsten Importware, der Absatz stieg im Jahr 1992 um das Dreißigfache (nach Angaben Rosstats). Wurden im Jahr 1990 in Russland 5,4 Liter Alkohol pro Person getrunken, so hatte sich diese Zahl bis 1995 verdoppelt. Proportional dazu schoß auch die Zahl der Sterbefälle in die Höhe.


    Preissteigerungen

    Schocktherapie – die Inflationsrate stieg auf 2600 Prozent / Foto © Eddi Opp/Kommersant, 1992
    Schocktherapie – die Inflationsrate stieg auf 2600 Prozent / Foto © Eddi Opp/Kommersant, 1992

    Vor den Gaidarschen Reformen hatten alle Waren feste Preise, die Nachfrage überstieg das Angebot. Im Januar 1992 trat die Anordnung über die Liberalisierung der Preise in Kraft. Zum Ende des Jahres belief sich die Inflationsrate auf 2600 Prozent, die Preise der meisten Waren waren um einige hundert Mal gestiegen. Diese Periode ging unter dem Namen Schock-Therapie in die Geschichte ein.

    Erst im Jahre 1998 fiel die Inflation wieder auf zweistellige Zahlen (83 Prozent betrug sie in diesem Jahr). 1992 lebte mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Dafür ergoss sich zum Sommer hin ein Strom von Waren auf den Markt. Die Epoche des chronischen Warendefizits ging zu Ende.


    Prostituierte

    Prostituierte waren oft besser gekleidet als Angehörige der Nomenklatura / Foto © Kommersant Archiv, 1990er
    Prostituierte waren oft besser gekleidet als Angehörige der Nomenklatura / Foto © Kommersant Archiv, 1990er

    1980 wurde für ausländische Touristen das Hotel Meshdunarodnaja [dt. Hotel International dek] eröffnet. Dort arbeiteten junge Frauen, die Huren oder Edelprostituierte genannt wurden. Einen Paragraphen zur Prostitution gab es im Strafgesetzbuch der Sowjetunion nicht, deswegen belangte man sie wegen Rowdytum, Alkoholmissbrauch und Lärmbelästigung. Ihnen drohten nicht mehr als 15 Tage Haft.

    Die Sex-Arbeiterinnen der 1990er waren besser gekleidet als die Ehefrauen der sowjetischen Nomenklatura. Viele von ihnen hatten Stammkunden, die manche später auch heirateten. Das Schicksal einer solchen jungen Frau wird in dem Film Interdewotschka (dt. Intergirl) beschrieben. Laut Studien der Akademie des Innenministeriums ergaben Befragungen russischer Schülerinnen, dass der Berufszweig der Edel-Prostituierten 1988 in die Top Zehn der begehrtesten Berufe einging. 1992 begann man auf der Straße Zeitschriften mit den Telefonnummern von Sexarbeiterinnen zu verkaufen. Diejenigen, die nicht die ganze Zeitschrift kaufen wollten, konnten sich für fünf Rubel die Bilder anschauen.


    Straßenkinder

    Straßenkinder in St. Petersburg / Foto © Screenshot aus „Die Kinder von St. Petersburg“/ Spiegel TV, 1991
    Straßenkinder in St. Petersburg / Foto © Screenshot aus „Die Kinder von St. Petersburg“/ Spiegel TV, 1991

    Der sprunghafte Anstieg von Alkoholismus und Armut führte zum Auftauchen von obdachlosen Kindern auf den Straßen, was man seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen hatte. Sie versammelten sich in der Gegend um den Kurski Woksal, viele schnüffelten Kleber der Marke Moment. 1992 tauchten erstmals Menschen in Armeeuniformen auf, die um Almosen bettelten. Erst Mitte der 2000еr gelang es der Moskauer Regierung Probleme wie Bettelei und Kinderprostitution in den Griff zu bekommen.


