Noch bevor Zehntausende landesweit am vergangenen Sonntag auf die Straße gingen, um ihre Solidarität mit Oppositionspolitiker Alexej Nawalny zu bekunden, hatten Sicherheitskräfte hart durchgegriffen: Es gab zahlreiche Festnahmen, Strafverfahren wurden eingeleitet, Nawalny-Vertraute kamen unter Hausarrest – etwa sein Bruder Oleg Nawalny und die Oppositionelle Ljubow Sobol. Am Sonntag schließlich riegelten Sicherheitskräfte nicht nur den Platz rund um die Lubjanka ab – den ursprünglichen Versammlungsort der Protestierenden, sondern ließen auch Geschäfte und Cafés in Moskaus Innenstadt schließen sowie mehrere Metrostationen. Die Demonstrierenden verlegten schließlich den Treffpunkt, der Protest zersplitterte teilweise in viele kleine Gruppen, die durch die gesamte Stadt zogen, zeitweise war das Untersuchungsgefängnis Matrosenruhe, in dem Nawalny derzeit in U-Haft ist, das Ziel. Landesweit wurden laut OWD-Info über 5000 Menschen festgenommen, darunter mindestens 82 Journalisten. Polizisten setzten neben Schlagstöcken auch Elektroschocker gegen Protestierende ein; Szenen wie die von Festnahmen durch maskierte Sicherheitskräfte in Zivil oder von im Schnee liegenden Demonstranten erinnerten viele Beobachter an die Proteste in Belarus.
„Warum muss man so hart vorgehen?“, das fragen sich angesichts dieser Maßnahmen derzeit viele – Irina Tumakowa von der Novaya Gazeta hat die Frage dem Politologen und einstigen Putin-Berater Gleb Pawlowski gestellt. Im Interview spricht er darüber, welche Botschaft den Bürgern vermittelt werden soll – und warum Nawalnys Team die Situation aktuell mehr kontrolliert als die Staatsmacht.
Irina Tumakowa: Gleb Pawlowski, warum musste beim Auflösen der Protestaktionen so hart vorgegangen werden? Warum will die Staatsmacht diese Protestaktionen überhaupt auflösen, wovor hat sie Angst?
Gleb Pawlowski: Es ist gar nicht die Frage, warum die Aktionen aufgelöst werden, sondern warum sie so erfolgreich sind. In meinen Augen sind diese Aktionen verblüffend erfolgreich, die da im Namen der Befreiung Nawalnys geschehen. Und dieser Erfolg hängt damit zusammen, dass es der Opposition im bedeutenden Ausmaß gelungen ist, strategische Kontrolle über das Handeln der Staatsmacht zu bekommen. Denn dieses Handeln war vorhersehbar und dumm.
Das ist ja genau die Frage: Warum muss man so hart vorgehen – und so dumm?
Die Dummheit der Staatsmacht ist ein wichtiger Faktor in der revolutionären Mobilisierung der Massen. Darüber, wie außerordentlich wichtig diese Protestaktionen sind, wurde zunächst erst einmal Moskau und dann ganz Russland informiert – und zwar durch die Absperrung des gesamten Moskauer Stadtzentrums. Wohlgemerkt, der Hauptstadt unseres Heimatlandes.
Der Opposition ist im bedeutenden Ausmaß gelungen, strategische Kontrolle über das Handeln der Staatsmacht zu bekommen
Ich kann mich nicht mal entsinnen, wann das zum letzten Mal passiert ist. Die haben sehr früh damit angefangen, haben erklärt, dass das mit einer möglichen Protestaktion zusammenhänge. Damit haben sie mindestens 30 Prozent zusätzliche Teilnehmer mobilisiert. Schon vorher. Zweitens ist das ein ganz beliebter Fehler derer, die solche Straßeneinsätze durchführen. Es wurde eine ungeheure Menge an OMON-Spezialeinheiten und Polizei aufgefahren, was gar nicht nötig gewesen wäre. Was sollen die machen? Das Zentrum war abgesperrt, daher hat man dann die Demonstranten durch die Stadtteile, durch kleine und große Straßen gejagt. Daraufhin mussten sie sogar noch weitere Metrostationen schließen.
Übrigens ist es die härteste, direkteste und schnellste Methode, die Stadt über einen Ausnahmezustand in Kenntnis zu setzen, indem man ein paar Metro-Linien sperrt.
Dass das ein Fehler ist, weiß man spätestens seit dem Maidan in Kiew, als die zentralen Metrostationen geschlossen und die Stadtbewohner deswegen wütend wurden. Ganz normale Menschen, die nicht vorhatten, an irgendetwas teilzunehmen. Es dauerte genau einen Tag, dann wurde die Metro wieder geöffnet, denn das ist ein sehr starkes Signal seitens der Staatsmacht.
Wofür?
Dafür, dass sie, also die Staatsmacht, die Sache nicht im Griff hat.
Im Endeffekt haben OMON und Polizei angefangen, die Menschen durch die Straßen zu jagen – und haben damit faktisch die Protestaktion über die ganze Stadt ausgebreitet.
Aber auch bei den Festnahmen wurde sehr hart durchgegriffen.
Was bedeuten diese Festnahmen denn? Sie sind das einzige, was der Staatsmacht bleibt. Was anderes können sie gar nicht tun. Sie können ja nicht die Einwohner aus der Stadt vertreiben. Sie können die Zahl der Verhafteten und Inhaftierten verringern und vermehren. Von ihnen wird ja Rechenschaft gefordert, Erfolgsstatistiken, jeder soll zeigen, dass er was tut. Also steigt die Zahl der Festnahmen. Doch damit wächst der Maßstab der Aktion: Wenn die Zahl der Festgenommenen gen Mittag schon bei über 2000 liegt, dann kriegen Menschen den Eindruck, dass die Zahl der Teilnehmer mindestens das Hundertfache betragen muss.
