• Hetzjagd auf eine Rocklegende

    Hetzjagd auf eine Rocklegende

    Auf Andrej Makarewitsch und seine Band Maschina Wremeni – ein Urgestein der russischen Rockmusik – konnten sich jahrzehntelang breite Teile der Bevölkerung einigen. 

    Das änderte sich im Frühjahr 2014, als Makarewitsch – noch vor der Krim-Angliederung und dem Krieg im Donbass – vor einer „entfesselten Propaganda“ und einem möglichen Krieg mit der Ukraine warnte. Beim Friedensmarsch zeigte er sich mit einem Peace-Symbol und einer Schleife in den ukrainischen Nationalfarben. Wenig später hing im Zentrum Moskaus ein riesiges Banner mit der Aufschrift „Die Fünfte Kolonne“ – dazu die Gesichter von Makarewitsch, Juri Schewtschuk, Boris Nemzow, Alexej Nawalny und Ilja Ponomarjow.

    Die Lage spitzte sich weiter zu, als Makarewitsch im August 2014 ein Konzert in der Ukraine gab – in einem dortigen Lager für Geflüchtete aus den umkämpften Donbass-Gebieten. 

    Dem Musiker wurde öffentlich „antirussisches“ Handeln vorgeworfen, Politiker sprachen von „Kooperation mit Faschisten“, in staatsnahen Medien erschienen Beiträge und Sendungen wie 13 Freunde der Junta, die Makarewitsch als Volksverräter darstellten, und das Netz füllte sich mit Hasskommentaren über den Musiker.

    Die Shitstorms gegen Makarewitsch nehmen auch vier Jahre später kein Ende, wie ein aktueller Vorfall zeigt, in den sogar Außenamtssprecherin Maria Sacharowa involviert ist. Diesen kommentiert Oleg Kaschin auf Republic und fordert: Lasst den Klassiker in Ruhe!


    Bevor ihr jemanden vom Dampfer der Modernität werft, denkt an seine Bedeutung für die Kultur unseres Landes – möglicherweise wiegt sie schwerer als die Worte und Taten, für die ihr ihn bestrafen wollt. 

    Natürlich ist es in Zeiten von Harvey Weinstein und Kevin Spacey merkwürdig, das zu sagen. Am nächsten an Weinstein und Spacey dran scheint in unserem Kontext der Abgeordnete Sluzki, doch nein, eine lineare Logik greift hier nicht. Sluzki steht eine Untersuchung in der Staatsduma bevor, aber sonst wohl erstmal nichts; zumindest gibt es bisher keinen Anlass zu sagen, dass alle gegen Sluzki wären. Klar, da sind diese drei Journalistinnen, da sind ein paar ihrer Kollegen, die sogar vor der Duma protestierten oder wie Sergej Dorenko zum Boykott aller Nachrichten mit Sluzki aufriefen.

    Hingegen hat Wjatscheslaw Wolodin bereits Partei für den der Belästigung Beschuldigten ergriffen, und Duma-Kollegen, also Leute, die das Disziplinarverfahren gegen Sluzki durchführen werden, äußern sich nicht negativ über ihn. In diesem Sinne ist er von Weinstein offenbar noch meilenweit entfernt. 

    Weniger davon entfernt ist Andrej Makarewitsch. Der Vergleich mag weit hergeholt erscheinen, aber im Grunde ist es so: Den Platz, den in westlichen Gesellschaften sexuelle Belästigung einnimmt, besetzt bei uns echter oder (öfter) angeblicher Antipatriotismus.

    Die Rolle einer gesellschaftlichen Naturgewalt, die Makarewitsch auf die Unzulässigkeit seiner Worte hinweist, spielen die loyalistische Presse und einige offizielle Personen. Darunter auch Maria Sacharowa vom Außenministerium. Ihren Bemühungen ist es zu verdanken, dass ein beiläufiger Facebook-Kommentar ordentlich eingedampft wurde. Wörtlich hieß es da: „Mir scheint, die staatliche Propaganda hat ein 25. Einzelbild erfunden, das die Menschen wahrhaftig in boshafte Deppen verwandelt“ und daraus wurde dann: „Makarewitsch nannte die Russen boshafte Deppen.“ Ausgerechnet dank jenen, die sich derart ereifern, wurde dieser Satz dermaßen ungeheuerlich und unzumutbar, als hätte Makarewitsch Russland den Krieg erklärt, und nicht nur erklärt, sondern sofort auf Kreml, Christ-Erlöser-Kathedrale und noch auf irgendeinen Kindergarten das Feuer eröffnet.  

    Als Zielscheibe staatlicher und staatsnaher Kritik steht Makarewitsch nicht alleine da – die Propaganda fällt in Russland regelmäßig über Leute her, die etwas gesagt haben, was irgendwie daneben war. Das letzte prominente Beispiel war die „Kraft, Unverschämtheit und Grobheit“ des Schauspielers Alexej Serebrjakow [Hauptdarsteller in Leviathandek]. 

    Aber das Lieblings-Angriffsobjekt ist Makarewitsch, der die Macht der loyalistischen Missbilligung erstmals 2014 zu spüren bekam, als die Hetzjagd auf ihn begann für seinen Auftritt im Frontgebiet im Donbass, das von den ukrainischen Streitkräften kontrolliert wurde. Innerhalb von vier Jahren wurde Makarewitschs Image durch die Bemühungen von kremltreuen Medien und Aktivisten ernsthaft korrigiert – er ist nicht mehr unser Mick Jagger, kein ehrwürdiges Rock-Urgestein, sondern eher ein moderner Galitsch: für die einen Feind und ausgekochter Anti-Sowok, für die anderen, im Gegenteil, das Gewissen der Nation. In jedem Fall aber vor allem eine politische Figur, die vor einer einfachen Entscheidung steht – entweder durchhalten bis zum Zusammenbruch des Regimes, und dann am Tag der Bestattung der russischen „Himmlischen Hundertschaft“ am Roten Platz irgendwas Trauriges singen oder still und heimlich abziehen und seine Bürger-Lyrik einem immer größer werdenden Exilpublikum präsentieren. Klar ist die zweite Variante ungleich wahrscheinlicher und realistischer als die erste, doch eine dritte gibt es offenbar einfach nicht mehr (obwohl es sie ja gerade noch gab – vor nur zehn Jahren sang Makarewitsch bei der Inauguration Dimitri Medwedews und musste sich gegen Angriffe der liberalen Öffentlichkeit verteidigen).

    Es geschieht ein furchtbares Unrecht, wenn das Schicksal eines unbestrittenen Klassikers der heimischen Popmusik formal in die Hände der Jungs von Lenta.ru und der Mädels von NTW gerät. Die Band Maschina Wremeni wird kommenden Frühling fünfzig, mit ihren Songs sind tatsächlich mehrere Generationen aufgewachsen (Nasche obschtscheje detstwo proschlo na odnich bukwarjach/dt. „Wir haben als Kinder alle aus der gleichen Fibel gelernt“). Man kann sie durchaus als einzigartige kulturelle Institution bezeichnen – wenn schon nicht wie das Bolschoi-Theater, so doch mindestens wie das Alexandrow-Ensemble, und eine solche Institution hat in jedem Fall eine sorgsame Behandlung verdient. 

    Tun wir doch nicht so, als würden beiläufige Kommentare auf Facebook tatsächlich jemanden kränken. Das sieht mir eher nach dem Testlauf irgendwelcher Medientechnologien aus, nach der Konstruktion eines Skandals aus dem Nichts, einer Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Gut, offenbar braucht ihr solche Experimente, wie man längst erkennen kann, seid ihr ganz versessen auf Informationskriege. Aber was veranlasst euch, gerade mit diesem Menschen zu experimentieren, einem altehrwürdigen Künstler? Wenn er dadurch einen Herzinfarkt erleidet, wie gut schlaft ihr dann noch, wie lebt ihr dann überhaupt weiter?

    Man kann darüber diskutieren, ob das Fernsehen seine Zuschauer zu boshaften Deppen macht, aber es steht völlig außer Frage, dass konkret Andrej Makarewitsch einen solchen Umgang nicht verdient, und sich ihm gegenüber so zu verhalten, wie seine Ankläger es tun, ist reinste, destillierte Niedertracht. 
    Rein formal ist nicht bekannt, ob diese Niedertracht einen konkreten Autor hat. Sie verteilt sich auf beliebte Online-Publikationen, Boulevardblätter, staatliche Fernsehsender und öffentliche Personen, die es anscheinend nötig haben, Makarewitsch einen Tritt zu versetzen. Aber all diese Medien und all diese Personen eint, dass jeder von ihnen durch einen einzigen Anruf aus dem Kreml zu stoppen wäre.

    Sergej Kirijenko, der 1999 beim Wahlbündnis Union der rechten Kräfte (SPS) die Liste anführte, sollte sich daran erinnern, wie während der Wahlkampfes gerade Maschina Wremeni Konzerte zur Unterstützung der SPS gab und in den TV-Wahlspots sang – wahrscheinlich für Geld, aber Kirijenko hat ja dieses Geld investiert, weil er dachte, gerade die Stimme Makarewitschs (und nicht etwa Kobsons) sei imstande, ihm die Stimmen der Wähler zu bringen.

    Die russische Gesellschaft und vor allem jener Teil, um den es beim Thema Hetze gegen Makarewitsch geht, befindet sich derzeit nicht in einem Zustand, wo man auf ihre Klugheit und Nachsicht zählen könnte. Daher hätte es keinen Sinn, Makarewitschs Äußerung und ihre Unzulässigkeit inhaltlich zu erörtern – die Wahrheit kommt derzeit oft nicht im Disput ans Licht, sondern in direkten Anweisungen.

    So wendet man sich besser direkt an Kirijenko und seine Kollegen: Zeigt Gewissen, gebietet der Jagd auf Makarewitsch Einhalt, und lügt nicht, dass ihr das nicht könnt. 

     

    Das Lied „Marionetten“ aus dem Jahr 1974 war in der Sowjetunion verboten. Erst während der Perestroika wurde es auf der Compilation „Zehn Jahre später“ veröffentlicht

     


     


    Ende Februar 2014 , direkt nach den Ereignissen auf dem Maidan und noch vor der Angliederung der Krim, äußerte sich Andrej Makarewitsch in einer Kolumne, die auf Snob erschien. Diese Äußerungen bilden den Anfang der Demontage, der der Frontmann der Gruppe Maschina Wremeni laut Oleg Kaschin bis heute ausgesetzt ist und die im obigen Text kommentiert wird.

    Deutsch

    Über die Widerwärtigkeit

    Ich mache mir Sorgen ob der Ereignisse in der Ukraine. Aber noch mehr Sorgen bereitet mir das, was in diesem Zusammenhang bei uns geschieht. Ich habe schon Eindruck, dass unsere Staatsmacht denkt: Das Land, das Volk – das sind die, die regieren. Wenn ein Herrscher jedoch nicht auf sein Volk hört und er ihm darüber hinaus Gewalt antut, so wird das Volk ihn wegfegen. Insofern hat in der Ukraine eine ganz typische Revolution stattgefunden. Und bei all meiner Abscheu gegenüber Revolutionen, kann ich sie nicht als ungerechtfertigt bezeichnen. Jetzt kann man, soviel man will, mit den Flügeln schlagen oder die aufständischen Bürger als „braune Pest“ bezeichnen – es sieht einfach widerwärtig aus.

    An eine solch entfesselte Propaganda und einе solche Menge von Lügen kann ich mich seit den besten Breshnew-Zeiten nicht erinnern. Und das lässt sich auch gar nicht vergleichen: Damals gab es viel weniger Möglichkeiten. Leute, was wollt ihr denn bloß? Ein öffentliches Klima schaffen für den Truppen-Einmarsch in das Gebiet eines souveränen Staates? Die Krim abhacken?

    Das Zentralkomitee der KPdSU hatte sich vor der Entsendung von Truppen in die Tschechoslowakei nicht mit dem Volk abgestimmt. Und was war, außer dass sie sich vor der ganzen Welt bloßgestellt haben?
    Heute sind dort zwei Länder statt einem. Und was ist mit dem einen und dem anderen? Haben wir ihre Liebe gewonnen? Oder sonst irgendwas?

    Es ist ja bereits gelungen, eine ziemlich große Masse von Idioten und Unbelehrbaren mit instabiler Psyche zu Zombies zu machen. Mit der Waffe in der Hand reißen sie sich schon darum, die russischsprachige Bevölkerung zu retten – als hätte sie darum gefleht. Und sie hat es tatsächlich geglaubt. Mensch, ihr Fernsehmacher, was wollt ihr denn bloß? Auf lange Zeit die Völker entzweien, die Seite an Seite leben? Das gelingt euch. Aber wisst ihr auch, wie das endet? Wollt ihr einen Krieg mit der Ukraine? Genau wie mit Abchasien wird das nicht klappen: Die Leute auf dem Maidan sind schon abgehärtet und wissen, wofür sie kämpfen: für ihr Land, für ihre Unabhängigkeit. Und für wen wir? Für Janukowitsch? 

    Mensch, Leute, warum habt ihr ihn in Russland versteckt? Ein ehrlicher Mensch wird keine Verbrecher und Diebe decken. Ein Dieb schon. Warum bringt ihr euch vor der Menschheit in Verruf? Ich weiß, es ist euch scheißegal, aber trotzdem?

    Natürlich wurden in der Ukraine zahlreiche Dummheiten begangen – mit der russischen Sprache, mit dem Abriss von Denkmälern. Aber es ist unvermeidbar, dass eine Revolution von solchen Dummheiten begleitet wird – eine gespannte Feder entlädt sich  in die Gegenrichtung. Aber danach findet alles seinen Platz – Dummheit kann nicht ewig dauern.