    Währung

    Ansturm auf die Wechselstuben – seit Juni 1992 können auch Privatpersonen Devisengeschäfte machen / Foto © altyn41/livejournal, 1991
    Ansturm auf die Wechselstuben – seit Juni 1992 können auch Privatpersonen Devisengeschäfte machen / Foto © altyn41/livejournal, 1991

    Zu Sowjetzeiten wurde der Umtauschkurs des Dollars durch den Staat festgelegt: Er war überaus schlecht, Privatpersonen konnten keine Devisengeschäfte machen. Diese Regelung wurde im Juli 1992 aufgehoben. Im ganzen Land schossen die Wechselstuben aus dem Boden. In der ersten Zeit waren sie in Kleinbussen stationiert. Als Wachleute arbeiteten zumeist Milizionäre.


    Gangster

    Das organisierte Verbrechen brachte mehr als ein Viertel der russischen Wirtschaft unter seine Kontrolle / Foto © Filmstill aus „Brat“/Mosfilm
    Das organisierte Verbrechen brachte mehr als ein Viertel der russischen Wirtschaft unter seine Kontrolle / Foto © Filmstill aus „Brat“/Mosfilm

    In der Armee gab es für die Soldaten nichts mehr zu essen, humanitäre Hilfe wurde ihnen von den ehemaligen Feinden bereitgestellt – den Amerikanern. Profisportler und Soldaten verloren jegliches Vertrauen in die Zukunft. Mit heller Freude wurden sie von organisierten, kriminellen Banden in ihre Reihen aufgenommen.

    Die Anzahl krimineller Vereinigungen in Russland stieg von 80 im Jahre 1988 auf 6000 im Jahre 1992 an. Kampfübungen von Gangs und Banden wurden teilweise direkt auf militärischen Truppenübungsplätzen durchgeführt. Und als Trainer arbeiteten Menschen, deren ehemalige Schützlinge in internationalen Wettkämpfen Goldmedaillen für die Sowjetunion gewonnen hatten. Bis heute nennt man muskulöse, kräftige Jungs in Verbrecherkreisen „Sportsmänner“. Das organisierte Verbrechen brachte mehr als ein Viertel der russischen Wirtschaft unter seine Kontrolle.


    Privatisierung

    Herrenanzug oder drei bis vier Flaschen Wodka – der Wertverfall der Voucher war enorm / Foto © altyn41/livejournal, 1992
    Herrenanzug oder drei bis vier Flaschen Wodka – der Wertverfall der Voucher war enorm / Foto © altyn41/livejournal, 1992

    Im August 1992 erging eine Anordnung über Privatisierungscoupons. Wenn bis dahin alles Eigentum dem Staat gehört hatte, konnten es nun die Bürger erlangen. Die Menschen erhielten massenweise Voucher. Aber die meisten verkauften sie sofort. Deswegen fiel ihr Wert unter den Nennbetrag, die größten Betriebe wurden zu Spottpreisen verkauft.

    Wenn man bis zum Herbst 1992 durch den Verkauf eines Vouchers einen Herrenanzug mittlerer Preisklasse erwerben konnte, glich sein Marktwert gegen Ende des Jahres 1993 dem von drei bis vier Flaschen Wodka.

    Jene, die bereit waren, etwas zu riskieren, stückelten sich durch das Kaufen und Weiterverkaufen ganzer Bündel von Vouchern ihr erstes Vermögen zusammen.


    Pepsi

    Generation P – eine ganze Generation trank Pepsi / Foto © altyn41/livejournal, 1991
    Generation P – eine ganze Generation trank Pepsi / Foto © altyn41/livejournal, 1991

    Die wohl auffälligste Ware auf den Straßen des sommerlichen Moskau im Jahr 1992 war Pepsi. Schon 1974 war ein Abfüllwerk von Pepsi-Cola in Betrieb genommen worden. 1990 schloss die Firma einen Vertrag mit der Führung der Sowjetunion über den Bau von 26 weiteren Fabriken ab.

    Im selben Jahr 1992 beschließt auch Coca-Cola ein Werk in der Sowjetunion zu errichten. Es wird jedoch erst im Jahre 1994 in Betrieb genommen. Deswegen nennt der Schriftsteller Viktor Pelewin die Jugend dieser Epoche denn auch Generation P und nicht „Generation C“.