Jeder soll zeigen, dass er was tut. Also steigt die Zahl der Festnahmen
Sehen Sie darin einen Erfolg für die Bewegung zur Befreiung Nawalnys?
Ich denke, die Bewegung hat schon mehr erreicht, als sie wollte. Stellen Sie sich vor, man hätte ihnen einfach gestattet, eine solche Demonstration abzuhalten. Da wären vielleicht 30.000 oder 40.000 gekommen, hätten gefroren und wären dann wieder nach Hause gegangen. Doch im Endeffekt wurde es so zu einem politischen Großereignis allrussischen Ausmaßes. Besonders anschaulich war das in den Hauptstädten Moskau und Piter.
Deswegen frage ich ja – wozu der ganze Aufwand? Alles, was Sie sagen, war ja vorher abzusehen, lange vor den Protestaktionen, sogar die Verantwortlichen der ganzen Festnahmen hätten sich das denken können.
Sie haben es ja hier nicht mit einem denkenden Wesen zu tun. Sie haben es mit … Das ist so ein amorphes Etwas. Oder gar eine ganze Kolonie von Organismen, die aber alle ihre eigenen Ideen im Kopf haben. Wenn davon gesprochen wird, dass all das einem Plan folge und gesteuert würde, dann ist das falsch. Natürlich wurde ein Einsatzkommando eingerichtet, das die Demonstration verhindern sollte. Und genau dieses Kommando verstärkt das Chaos enorm.
Festnahmen gab es auch früher, aber nicht so einen Irrsinn.
Putin hat den Prozess nicht mehr in der Hand, er ist nicht mehr das mäßigende Glied zwischen den zivilen Staatsdienern und den Silowiki in Uniform, deswegen haben die Silowiki jetzt freien Lauf. Diesen freien Lauf der Silowiki sehen wir auf der politischen Bühne.
Putin hat den Prozess nicht mehr in der Hand
Aktuell werden sie von Nawalnys Team kontrolliert, das die Strategie vorgibt: Nachdem das Team [zur Demonstration] vor der Lubjanka aufgerufen hatte, wurde das Stadtzentrum abgeriegelt. Offenbar hat das Wort „Lubjanka“ einen mächtigen Eindruck auf die Silowiki gemacht. Nawalnys Team hat sie zur Sucharewskaja Metrostation geschickt. Sie haben sich mit aller Kraft dahin gestürzt – weiter haben sie praktisch selbst die Arbeit gemacht und die Demonstranten immer weiter getrieben in Richtung Matrosenruhe [Untersuchungsgefängnis, in dem Nawalny sitzt – dek]. Das war sehr amüsant, das zu verfolgen …
Nawalnys Palast-Film ist mehr beleidigend als enthüllend. Und Sie glauben, dass Putin sich darauf einlassen wird, Nawalny freizulassen?
Das ist ja ein innerer Interessenkonflikt: Will Putin sich seinen Emotionen ergeben oder will er sich politisch retten? Falls er sich politisch retten will, dann sollte er anfangen, zumindest ein wenig rational zu handeln.
Falls er Rache üben will, dann kann er die Landesleitung an [die FSB-Männer – dek] Bortnikow und Patruschew übergeben, die die Sache ganz schnell in die Luft gehen lassen. Schneller als es Putin könnte.
Sie haben Putin persönlich gut gekannt. Zeugen seine jüngsten Taten für Sie davon, dass er seine Gefühle voll im Griff hat?
Jener Putin hatte seine Gefühle im Griff. Beim heutigen sieht es nicht danach aus.
Es scheint, als würden die russischen Silowiki die belarussischen nachmachen: brutale Massenfestnahmen, abgeriegelte Stadzentren, Aussetzer beim Handynetz.
Nein, ich glaube nicht, dass sie das nachmachen. Die verfügen über genug eigene Dummheit. Aber belarussische Techniken und Technologien dringen über zwei Kanäle nach Russland. Zum einen über die Opposition: Nawalnys Bewegung hat die belarussischen Erfahrungen klar im Auge. Sonst hätte man einfach fragen können: Warum zum Teufel sollen wir eine Demo veranstalten, Menschen werden durch die Straßen und Höfe ziehen, sie werden gejagt, was werden sie auf der Demo schon Beeindruckendes hören, und von wem überhaupt, wo doch die Anführer fast alle eingesperrt sind. Zum anderen wird polizeiliches Repressions-Know-How aus Belarus übernommen. Noch recht zaghaft. Aber das wird zunehmen.
Belarussische Techniken und Technologien dringen über zwei Kanäle nach Russland
Und so kommt es zu einer Patt-Situation: Wenn wir euch nicht fürchten, was könnt ihr dann mit uns machen? Ihr könnt uns jagen – dann ziehen wir durch die Höfe auf die nächste Straße.
Es gibt eine andere Möglichkeit des „Was tun?“: Wir werden euren Nawalny für zehn, wenn nicht gar fünfzehn Jahre einbuchten.
Nawalny wird auch so plattgemacht. Wenn Nawalny eingebuchtet wird, dann wird er so lange sitzen, wie sich die gegenwärtige Situation des Regimes halten kann. Aber die kann sich ändern, darum ist Verhandeln sinnlos. Hier geht es nicht um einen Kompromiss. Sie bieten nichts an zum Verhandeln.
Sie sehen, wie mir scheint, eine positive Entwicklung für Nawalnys Team.
Für Nawalnys Team – weiß ich nicht. Die Leute gehen auf Angriff, eine positive Entwicklung wäre für sie, wenn sie zumindest ein Zwischenziel erreichen. Aber generell handeln sie derzeit erfolgreich, zweifellos. Doch das sagt nichts darüber aus, ob sie immer erfolgreich bleiben können. Aber bislang ist es ein Erfolg.