    Mensch, Leute, wir müssen mit denen leben. Wie bisher in Nachbarschaft. Und nach Möglichkeit in Freundschaft. Und wie sie leben, das entscheiden sie selber.

    Oder habt ihr Lust zu schießen? Es heißt, Patriotismus stärkt und festigt.

    Nicht für lange.


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  • Aus den Regionen

    Aus den Regionen

    Wenn aus und über Russland berichtet wird, so geht es meist um Moskau oder St. Petersburg: Hier werden die großen Geschäfte gemacht, die große Politik und zweifellos auch großartige journalistische Texte. Doch Russland, dazu reicht ein Blick auf die Karte, ist natürlich sehr viel mehr. Ein Moskauer Roofer, eine Altgläubige im tiefsten Nirgendwo von Sibirien und Lehrerinnen in der Taiga mögen zwar im selben Land leben – doch sie leben in Realitäten, die unterschiedlicher kaum sein könnten. 

    Um dieser Vielfalt ein wenig gerechter zu werden, übersetzen wir auf dekoder regelmäßig auch große und kleine Geschichten aus den Regionen Russlands. Die besten daraus sammeln wir in dieser Karte:


  • Die Katastrophe von Kemerowo

    Die Katastrophe von Kemerowo

    Es ist eine Tragödie: Der Großbrand in einem Einkaufszentrum im westsibirischen Kemerowo hat mehr als 60 Menschenleben gefordert – darunter viele Kinder. Die genauen Gründe für den Brand sind unklar, klar ist aber, dass hier Verschiedenes zusammengekommen sein muss. Zum einen stellten Behörden gravierende Verstöße gegen Bau- und Nutzungsrechte fest, es mangelte eklatant an Sicherheitsvorkehrungen, noch dazu soll ein Wachmann nach Ausbruch des Brands den Alarm ausgeschaltet haben. Von Korruption ist in Sozialen Netzwerken die Rede, als Präsident Putin Kemerowo am Dienstag besuchte, sprach er von „krimineller Nachlässigkeit und Schlamperei“.  
    Ein großes Misstrauen in die Behörden, aber auch der Umgang der lokalen Politiker mit der Katastrophe, schürt die Wut und Trauer der Menschen nach dem Brand im Einkaufszentrum Simnjaja Wischnja. Viele trauen den offiziellen Angaben über die Opferzahlen nicht, es kursieren Gerüchte, die Zahl der Toten sei weit höher.

    Gouverneur Aman Tulejew entschuldigte sich zwar bei Putin – aber nicht bei den Opfern der Brandkatastrophe. Zu einer Demonstration in Kemerowo kam nicht der Gouverneur, sondern sein Stellvertreter Sergej Ziwiljow. Unter dem Druck der Menge fiel er schließlich auf die Knie, unter Pfiffen und Buhrufen. Auf der Kundgebung sagte er unter anderem auch: „Ich bin ernannt, ich bin nicht gewählt.“ Staatliche Fernsehsender berichteten über den Besuch Putins, aber kaum über die rund 5000 Demonstranten in der Stadt am gleichen Tag. Doch die Anteilnahme im ganzen Land am heutigen Mittwoch, einem offiziellen Tag der Trauer, ist sehr hoch. In Moskau etwa gab es schon am Vorabend Trauer- und Solidaritätsbekundungen auf zentralen Plätzen der Stadt. 

    Nach der Brandkatastrophe in Kemerowo werfen dabei gerade unabhängige Medien viele Fragen auf: Nicht nur nach der Kluft zwischen Politik und Volk, wie sie derzeit, kurz nach den Wahlen, viele empfinden. Sondern auch Fragen nach der Kluft zwischen Russland und dem Westen. Darunter fällt auch die Ausweisung zahlreicher russischer Diplomaten, zu der es im Zusammenhang mit dem Fall Skripal kam – nur einen Tag nach der Katastrophe in Kemerowo. 

    dekoder bringt eine Vor-Ort-Reportage der Novaya Gazeta aus Kemerowo sowie Ausschnitte aus der Debatte in unabhängigen Medien.

    Update (25.03.2019): Laut offiziellen Zahlen starben bei der Brandkatastrophe in Kemerowo 60 Menschen, darunter 37 Kinder. Als Ursachen gelten derzeit Fahrlässigkeit der Einkaufszentrums-Betreiber, Verstoß gegen Brandschutzvorkehrungen und Korruption. Seit einigen Monaten läuft ein Ermittlungsverfahren gegen insgesamt 15 Verdächtige.


    [Am Dienstag, 27. März – dek] gegen 10 Uhr treten der stellvertretende und der Vize-Gouverneur der Oblast Kemerowo Wladimir Tschernow und Sergej Ziwiljow vor die Menschenmenge.

    „Wollen wir hier herumbrüllen oder sprechen?“, fragt Ziwiljow laut.

    „Wir wollen Fragen stellen!“, ruft ein Mensch in der Menge. „Warum mussten die Menschen sterben?“

    „Tatsächlich eine interessante Frage“, antwortet Ziwiljow gelassen. „Um sie zu beantworten ist eine Sonderermittlungsbrigade aus Moskau hergeschickt worden.“

    Ein Pfeifkonzert geht los.

    „Wieviel Menschen sind umgekommen?“

    „64.“

    Die Menge reagiert mit wütendem Gebrüll. Die offizielle Zahl glaubt hier niemand. Die Menschen wiederholen Mal um Mal ein und dieselben Gerüchte – es gebe 150 bis 400 [Tote]. Dass die Leichenhallen überfüllt seien und die Toten in einem Kühlhaus-Kombinat versteckt würden. Dass auf dem Südfriedhof von Kemerowo bereits 200 neue Gräber ausgehoben seien. Dass eine ganze Schulklasse aus dem Dorf Treschtschewski gekommen sei, 30 Kinder, und sie alle verbrannt seien. (Uns haben Menschen aus Treschtschewski gesagt, dass im Einkaufszentrum Simnjaja Wischnja [dt. Winterkirsche] fünf Fünftklässlerinnen verbrannt seien – N.G.)

    Anscheinend spürt der Vize-Gouverneur die wachsende Anspannung nicht und ruft die Anwesenden auf, bitte Namen von Opfern zu nennen, die nicht auf den offiziellen Listen ständen. Niemand nennt Namen, die Staatsvertreter werden erneut ausgepfiffen.

    Auf dem Platz gibt es keinerlei Lautsprecher, die Staatsvertreter sind nur in den ersten Reihen zu hören. Dennoch strömen die Menschen weiter und füllen den Platz – gegen 11 Uhr vormittags sind es schon 3000 bis 4000 Menschen.

    Nach zwei Stunden ergreift der Kemerower Geschäftsmann Igor Wostrikow das Wort – und bringt selbst ein Mikrofon mit. Der Mann sagt zunächst, dass er im Simnjaja Wischnja seine ganze Familie verloren und seine Tochter anhand der Schuhe identifiziert hätte.

     
     

    „Wollen Sie jetzt mit Trauer PR betreiben, junger Mann?“, äußert sich der Vize-Gouverneur Wostrikow gegenüber. Igor wird rot und zischt dem Gouverneur leise ins Gesicht:

    „Meine Familie ist umgekommen, meine Schwester Aljona, meine Frau Jelena und meine drei Kinder: 7, 5 und 2 Jahre alt.“

    Der Vize-Gouverneur ist sichtlich betroffen und legt Wostrikow väterlich die Hand auf die Schulter.

    Dieser Mann wird faktisch zum Anführer der Kundgebung. Er gibt das Mikrofon anderen weiter, die der Reihe nach das Wort ergreifen und Ziwiljow und Tschernow ihre Fragen stellen. Er bietet an, sich an die städtischen Leichenhäuser zu wenden, die Informationen über die Opferzahlen zu überprüfen und eine E-Mail-Adresse einzurichten, an die alle Angehörigen von Opfern Informationen senden könnten.

    Einige Journalisten und die aktivsten Versammlungsteilnehmer fahren mit dem Bürgermeister von Kemerowo zu den Leichenhallen. Im Laufe des Tages sind unter der eingerichteten Mail-Adresse Informationen zu 85 Vermissten eingegangen. Wostrikow zufolge wurden alle an die Polizei weitergegeben.

    Die Teilnehmer der Versammlung verlangen ein Mikrofon, unter dem Gelächter der Menge: „Wie wollen Sie eigentlich eine Oblast verwalten und regieren, wenn Sie nicht mal ein Mikrofon herbeischaffen können.“ Mehr als zwei Stunden dauert es, bis endlich eine Verstärkeranlage auftaucht. Bis dahin wirkt die Versammlung ziemlich absurd: Versammlungsteilnehmer schreien Fragen aus der Menge, Ziwiljow und Tschernow antworten etwas, was ohne Mikrofon kaum zu verstehen ist. Als klar ist, dass sie sowieso niemand hört, verfallen die Staatsvertreter in Schweigen. Inmitten der schreienden, Mat-Beleidigungen ausstoßenden Menge stehen sie da und schweigen, senken zuweilen ihren Blick auf ihre Smartphones oder wenden sich ihren Helfern zu. Da buht und pfeift die mehrere tausend Menschen umfassende Menge los und ruft: „Schau uns in die Augen!“

    Manchmal streckt jemand mit Absicht den Staatsdienern Wostrikows Mikrofon hin:

    „Wann treten Sie zurück?“, rufen sie Ziwiljow zu. Der weicht dem Mikro schweigend aus.

    „Sie klauen auf dem Posten schon seit zwei Jahren, was nur geht!“, schreit jemand Tschernow an.

    „Erst anderthalb“, antwortet er.

    Dann kommen Mikrofone und Verstärker.

    Auf dem Platz beginnt so etwas wie „Das freie Mikrofon“ nach dem Vorbild aus den 1990ern: Die Menschen drängen sich der Reihe nach in die Mitte und sprechen über ihre Anliegen: Es geht von Angehörigen, die beim Brand ums Leben kamen, bis hin zu Problemen mit dem städtischen Wohnungsamt. Es scheint, dass allein die Möglichkeit frei und unzensiert zu sprechen die Menschen beruhigt und den Hass auf dem Platz sinken lässt.

    Die Versammlung dauert fast elf Stunden. Erst bei Einbruch der Dunkelheit löst sie sich auf.

    Später erklärt Aman Tulejew im Gespräch mit Putin, dass die Teilnehmer der Demonstration in Kemerowo in Wirklichkeit gar keine Angehörigen der Brandopfer seien:

    „Heute sind da 200 Menschen. Das sind überhaupt keine Angehörigen der Brandopfer, das sind ständige Unruhestifter. Es ist Frevel, wenn Trauer herrscht und du dabei deine Probleme lösen willst.“

    Text: Jelena Ratschewa



    Novaya Gazeta: Eine Folge der totalen Korruption

    Julia Latynina beklagt in der Novaya Gazeta, dass zahlreiche Tote hätten vermieden werden können, wenn man die Fluchttür des Kinosaals nicht abgeschlossen und einfachste Vorkehrungen des Brandschutzes beachtet hätte. Das Problem mit Letzterem sieht sie als ein strukturelles in Russland:

    [bilingbox]Das schrecklichste und unvorstellbarste ist, dass der Brand absolut unkompliziert war. Klar, wenn irgendein Grenfell Tower mit 24 Etagen abbrennt: Hochhausbrände sind technisch ein Alptraum. Aber hier? 4 Etagen. Mitten am Tag. Ein Gebäude, in dem alle Leute auf den Beinen sind und laufen können.
    Es hätte eigentlich kein Problem sein dürfen: Der Feueralarm geht los, die Türen fliegen auf und alle Leute rennen raus, innerhalb von wenigen Minuten, bis zum letzten Mann. Vielleicht würde jemand eine Rauchvergiftung erleiden, aber mehr auch nicht.
    In der gesamten zivilisierten Welt hat sich eine einfache Sache eingebürgert: Türen, die nur in eine Richtung aufgehen. 
    […]
    Man hätte neben der Tür einen Knopf anbringen können, mit dem sich die Tür öffnen lässt und der gleichzeitig den Feueralarm auslöst. Man hätte ein Glaskästchen mit einem Schlüssel daneben klatschen können. Oder eine Axt oder weiß der Teufel! Aber bei der russischen Brandschutzbehörde, da geht es ums Abzwacken von Kohle und um Nobelkarossen für die Chefs. Nicht um die Sicherheit der Bevölkerung.
    […]
    Diese Geschichte handelt davon, dass eine moderne, hochtechnologisierte Megapolis nicht funktionieren kann unter den Bedingungen von totaler Korruption, mittelalterlichen Bauvorschriften und Populismus.
    ~~~Самое ужасное, непредставимое — это совершенная несложность пожара. Понятно, когда сгорает какая-нибудь Grenfell Tower, там 24 этажа, пожары в высотках — это технический кошмар. Но тут? 4 этажа. Середина дня. Здание, где все люди были на ногах.
    Никакой проблемы не было бы и не должно было быть: звучит сигнализация, распахиваются двери, и люди выбегают все, в считанные минуты, до единого человека: ну разве что кто-нибудь дымом чуть отравится.
    Во всем цивилизованном мире освоена простая штука: двери без запоров, которые в одну сторону раскрываются, а в другую — нет.
    […]
    Можно установить рядом с дверью кнопку, которая ее открывает, а когда дверь открывается — на пульте тут же срабатывает сигнализация. Можно рядом с дверью присобачить стеклянный ящичек, а в него положить ключ. Можно топор, черт возьми, повесить у этой двери! Но наш Роспожнадзор — это про срубание бабок и «лексусы» у начальников. Он не про безопасность населения.
    […]
    Это история о том, что современный высокотехнологичный мегаполис не может функционировать в условиях тотальной коррупции, средневековых строительных норм и популизма.
    [/bilingbox]