    Türkische Jacken und Lammfellmäntel

    Schwarze Ledejacken waren der letzte Schrei / Foto © Filmstill aus „Brat“/Mosfilm
    Schwarze Ledejacken waren der letzte Schrei / Foto © Filmstill aus „Brat“/Mosfilm

    Der Traum des Durchschnittsbürgers zu Beginn der 1990er war eine schwarze Lederjacke oder ein Lammfellmantel. Sie wurden von fliegenden Händlern aus der Türkei angeliefert. 1992 war das modisch der letzte Schrei.

    „In den Handel kam mein Freund Anton über Bekannte, von denen einer Glyba (dt. Brocken) genannt wurde: Mit Nachnamen hieß er Glybin“, erinnert sich der Journalist Juri Lwow. „Glyba gelang es, durch’s Verkaufen Geld für einen alten Volvo-Pickup zusammenzukratzen. Mit dem fuhr er Ware an, die wir bei Tagesanbruch auf einer metallischen Konstruktion aushängten. Das war auf dem Lushniki-Markt. Den anderthalb-Mann-hohen Stand bezeichneten wir mit unserem damaligen Modewort Beda (dt. Jammer). So hieß auch die beliebteste Damen-Lederjacke. Die und das kürzere Modell mit dem Code-Namen Halb-Jammer trug halb Moskau.“

    Text: Xenia Leonowa
    Übersetzung: Peregrina Walter

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  • Gefühlt Alternativlos

    Gefühlt Alternativlos

    Vergangene Woche, am 6. Dezember, kündigte Wladimir Putin an, was quasi schon jeder wusste, dass er bei der Präsidentschaftswahl 2018 kandidieren wird. Kurz vorher war Russland wegen Dopings von den Olympischen Spielen ausgeschlossen worden. Nachweislich nicht belastete russische Sportler können teilnehmen, allerdings unter neutraler Flagge.

    Für Maxim Trudoljubow ist kein Zufall, dass beide Ereignisse nah beieinander lagen. Das analysiert er auf Republic – und den Umgang des Staates mit der Wahrheit.


    Viele erinnern sich noch an die Zeit, als die Wahrheit noch etwas bedeutete. In den 1980er Jahren konnte eine neue Erkenntnis – eine Publikation, die wenig Bekanntes der Öffentlichkeit zugänglich machte – zum Thema einer landesweiten Diskussion werden. Ähnliches geschieht auch heute noch, aber nur in sehr kleinem Maßstab, sicher nicht mehr im ganzen Land. In den Ereignissen der letzten 30 Jahre offenbaren sich Nervenzusammenbrüche und emotionale Schwankungen im Verhältnis der Gesellschaft zu jener ungreifbaren Wirklichkeit, die sich unter dem erstaunlichen russischen Wort Prawda – „Wahrheit“ – verbirgt.

    Der Umgang des Staates mit der Wahrheit

    Gerade kürzlich war es wieder angebracht, sich das ins Gedächtnis zu rufen, angesichts Olympiade und Doping, und davor zum Beispiel, als das Passagierflugzeug über der Ukraine vom Himmel geholt wurde, und in all den anderen Fällen von aktiver staatlicher Arbeit an den Fakten. Nun, der Umgang des Staates mit der Wahrheit wird wohl auch für die nächsten mindestens sechs Jahre ein aktuelles Thema bleiben, denn der „Chefredakteur“ der Arbeit mit Informationen in der Russischen Föderation hat gerade erklärt, für eine weitere Legislaturperiode zu kandidieren.

    Symbolisch ist der Zeitpunkt, der für die Erklärung der Kandidatur gewählt wurde. Nicht auszuschließen, dass das mit Absicht geschah, um auf diese Weise die aufgeflammte Debatte über den Ausschluss der russischen Staatsdiener vom Sport einzudämmen. Wenn dem so ist, dann wäre das nur ein weiterer manipulativer Zug von tausenden, aus denen die vergangenen 18 Jahre unter Wladimir Putin bestehen und alle noch kommenden bestehen werden.