Welche Taktik wäre jetzt erfolgversprechend für die Regierung, persönlich für Putin?
Vermutlich ein Kompromiss. Putin könnte die Idioten mit den Schulterklappen beiseite schieben und das Steuer dem politischen Block seiner eigenen – seiner eigenen! – Präsidialadministration übergeben. Die wird mit der Situation vermutlich ein wenig besser klarkommen.
Russlandweit sind am vergangenen Sonntag wieder tausende Menschen auf die Straßen gegangen, um ihre Solidarität mit dem inhaftierten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny zu bekunden. Bereits zuvor hatte es zahlreiche Festnahmen und Durchsuchungen gegeben, Mitarbeiter und Verbündete Nawalnys wurden teilweise unter Hausarrest gestellt, etwa sein Bruder Oleg Nawalny. Bei den Protesten am Sonntag schließlich kam es landesweit zu mehr als 5000 Festnahmen, wie die NGO OWD-Infoberichtet. In Sozialen Netzwerken machten Bilder von Polizeigewalt die Runde, Spezialeinheiten setzten etwa Elektroschocker ein. Was treibt die Menschen auf die Straße? Weshalb die hohe Polizeigewalt? Und wie nervös ist der Kreml? Ein Bystro in fünf Fragen und Antworten von Jan Matti Dollbaum.
1. Derzeit registrieren wir die größten Proteste mindestens seit 2012. Woher kommt dieser Unmut? Sind das alles nur Nawalny-Befürworter? Oder ist der gemeinsame Nenner Protest gegen Putin?
Nawalny ist in russischen Oppositionskreisen eine durchaus kontroverse Figur. Das ist zum einen seiner Neigung geschuldet, sich auf Social Media unerbittlich zu streiten – auch mit politisch Gleichgesinnten. Es liegt zum anderen auch an seinen politischen Positionen und Strategien, mit denen weder Linke noch Liberale durchgehend sympathisieren. Doch zurzeit sind solche Differenzen vorübergehend einer breiten Solidarität gewichen – angesichts des Giftanschlags und Nawalnys mutigen Entschlusses, nach Russland zurückzukehren, obwohl die Verhaftung drohte. Das heißt: Es sind nicht alle dort glühende Nawalny-Fans, aber die meisten sind erbost darüber, wie ihm mitgespielt wurde. Hinzu kommen mittlerweile auch Wut und Fassungslosigkeit darüber, wie die Polizei mit friedlichen Demonstranten umgeht. Und immer klarer spitzt sich der Protest auf Putin zu. Dazu trägt Nawalnys Film über Putins Palast sicher einen Teil bei – zumindest indem er denjenigen, die ohnehin an Putin zweifeln, weitere Argumente an die Hand gibt.
2. Es gibt zahlreiche Verhaftungen und Festnahmen, Strafverfahren, die eingeleitet werden. Wie nervös ist die Regierung?
Den Verantwortlichen im Kreml wird dieser Tage oft Nervosität attestiert. Und tatsächlich sitzt Putin nicht mehr so fest im Sattel wie noch vor drei Jahren. Der Grund dafür sind aber nicht die Proteste selbst, sondern das schwindende Vertrauen der Bevölkerung in den Präsidenten. Solange es keine Aufrüstung und koordinierte Gewalt der Protestierenden gibt (und das ist nicht zu erwarten), würde der Sicherheitsapparat auch mit größeren Protesten locker fertig werden (Wasserwerfer wurden bislang noch nicht aufgefahren). Die Verhaftungen und Strafverfahren sind deshalb weniger ein Zeichen von Nervosität, sondern ein Teil der Abschreckungsbotschaft, die schon seit 2012 gilt und seitdem immer deutlicher gemacht wird: Wer politisch protestiert, muss mit Repression rechnen. Das Polizeiaufgebot und der Gewalteinsatz sind also nicht deshalb so hoch, weil der Kreml aktuell Massen erwartet, sondern um die Aussichtslosigkeit des Widerstands zu kommunizieren.
3. Wie ist vor diesem Hintergrund der Prozess gegen Alexej Nawalny zu bewerten, der für den morgigen Dienstag, 2. Februar, angesetzt ist?
Die erneuten Proteste diesen Sonntag haben gezeigt, dass Nawalny ein größeres Mobilisierungspotential hat, als man es sich im Kreml eingestehen wollte: Trotz Verhaftungen und Strafverfahren seit vergangenem Wochenende gingen wieder Zehntausende auf die Straßen. Die Überlegungen im Kreml werden jetzt dahin gehen, wie dieses Potential am effektivsten auszubremsen ist: Lässt man Nawalny frei und hofft auf ein langsames Abflauen, riskiert aber, dass er jetzt die Opposition hinter sich vereinigt? Oder schickt man ihn für mehrere Jahre ins Gefängnis, nimmt in Kauf, dass er zur Symbolfigur des Widerstands wird und weitere Proteste möglicherweise noch repressiver niedergeschlagen werden müssen? Die Entscheidung bleibt abzuwarten, doch die zweite Variante ist wahrscheinlicher.
4. Ende 2020 hat die Duma eine ganze Reihe schärferer Gesetze beschlossen, betroffen ist auch das Demonstrationsrecht. Es geht demnach um die Aufrechterhaltung der Sicherheit des öffentlichen Raums. Wie viel haben die Maßnahmen aber auch mit der Dumawahl 2021 zu tun?
Bei Protesten geht es in Russland – wie auch anderswo – viel um die öffentliche Wirkung. Wenn man, wie der Kreml, politischen Protest diskreditieren will, dann hilft es, wenn man diesen Protest als „illegal“ bezeichnen kann. Auch ein harscher Polizeieinsatz lässt sich so leichter öffentlich rechtfertigen. Die Regeln zu verschärfen ergibt also schon allein aus dieser Perspektive heraus Sinn. Da es anlässlich der Lokalwahlen in Moskau schon zu großen Protesten kam, und auch jetzt wieder zahlreiche oppositionelle Kandidaten antreten (und wahrscheinlich nicht zugelassen) werden, ist auch diesmal mit Protest zu rechnen. Die Gesetze sind also sicher auch mit Blick auf die Wahlen erlassen worden.