    Snob: Keine Menschlichkeit

    In seiner Trauerrede fragte Wladimir Putin: „Was passiert bei uns? […] Wir reden über Demographie und verlieren so viele Menschen.“ Diese Wortwahl erregte in unabhängigen Medien viel Aufmerksamkeit, auch Andrej Perzew fragte für Snob nach den Hintergründen einer solchen Rhetorik:

    [bilingbox]Im Augenblick einer Tragödie klingen solche Aussagen grausam. Die Machthaber finden nicht zur Menschlichkeit zurück: Laut Putin besteht die Schuld der Beamten aus Kemerowo darin, dass der Staat eine Ressource verloren hat. Das ist auch ein Argument, aber im Fall von Massen von Opfern steht es an fünfter oder zehnter Stelle. Von der Idee her muss ein Staat um der Bürger willen existieren und nicht umgekehrt. Aber in der Logik eines Wladimir Putin ist es besser, Bürger als Bevölkerung zu bezeichnen, die mit Ziffern benannt wird und sonst mit nichts. Solche Definitionen haben auch eine praktische Bedeutung: Denn Bürger kontrollieren die Regierenden, die Bevölkerung aber wird von den Regierenden kontrolliert.~~~В момент трагедии такие высказывания звучат дико. Власть не может вернуться к человечности. Вина кемеровских чиновников, по Путину, в том, что государство потеряло ресурс. Это тоже аргумент, но в случае массовых жертв — пятый и десятый. По идее, государство должно существовать ради граждан, а не наоборот. Но в логике Владимира Путина граждан, скорее, лучше называть населением, которое обозначается цифрами и больше ничем. У этих определений есть и практическое значение, ведь граждане управляют властью, а населением управляет власть.[/bilingbox]

    Colta: Mythos der Beliebtheit

    Kemerowo ist bei Weitem kein Einzelfall, und auch deswegen wird vermehrt Kritik an der Staatsführung laut. Vor diesem Hintergrund fragt Fjodor Krascheninnikow auf Colta, was Putins triumphales Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl vor zwei Wochen eigentlich aussagt:

    [bilingbox]In der Oblast Kemerowo stimmten laut offiziellen Zahlen 85,57 Prozent für Putin, und 96,69 Prozent der Bevölkerung stimmten 2015 für den immer noch waltenden Gouverneur Tulejew. […] Doch weder Putin noch Tulejew sind vor die Menschen getreten. Vermutlich deshalb, weil sie selbst keinerlei Illusionen über ihre tatsächliche Beliebtheit haben – vor allem unter den Verwandten und Nahestehenden der lebendig verbrannten Menschen. Der Mythos über die unglaubliche Beliebtheit der russischen Staatsmacht bei der Bevölkerung lebte nach der Präsidentschaftswahl nur zehn Tage. Er starb in Kemerowo, auf dem Platz der Räte.~~~За Путина в Кемеровской области голосовали, по официальным данным, 85,57% избирателей, а за все еще действующего губернатора Тулеева в 2015 году якобы проголосовали и вовсе 96,69% населения. […] Но к людям не вышли ни Путин, ни Тулеев. Возможно, потому, что сами они не питают никаких иллюзий относительно истинных масштабов своей популярности — особенно среди родных и близких заживо сгоревших людей. Миф о невероятной популярности российской власти среди населения прожил всего 10 дней после президентских выборов и умер в Кемерове, на площади Советов.[/bilingbox]

    Novaya Gazeta: Verhöhnende Worte

    Irina Petrowskaja zeigt sich in der Novaya Gazeta entsetzt über den Umgang der staatlichen Fernsehsender mit der Katastrophe und macht das an einem besonders frappierenden Beispiel des TV-Senders Rossija-1 deutlich:

    [bilingbox]Als es in Kemerowo bereits Nacht wurde und die Feuerwehr immer noch mit den Flammen kämpfte, ging Dimitri Kisseljows Wochenrückblick Westi Nedeli auf Sendung. Der Moderator und seine Kollegen hatten mindestens sieben Stunden Zeit, um die Sendung umzustellen. Aber sie „schätzten das Ausmaß der Tragödie falsch ein“ und stellten nichts um. Sie begannen nicht mit der Tragödie, sondern mit dem Triumph: den beispiellosen Ergebnissen der Präsidentschaftswahl. Und erst nach 20 Minuten (so lange dauerte dieser Beitrag) wich Kisseljow für drei Minuten vom vorab festgelegten Programm ab und berichte im Schnellsprech vom Brand in Kemerowo.
    […]
    Drei Minuten – dann berichtet Kisseljow schon wieder voller Elan über den gerade abgeschlossenen Wettbewerb des Verteidigungsministeriums um die beste Bezeichnung für Russlands neueste Waffentypen.
    „Auch ich habe meinen Vorschlag für eine der Raketen eingereicht“, brüstete sich der Moderator: „Asche.“
    Einer der höchsten Medien-Funktionäre des Landes, der Preisträger des TEFI-Preises und mehrfache Vater Kisseljow musste dabei nicht schlucken und hat vermutlich nicht einmal daran gedacht, wie verhöhnend seine Worte in dem Moment klingen, als gerade ein Feuer Dutzende Erwachsene und Kinder in Asche verwandelt.
    ~~~Когда в Кемерове уже наступила ночь, а пожарные все еще боролись с огнем, в эфир вышла итоговая программа Дмитрия Киселева «Вести недели». У ведущего и его сотрудников было как минимум 7 часов на то, чтобы переверстать выпуск, но… не «представляя масштабов трагедии», они этого делать не стали и начали не с трагедии, а с триумфа — беспрецедентных итогов президентских выборов. И лишь спустя 20 минут (столько длился сюжет) Киселев на 3 минуты отвлекся от заранее утвержденной верстки, скороговоркой сообщив о пожаре в Кемерове.
    […]
    Три минуты — и вот уже Киселев с воодушевлением докладывает о только что завершившемся всенародном конкурсе Министерства обороны на лучшее название современных образцов вооружения.
    «Я тоже предлагал свое название для одной из ракет, — похвастался он личным участием в конкурсе. — «Пепел».
    Один из высших медийных чиновников страны, лауреат ТЭФИ и просто многодетный отец, не поперхнулся и, наверное, даже не подумал, сколь кощунственно звучат его слова в этот час, когда огонь превращает в пепел десятки взрослых и детей!
    [/bilingbox]

    Facebook/Wladimir Warfolomejew: Große Angst

    Bei aller Wut und Trauer, bei allem Protest stellt Wladimir Warfolomejew vom Radiosender Echo Moskwy vor Ort fest, wie groß die Angst der Menschen ist, wie er auf Facebook schreibt:

    [bilingbox]Wir sprechen hier nur von einer technisch bedingten Katastrophe. Es geht nicht um einen Terroranschlag, politische Verschwörung oder eine militärische Aggression. Aber was für eine Angst haben die Kusbass-Bewohner, die heute nicht laut darüber sprechen können?! In den letzten 24 Stunden hat uns etwa die Hälfte unserer Gesprächspartner gebeten, ihre Namen nicht zu nennen. Einige der Befragten bestanden sogar darauf, dass wir ihre Stimmen verfremden. Und das sind Menschen, die uns von den Ereignissen in einer Stadt berichteten und keine, die Staatsgeheimnisse verraten.~~~Это ведь просто техногенная катастрофа, а не теракт, не политический заговор или военная агрессия. Но какой же дикий страх перед властью испытывают жители Кузбасса, которые сегодня боятся говорить вслух о том, что произошло. За эти сутки около половины, наверное, наших источников в Кемерове попросили не называть своих имён. Кое-кто даже настоял на том, чтобы мы изменили их голоса в эфире. А ведь эти люди всего лишь рассказывали про происходящее в городе, а не выдавали государственные секреты.[/bilingbox]

    Rosbalt: Mauer zwischen Russland und dem Westen

    Der Politikwissenschaftler Iwan Preobrashenski hat sich in ausländischen Medien umgeschaut und festgestellt, dass Russland vor allem wegen der neuen Eskalation im Fall Skripal in den Schlagzeilen ist. Auf Rosbalt kommentiert er:

    [bilingbox]Man muss bemerken, dass das früher alles merklich anders war. Zum Beispiel hat die Tragödie von Beslan Europa buchstäblich erschüttert, obwohl der Großteil der westlichen Presse Russland hart verurteilte für den Krieg in Tschetschenien. Für die Kinder aus Beslan gibt es heute Denkmäler in Europa, und die Erinnerung an diese Tragödie ist lebendig. Über die in Flammen gestorbenen Kinder aus Kemerowo erfahren viele Europäer aber schlicht nichts, weil in der Zwischenzeit eine Mauer des Unverständnisses, der Angst und des Misstrauens zwischen Russland und Westeuropa gewachsen ist.~~~Раньше, надо отметить, все было заметно иначе. Например, трагедия Беслана буквально потрясла Европу, и это несмотря на то, что ранее западная пресса в большинстве своем жестко осуждала Россию за войну в Чечне. Памятники детям Беслана есть сегодня во многих европейских странах и память об этой трагедии жива. А вот о сгоревших кемеровских детях многие европейцы видимо просто не узнают, потому что между Россией и западной частью европейского континента выросла за эти годы стена непонимания, страха и недоверия.[/bilingbox]

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    Aus den Regionen

    Besondere russische Werte?!

    Debattenschau № 65: Russische Diplomaten ausgewiesen

  • Pelageja am Steuer

    Pelageja am Steuer

    Schon zu Zeiten der Sowjetunion arbeiteten Frauen oft in typischen Männerberufen. Aber als Fahrerinnen trifft man sie selten. Pelageja, Mutter von fünf Kindern, hat in ihrem Berufsleben alle Transport-Sparten kennengelernt. Als Rentnerin nun fährt sie Taxi und hat auf ihrer Fahrt mit Jewgenia Wolunkowa viel zu erzählen. Eine Reportage auf Takie Dela.


     Fotos © Kristina Syrtschikowa
    Fotos © Kristina Syrtschikowa

    Spät am Abend: Pelageja arbeitete noch in ihrem alten Lada, um was dazuzuverdienen. Sie beförderte Kunden. Ein Mann winkte den Wagen heran, stieg ein und nannte eine Adresse. Nach ein paar Kilometern, die Straße war leer, hielt er Pelageja eine Pistole an die Schläfe: „Raus aus dem Wagen!“

    Pelageja stieg nicht aus. Sie drehte sich zu dem Mann um und sagte: „Wem bitte sehr, möchtest du hier Angst machen? Mir? Einer Mutter von fünf Kindern? Ich hätte mich letztens fast vor den Zug geschmissen wegen diesem verfluchten Leben. Ich habe keine Angst, schieß doch. Nur um die Kinder tut es mir leid, im Heim wird sicher nichts aus ihnen. Außer mir haben sie niemanden.“

    Der Gedanke, sich vor den Zug zu werfen, war Pelageja früh am Morgen gekommen. Die Kinder schliefen noch. Schon bald würden sie aufwachen und etwas zu essen verlangen. Es war aber nichts zu essen im Haus.

    Viele Jahre schon hatte Pelageja sich abgestrampelt, jeden Job angenommen. Und sie, diese fünf, waren wie die Heuschrecken. Sie kauft zehn Brote – und nach zwei Tagen ist alles weg. Sie weicht Brot in Wasser ein, streut Zucker drauf, sie essen es, und ab in den Hof. Zwei Stunden später stehen sie wieder da: „Mama, wir haben Hunger!“ Nicht auszuhalten.

    Sie gab ihnen keinen Abschiedskuss, um sie nicht zu wecken. Drehte sich um und ging davon. Sie kam zur Bahnstation und stellte sich an die Gleise. Lange stand sie so da, endlich hörte sie in der Ferne das Pfeifen. Der Zug kam näher, Pelageja war bereit. Plötzlich sieht sie in einer Wolke über den Gleisen ihre Kinder. Alle fünf. Sie drücken sich aneinander, schauen erschrocken. Als wäre sie aufgewacht, trat sie von den Gleisen zurück, und brach in Tränen aus und sah, wie der Zug sich entfernte.   

    „Ist das nicht gelogen mit den fünf Kindern?“
    Die Pistole drückte immer noch gegen die Schläfe.
    „Was soll ich denn lügen? Hier sind sie.“
    Sie holte ein Foto hervor. Der Mann betrachtete es.
    „Sieh mal an. Bist ja ne Heldenmutter. Na gut, los. Gib Gas.“ 
    Sie fuhren zur Stawropolskaja. Der Mann stieg aus.
    „Warte hier!“

    Kurze Zeit später kam er zurück. Pelageja stand noch da.

    „Warum biste denn nicht weggefahren? Bist wohl ne ganz Furchtlose?“
    „Ich bin doch neugierig, wie die Sache ausgeht.“
    „Oh Mann! Du bist mir vielleicht ein Weib! Hier nimm. Kannst fahren. Und schönen Gruß an die Bälger.“

    Er warf Süßigkeiten und Sekt auf den Sitz. Zog Geld aus der Jackentasche, gab es ihr und verschwand in der Dunkelheit.