    Die Entdeckung, dass es so etwas wie PR gibt

    Irgendwo tief vergraben unter all den Ereignissen der letzten zwei Jahrzehnte liegt eine Entdeckung Putins und der Leute in seinem Umfeld. Sie entdeckten, dass es auf der Welt so etwas wie PR gibt, eine Erfindung der gewieften Amerikaner; dass man Informationen auch manipulieren kann, anstatt sie einfach zu unterschlagen und direkte Propaganda zu betreiben, so wie zu Zeiten der UdSSR.

    Jemand, der, sagen wir, 1952 geboren ist, wie eben dieser neue russische Präsidentschaftskandidat zum Beispiel, jemand, der den damaligen ideologischen Kampf unmittelbar miterlebt hat, musste irgendwann zu der Einsicht gelangt sein, dass seine sowjetischen Vorgesetzten alte Idioten waren. Erst haben sie das ausgediente System der Zensur ad absurdum geführt und dann alle Schleusen auf einmal geöffnet. Währenddessen haben die Feinde – langsam, aber stetig – mit den Mitteln von PR, Marketing und Merchandising gearbeitet. Und gesiegt. Man hätte also schlauer sein müssen, PR lernen.

    Der lacht am meisten, der am besten lügt

    Schlauer sein wollten damals vermutlich alle. Der Unterschied bestand darin, was man unter „Schlauheit“ verstand. Der Weg, den die Gesellschaft als Ganzes und einzelne ihrer Mitglieder zurücklegen mussten (vor allem die, die beruflich damit zu tun hatten), war hart. Es war der Weg weg von der Enttäuschung durch die Zensur hin zu einem aufrichtigen Glauben an die Macht der empirischen Wahrheit – und dann hin zu einer neuen Enttäuschung und Erkenntnis: Dass Information zum Gegenstand von Manipulation werden kann. Dass der am meisten lacht, der am besten lügt und daran verdient. Natürlich denken nicht alle so, aber die, die so denken, sind sehr einflussreich.

    Den Weg von der Hoffnung in die Hoffnungslosigkeit beschreibt die Anthropologin Natalia Roudakova, Autorin des Buchs Losing Pravda: Ethics and the Press in Post-Truth Russia in einer jüngst erschienenen Untersuchung zur postsowjetischen Presse folgendermaßen: Zu Zeiten der späten Sowjetunion hätten Journalisten sich als die humanste unter den staatstragenden Stützen gesehen, erklärt Roudakova unter Bezug auf Interviews und das jahrelange Eintauchen in die Journalistenkreise von Nishni Nowgorod. Vor der Perestroika hielt man sich für einen Hort der Humanität in der sowjetischen Welt, für die letzte Hoffnung des kleinen, von der Bürokratie verprellten Mannes.

    Der Weg zum Zynismus

    Während der Perestroika verinnerlichte man eine neue Metapher, die die Rolle der Presse beschrieb – „die vierte Macht“. Journalisten sahen sich als Träger progressiver Werte, als Intellektuelle der Öffentlichkeit, die der Gesellschaft Orientierungspunkte boten. Gegen Ende der 1990er Jahre änderte sich die Leitmetapher wieder – nun war man „das zweitälteste Gewerbe der Welt“. Schon gegen Mitte der 1990er taucht in den Gesprächen immer häufiger das Wort „Verkäuflichkeit“ auf. Und zu Beginn der 2000er war es in Nishni Nowgorod weit verbreitet, Journalismus für „politische Prostitution“ zu halten.

    Im Folgenden entwickelte sich die Stimmung Richtung Zynismus. (Es sei kurz angemerkt, dass ich persönlich mich auch an andere Orientierungspunkte erinnere. Das Gefühl einer vergifteten Atmosphäre in der Medienbranche war Ende der 1990er sicher da. Als die Zeitung Vedomosti 1999 gegründet wurde, wurden nur in Ausnahmefällen Leute mit Arbeitserfahrung aus anderen Medien eingestellt. Dasselbe galt für alle neuen Projekte, die sich auf die Fahne geschrieben hatten, zum Vorbild hoher professioneller Standards zu werden. Für mich persönlich waren die 2000er Jahre und der Anfang der 2010er Jahre eine Zeit der aufrichtigen Wahrheitssuche, allerdings ohne irgendwelche Illusionen oder das Gefühl einer höheren Mission.)