5. Auch das sogenannte ausländische Agentengesetz wurde verschärft. Was sind da die wichtigsten Änderungen, und wie sind sie zu bewerten?
Bereits seit 2019 kann das Justizministerium nicht nur Nichtregierungsorganisationen, sondern auch Medien auf die Liste ausländischer Agenten setzen. Im Februar 2020 kamen dann auch Einzelpersonen dazu, die öffentlich Informationen verbreiten und Geld aus dem Ausland erhalten. Die jetzigen Änderungen verschärfen dies noch einmal: Nun kann jede „politische Tätigkeit“ in Kombination mit ausländischer Geldquelle dazu führen, dass man auf der Liste landet. Was als politische Tätigkeit gilt, ist dabei höchst vage. Ein weiterer Trick: Die ausländische Finanzierung muss ab jetzt überhaupt nicht mehr mit der „politischen Tätigkeit“ in Zusammenhang stehen. Weitere wichtige Änderungen besagen, dass das Label Ausländischer Agent auch an Organisationen vergeben werden kann, die nicht offiziell registriert sind. Dies ist insbesondere deshalb brisant, weil zudem alle Medien verpflichtet sind, den Status jedesmal zu nennen, wenn sie öffentlich über einen sogenannten Ausländischen Agenten berichten. Es scheint also insgesamt, als hätte sich aus Sicht des Kreml das Gesetz, das 2012 erlassen wurde, bewährt.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Mittlerweile sind die Massenproteste in Belarus nahezu zum Erliegen gekommen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Kälte, Corona, Erschöpfung und die anhaltenden Repressionen. Dennoch gibt es jede Woche dutzende kleinere Protestaktionen im ganzen Land, auf die der Machtapparat Alexander Lukaschenkos weiterhin mit rigorosen Festnahmen reagiert. Zudem geht das System gezielt gegen die Symbolik der Proteste wie beispielsweise der weiß-rot-weiße Flagge vor. Es dürfte klar sein: Das Land befindet sich in einer tiefen Krise, deren Lösung noch nicht absehbar ist.
Der bekannte politische Analyst Waleri Karbalewitsch seziert in seinem thesenartigen Beitrag für die Zeitung Swobodnyje nowosti Plus die Ereignisse seit der Präsidentschaftswahl am 9. August 2020, erklärt ihre Bedeutung für das politische System Lukaschenkos und die Auswirkungen auf gesellschaftspolitische Dynamiken. Dazu wagt er einen Ausblick in die Zukunft.
1. Der Hauptgrund für den revolutionären Ausbruch ist, dass das belarussische Gesellschaftsmodell, das Alexander Lukaschenko vor einem Vierteljahrhundert erschaffen hat, seine Ressourcen aufgebraucht hat und zu einer Bremse für die Entwicklung des Landes geworden ist. Innerhalb der belarussischen Gesellschaft hat sich ein großes Protestpotential angestaut, das sich im Sommer 2020 entladen hat. Hier kamen mehrere Faktoren zusammen, die eine Situation des „perfekten Sturms“ geschaffen haben. In den 26 Regierungsjahren Lukaschenkos hat ein Generationenwechsel stattgefunden. Die Gesellschaftsstruktur hat sich gewandelt. Die Zahl der Menschen, die in privaten Strukturen arbeiten, ist gestiegen. Soziologische Umfragen zeigen, dass die Belarussen heute eine der marktfreundlichsten Nationen Europas sind.
2. Der belarussische Frühling ist eine Revolution der wachsenden Erwartungen. Während das Durchschnittseinkommen in Belarus in den letzten zehn Jahren faktisch gesunken ist, sind die Ansprüche der Gesellschaft gestiegen. Lukaschenko wurde für die meisten Belarussen zum Symbol der Stagnation und der Ausweglosigkeit.
3. Der Prozess, der in den Staatsmedien als Transformation von Belarus zum IT-Land gezeichnet wurde, hatte unerwartete, weil politische Folgen. Neue Technologien und damit neue Wirtschaftszweige, zum Beispiel die IT-Branche, brachten Arbeitnehmer mit anderen Werten und einem anderen Lebenswandel hervor. Sie beförderten einen Konflikt, einen stilistischen Bruch zwischen denjenigen, die in der digitalen Sphäre mit einer horizontal organisierten Netzkultur leben, und der im Land vorherrschenden autoritären Machtvertikale. Unter anderem führte das zu einer anderen Wahrnehmung der Rolle der Frau in Gesellschaft und Politik.
4. Der Machtapparat hat sein Informationsmonopol eingebüßt. Das Internet, neue Medien und soziale Netzwerke haben das alte Kommunikationssystem des herrschenden Regimes mit der Gesellschaft zerstört. Das war ein wichtiger Faktor für den gesellschaftlichen Aufbruch.
Das Regime hat seine moralische Autorität verloren
5. Genau wie die autoritären Herrschaftsmethoden stößt das archaische sozioökonomische und politische System bei den meisten auf Ablehnung. Wir haben eine sich modernisierende Gesellschaft, die Veränderungen und sich vom Staatspaternalismus befreien will, und auf der anderen Seite ein Regime, das den Status quo konserviert. Die Gesellschaft ist über den Staat hinausgewachsen, seine Rahmen sind ihr zu eng geworden. Lukaschenko ist nicht einmal aufgefallen, dass er und das Land in verschiedenen historischen Epochen leben.