    Pelageja sitzt seit 45 Jahren am Steuer
    Pelageja sitzt seit 45 Jahren am Steuer

    Die Atamanin

    Pelageja Alexandrowna ist vor 15 Jahren in Rente gegangen, hat aber nicht aufgehört zu arbeiten. Putzfrau, Wachfrau, Verkäuferin. Und in den letzten paar Jahren: Taxifahrerin. Als sie zum Taxiunternehmen Lider in Samara kam, um sich zu bewerben, sah man sie verwundert an: „Wo wollen Sie denn hin, Großmütterchen?“ Aber Pelageja hat 45 Jahre Fahrerfahrung. Hat Lkws und Straßenbahnen gefahren. Und als sie zum ersten Mal am Steuer eines Pkw saß, war sie gerade mal zehn. Damals hatte der Großvater sie und ihre Großmutter mit dem Auto ins Nachbardorf mitgenommen. Dort hat er sich dann die Kante gegeben und konnte nicht mal mehr geradeaus gucken. Die Großmutter war völlig aufgelöst: Wie heimkommen? Also setzte der Großvater die Enkelin hinters Steuer. Ein paarmal gab er ihr eins auf den Hinterkopf – mal hatte sie den Motor abgewürgt, mal den falschen Knopf gedrückt. Letztlich hat Pelageja aber alle heil nach Hause gebracht.

    Vor kurzem ist Pelageja von Lider zu Uber gewechselt. Sie hat gelernt, mit der neuen Technik umzugehen. Es ist Januar – der erste Monat in diesem Wagen. Vieles versteht sie noch nicht, aber es macht schon Spaß, weil sich damit etwas verdienen lässt.

    „Hallo, Jewgenia, ich bin vor Ihrem Haus, kommen Sie bitte runter!“

    Oft kommt Pelageja erst nach Mitternacht nach Hause
    Oft kommt Pelageja erst nach Mitternacht nach Hause

    Pelageja fährt einen blauen Lada, den ihr Sohn auf Kredit gekauft hat. 16.000 Rubel [ca. 225 Euro] muss sie monatlich für das Auto zahlen. Der Rest geht an andere Banken, um weitere Kredite zu tilgen. Ein bisschen was muss sie noch zum Leben zurückbehalten. Sie bekommt 7000 Rubel [ca. 100 Euro] Rente. Drei Tilgungsraten werden direkt von der Bank eingezogen: 2017 hat Pelageja ein Bußgeld wegen verspäteter Kreditzahlung bekommen.

    Die Oma kutschiert ihre Passagiere von früh bis spät, manchmal sogar die ganze Nacht hindurch, wenn die Kraft reicht. Bisher liegt ihr Rekord bei 100 Fahrten die Woche. Pelageja findet, das ist zu wenig, da ist noch mehr drin.

    Pelageja ist auf Sachalin geboren – ihre Mutter hat dort geheiratet, hat den Mann aber dann verlassen und ist nach Samara gegangen. Damals war Pelageja sieben.

    Pelageja wusste schon als Kind für sich einzustehen
    Pelageja wusste schon als Kind für sich einzustehen

    Pelageja wusste schon als Kind für sich einzustehen. Klein beigegeben hat sie nur bei der Mutter. Die versuchte immerzu, ihr Liebesleben auf die Reihe zu kriegen, traf sich mit verschiedenen Männern, aber es wurde nie etwas Ernsthaftes daraus. Sie lebten in einer Baracke, in bitterer Armut. Die Mutter litt darunter und ließ es gelegentlich an Pelageja aus. Pelageja wird wohl nie vergessen, wie die Mutter ihr einmal den Kopf aufgeschlagen hat.

    „Ich war in Hausschuhen rausgegangen, um Holz zu sägen. Sie hat es gesehen, sich einen Metalleimer auf der Veranda gegriffen und ihn nach mir geworfen. Das hat vielleicht geblutet! Aber ich bin der Mutter nicht böse. Ich kann sie verstehen, sie wollte ein gutes, glückliches Frauenleben. Und durch mich waren ihr die Hände gebunden. Damals mit acht habe ich mir geschworen, dass ich niemals trinken und meine Kinder niemals schlagen würde. Nur einmal konnte ich mich nicht beherrschen und hab meinem Sohn eine Ohrfeige gegeben. Aber ich habe mich sofort entschuldigt und gesagt, ich würde ihm nie wieder weh tun. Egal, was passiert, er soll zu mir kommen und es mir erzählen. Zusammen finden wir eine Lösung.“

    Pelagea mit dem jüngsten Spross der Großfamilie – ein seltenes Spielstündchen
    Pelagea mit dem jüngsten Spross der Großfamilie – ein seltenes Spielstündchen

    Pelageja hat drei Söhne und zwei Töchter. Alle sind schon groß, außer den beiden jüngsten Söhnen, Wanja und Ljonja, sind alle schon aus dem Haus. Verheiratet war Pelageja drei Mal. Der erste Mann hat getrunken. Hat sich letzten Endes totgesoffen. Der zweite war arbeitsam, ist aber auch gestorben: ist bei der Arbeit in einen Brunnen gefallen. Den dritten hat sie verlassen: Die ganze Schwangerschaft hindurch hat er sie schlecht behandelt, sie hat es ertragen. Aber als er sie nach der Entbindung nicht von der Klinik abgeholt hat, hat sie drauf gespuckt und ihn zum Teufel geschickt. Sie entschied, besser, sich allein abstrampeln, statt immer nur ertragen. Damit war es für Pelageja vorbei mit den Männern. Nur einmal traf sie noch einen netten, ging mit ihm aus. Aber als er ihr seine Liebe gestehen wollte, unterbrach ihn Pelageja: „Ich sag dir jetzt etwas, dann verschwindest du gleich: Ich habe fünf Kinder.“ Er ist nicht sofort verschwunden, hat sie noch nach Hause gebracht und sich danach nie wieder blicken lassen. Für Männer blieb sowieso keine Zeit, Pelageja hatte fünf Mäuler zu stopfen.

    „Mama hat immer gesagt: ‚Wozu zum Teufel kriegst du all die Kinder?!‘ Aber ich wollte, dass nach mir jemand bleibt … Um sie durchzukriegen, habe ich alles Mögliche getan. Habe in einer Fabrik als Putzfrau und als Wächterin gearbeitet. In einer Brauerei hab ich Kwas ausgeschenkt. Hab als Anstreicherin gearbeitet. Mit meinem kleinen Saporoshez hab ich was dazuverdient, Sachen ausgeliefert. Ein Auto bringt am meisten Geld. Du fährst einen Tag und hast zumindest das Nötigste zusammen.“

    Die Kutscherin

    Die Ausbildung zur Fahrerin machte Pelageja, als sie noch keine zwanzig war. Beim Spazieren mit einer Freundin sahen sie einen Aushang: Fahrausbildung in den Kategorien B und C. Sie besuchten den Kurs und schlossen mit Bestnoten ab. Schon bald saß Pelageja hinterm Steuer eines GAZ-51.

    „Was hab ich nicht alles transportiert! Wie ich die Mehlsäcke entladen habe, das vergesse ich nie! Hatte sie von der Mehlfabrik geholt, fahre zum Lieferort, und da ist kein Träger. Was soll ich machen, der Wagen muss ja entladen werden. Ich öffne also den Laderaum … Was rast du denn so, du meine Güüüüüte! Links ist die Tram, ich muss doch hier durch!“, Pelageja ist abgelenkt durch ein Westauto, das sie geschnitten hat. „Also, stell dir das vor, fünfzig Mehlsäcke! Und ich war damals zwanzig. Als ich den letzten ausgeladen hatte, konnte ich nicht mehr fahren, so hab ich gezittert … Du brauchst gar nicht so zu schauen, so bin ich halt. Wenn etwas sein muss, tu ich es einfach, ich kämpfe für meine Ziele.“  

    Pelageja arbeitet ohne Pause von montags bis sonntags. Am Wochenende schläft sie aus und beginnt erst um neun Uhr
    Pelageja arbeitet ohne Pause von montags bis sonntags. Am Wochenende schläft sie aus und beginnt erst um neun Uhr

    Als Pelageja keine Lust mehr auf den Lkw hatte, machte sie eine Ausbildung zur Straßenbahnfahrerin und hat ein paar Jahre Fahrgäste befördert. Als sie eines Tages schon auf dem Weg zum Depot war, kam eine Hochzeitsgesellschaft rein, etwa zwanzig Leute. Ins Depot wollten die aber nicht, sondern etwas weiter. Sie baten Pelageja sie hinzubringen, sie ging das Risiko ein. 25 Rubel hat sie für die Fahrt bekommen, damals war das viel Geld.

    Die Hausbesetzerin

    In den 1990ern ist Pelagejas Haus abgebrannt. Sie war mit den älteren Kindern in der Stadt, die drei kleinen waren zu Hause geblieben. Sie kam gerade noch rechtzeitig zurück, um die Kinder zu retten. Das Haus war zwar nicht vollständig ausgebrannt, aber leben konnte man darin nicht mehr. Die acht Monate alte Tochter unter den Arm geklemmt, marschierte Pelageja zur Verwaltung und bat um eine Wohnung. Aber Wohnungen gab es keine. Gehen Sie dorthin zurück, wo es gebrannt hat, hieß es. Für eine Zeit kam Pelageja bei Bekannten unter und machte sich ans Klinkenputzen bei den Beamten. Sie kam bis zur Regionalverwaltung.

    „Als man mich überall abgewimmelt hatte, machte ich mich auf die Suche nach dem Gouverneur. Damals war das Titow [Konstantin Titow war von 1991 bis 2007 Gouverneur von Samara]. Im Erdgeschoss standen Wachmänner, aber irgendwie bin ich an denen vorbeigekommen. Ich habe die Türen eigenhändig geöffnet. Hinter der ersten lag da ein roter Läufer. Ich gehe rein, gehe weiter und sehe plötzlich ein Türschild: Titow, Oberhaupt der Region. Genau da will ich hin!

    Ich stürme rein, die Sekretärin ruft noch: ‚Wo wollen Sie hin? Er ist in einer Besprechung. Wie sind Sie überhaupt hier reingekommen?‘ Wie ich es geschafft hab, sie zur Seite zu schieben, weiß ich selbst nicht, sie war ganz schön wuchtig, aber ich war sauer. An wen ich mich mit meinen Problemen auch wende, keinen interessiert’s die Bohne … Ich gehe also rein zu Titow, das Zimmer ist voller Menschen. Ich sage: ‚Entschuldigen Sie bitte, Herrschaften, ich habe einen Notfall. Wenn Sie mir nicht helfen, wer dann?‘ Zufällig sitzt da auch der Chef unserer städtischen Straßenbahngesellschaft. Der hat mich wiedererkannt. Das ist meine Angestellte, sagt der. Also riefen sie mir einen Wagen und brachten mich und die Kinder in ein Wohnheim. Es war Winter, fast minus 30 Grad. Ich komme rein, die Wachfrau hat zwei Heizwärmer zu ihren Füßen und trotzdem wallt Dampf aus ihrem Mund. Und meine Olga ist zehn Monate alt, wie soll ich in dieser Bruchbude leben? Die Wachfrau ist sogar noch in unser Zimmer mitgegangen, um die Bettwäsche abzuziehen. Die ist neu, hieß es, Sie müssen Ihre eigene mitbringen. Wie soll ich denn meine eigene mitbringen, wenn sie verbrannt ist? Ich habe die Betten zusammengeschoben, die Kinder von allen Seiten umarmt und so saßen wir die ganze Nacht da, haben uns gegenseitig warmgehalten.“

    In den 1990er Jahren brannte Pelagejas Haus ab, sie kam mit ihren Kindern eine zeitlang bei Bekannten unter
    In den 1990er Jahren brannte Pelagejas Haus ab, sie kam mit ihren Kindern eine zeitlang bei Bekannten unter

    Nach der durchfrorenen Nacht war Pelageja klar, dass ihr niemand helfen würde. Sie beschloss, selbst eine Wohnung zu suchen. Eine Zeit lang hatte sie auf dem Bau gearbeitet. Sie wusste, mit welchen Schlüsseln man reinkommt. Sie schnappte sich einen großen Schlüsselbund mit vielen gleichen und ging in einen Neubau, wo die Leute gerade erst anfingen einzuziehen. „Ich ging von Tür zu Tür, neben der vierten begann mein Herz zu pochen: bum-bum-bum. Das ist unsere Wohnung! Hab den richtigen Schlüssel rausgesucht und bin rein. Sie gehörte der Stadtverwaltung und stand noch leer. Dort sind die Kinder und ich eingezogen. Ich habe gleich einen Brief an die Verwaltung geschrieben, dass ich auf eigene Befugnis die Wohnung mit der Adresse soundso bezogen habe. Da drin gab es gar nichts, nur die nackten Mauern. Anfangs benutzen wir einen Eimer als Toilette und gingen in die öffentliche Sauna zum Duschen. Als die Verwaltung erfuhr, dass ich dort eingezogen bin, kamen sie, um uns rauszuwerfen. Ich hab mich geprügelt. Ich weiß noch genau, wie eines Tages zwei Männer und zwei Frauen dastanden, und sich plötzlich meine Kindern greifen wollten. Sie waren damals auch noch krank, ich hatte sie mit Gänseschmalz eingeschmiert. Ich sag zu ihnen: ‚Kinder, wollt ihr auf die Straße?‘ Und sie: ‚Nein, Mama!‘ ‚Dann wehrt euch!‘ Also winden sie sich, glitschig wie sie sind, ständig aus den Griffen der ungebetenen Gäste … Irgendwann sind die dann gegangen. Und ich blieb noch drei Jahre in dem Haus, erst dann habe ich endlich eine Dreizimmerwohnung bekommen.“ 

    Die Ernährerin

    Pelageja fährt sicher und ruhig. Bremst nicht abrupt, überholt selten, lässt alle Fußgänger durch. Wird sie von vorbeifahrenden Autos angehupt, kontert sie stets mit demselben: „Arschloch!“

    „Wie fahre ich? Gut?“
    „Sehr gut!“

    „Ich gebe mir Mühe, dass die Kunden sich wohlfühlen. Ich unterhalte mich gern, mache auch mal einen Scherz. Manche fragen mich beim Einsteigen: ‚Kommen wir überhaupt noch lebend an, Großmütterchen?‘ ‚Mal sehen‘, sage ich dann. Bisher hat sich keiner beschwert. Ich habe drei Regeln: aufmerksam sein, Abstand halten und die Geschwindigkeitsbegrenzung beachten. Das war’s, mehr braucht man nicht … Arschloch!“, ruft Pelageja einem hupenden Auto hinterher.