    Der allgegenwärtige Zynismus – das ist eine der Errungenschaften der Regierung Wladimir Putins. Unter ihm einen anderen Zustand der Gesellschaft zu erwarten, ist sinnlos: Putin zu wählen heißt, dasselbe wieder zu wählen, nur in verstärkter Form. Für die Elite ist es ein „Zynismus der Herrschaft“, die Einsicht, dass man zum eigenen materiellen Nutzen alles manipulieren kann, was sich bewegt. Und begrenzt ist diese Herrschaft einzig durch Repressionen, die von anderen ebensolchen Mitspielern organisiert werden.

    Für die Mehrheit der Bürger ist es ein „Zynismus der Benachteiligten“, ein Zynismus der Zurechtgewiesenen, ein Zynismus derer, die die Wahrheit kennen, für die sich dieses Wissen jedoch als bitter erweist. Es ist die Wahrheit von Bediensteten, die hinter dem Rücken der Herren tuscheln. Die Dissidenten der 1980er Jahre lachten über die Lügen der Diktatoren. Putin erinnert sich gut daran und tut deshalb alles dafür, dass in seinem postmodernen Imperium nicht die Lüge das Komischste ist, sondern die Wahrheit.

    Das Gefühl, nichts ändern zu können

    Natürlich ist er nicht uneingeschränkt erfolgreich, und dieser Zustand hat sich in seiner Schwere nicht auf die gesamte Gesellschaft verbreitet: Bei Weitem nicht alle sind zu Zynikern geworden. Es gibt viele Inseln positiven Schaffens, das ohne eine gesunde Portion Idealismus unmöglich wäre. Doch das Gefühl, nichts grundlegend verändern zu können, überwiegt. Wichtig ist, dass es sich nur um eine Wahrnehmung, um ein Gefühl handelt. Es entsteht ganz natürlich aus dem Führungsansatz, den Putin gewählt hat (nicht erfunden) und der auf dem Manipulieren von Information und Ressourcen gründet.

    Der Glaube an die Allmacht von PR und Marketing hat seinen Ursprung irgendwo in den 1990ern. Er gesellt sich in dieser Weltsicht zu dem Unglauben an die Eigenständigkeit der Bürger, an ihre Schaffenskraft. Nicht einmal schnell rennen und Sportrivalen besiegen können sie – sie müssen gedopt werden. Selbstständig Geld verdienen können sie auch nicht – deshalb kann man nur kleine Summen an sie verteilen, das Eigentum ist in den Händen des Staates konzentriert. Und wählen können sie ebenfalls nicht.

    Die Idee der Manipulation widerspricht der Idee des Erschaffens, denn Manipulation ist das bloße Hin- und Herschieben von bereits Vorhandenem. Von den einen nehmen, den anderen geben.

    Die Kehrseite der zum Prinzip erhobenen Manipulation ist der Unglaube an die Fähigkeit der Menschen, ihr eigenes Land zu verändern, seine Entwicklung mitzugestalten, nicht bloß beim Überleben mitzuhelfen. Bewegungsunfähigkeit und existenzielle Skepsis – das ist nicht die offensichtliche, aber die wichtigste Seite von Putin als Politiker.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Die verlorenen Siege

    Rokirowka

    Die Propagandamacher (Teil 1)

    Die Propagandamacher (Teil 2)

    Das Fake-Engagement

    Was kommt nach Putin?

  • Was war da los? #1

    Was war da los? #1

    Foto ©  Ilya Varlamov/zyalt.livejournal.com
    Foto © Ilya Varlamov/zyalt.livejournal.com


    Das Foto ist vom 11. Dezember 2010, aufgenommen auf dem Manegenplatz in Moskau, im Hintergrund sieht man den Kreml. Der Platz wird auch liebevoll Maneshka genannt. Seit dem 11. Dezember 2010 allerdings steht der Begriff Maneshka auch für nationalistische Ausschreitungen.