6. Das seit einem Vierteljahrhundert bestehende belarussische Modell basiert nicht auf dem Vertrauen der Gesellschaft in die politischen Institute, sondern auf dem Vertrauen in Lukaschenko. Die Legitimität des Regimes gründete in vielerlei Hinsicht auf dem persönlichen Charisma des Staatsoberhaupts. So führte die Krise des Vertrauens in seine Person zu einer heftigen politischen Krise.
7. Das Ergebnis der jüngsten Ereignisse war die Desakralisierung der Macht als solche. Bisher waren in Belarus die staatlichen Institute der einzige Mechanismus, der die Belarussen zu einer Gesellschaft vereinte. Andere Mechanismen wie Nation oder Zivilgesellschaft gab es nicht im vollumfänglichen Sinn. Jetzt weigert sich der Staat, diese einigende Funktion zu erfüllen. Im Gegenteil, die Regierung hat die Gesellschaft ganz bewusst gespalten und einem Großteil der Bürger faktisch einen Bürgerkrieg erklärt. Der Staat ist zu einer Gefahr für die Gesellschaft geworden.
8. Das Regime hat seine moralische Autorität verloren. Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben bei dem Großteil der Bevölkerung die Illusionen hinsichtlich dessen zerstört, was der Staat Lukaschenkos in Wahrheit ist. Die Belarussen sehen die Macht nun als ungerecht und unmoralisch. Auf diese Weise wurde die belarussische Revolution, genau wie die ukrainische Revolution von 2014, zu einer Revolution der Würde.
9. Innerhalb weniger Monate, im Eiltempo, hat sich die Gesellschaft enorm entwickelt. Die Philister sind zu Bürgern geworden, mit dem metaphorischen Beinamen die „Unglaublichen“. Das Volk wurde zum politischen Subjekt, das das Regime sich weigert anzuerkennen.
10. Im Laufe der letzten Monate hat sich in Belarus eine Zivilgesellschaft formiert, horizontale Verbindungen wurden geknüpft. Eine große Infrastruktur der sozialen Bewegung ist entstanden, ganze Häuser und Viertel haben sich zusammengeschlossen und kommunizieren über Chats. Anstelle von staatlich initiierten Korporativen haben sich spontan selbstorganisierte Berufsverbände gebildet. Es gibt Chatgruppen von Medizinern (Die weißen Kittel), Sportlern und so weiter. Dieser Prozess findet zu einem wesentlichen Teil auf den digitalen Plattformen statt, das heißt auf einer postindustriellen Basis.
Die Proteste haben nicht zu einer Spaltung der Eliten geführt
11. Der Werdungsprozess der belarussischen Nation ist abgeschlossen. Gewöhnlich formiert sich eine Nation im Kampf gegen einen äußeren Feind (ein Imperium, ein Mutterland). Im Fall von Belarus formierte sich die Nation im Kampf gegen das herrschende Regime – ein weiteres Paradox der belarussischen Revolution. So ist es kein Zufall, dass traditionelle Symbole zum Symbol der Revolution wurden: die weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonja-Wappen. Und wir haben in diesen Monaten erstmals gesehen, dass es eine belarussische Diaspora gibt (als Teil der belarussischen Nation), die den Protest aktiv unterstützt.
12. Das korporative Staatsmodell hat eine Niederlage erlitten. Die Belegschaften von Staatsunternehmen haben sich den Protesten angeschlossen – die stellen ein Schlüsselelement des belarussischen Gesellschaftsmodells und ein wichtiges Kontrollinstrument für die politische Loyalität der Arbeitnehmer dar.
13. Der prinzipiell friedliche Charakter des Protests, der im Gegensatz zur ausnehmenden Brutalität des herrschenden Regimes steht, ist ein weiteres Phänomen der belarussischen Revolution. Wenn es gelingt, ein hartes, konsolidiertes politisches Regime auf friedlichem Wege zu besiegen, wäre das eine einzigartige Erfahrung einer demokratischen Transformation.
14. Die Proteststimmung in der Gesellschaft, der „Aufstand der Massen“, hat allerdings nicht zu einer „Krise der Obrigkeit“, einer Spaltung der Eliten geführt, was nach sämtlichen Theorien eine notwendige Voraussetzung für den Sieg der Revolution ist. Die Erwartung, dass der Staatsapparat unter dem moralischen und psychologischen Druck des Volkes zu bröckeln beginnt oder auf die andere Seite der Barrikaden wechselt, hat sich nicht erfüllt. Warum?
a) Weil wir in Belarus ein starkes und konsolidiertes autoritäres Regime haben. Nicht ein einziges staatliches Institut ist vom Volk gewählt, ist dem Volk Rechenschaft schuldig oder untersteht seiner Kontrolle. Alle Institute sind gänzlich unempfänglich für abweichende Gesinnungen. Für Gegner des Regimes gibt es im Staatsapparat und dem politischen System als Ganzem keinerlei Anknüpfungspunkte. Seit einem Vierteljahrhundert existiert die Opposition im Modus vom Status her außerhalb des Systems. Es gibt eine feste Machtvertikale, die Lukaschenko von oben persönlich bestimmt. Der Staatsapparat existiert unabhängig vom Volk und reagiert deshalb nicht auf dessen Forderungen, sondern bleibt loyal gegenüber dem, der ihn geschaffen hat.
b) In Belarus ist der Staat in allen Bereichen des öffentlichen Lebens überaus präsent. Er dominiert nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch die soziale Sphäre (Wohnungs- und Kommunalwirtschaft, Medizin und Bildung), die Medien, die Kultur und so weiter. Der Staat ist der größte Arbeitgeber. Das ermöglicht der Regierung eine staatliche Kontrolle der Gesellschaft. Politische Repressionen werden nicht nur durch die Rechtsschutzorgane und die Sicherheitsdienste umgesetzt, sondern durch alle staatlichen Strukturen. Dabei steht die Umsetzung der Repressionen, und nicht die Erfüllung der eigentlichen Funktionen, heute im Mittelpunkt der Arbeit der Staatsorgane.