    Pelageja erzählt. „Ich mag es, während der Fahrt mit meinen Fahrgästen zu plaudern und die Bäume am Straßenrand zu bewundern“
    Pelageja erzählt. „Ich mag es, während der Fahrt mit meinen Fahrgästen zu plaudern und die Bäume am Straßenrand zu bewundern“

    „Ist es anstrengend, den ganzen Tag am Steuer zu sitzen?“

    „Ach was, hier erhole ich mich! Wenn ich im Haus arbeite, tun mir Arme und Beine weh. Böden wischen, Badewanne schrubben – dann bin ich kaputt. Ich lege mich hin und komm kaum wieder hoch. Aber ich rappel mich wieder auf. Die Kinder fragen: ‚Mama, wo willst du hin? Du bist doch kaputt!‘ Und ich: ‚Ich fahr mich erholen.‘ Ich mag Autofahren sehr.“

    „Wann hatten Sie das letzte Mal Urlaub?“

    „Urlaub hatte ich 1992.“

    „Sind Sie irgendwo hingefahren?“

    „Wo soll ich schon hinfahren, Schätzchen? Ich war zu Hause bei den Kindern. Und habe nebenbei gearbeitet. Ich bin Mama und Ernährerin, Erholung ist für mich nicht vorgesehen.“

    Pelageja kauft fast nur Dinge, die heruntergesetzt sind. Sonderangebote oder im Ausverkauf. Für sich selbst kauft sie so gut wie nichts. Letztes Jahr hat sie sich ein Nachthemd gegönnt. Und dieses Jahr billige Sportschuhe, damit sie es hinterm Steuer bequemer hat. Aber jetzt ist es kalt, die Füße frieren. Sie überlegt, ob sie sich warme Stiefel kaufen soll, kann sich aber nicht dazu durchringen: Was wenn es dann nicht mehr reicht, um die Schulden abzubezahlen?

    Schulden hat Pelageja viele. Die ersten Kredite hat sie aufgenommen, um das Haus zu kaufen. Sie hatte ihre Dreizimmerwohnung verkauft, weil sie ein Stück eigenes Land haben wollte, sie dachte, so wäre es einfacher, die Familie zu ernähren.

    Pelageja tut es leid, dass die Kinder sich selbst überlassen waren, während sie arbeiten musste. Die älteren haben nach den jüngeren gesehen. Dafür wussten sie aber von klein auf, was es heißt, Geld zu verdienen. Als der Nachbarsjunge eine Spielkonsole bekam, wollten sie auch eine. Sie sagte: „Wenn ihr was wollt, verdient es euch.“ Sie hat ein Treppenhaus übernommen, und die Kinder haben die Böden gewischt. Als sie die nötige Summe zusammen hatten, kauften sie eine Spielkonsole. Genauso ist auch der Kassettenrekorder ins Haus gekommen.

    Ihr Auto ist für Pelageja von größtem Wert. Ein Auto zu besitzen, bedeutet Geld zu verdienen
    Ihr Auto ist für Pelageja von größtem Wert. Ein Auto zu besitzen, bedeutet Geld zu verdienen

    Als sie das Haus gekauft haben, konnten die Kinder kaum glauben, dass sie nun eigene Kartoffeln und Fleisch haben werden. Pelageja hatte auch Ferkel gekauft. „Mama gehört das jetzt alles uns? Wirklich?“ Das Geld, das vom Wohnungsverkauf übrig war, investierte sie in einen alten Wagen, einen Schuppen, die Ferkel und die Einrichtung des Hauses.

    Für die Wasser- und Heizungsleitungen hat es nicht mehr gereicht, sie musste wieder zur Bank. Erst ein Kredit, dann der nächste, und noch einer. Für dies und das. Aber sie kam irgendwie über die Runden. Bis 2016 zahlte Pelageja immer pünktlich, doch dann wurde es immer schwieriger, mit dem Taxifahren Geld zu verdienen: zu wenig Aufträge, es reichte gerade mal für den Sprit. Sie ging zur Bank: „Macht mit mir was ihr wollt, ich hab kein Geld, um zu zahlen.“ Sie beschlagnahmten das Auto und ihre Rente. Dann hörte Pelageja von Uber.

    „Ich bin kein Drückeberger. Solange ich die Kraft dazu habe, arbeite ich. Ich mag Uber, das sind gute Jungs. Und Prämien sammeln sich auch an. Hauptsache ich kann die kleinen Kredite abbezahlen, dann bleiben nur noch die drei großen …“

    „Wissen die Kinder von Ihren Problemen?“

    „Wozu denn? Sie haben genug eigene. Der Sohn, der bei mir wohnt, hat drei Kredite. Meine Tochter kümmert sich ums Kind, ihr Mann sorgt allein für den Lebensunterhalt. Lena zahlt die Uni-Ausbildung ihres Sohnes, arbeitet von früh bis spät. Dima hat zwei Kinder … Wanja und Lena helfen ihm, die Kommunalka zu bezahlen, letztens haben sie mir bei der Gasrechnung geholfen. Mein Sohn macht was zu essen, wenn ich heimkomme, unterstützt mich. Jeder hilft, wo er kann.“

    „Haben sie Jobs?“

    „Ja … Aber hör mal, solange Arme und Beine funktionieren, warum soll ich herumsitzen? Wir kommen schon über die Runden.“

    Unsere Fahrt endet im von Pelageja heißgeliebten Imbiss Blinari. Sofort zerrt sie mich von der Theke mit den Grillhähnchen weg, hin zu der anderen, mit dem „vernünftigen“ Essen: „Da ist es viel zu teuer, schau da gar nicht hin.“ Sie bestellt Reiskascha und Kissel. Ich überrede sie noch zu Kartoffelpuffern. Bis zum Flughafen sind wir auf Rechnung gefahren – zurück einfach so. Ich halte ihr 500 Rubel hin: „Für meine Heimfahrt.“ Pelageja zieht eine Brieftasche hervor, entweder unter der Achsel oder aus dem BH. Legt den Geldschein hinein und versteckt sie wieder.

    Ich steige vor meinem Haus aus. Sie steckt den Kopf aus dem heruntergekurbelten Fenster und ruft:

    „Versprich, dass du dich immer liebhast und nie zulässt, dass dir einer was zuleide tut.“
    „Versprochen!“
    „Ganz sicher?“
    „Ich verspreche es!“

    Draußen sind es  minus 15 Grad. Wenn du in Sachalin aufgewachsen bist, wirst du niemals frieren, sagt Pelageja
    Draußen sind es minus 15 Grad. Wenn du in Sachalin aufgewachsen bist, wirst du niemals frieren, sagt Pelageja

    Am nächsten Morgen klingelt um 11 Uhr das Telefon, Pelageja ist dran:

    „Guten Morgen, Shenja-Schätzchen. Ich bin jetzt erst auf dem Heimweg.“

    „Waren Sie etwa die ganze Nacht unterwegs?“

    „Ja.“

    „Wie viele Fahrten waren es denn?“

    „Um die zwanzig. Jetzt fahre ich zu meinem Sohn ins Krankenhaus, bringe ihm Toilettenpapier und was zu trinken vorbei. Dann schlafe ich ein bisschen und weiter geht’s.“

    „Sie müssen sich schonen, man braucht doch auch Erholung.“

    „Alles gut, Kindchen, mach dir keine Sorgen. Diese Woche habe ich etwa 12.000 Rubel [170 Euro] verdient, ich brauche aber 20.000 [280 Euro] … Dafür ist die Freude umso größer, wenn ich das Geld kriege und einen Teil vom Kredit tilgen kann! Also gut, mein Sonnenschein, hab einen schönen Tag. Ich muss weiter!“

    Text: Jewgenia Wolunkowa
    Fotos: Kristina Syrtschikowa
    Übersetzung: Maria Rajer
    erschienen am 03.04.2018

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  • Besondere russische Werte?!

    Besondere russische Werte?!

    „Wir haben eben andere Werte als ihr“: Egal, ob es um LGBT, häusliche Gewalt oder auch politische Konflikte geht, in den letzten Jahren betont Russland in Streitfragen mit dem Westen immer wieder die  „besonderen russischen Werte“. Sie sind auch im Disput zwischen russischer Staatsmacht und Liberalen oft ein Hauptargument. Doch welche konkreten Werte sind damit gemeint? Und worin unterscheiden sie sich von „westlichen Werten“?

    Der Moskauer Soziologe Grigori Judin sprach am Hertie Innovationskolleg in Berlin im Rahmen des Projektes von Dr. Evgeniya Sayko Wertediskurs mit Russland über solche Werte-Debatten, Republic bringt eine Kurzfassung des Vortrags:


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa


    Der Mythos von den „besonderen russischen Werten“ ist einer der gefährlichsten, den die Staatspropaganda den Menschen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Landesgrenzen eingeimpft hat. In seiner Extremversion lautet er: „Im Gegensatz zum Westen hat Russland Werte.“

    Die Wirksamkeit dieses Mythos lässt sich kaum überbewerten. Einerseits hört man immer häufiger europäische Politiker sagen, man müsse mit Russland einen Dialog über gemeinsame Werte führen. Dieser Dialog endet dann aber jedes Mal in der gleichen Sackgasse: „Was sind eure Werte?“ „Andere als eure.“ „Und welche genau?“ „Besondere.“

    Gleichzeitig sprechen die Russen von Werten in einem Atemzug mit Mentalität und anderen sinnentleerten Begriffen, die sich gut eignen, wenn man sich selbst erklären will, warum etwas unnütz ist und sowieso nicht klappt.

    Werte – ein ziemlich neues rhetorisches Phänomen

    „Werte“ sind in der politischen Rhetorik Russlands vergleichsweise neu. Weder für die Jelzin- noch für die frühe Putin-Zeit waren sie charakteristisch – damals sprach man vielmehr von „Entwicklung“, „Demokratie“ und „Freiheit“.

    Diese Begriffe fügten sich in die Ideologie der Modernisierung: Es gibt für alle Gesellschaften den einen richtigen Entwicklungsweg, der über liberale Demokratie und einen freien Markt führt. Von diesem Weg ist Russland abgekommen und nun hat es die Aufgabe, den Westen, der schon um Längen voraus ist, einzuholen. Über Werte diskutierten damals hauptsächlich Politologen, von denen viele daran glaubten, dass man für Fortschritt, Demokratie und Freiheit erst die richtigen Werte innerhalb der Bevölkerung braucht.

    Vor etwa zehn, zwölf Jahren änderte sich alles. Die Russen waren ermüdet von der Ideologie der nachholenden Modernisierung, derzufolge sie vom Westen lernen sollten: Der Westen kommt und erklärt euch, wie ihr euer Land organisieren müsst, um richtig zu leben. Genau das war (und ist bis heute) die Rhetorik der russischen Liberalen seit Ende der 1980er Jahre. Dumm nur, dass sich Menschen nicht gerne belehren lassen, besonders wenn es zu lange geschieht und sie sich nicht einmal sicher sind, ob sie darum gebeten haben. Es entstand ein Minderwertigkeitskomplex und Russlands Eliten sahen dann im Zuge der arabischen und der Farbrevolutionen plötzlich, dass der Glaube an die Überlegenheit des Westens sie – unter anderem – die Macht kosten könnte. Genau in diesem Moment begannen die Staatsdiener, allen voran der Präsident, die Sprache der „besonderen Werte“ zu sprechen.

    Der Westen kommt und erklärt euch alles

    Die russische Werte-Debatte der letzten zehn Jahre ist sehr einfach gestrickt. Fast alle genannten Werte lassen sich leicht in zwei Schubladen stecken. In der ersten liegen die westlichen Werte, die europäischen, liberalen und allgemein-menschlichen sowie ein Fehlen von Werten. In der zweiten liegen die besonderen, traditionellen, konservativen und russischen Werte, die im Gegensatz zu den anderen stehen, und außerdem das Vorhandensein von moralischen und geistlich-kirchlichen Werten. Es liegt auf der Hand, dass die beiden Schubladen nicht ohne einander existieren: Ihre Opposition gründet auf dem Prinzip Westen versus Russland. Spricht in Russland jemand von Werten, dann will er mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit entweder sagen: „Wir müssen so sein wie der Westen“, oder er will sagen: „Wir müssen unter uns bleiben“.

    Sehr viel seltener wird über konkrete Werte diskutiert. Wenn Wladimir Putin jene Werte aufzählt, die für ihn und das Land am wichtigsten sind, fällt die Liste symptomatisch inhaltsleer aus: Leben, Liebe, Freiheit, Nächstenliebe, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Güte. So ähnlich antwortet ein Kind, wenn es gefragt wird: „Welche Eigenschaften sind am wichtigsten, wenn man ein braver Junge sein will?“

    Die innere Leere der Werte-Ideologie ist im Übrigen leicht zu erklären. Sie kommt daher, dass Werte-Bekenntnisse nicht darauf abzielen, Werte zu verteidigen. Sie funktionieren nur ex negativo – man braucht sie in Russland nur, um die „uns fremden“ Werte abzulehnen.