    An dem Tag sind tausende Menschen auf dem Manegenplatz aufmarschiert. Wenige Tage zuvor war Jegor Swiridow, Fan der Fußballmannschaft Spartak, bei einer Schlägerei mit aus dem Kaukasus stammenden Männern ums Leben gekommen. Nationalisten vermuteten, dass das Verbrechen von der Polizei verheimlicht würde.

    Der Blogger Ilya Varlamov war Augenzeuge am 11. Dezember 2010 auf der Maneshka, von ihm stammt das Foto. Auf Batenka.ru erinnert er sich:


    „Dass sich die Fans auf der Maneshka versammeln wollten, wussten viele, obwohl es zu dieser Zeit solche Zusammenrottungen – speziell im Zentrum von Moskau – noch nicht oft gab. Ich erinnere mich ehrlich gesagt überhaupt nicht, dass es früher unerlaubte Massenaktionen gab. Seinerzeit waren das, was die Opposition, die Nationalisten veranstalteten, eher unvorhersehbare Kleinstereignisse.

    Niemand hatte die Pläne für die Maneshka richtig ernst genommen: Morgens gab es einen Protestmarsch [zum Gedenken an den ermordeten Spartak-Fan Jegor Swiridowdek], Blumen wurden niedergelegt, alles lief recht friedlich und ruhig. Ich erinnere mich, dass ich noch mit Kollegen darüber gesprochen habe, ob es sich überhaupt lohnt, zur Maneshka zu fahren, denn vielleicht würde dort gar nichts passieren. Die Fans hatten morgens ziemlich ruhig und still gewirkt, es schien fast, als würde es keine Bilder geben, keine Geschichten. Aber ich hatte an dem Wochenende nichts vor und bin deshalb mit ein paar Kollegen hingefahren.

    Als wir bei der Maneshka ankamen, sahen wir, dass überhaupt keine Polizei da war, sich aber immer mehr Nationalisten versammelten. Völlig ungezwungen fühlten sie sich: Skandierten wie gewohnt ihre Sprüche „Russland den Russen“ und ähnliches.

    Dieses Bild konkret ist dem Zufall zu verdanken: Dass die Arme, die dort zum Hitlergruß erhoben sind, eine Linie bilden, die auf den Kreml zeigt, ist eine unumgängliche Folge der Architektur des Manegenplatzes. Es gibt dort eine Treppe, die eine Art Amphitheater bildet, auf der die Menschen standen. Als ich das sah, habe ich mich einfach zum höchsten Punkt begeben, den ich finden konnte, und dieses Bild im Weitwinkel aufgenommen.

    Viele der Versammelten trugen schwarze Masken, die die Gesichter vollständig verdeckten – sowas kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Sie zündeten Handfackeln und Rauchkörper. […]

    Irgendwann hatten die versammelten Nationalisten genug vom Rumstehen und Brüllen. Es begann das, was in diesen Kreisen zum Standard gehört: „Kommt, los, wir schlagen jemanden zusammen.“

    Zu allem Unglück kamen gerade in dem Moment diese jungen, dunkelhäutigen Jugendlichen vorbei. Die Menge prügelte sofort auf sie ein, ein paar Journalisten schafften es, die Jungs zu retten. Sie wurden zu einem Rettungswagen geschleppt. Dann kam auch der OMON.

    Und bald hatte die Menschenmenge einen neuen Feind, so wie manchmal nach Fußballspielen. Da wurde dann der Weihnachtsbaum zerlegt, und man kloppte sich mit der Polizei.“

    Autor: Ilya Varlamov
    Übersetzung: dekoder-Team

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    Protestbewegung 2011–2013

    Presseschau № 32: Fußball-Hooligans

    „Russland war Vorreiter dessen, was heute in der Welt passiert“

    Der Traum vom apolitischen Protest

    Spartak Moskau

    „Heimat! Freiheit! Putin!“

  • Editorial: Russland und die EU

    Editorial: Russland und die EU

    Russland und die EU,

    liebe Leser, die beiden hätten auf Facebook wohl den Beziehungsstatus „es ist kompliziert“. Es ist eine Beziehung, die viele beschäftigt. Und bei der oft alte Ängste wieder hochkommen – sodass es manchmal schwierig scheint, sich ein Bild zu machen. Wir haben auf dekoder über die letzten Monate viele interessante Texte veröffentlicht, die das Bild klarer werden lassen.