Der Staat wird auf das politische Regime reduziert
15. Die einzige Antwort des herrschenden Regimes auf die neue Herausforderung ist es, auf nackte Gewalt und präzedenzlose politische Repressionen zu setzen. Alle, die gegen Lukaschenko sind, werden zum Freiwild deklariert. Gesetze gelten für sie nicht.
16. Der Kult der rohen Gewalt charakterisiert sehr gut das Unvermögen des herrschenden Regimes, sich an die neue Realität anzupassen. Das Regime hat kein Narrativ für die Zukunft, außer der Erhaltung des Status quo, der auf Angst und Gewalt beruht. Lukaschenko versteht nicht einmal die Notwendigkeit eines Zukunftsnarrativs.
17. Seit Monaten befindet sich das Land psychologisch im Zustand eines Bürgerkriegs. Und der Krieg ist nicht einmal mehr kalt. Mehrere Menschen wurden getötet, Hunderte waren Prügel und Misshandlungen ausgesetzt, mehr als dreißigtausend wurden verhaftet.
18. In der Konfrontation des Regimes mit der Revolution gab es einen Komplettausfall der staatlichen Funktionen. Die Staatsorgane haben aufgehört, ihre Pflichten zu erfüllen. Die belarussische Außenpolitik ist de facto dabei, zerstört zu werden, das Land verliert seinen internationalen Subjektstatus. Die radikale außenpolitische Kursänderung innerhalb von wenigen Tagen hat eindrücklich gezeigt, dass die Außenpolitik in einem autoritären Regime nicht dem Schutz der nationalen Interessen dient, sondern lediglich ein Mittel zum Zweck ist, ein Instrument der Macht eines einzelnen Menschen. Mehr nicht. Vollständig zerstört sind das Rechtssystem und die Organe der Rechtsprechung, ohne die die Existenz eines intakten modernen Staates unmöglich ist. Nach und nach werden im Land Unternehmens-, Kultur- (z. B. das Kupala-Theater) und Sportstrukturen zerstört, die im Verdacht stehen, gegenüber dem herrschenden Regime nicht loyal zu sein. Auf diese Weise entledigt sich der Staat seiner Funktionen und bewahrt nur die, die dem Machterhalt dienen: die Straforgane. Staatliche Institute, die gesellschaftliche Bedürfnisse erfüllen sollen, richten sich auf Selbstbedienung ein, um die eigenen Interessen vor den Forderungen der Gesellschaft zu schützen. Der Staat wird auf das politische Regime reduziert.
19. Lukaschenko, der seit einem Vierteljahrhundert als Garant für Stabilität galt, ist paradoxerweise zu einem der Hauptfaktoren für die Destabilisierung des Landes geworden.
20. Bisher richtete sich Lukaschenko über den Kopf der staatlichen Institute und der Nomenklatura hinweg an das Volk, dabei fußte seine Alleinherrschaft auf der Unterstützung des Volkes. Jetzt, da die Unterstützung der Gesellschaft weg ist, ist er auf den Staatsapparat angewiesen. Das bedeutet, dass die Rolle, das politische Gewicht der Nomenklatur, zunimmt.
Eine Niederlage für die letzte postsowjetische Utopie
21. Das Regime wird zunehmend militarisiert. Die Sicherheitsstrukturen sind zum systembildenden Element des Lukaschenko-Staats geworden. Und sie werden ihren Anteil an der Macht einfordern. Ein Anzeichen für diesen Trend ist die Tatsache, dass Lukaschenko mit dem Beginn des Revolution die Schlüsselpositionen im Sicherheitsapparat neu besetzt hat.
22. Die belarussische Gesellschaft hat ein tiefes psychologisches Trauma erlitten. Mit diesem Trauma wird auch das Regime leben müssen. Wir sind eine traumatisierte Gesellschaft. In den kommenden Jahren wird sich das Land im Zustand eines posttraumatischen Syndroms befinden.
23. Die belarussische Revolution hat der letzten postsowjetischen Utopie einen vernichtenden Schlag versetzt. Sie zerstörte ein Projekt, das auf der Illusion beruhte, man könne Fortschritt ohne demokratische Transformation gewährleisten, und zwar indem man die grundlegenden Elemente der sowjetischen Vergangenheit konserviert.
24. Die Stärke des Staatsapparats hat Lukaschenko geholfen, an der Macht zu bleiben. Aber rohe Gewalt kann weder seine persönliche Legitimität oder die Legitimität des herrschenden Regimes gewährleisten noch die politische Krise überwinden. Der Großteil der Bevölkerung ist Lukaschenko gegenüber äußerst negativ gestimmt, und ihr aktiver Teil demonstriert Bereitschaft, den Protest fortzusetzen. Die Metapher, Lukaschenko sei Präsident des OMON, beschreibt die momentane Situation sehr gut.
25. Der Überdruss am Autoritarismus à la Lukaschenko hat dazu geführt, dass das Pendel der öffentlichen Stimmung weit in die andere Richtung ausgeschlagen ist. Belarus ist reif für eine vollwertige Marktwirtschaft und eine liberale Demokratie.
26. Mit den früheren Methoden wird sich Lukaschenko nicht an der Macht halten können. Es entsteht eine Situation, die der Klassiker der Revolutionsliteratur auf die Formel gebracht hat: Die Obrigkeit kann nicht wie einst regieren. Das heißt, um zu überleben, muss das autoritäre Regime in Belarus notwendigerweise härter und undemokratischer werden als bisher.