    Werte-Bekenntnisse nur ex negativo

    Es ist zwecklos, in den Russen nach irgendwelchen besonderen „konservativen“ Werten zu suchen. Gilt womöglich in Russland eine gemeinnützige Tätigkeit mehr als persönlicher Erfolg? Soziologische Umfragen sind ein nur wenig verlässliches Instrument, denn sie fallen der Propaganda als erstes zum Opfer. Aber selbst die bescheinigen den Russen eher einen stark ausgeprägten Individualismus, keineswegs Konservatismus. Wie die führenden russischen Werte-Forscher Wladimir Magun und Maxim Rudnew zeigen, ist für Russland eine individualistische Orientierung charakteristisch, die mit der Zeit immer stärker wird.

    Sind die Russen womöglich immun gegen das Hauptleiden der Neuzeit – das Schwinden von althergebrachten Beziehungen und Vertrauen? Nein. Wie aus den Erhebungen des World Value Survey hervorgeht, ist Vertrauensmangel und der hohe Grad sozialer Atomisierung nach wie vor ein zentrales Problem: 66 Prozent der Befragten geben an, dass man anderen Menschen nicht vertrauen könne. Von familiären und religiösen Werten braucht man gar nicht erst zu reden: Zum Beispiel sind in Deutschland Kirchengemeinden um ein Vielfaches stärker und aktiver als in Russland, und die Scheidungsrate ist deutlich geringer.

    Die Werte-Rhetorik ist leeres Gerede: Russland hat heute keine „besonderen Werte“, die es sich selbst und der Welt anzubieten hätte. Man sollte aber gleichzeitig genau hinhören, was hinter den hochtrabenden Worten steckt und in den Herzen der Russen tatsächlich Anklang findet. Der Begriff „Werte“ wird in Russland verwendet, um sich selbst vom sogenannten „Westen“ abzugrenzen, um zu zeigen, dass man „nicht so“ ist. Das Wort verspricht Freiheit – die Freiheit von ideologischer und moralischer Abhängigkeit, von der Rolle eines unzulänglichen Erwachsenen, der belehrt werden muss.

    Die Erziehungsmetapher: Ihr habt mir gar nichts zu sagen

    Die Ideologie der Modernisierung mit ihrer Unterteilung in entwickelte und Entwicklungsländer zwingt eine Erziehungsmetapher auf. Russland hatte sich in der Rolle des Heranwachsenden so gut eingerichtet, dass es die offensichtlichen Schwachstellen der Metapher aufdeckte, die ihre Schöpfer nicht bedacht hatten. Nämlich, dass ein Heranwachsender längst nicht immer brav den Belehrungen der Erwachsenen und „Entwickelten“ folgt: Viel häufiger rebelliert er, strebt nach Unabhängigkeit und hat keine Lust, dass jemand über ihn bestimmt. Er weigert sich, etwas zu tun, nur weil es alle tun, und erklärt, er sei eben „nicht so“, und überhaupt, wer seid ihr schon, dass ihr mich belehren wollt? Unter diesen Bedingungen autoritären Druck auszuüben und auf „allgemein-menschliche Werte“ zu verweisen, ist die denkbar schlechteste Strategie.

    Aber vielleicht wird ja ausgerechnet in Russland die Sprache der Werte irgendwie falsch benutzt? Dem ist leider nicht so. Die Werte-Philosophie geht zurück auf die Arbeiten von Hermann Lotze Mitte des 19. Jahrhunderts. Und sie hat schon mehr als einmal ihr aggressives Potential gezeigt. Die Idee, der Mensch würde von höheren, ewigen Werten geleitet, die aus einer anderen Welt sind, führt schnell zu der Überzeugung, dass es zwischen Menschen, die unterschiedliche Werte vertreten, auch sonst keine Verständigung geben kann.

    Mit dem Verweis auf die ‚eigenen Werte‘ legitimiert man die ewige Feindschaft mit dem imaginierten Westen

    Max Weber bezeichnete in seiner berühmten Rede [Wissenschaft als Beruf, 1917 – dek] den Widerstreit der Werte als einen „Kampf der Götter“, zwischen denen es keinen Kompromiss gibt und geben kann. Jeder Versuch, „universelle Werte“ aufzustellen, führe unweigerlich zum Vorwurf der Anmaßung und zur Beschuldigung, man wolle seine eigenen Interessen als allgemeingültige Werte ausgeben. Im Grunde ist das genau die Position, die Russlands Elite heute erfolgreich auf der internationalen Bühne einnimmt.

    Die Logik von Werten erlaubt es, Unterschiede zwischen den Menschen als radikal, ergo als unüberwindbar zu beschreiben. Zwischen verschiedenen Standpunkten kann es einen Dialog geben, zwischen verschiedenen Wertesystemen aber nicht. Werte sind wie Geschmack (versuchen Sie mal jemanden davon zu überzeugen, dass Käsekuchen besser schmeckt als Apfelstrudel), mit dem einzigen Unterschied, dass Werte unser gesamtes Leben durchdringen, uns abverlangen, dass wir für sie einstehen und die feindlichen Werte bekämpfen. „Die Wertlehre feiert, wie wir sahen, in der Erörterung der Frage des gerechten Krieges ihre eigentlichen Triumphe“1, konstatierte Carl Schmitt 1960 in seiner Streitschrift mit dem sprechenden Titel Die Tyrannei der Werte. Genauso funktioniert die Sprache der Werte heute in Russland: Mit dem Verweis auf die „eigenen Werte“ legitimiert man die ewige Feindschaft mit dem imaginierten Westen.

    Wenn von „besonderen Werten“ die Rede ist, liegt die Betonung immer auf dem ersten, nicht auf dem zweiten Wort. Russland ist in keiner Hinsicht besonders in Bezug auf seine Werte, aber es hat den Komplex einer Kolonie, die sich aus der Fremdherrschaft befreien will. Trotz allem Lamento, „freiheitliche Werte“ seien nichts für die Russen, steckt hinter der fixen Idee, die eigene Einzigartigkeit hervorzuheben, das Streben nach der Emanzipation von einem allwissenden und autoritären Westen. Und auch wenn die Russen bislang kaum eine Vorstellung davon haben, was sie stattdessen wollen, kommt man schwer umhin, in diesem Drang eine echte Freiheitsliebe zu sehen, die Respekt verdient.  


    1.Schmitt, Carl (1967): Die Tyrannei der Werte, Berlin [3. Aufl., 2011]   

     

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

     

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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  • Debattenschau № 62: Sexuelle Belästigung in der Duma

    Debattenschau № 62: Sexuelle Belästigung in der Duma

    Eine #MeToo-Debatte für die russische Duma: Als erste meldeten sich die Doshd-Produzentin Darja Shuk und die stellvertretende RTVi-Chefredakteurin Jekaterina Kotrikadse zu Wort. Die Journalistinnen klagten öffentlich über sexuelle Belästigung durch den Duma-Abgeordneten Leonid Sluzki. Sluzki selbst bestreitet die Anschuldigungen und hat sich auf seiner Facebook-Seite sogar darüber lustig gemacht. Besondere Brisanz gewann das Thema, als sich Faida Rustamowa den Vorwürfen anschloss: Die Journalistin der russischen BBC gab an, Sluzki sei ihr mit der Handfläche über den Schamhügel gefahren. Rustamowa ließ während ihres Gesprächs mit Sluzki ein Diktiergerät laufen, die BBC veröffentlichte später Ausschnitte daraus:

    „Mein Häschen, willst du nicht auf deine BBC [scheißen – dek]? Und ich nehm dich irgendwohin mit? […] Du läufst ja vor mir weg, willst nicht küssen, ich bin echt beleidigt.”
    „Leonid Eduardowitsch, ich habe einen Freund.”
    „Verlass ihn.”
    „Will ich nicht.”
    „Warum nicht?”
    „Ich will ihn heiraten.”
    „Perfekt. Dann wirst du seine Ehefrau und meine Geliebte!”

    Der Duma-Vorsitzende Wjatscheslaw Wolodin verkündete am Mittwoch, die Fälle würden untersucht werden. „Ist Ihnen die Arbeit in der Duma zu gefährlich? Dann wechseln Sie doch den Job!“, empfahl er zugleich einer in der Duma akkreditierten Journalistin und gratulierte zum bevorstehenden Internationalen Frauentag.

    Der Fall sorgte für heftige Sexismus-Debatten in russischen Medien, wie es sie seit der #янебоюсьсказать-Aktion nicht mehr gegeben hat. dekoder zeigt einzelne Stimmen daraus.


    Meduza: Sluzki muss gehen

    Die MeduzaRedaktion meldet sich eigentlich selten in einer eigenen Kolumne zu Wort. Im Fall Sluzki war es den Redakteurinnen und Redakteuren aber ein Anliegen, den Rücktritt des Abgeordneten zu fordern:

    [bilingbox]Die russischen Abgeordneten wissen mindestens genau so viel wie wir. Wir wissen – das heißt, auch sie wissen –, dass der Abgeordnete Leonid Sluzki mehrere Jahre im Parlament arbeitende Journalistinnen sexuell belästigt hat. Wir wissen – das heißt, auch sie wissen –, dass die Anschuldigungen gegen ihn belegt sind durch mehrere voneinander unabhängige, nicht-anonyme Quellen sowie einen Audio-Mitschnitt. Wir wissen – das heißt, auch sie wissen –, dass Sluzki diese Anschuldigungen zurückweist, sich darüber lustig macht und nicht vorhat, sich zu entschuldigen. Wir wissen – das heißt, auch sie wissen: Wenn Sluzki seinen Sitz behält und wenn seine Handlungen keine Folgen haben, dann wird er weiter Frauen belästigen, immer wieder. Und nicht nur er.

    Wir wissen – das heißt auch sie wissen – Leonid Sluzki muss sein Mandat selbst abgeben oder dazu gezwungen werden.~~~Российские депутаты обладают как минимум той же информацией, что и мы. Мы знаем — а значит, и они знают, — что депутат Леонид Слуцкий на протяжении многих лет сексуально домогается работающих в парламенте журналисток. Мы знаем — а значит, и они знают, — что обвинения в его адрес подтверждены несколькими независимыми друг от друга неанонимными источниками, а также аудиозаписью. Мы знаем — а значит, и они знают, — что Слуцкий отказывается признавать эти обвинения, высмеивает их и не собирается извиняться. Мы знаем — а значит, и они знают: если Слуцкий сохранит свое кресло, а его действия останутся без последствий, он будет продолжать домогаться женщин снова и снова. И не только он.

    Мы знаем — а значит, и они знают: Леонид Слуцкий должен сдать мандат сам — или его должны заставить это сделать.[/bilingbox]

     
    veröffentlicht am 7. März 2018

    Doshd: Missverständnis?

    Wladimir Shirinowski äußerte sich als einer der ersten zum Thema. Der Chef der LDPR will von den Vorfällen seines Parteikollegens Sluzki nichts gewusst haben und verspricht, mit ihm darüber zu sprechen. Gleichzeitig betont er im Interview gegenüber Doshd, dass es sich möglicherweise um ein Missverständnis handeln könne:

    [bilingbox]Man muss hier das Ziel betrachten. Vielleicht möchte er bei den Journalisten Interesse für sich wecken. Vielleicht möchte er sie dazu bringen, dass sie doch bitteschön zu ihm kommen und ein Interview machen. Ich spreche hier über das Ziel seines Verhaltens, das Motiv. Ich sage nicht, dass das gut ist. Es gibt einfach ein Motiv … Ich weiß noch, wie wir im Grundschulalter Mädchen am Zopf gezogen haben, damit sie sich umdrehen und schauen. Was anderes fiel uns nicht ein. […] Die Motivation ist womöglich gar nicht der Wunsch, jemanden zu kneifen oder anzufassen, sondern einfach die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.~~~Здесь надо смотреть цель. Может быть, он хочет у журналистов вызвать интерес к себе. Он этим самым, может быть, хочет заставить, мол, приходите, берите интервью. Я вам говорю про цель поведения, мотив. Я не говорю, что это хорошо. Просто есть мотив… Я помню, в младших классах школы мы дергали девочек за косичку, чтобы она повернулась и посмотрела. Другого пути не было у нас. […] Мотивация бывает не желание кого-то ущипнуть, дотронуться, а чтобы на него как на человека просто обратили внимание.[/bilingbox]

     
    veröffentlicht am 22. Februar 2018

    Kommersant FM: Keine Konsequenzen

    Dimitri Drise bezweifelt auf Kommersant FM, dass es ernsthafte Konsequenzen für Sluzki geben könnte. Schuld daran sei eine besondere Wahrnehmung der parlamentarischen Klasse:

    [bilingbox]Unabhängig davon, ob Sluzki angebaggert hat oder nicht, ob es eine Belästigung gab oder ob das alles Fantasien der oppositionellen Presse sind – das Wichtigste ist natürlich die Reaktion der Kollegen Abgeordneten und des Vorsitzenden. Wer sind denn schon Journalisten für die hohe Duma-Führung und für Sluzki selbst? Niemand. Einfache Leutchen. Denkt nur, er hat betatscht – sollen sie sich doch freuen. Er ist Abgeordneter, Ausschussvorsitzender – er darf das. Das ist die privilegierte Klasse. Etwas anderes wäre es, wenn er gewagt hätte zu sagen, dass „Krim nicht unser“ sei. Dann wäre es aus – das Mandat niedergelegt und allgemeine Verurteilung, da kommt schon gern mal das Untersuchungskomitee zu Besuch. So ist es nur eine Lappalie, nichts weiter: Wir werden es nicht zulassen, dass jemand den gesetzgebenden Arm der Staatsmacht kompromittiert.~~~Безотносительно того, приставал Слуцкий или нет, был харассмент или это все фантазии оппозиционной прессы — здесь главное, конечно, реакция и коллег-депутатов, и спикера. Кто такие журналисты для высокого думского начальства и самого Слуцкого? Да никто. Простые людишки. Подумаешь, потрогал, — должны радоваться. Он же депутат, председатель комитета — ему можно. Это привилегированный класс. Другое дело — если бы вдруг смел сказать, что, допустим, «Крым не наш». Вот тогда все — в момент мандат на стол и всеобщее осуждение, а там, глядишь, и Следственный комитет в гости. А так — мелочь, да и только: никому не дадим компрометировать законодательную ветвь власти.[/bilingbox]

     
    veröffentlicht am 08. März 2018

    Echo Moskwy: Journalistinnen sollten anständiger rumlaufen

    Tamara Pletnjowa sitzt für die Kommunistische Partei in der Duma, wo sie Vorsitzende des Duma-Ausschusses für Familie, Frauen und Kinder ist. Gegenüber Echo Moskwy verteidigt sie ihren Kollegen und sucht gleichzeitig die Schuld bei den Journalistinnen selbst:

    [bilingbox]Ich kenne Slutzki schon viele Jahre. […] Ich sage Ihnen ganz aufrichtig: Sluzki ist ein wohlerzogener Mensch, sehr gebildet, ein großer Denker, der sich in internationalen Fragen auskennt, und Frauen gegenüber verhält er sich immer warmherzig. Vielleicht scherzt er ein wenig herum, kann sein – irgendwelche Scherze …, aber dass er eine Frau beleidigt, das werde ich niemals glauben.