    Russland und der Westen – da fragt man sich inzwischen: Wer ist er denn, „der Westen“? Die Spaltungen gehen ja schon lange nicht mehr zwischen Ost und West, sie gehen durch einzelne Gesellschaften, ja durch einzelne Gesellschaftsschichten hindurch. Wie gut es das System Putin versteht, diese Spaltungen für sich zu nutzen, davon spricht der Politologe Sergej Medwedew in seinem Essay Exportgut Angst.

    Auch Michail Korostikow beschreibt auf der Seite des Moskauer Carnegie Zentrums, wie leicht es die russische Staatsführung schafft mit Drohgebärden, die eigentlich aus einer Schwäche heraus entstehen, in westlichen Gesellschaften alte Ängste neu zu entfachen. Wobei, wie er schreibt, auch die westliche Medienwelt gern „belanglose Geschichten aufbläht zu echten James-Bond-Comics“.

    In einem Interview mit Colta.ru, das wir übersetzt haben, stellt der Journalist Arkady Ostrovsky angesichts der Orbans, Trumps und Le Pens in der Welt die These auf: „Russland war Vorreiter dessen, was heute in der Welt passiert.“

    Da weltweit auch populistische Bewegungen erstarken, wäre es vor diesem Hintergrund eigentlich naheliegend, Putin als einen Populisten zu begreifen. Dieser Schluss führt aber in die Irre, meinen Grigori Judin und Ilja Matwejew in: Warum Putin kein Populist ist.

    Dennoch schafft Putin es immer wieder, antiwestliche Ressentiments in der russischen Gesellschaft anzuheizen. Russland sei eine vom Westen „belagerte Festung“, der Westen wirke „der Wiedergeburt Russlands als Supermacht entgegen“. Als Lösung dieses Konflikts schlägt Putin eine neue Weltordnung vor. Und holt damit eigentlich nur die verstaubte Breschnew-Doktrin aus der Mottenkiste, meint der Außenpolitik-Experte Wladimir Frolow.

    Gleichwohl gelingt es der russischen Staatsmacht immer wieder, einen Keil zwischen die westlichen Länder zu treiben. Sei es das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 oder die Frage nach Sanktionen gegen Russland: Europäische Politiker zeigen sich immer wieder uneinig. Nicht zu übersehen sind aber auch Versuche, die einzelnen Gesellschaften im Westen zu entzweien: Die Machenschaften der sogenannten Trollfabrik im US-Wahlkampf ist nur eines der Beispiele.

    Über den tatsächlichen Umfang und die praktischen Auswirkungen solcher Versuche gibt es bislang nur Schätzungen. Diese Versuche gibt es aber, und es ist nachvollziehbar, warum die westlichen Länder sich zu Reaktionen genötigt fühlen.

    Dass diese Reaktionen manchmal aber unverhältnismäßig ausfallen, das hat der Fall von Russia Today (RT) gezeigt. Im November 2017 musste sich nämlich dieser russische Auslandssender als ausländischer Agent in den USA registrieren. Die russische Reaktion folgte prompt und wie üblich nach dem Muster „Bomben auf Woronesh“: Die eilig beschlossenen Gegenmaßnahmen haben das Potenzial, die verbliebenen kritischen Medien in Russland noch mehr in die Mangel zu nehmen.

    Wir merken jedenfalls: All diese Fragen machen den dekoder umso wichtiger. Wenn Ihr das ebenfalls meint und unsere Arbeit unterstützen wollt, dann werdet doch Mitglied in unserem dekoder-Klub!

    Wir freuen uns auf Euch,

    Tamina Kutscher (Chefredakteurin) und Anton Himmelspach (Politikredakteur)

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