27. Das Ergebnis ist, dass sich im Land zwei entgegengesetzte, auseinanderstrebende Tendenzen zeigen. In den nächsten Monaten werden wir ein noch härteres autoritäres Regime erleben, und auf der anderen Seite eine politisierte, revolutionisierte, in Bewegung gekommene Gesellschaft, die den Geschmack der Freiheit gekostet hat. Der Deckel auf dem brodelnden Kessel gerät immer mehr unter Druck. Das heißt, der Konflikt wird sich zuspitzen und unversöhnlicher werden, die politische Krise wird sich verschärften.
28. Belarus wird von der Insel der Stabilität in absehbarer Zukunft zum „kranken Mann Europas“ und des ganzen postsowjetischen Raumes werden. Das ist der unausweichliche Preis für ein Vierteljahrhundert lähmender Stagnation. Wir können schon heute sagen, dass die belarussische Revolution in die Geschichte eingegangen ist und entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung des Landes haben wird. Schließlich geht eine Revolution nie spurlos vorüber. Die belarussische Gesellschaft steht vor großen Veränderungen.
Wie ist die Proteststimmung in Russland? Schon vor den landesweiten Demonstrationen am vergangenen Wochenende beschäftigte diese Frage Soziologen und Politikwissenschaftler – vor allem angesichts der anstehenden Dumawahl im Herbst.
Corona und die Nullsetzung der Amtszeiten Putins waren die beiden Ereignisse, die für die meisten Russen 2020 am wichtigsten waren. Dies ergaben die Umfragen des unabhängigen Lewada-Instituts. Inwiefern dabei die Unzufriedenheit mit der Regierung wächst, Nawalny immer mehr Aufmerksamkeit bekommt (auch bei denen, die ihn nicht unterstützen) und warum seine Rolle als Bekämpfer der Korruption dabei eher in den Hintergrund gerückt ist – das beschreibt Denis Wolkow, Stellvertretender Direktor des Lewada-Zentrums, im Interview mit Republic. Es wurde übrigens noch vor den Protesten vom vergangenen Wochenende geführt, gibt die allgemeine Grundstimmung in Russland aber anschaulich wieder.
Wie hat sich die mutmaßliche Vergiftung Nawalnys auf die öffentliche Meinung ausgewirkt?
Nawalnys Tätigkeit befürworten laut unseren Umfragen etwa 20 Prozent der Bevölkerung; er rangiert schon relativ lange konstant unter den zehn Politikern, denen die Russen Vertrauen entgegenbringen. Diese Einstellung ihm gegenüber ist auf das durchdachte Vorgehen Nawalnys und seines Teams zur Erweiterung seiner Anhängerschaft zurückzuführen und nicht auf einzelne aufsehenerregende Ereignisse. Zum Zeitpunkt der Vergiftung war sowohl die Meinung seiner Befürworter als auch die seiner Gegner bereits gefestigt.
Was Nawalny angeht, verläuft die Trennlinie seiner Anhängerschaft entlang folgender Kriterien: Alter, Informationskanäle, generelle Einschätzung der Arbeit der Regierung. Diejenigen, die Putin nicht vertrauen, sind eher dazu bereit, Nawalny zu glauben. Und umgekehrt. Die Gruppe derer, die Putin vertrauen, überwiegt schon allein deshalb, weil es bei uns mehr ältere Menschen gibt, die Fernsehen schauen, und weil diese politisch aktiver sind (die Wahlbeteiligung bei Menschen im Rentenalter ist um ein vielfaches größer als unter jungen Menschen).
Die älteren Menschen sind bei uns politisch aktiver
Übrigens hat Putin in deren Augen Recht damit, Nawalny nie namentlich zu erwähnen – „zu viel der Ehre“, sagen sie. Für Nawalnys Befürworter bestätigt das einmal mehr, dass die Regierung ihn vergiftet hat. „Den Machthabern fehlen einfach die Worte.“ Interessant ist, dass sich mittlerweile recht viele Menschen, auch ältere, Nawalnys Videos ansehen, ohne sich zu seinen Anhängern zu zählen. Für sie ist das ein Anlass, einen Blick hinter die Geheimnisse der „großen Politik in Moskau“ zu werfen, aber sie haben es nicht eilig, auf die Seite der Opposition zu wechseln.
Man muss außerdem hinzufügen, dass das Thema Antikorruptionskampf in Verbindung mit Nawalny in den Hintergrund gerückt ist. Für die, die seine Tätigkeit beobachten, ist er in erster Linie interessant als Politiker, der eine politische Alternative zum heutigen Regime darstellt.
Wir haben das Thema Proteste bereits angesprochen. Nehmen die Russen Protestaktionen im eigenen Land – zum Beispiel in Chabarowsk – und in Belarus unterschiedlich wahr?
Ja, und zwar signifikant unterschiedlich. Den eigenen, einheimischen Protesten gegenüber ist man freundlicher gestimmt. Die Menschen sind eher bereit, mit den Protestierenden in Chabarowsk mitzufühlen, sie zu verstehen, indem sie eigene Emotionen auf sie übertragen. Zu Belarus lässt sich eine große Distanz beobachten. Eine Antwort, die man oft hört, ist: „Warum protestieren die überhaupt? Die hatten doch ein gutes Leben: Ordnung, Sauberkeit, niedrige Preise, gute Lebensmittel.“
Den einheimischen Protesten gegenüber ist man freundlicher gestimmt
Das erinnert sehr an die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Proteste in Moskau und Kiew 2012/2013. Praktisch niemand glaubte daran, dass die Proteste in Moskau vom Westen aus dirigiert wurden. Aber über die ukrainischen Proteste hieß es: „Klar sind das Strippenzieher aus Washington.“
Genau wie bei den anderen Fragen sieht man hier einen Unterschied zwischen jungen Leuten, die sich im Internet informieren, und dem älteren Fernsehpublikum. Es überwiegen die Sympathien für Lukaschenko gegenüber denen für die Protestierenden. Allerdings sagen selbst die, die mit Lukaschenko sympathisieren, recht oft, er habe „zu lange auf dem Thron gesessen“ und sich „zu viele Stimmen angedichtet“ – und ziehen damit unfreiwillig Parallelen zu Putin.