    Zudem möchte ich sagen – diese Journalisten-Mädels sollten ein wenig anständiger herumlaufen und nicht mit nacktem Bauchnabel, es ist ja schließlich eine staatliche Institution, […] Ich sehe, wie sie tagelang endlos in den Cafeterien herumsitzen und dann allen möglichen Unsinn schreiben. Was nicht alles über die Duma gesagt wird, dabei sitzen wir von morgens bis in die Nacht über der Arbeit. Deswegen ist das ziemlich bitter, ich will fast sagen beleidigend für ihn, ganz ehrlich, dass er in diese Geschichte hineingeraten ist.~~~Я знаю Слуцкого уже много лет. […] Слуцкий, искренне вам говорю, человек воспитанный, очень грамотный, интеллектуал большой, занимается международными вопросами и к женщинам относится всегда с теплотой. Может быть, он что-то может пошутить, это может — пошутить что-нибудь… но чтобы он оскорблял женщину, я в это никогда не поверю.

    Кроме того, хотела бы сказать, что эти девочки-журналистки ходили бы поприличнее, одевались бы, ведь это государственное учреждение, а не ходили с голыми пупками. […] А то я смотрю, они целыми днями сидят здесь в буфетах бесконечно, а потом напишут всякую ерунду. Чего только не наслушаешься про Думу, хотя мы здесь с утра до ночи занимаемся работой. Поэтому очень обидно, мне даже за него обидно, честное слово, что он попал в эту историю.[/bilingbox]

     
    veröffentlicht am 07. März 2018

    Novaya Gazeta: Der russische Harvey Weinstein

    Geschlechterrollen als heilige Kuh: Anna Narinskaja sucht in der Novaya Gazeta nach den Wurzeln des Problems:

    [bilingbox]Manchmal scheint es, die Rollenverteilung von Männern und Frauen in der Familie und im Leben überhaupt sei die wichtigste aller uns verbindenden Klammern. Das Wichtigste sind für uns die traditionellen Werte, an die wir uns halten, die wir nicht bereit sind aufzugeben. Wir sind bereit, den fremdländischen Harvey Weinstein zu verteidigen sowie sein russisches Double, den Abgeordneten Leonid Sluzki („Was ist schlecht daran, einer Frau an den Hintern zu tatschen? Das schmeichelt ihr doch nur“), weil das die uns herzliebe Disposition nicht zerstört. Der Mann ist der Hausherr und die Frau … die Frau macht die Hausarbeit.~~~Иногда кажется, что вот это распределение женско-мужских ролей в семье и вообще в жизни, — главная из имеющихся у нас скреп. Главное традиционная ценность, за которую мы держимся, которой не готовы поступиться. Мы готовы защищать чужестранного Харви Вайнштейна и его отечественного дублера, думца Леонида Слуцкого («А что плохого в том, чтобы похлопать женщину по заднице? Это ей только льстит»), потому что это не нарушает дорогой нашему сердцу диспозиции. Мужчина — хозяин жизни, а женщина… женщина — она по хозяйству.[/bilingbox]

     
    veröffentlicht am 5. März 2018

    dekoder-Redaktion

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    Graphic Novel: Mein Sex

    Zum Internationalen Frauentag bringt dekoder eine internationale Frauengeschichte aus Russland – über weiblichen Sex. Denn jedes kleine oder junge Mädchen und jede Frau erlebt ihre Geschichte des Sex.

    Das Besondere am Erleben der Protagonistin Aljona in der Graphic Novel Aljona Kamyschewskaja. Mein Sex ist davon geprägt, welchen Stellenwert das Thema Sex über die letzten Jahrzehnte in Russland hatte.

    Zu Sowjetzeiten war Sex ein Tabu, war verwerflich und versteckt, meint die Autorin Lena Uzhinowa. Erst durch die Perestroika wurde Sex offen besprechbar – nicht nur der Geschlechtsakt, auch sexuelle Identität und Geschlechterrollen. „Ich war wohl mutig, nicht verschreckt und habe genug gelesen, habe auch etwas für Erotikzeitschriften gemacht und eben alles so gezeichnet“, erklärt Lena Uzhinowa ihren Weg zur kraftvollen Bild- und Textsprache ihres Comic, das sie unter Pseudonym veröffentlichte.

    Seit ein paar Jahren laufe nun wieder ein Kampf um die Moral. Sex und Erotik werden unanständig. „Womöglich hängt das mit Russlands Kurs in die Isolation zusammen, dem Verschließen und der Orientierung nach Asien, wo man über diese Themen nicht spricht“, so die Autorin. Sie sagt, sie hätte Glück gehabt und das Comic rechtzeitig geschrieben. Während sie an Moi Sex arbeitete, wurde die Verwendung von Mat in Medien verboten, der Paragraph über Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen eingeführt wie auch der Ausdruck „Beleidigung der Gefühle von Gläubigen“. Auf Büchern steht jetzt eine Altersgrenze.

    Unterdessen verschwindet der Sex ins Internet – und dort versucht man ihn einzugrenzen. Die Staatsbeamten würden Erotik und Pornographie, Pädophilie und Homosexualität, Kontaktseiten und Prostitution, Kunst und Verbrechen verwechseln, meint Uzhinowa. „Prostitution gibt es bei uns heutzutage nicht, genau wie den Sex zu Sowjetzeiten“, fasst sie die Situation zusammen.
    Auch Uzhinowa selbst hat Restriktionen zu spüren bekommen: Als das russische Zentrum für Visuelle Kunst seinerzeit eine Buchpräsentation für Moi Sex organisieren wollte, konnte keine Präsentation stattfinden, da die Räume im Keller einer Jugendbibliothek liegen.

    Dabei ist Moi Sex ein Buch über Sex, in dem es keine einzige Sexszene zu sehen gibt: Vielmehr erzählt die Protagonistin Aljona von ihrer Suche nach dem Frausein – nach Sexualität, nach Liebe, nach Männern.

    Als Kind sind ihr dabei Papa-Diplomat und Mama-Diplomatengattin keine Hilfe, auch Vaters Freund, der es lustig findet, kleine Mädchen zu kitzeln, ist eher kontraproduktiv. Die ersten, die Aljona unverblümt mit dem Geschlechtsakt konfrontieren, sind sich massenweise paarende Frösche im Teich. Aljonas erste Periode kommt ausgerechnet während der Badefreuden im Ferienlager auf der Krim – und das in einer Zeit, zu der es in der Sowjetunion weder Binden noch Tampons gibt.

    Die Lust auf Männer erwacht spät und verläuft kompliziert. Dass Verliebtheit auf Gegenseitigkeit beruht, dass sie Seele und Körper gleichermaßen ergreift und vor allem nicht an diversen Hindernissen wie zum Beispiel Ehefrauen scheitert, ist gar nicht selbstverständlich. Aljona durchlebt auf ihrer Suche Höhenflüge und Katastrophen, erkenntnisreiche Momente und Ernüchterung, aber vor allem lässt sie nicht locker.


    Die Blase

    Jungspund Aljona

    Ohne Titel

    Autor: Aljona Kamyschewskaja/Lena Uzhinowa
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Erschienen am 08.03.2018

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  • Editorial: Fragen meiner Generation

    Editorial: Fragen meiner Generation
    Pjotr Lawrentjew, Republik Kalmückien (Ende 1930er–Anfang 1940er Jahre), Foto – © privat
    Pjotr Lawrentjew, Republik Kalmückien (Ende 1930er–Anfang 1940er Jahre), Foto – © privat

    Mein Urgroßvater starb, als ich vier Jahre alt war. Ich habe ihn nur ein paarmal gesehen. Wenn ich ihn treffen wollte, dann wurde mir oft gesagt, er sei sehr krank. Wie ich erst später erfuhr, war er in der Tat schwerkrank. Er war Alkoholiker. Er trank die letzten vier oder fünf Jahrzehnte seines Lebens fast jeden Tag.

    In einer Arbeiterfamilie in der Provinz des Russischen Reiches 1906 geboren, machte Pjotr Lawrentjew in den 1920er und 1930er Jahren eine steile Karriere, die der Oktoberrevolution zu verdanken ist. Er fängt an, in einer Fabrik zu arbeiten, tritt bald der kommunistischen Partei bei und studiert am sogenannten Institut der Roten Professur, einer Moskauer Hochschule für die Ausbildung der höchsten ideologischen Parteikräfte. Die soziale Mobilität, die in der Zeit des Großen Terrors eher einer schrecklichen sozialen Turbulenz ähnelte, katapultiert ihn in die Höhe, weit nach oben. Nach den Stalinschen Säuberungen 1937–38 wurde er zum Delegierten auf dem 18. Parteitag (1939) und Mitglied der Zentralen Revisionskommission, letztlich zum Ersten Parteisekretär in der Republik Kalmückien, einer Region im Süden Russland. Seine Position entsprach in etwa der eines Gouverneurs.

    Seine rasche Karriere war schon beeindruckend. Sehr lang dauerte sie allerdings nicht. Während des Großen Vaterländischen Kriegs gab es zu viele Opfer in der Bevölkerung Kalmückiens, was anscheinend unter anderem mit einer schlecht organisierten Evakuierung zu tun hatte. Außerdem fand in der Republik ein antibolschewistischer Aufstand statt. 1943 wurde er entlassen und …

    Ja, alle dachten, es kommt noch ein „und …“ und er selbst hat das ganze weitere Leben auf dieses „und“ gewartet. Er hatte erwartet, dass er verhaftet und erschossen wird, wie es mit einem großen Teil seiner Professoren, Mitstudenten, Kollegen, Vorgänger beim Parteitag und in der Revisionskommission geschah. Er wurde aber einfach auf einen niedrigen Posten versetzt, leitete seit 1944 einige Jahre eine Hochschule in der zentralrussischen Provinz. Die Hochschule, an der später meine Mutter, mein Vater und für jeweils ein Jahr auch mein Bruder und ich studierten. Ich erinnere mich noch an den Stolz, als ich am ersten Studientag in die Universität kam und das Foto meines Urgroßvaters an der Wand sah.

    Und jetzt, 2018, sehe ich mir auch ein altes Fotos von ihm an: Er sitzt in einem Zimmer, das Licht dringt durch das Fenster, so dass eine Schulter beleuchtet und die zweite im Dunkel bleibt. Er trägt, wie Trotzki, eine runde Brille, die er immer aufhatte, und den sogenannten stalinschen Frentsch – ein Symbol der damaligen Nomenklaturmode. Ich sehe nun sein Foto an und weiß nicht, wer er eigentlich war. War er ein Funktionär, der von der Stalinschen Säuberungen profitierte? Hat er beigetragen zum schrecklichen Verbrechen, zur Zwangsdeportation des ganzen kalmückischen Volkes, die seiner Amtszeit unmittelbar folgte? Oder kann man ihn mit seinem jahrzehntelangen Alkoholismus als ein Opfer der Stalinzeit bezeichnen?

    Wenn man heutige Medienberichte in Russland genau anschaut, fällt sofort auf, dass die Stalinzeit plötzlich ins Zentrum der öffentlichen Diskussion rückt. Das Aus für The Death of Stalin, das Errichten neuer Stalin-Denkmäler, die strafrechtliche Verfolgung eines Aktivisten oder auch die Versuche von Denis Karagodin, ein Gerichtsverfahren gegen Stalin zu eröffnen: Das alles zeigt, dass diese traumatisierte Epoche wieder aktuell wird, neu aufgerollt und thematisiert wird. Und die Mediendebatten werden meistens emotional so heftig geführt, als ob die Stalinschen Säuberungen nicht vor 80 Jahren, sondern gestern stattfanden.

    Wir bei dekoder haben entschieden, dass wir über das ganze Jahr 2018 diese Debatten in einem neuen Dossier beobachten, abbilden und kontextualisieren. Wie werden die Stalinschen Säuberungen im heutigen Russland wahrgenommen? Was verbindet man mit Stalin und warum spricht man nun über eine schleichende Stalinisierung? Wie verlief der Prozess der Ent-Stalinisierung nach Stalins Tod? Hängt eine Re-Stalinisierung mit einer misslungenen Ent-Stalinisierung zusammen? Damit beschäftigen wir uns in dem Dossier Stalin: Zwischen Kult und Aufarbeitung, das wir mit freundlicher Unterstützung der Stiftung für Aufarbeitung der SED-Diktatur durchführen.

    Viele Russen meiner Generation stellen sich diese Fragen. Das ist eine Generation, die nicht nur die offizielle Geschichte der Lehrbücher kennt, sondern auch die Zusammenhänge verstehen und erfahren möchte, welche Rolle ihre Vorfahren dabei gespielt haben.

    Wir haben viel zu tun.

    Euer Leonid
    Gnosenredakteur

    Diese Veröffentlichung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Video #14: Erste Homoehe in Russland registriert

    Video #14: Erste Homoehe in Russland registriert

    Zwei Stempel im russischen Pass, da steht es schwarz auf weiß: Pawel Stozko und Jewgeni Wojciechowski sind miteinander verheiratet. Das schwule Paar gab sich in Kopenhagen das Jawort, wie es viele homosexuelle Russen tun, ließ die Ehe aber in Russland anerkennen, was noch niemand versucht hat. In ihrem Fall ging es allerdings problemlos – zunächst. Im Fernsehsender Doshd erzählen sie von dem ungewöhnlichen Vorgehen und erklären ihre Beweggründe, die Ehe in Russland offiziell registrieren zu lassen.


     
    Das Originalvideo finden Sie hier.

    Doch unmittelbar nach Publikwerden des ungewöhnlichen Falles, erklärte die Sprecherin des Innenministeriums Irina Wolk die Pässe für ungültig. Der zuständigen Behördenmitarbeiterin, die die Ehe anerkannt hatte, und ihrer Vorgesetzten werde gekündigt, so Wolk. Die Wohnung des Paares wurde belagert von Polizisten, die von ihnen verlangten, die Pässe herauszugeben. Zwischenzeitlich wurde der Strom abgedreht, um Druck auf sie auszuüben. Den beiden wurde eine „Ordnungswidrigkeit” vorgeworfen, nämlich das „vorsätzliche Beschädigen von Dokumenten“. Die Eltern von Pawel Stozko erhielten anonyme Drohanrufe, sogar die Polizei kam bei ihnen vorbei – ohne Durchsuchungsbefehl, unter dem Vorwand, es sei ein Verbrechen im Hof des Hauses begangen worden.

    Vorwürfe, die gleichgeschlechtliche Ehe sei verboten in Russland, wo es das sogenannte Anti-Propagandagesetz gibt, sind allerdings haltlos. Das erklärte auch Jelena Lukjanowa, Professorin an der MGU und spezialisiert auf Verfassungsrecht, auf dem Radiosender Echo Moskwy: „Sie haben ihre Ehe in genauer Übereinstimmung mit dem russischen Familienrecht registrieren lassen, in dem nicht steht, welches Geschlecht die Bürger haben müssen, die ihre im Ausland geschlossene Ehe in Russland anerkennen lassen.”

    Pawel Stozko und Jewgeni Wojciechowski jedenfalls haben inzwischen das Land verlassen. In einer Stellungnahme dazu schreibt das Russian LGBT Network, das Paar habe sich aufgrund des „großen Drucks“ zu diesem Schritt gezwungen gesehen.


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  • „Wie es ausgeht, weiß keiner”

    „Wie es ausgeht, weiß keiner”

    Akribisch und detailversessen forscht und gräbt er in Archiven und in Erdhügeln nach Toten aus der Zeit des Großen Terrors. Er sorgt dafür, dass die Ermordeten und anonym Begrabenen wieder einen Namen und einen Gedenkort bekommen.

    Juri Dmitrijew, Leiter von Memorial in Karelien, hat mit seinen Nachforschungen ein Tabu gebrochen. Denn bis heute ist die Zeit des Großen Terrors kaum aufgearbeitet.

    Am 13. Dezember 2016 wurde Juri Dmitrijew verhaftet. Der ungeheure Vorwurf lautet: Kinderpornographie. Dabei werden ihm Fotografien zur Last gelegt, die er vor einigen Jahren von seiner Pflegetochter machte. 2008 hatte er das damals dreijährige Mädchen zu sich genommen. Nach den Anschuldigungen wurde das Kind aus der Familie genommen und ein Kontaktverbot verhängt. Dmitrijew bestreitet die Vorwürfe vehement und gibt an, mit den fraglichen Fotografien bloß die korrekte körperliche Entwicklung der erkrankten Tochter dokumentiert zu haben.

    Die Vorwürfe und der Prozess erregten großes Aufsehen, viele Beobachter zweifeln die Beschuldigungen an, glauben an eine Kampagne, um Dmitrijew zum Schweigen zu bringen. Ende Dezember 2017 wurde eine psychiatrische Untersuchung angeordnet, Dmitrijew wurde dazu nach Moskau geflogen. Dort saß er im berüchtigten Butyrka-Gefängnis ein. Am 27. Januar wurde Juri Dmitrijew aus der Untersuchungshaft freigelassen, nach mehr als einem Jahr hinter Gittern. Im Februar ist seine nächste Anhörung vor Gericht.

    Anna Jarowaja von 7×7 traf ihn zuhause in Petrosawodsk.


    „Ich habe meinen Kampfgeist nicht verloren.“ Juri Dmitrijew nach mehr als einem Jahr Haft / Fotos © Anna Artemjewa/Novaya Gazeta

    Wie war das letzte Jahr für Sie?

    Sagen wir mal so: Ich habe meine Zeit nicht vergeudet. Auch meinen Kampfgeist habe ich nicht verloren. Wenn man in eine Lage gerät, die ungewiss und schwierig ist und an der man nichts ändern kann, dann muss man seine Einstellung dazu ändern. Das habe ich getan.

    Womit haben Sie sich beschäftigt?

    Zunächst mal weiß ich ziemlich viel über dieses Gefängnis. Ich kenne die Schicksale von vielen Menschen, die dort zwischen 1937 und 1938 waren. Ich kenne Menschen, die durch diese Flure gegangen sind, in diesen Zellen gesessen haben, auch in der, in der ich einsaß. Ich verstehe jetzt, wie es diesen Menschen damals ergangen ist, wie es war, dort eingesperrt zu sein, was in ihnen vorging, was sie gefühlt haben.

    Wenn man in eine Lage gerät, an der man nichts ändern kann, muss man seine Einstellung dazu ändern. Das habe ich getan

    Auch sie wurden ja aufgrund von Denunziationen und falschen Anschuldigungen ins Gefängnis geworfen. Auch sie hat man angelogen, ihren Familien entrissen, als Volksverräter beschimpft, als Spione, Konterrevolutionäre und so weiter.

    Ich verstehe jetzt, woran sie gedacht haben, als sie diese Decke oder den Fußboden angestarrt haben oder während sie über diese Flure gegangen sind. Wie sie sich danach gesehnt haben, ihre Liebsten zu sehen … Wie sehr es sie verletzte, dass man sie als Verräter hinstellt.

    Ich will keine Prognosen aufstellen, aber ich kann mir gut vorstellen, wenn nicht ein ganzes Buch, so wenigstens ein Kapitel über die Menschen zu schreiben, die in diesem Gefängnis waren.

    Wieder zuhause – Dmitrijew mit der erwachsenen Tochter Katja und den Enkeln
    Wieder zuhause – Dmitrijew mit der erwachsenen Tochter Katja und den Enkeln

    Haben Sie die Unterstützung von außen vor Gericht gespürt?

    Das war eine gewaltige Unterstützung. Das berührt einen tatsächlich sehr. Und es gibt dir eine gewisse Hoffnung, dass sie dich nicht zerdrücken können, selbst wenn sie noch so wollen. Deshalb bin ich allen dankbar, die gekommen sind. Tatsächlich gab es ja nicht nur eine Sitzung, sondern es waren an die 30. Du sitzt da unten [im Gericht, 7×7], wartest, dass man dich nach oben bringt, die Wärter unterhalten sich darüber, dass sie gleich wieder vor die Kameras müssen, vor das applaudierende Publikum. Und ich: „Richtig, Jungs. Putzt euch die Federn, die Stiefel, dass alles schön glänzt!”

    Das Wachpersonal war jedes Mal ein anderes. Haben sie sich auf irgendetwas vorbereitet?

    Die haben da ihre ganz eigenen Anweisungen. Einen kleinen Dieb kommen vielleicht mal ein paar Kumpels besuchen. Und da ist plötzlich der ganze Flur voll mit Leuten. Wer weiß, was die da wollen. Und dann klatschen die auch noch. Was soll man davon halten? Wenn da so ein Waldschrat in Handschellen abgeführt wird. (lacht)

    Plötzlich der ganze Flur voll mit Leuten. Und dann klatschen die auch noch. Was soll man davon halten?

    Nicht auszudenken …

    Ja, nicht auszudenken. Später, als die FSIN-Leute wissen wollten, warum alle applaudieren, habe ich zu ihnen gesagt: „Jungs, diese Menschen hier – sie sind das Gewissen Russlands. Sie haben ihre Angst überwunden und sind hergekommen, um mich zu unterstützen.“ Naja, der eine oder andere fängt vielleicht an nachzudenken, aber die meisten verstehen das nicht.

    Seit Beginn der Gerichtsverhandlung am 1. Juni [2017], welche Momente waren besonders hart? Welche Zeit war die schwerste?

    Das Schwerste waren wahrscheinlich die Gespräche mit meinem Ermittler. Das war noch vor den Verhandlungen. Das Gericht ist dann die Institution, die sich mit dem auseinandersetzt, was er aufschreibt und was gesagt wurde.

    Diese Menschen hier – sie sind das Gewissen Russlands

    Der Löwenanteil des Erfolgs vor Gericht gehört der Arbeit meines Anwalts. Er hat alles sehr intelligent aufgebaut, wir waren ständig in Kontakt, er hat mich von so manchem Auftritt und harten Worten [vor Gericht, 7×7] abgehalten.

    Als man Sie in die Psychiatrie brachte, dachte niemand, dass das alle so schnell ein Ende nimmt.

    Ich denke, dass die öffentlichen Appelle doch eine Rolle gespielt haben. Schließlich gab es mehrere direkt an den Präsidenten. Es ging dabei nicht darum, mich freizusprechen, aber doch zumindest nach dem Gesetz zu handeln und nicht so, wie man gerade Lust hat.

    Es ist jedenfalls offensichtlich, dass es ein Signal von oben gab. Denn das ging so rapide: mit dem Flugzeug dorthin und wieder zurück.

    „Ich werde meine Kinder und Enkel erziehen und Bücher schreiben“
    „Ich werde meine Kinder und Enkel erziehen und Bücher schreiben“

    Was werden Sie als Nächstes tun? Während Ihrer Zeit in Haft sind zwei Bücher von Ihnen erschienen. Was nun? Ein neues Buch? Ein neues Thema?

    Leider wurde ich verhaftet, als ich kurz davor war – zwei Wochen, vielleicht etwas mehr –, die Arbeit der letzten zehn Jahre abzuschließen – ein Buch über die Sonderumsiedler von Karelien. Mir fehlten nur noch ein paar Kapitel. Jetzt werde ich versuchen, die bisherige Arbeit zu rekonstruieren und alles abzuschließen. Ich werde meine Kinder und Enkelkinder erziehen, Bücher schreiben, also das tun, was ich vorher auch getan habe.

    Bücher, also …

    Ich weiß nur eins: Ich muss zusehen, dass ich dieses Buch beende, weil den Menschen noch 126.000 Namen [von Sonderumsiedlern, 7×7] zurückgegeben werden müssen, die von allen schon lange und gründlich vergessen sind. Und mit „alle“ meine ich die staatlichen Strukturen.

    Diese Menschen wurden irgendwo enteignet, von irgendwo hierher gebracht. Mehr als die Hälfte wurde hier ermordet, in Waldgräbern verscharrt. Geblieben sind ihre Nachkommen, das ist etwa ein Viertel der heutigen Bevölkerung in Karelien – diesen Nachkommen will ich Informationen über ihre Großmütter, Urgroßmütter, Urgroßväter geben. Woher sie stammen, wo ihre Wurzeln sind, wo ihre Familien herkommen.

    Ich will erzählen, wie diese Menschen hier hergebracht wurden, wer sie damals enteignet hat. Was man hier mit ihnen gemacht hat, wo sie umgebracht wurden, wo sie begraben sind.

    Den Menschen müssen noch 126.000 Namen zurückgegeben werden, die von allen schon lange und gründlich vergessen sind

    Solche Grabstätten wie Krasny Bor, Sandarmoch – wir haben hier in Karelien leider mindestens 30 davon. Und so sehr wir auch wollen, wir, das heißt meine Freunde und ich, haben einfach weder genug Ressourcen noch Zeit, diese Grabstätten zu pflegen. Also will ich die Nachfahren zusammenbringen, wenigstens anhand der Sondersiedlungen. Sie sollen sich informieren können, hinfahren, irgendetwas aufstellen auf diesen Friedhöfen.

    Ihr Fall jedenfalls ist noch nicht abgeschlossen. Und keiner weiß, wie es ausgeht.

    Ja, das weiß niemand. Erstmal bin ich hier.

    Patronen einer Browning-Pistole in den Händen von Juri Dmitrijew. Er fand sie 2004 zwischen den Überresten von 26 Menschen
    Patronen einer Browning-Pistole in den Händen von Juri Dmitrijew. Er fand sie 2004 zwischen den Überresten von 26 Menschen

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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