Wie wird sich die öffentliche Stimmung in Russland 2021 verändern?
Das hängt stark von der wirtschaftlichen Situation ab. Wenn die Wirtschaft ein wenig auflebt, werden wir keine großen Veränderungen sehen. Das ist für mich das Ausgangsszenario. Die wichtige Frage ist, ob sich der Trend der schwindenden Regierungsautorität fortsetzt. Er begann bereits 2018 nach der Rentenreform – damals nahm die Proteststimmung zu, die Ratings der Regierung sanken. Dieser Prozess hielt ein paar Jahre lang an, und es ist immer noch unklar, ob er vorbei ist oder nicht.
Die Parlamentswahlen sind eine Art Volksabstimmung
Ich denke, das Verhältnis zur Regierung wird sich schon relativ deutlich bei den diesjährigen Parlamentswahlen zeigen. Das ist ein landesweites Ereignis und funktioniert wie eine Art Volksabstimmung über das Vertrauen in die Regierungspartei. Wir werden sehen, wie das Ergebnis ausfällt.
Wird die Proteststimmung im Land zunehmen?
Das ist ungewiss. Aber man kann mit Bestimmtheit sagen, dass das Protestpotential seit 2018 zugenommen hat und sich konstant auf einem relativ hohen Niveau hält. In den letzten zweieinhalb Jahren sagt stabil fast ein Viertel der Befragten, er oder sie sei bereit, für eigene Rechte auf die Straße zu gehen. Und tatsächlich haben wir in dieser Zeit nicht wenige Proteste gesehen, in Moskau und in anderen Städten Russlands.
Das Protestpotential hat seit 2018 zugenommen hat und hält sich konstant auf relativ hohem Niveau
Andererseits wird viel von der Reaktion der Machthaber abhängen. Dort, wo sie Zugeständnisse machen – wie in Jekaterinburg, Schijes oder Baschkirien –, flaut der Protest schnell wieder ab. Dort, wo sie keine machen, ist es umgekehrt, der Konflikt spitzt sich zu – wie bei der Stadtparlamentswahl in Moskau 2019 – und läuft auf eine Eskalation hinaus.
Was denken Sie, wird Ihre Arbeit durch die Verschärfung der Gesetze zu „ausländischen Agenten“, zu denen auch das Lewada-Zentrum gehört, erschwert werden?
Das allmähliche Abwürgen der unabhängigen Zivilgesellschaft – seien es Journalismus oder Meinungsumfragen – hat ja nicht erst gestern begonnen. Der Sinn dahinter ist klar: Die Bürokratie will sich gegen jeden gesellschaftlichen Einfluss auf ihre Entscheidungen absichern und versucht, alles und jeden über Einschränkungen und Verbote zu kontrollieren. Warum werden die Daumenschrauben jetzt fester gezogen? Ich denke, zum Einen wegen der bevorstehenden Wahlen, sowohl der diesjährigen Parlamentswahlen als auch der für 2024 geplanten Präsidentschaftswahlen. Zum Anderen sinkt, wie wir bereits gesagt haben, das Vertrauen in die Regierung. In dieser neuen Situation reicht es nicht mehr aus, einfach nur die Befürworter zu mobilisieren und sie in die Wahllokale zu bringen. Es ist genauso wichtig, die Unzufriedenen zu demoralisieren, damit sie zersplittert bleiben, sich nicht an den Wahlen beteiligen und nicht versuchen, Einfluss auf die Situation zu nehmen.
Die Bürokratie versucht, alles und jeden über Einschränkungen und Verbote zu kontrollieren
Was das Lewada-Zentrum angeht, so befinden wir uns schon seit mehreren Jahren in diesem Schwebezustand. Aber wir setzen unsere Arbeit fort, weil wir sie für wichtig halten. Natürlich betrachten wir unsere Tätigkeit nicht als politisch. Das Erforschen der öffentlichen Meinung hat keinen Einfluss auf die Stimmungen in der Gesellschaft, aber es hilft, die Situation besser einzuschätzen, unter anderem auch denen, die etwas verändern wollen. Das ist eine wichtige Informationsquelle, und ich denke, die Logik der Regierung liegt darin, ein Monopol auf diese Informationen zu haben.
Die Daumenschrauben werden wegen der bevorstehenden Wahlen angezogen
Aber ich glaube, langfristig gesehen wirken sich solche Einschränkungen nicht nur auf das gesellschaftliche Klima insgesamt aus, sondern irgendwann auch auf die Arbeit der dann staatlichen Umfragen. Wenn du weißt, dass niemand deine Daten überprüft, sinkt unweigerlich die Qualität der Untersuchungen, ob soziologischer oder ökonomischer. Wenn keine unabhängige Presse mehr existiert, beginnt die Macht an ihre eigene Propaganda zu glauben. Das führt zu einer sinkenden Qualität der Regierung, und dann passiert das, was wir schon Ende der 1980er Jahre beobachtet haben – erst eine Lähmung, und dann ein Kollaps des Regierungssystems, der für niemanden gut ausgehen wird.
Im April haben Sie gesagt, die beginnende Corona-Krise würde sich nicht sofort auf die Ratings der Regierung in Russland auswirken, sondern erst in ein paar Monaten. Ist das eingetreten?
Ganz zu Beginn sind die Menschen in Panik geraten, in den Großstädten gab es Hamsterkäufe und leere Supermarktregale. Putins Zustimmungswerte sanken Ende Mai/Anfang Juni auf 60 Prozent: Das hatte es zuletzt im Protestwinter 2011/12 gegeben. Bis zum Herbst haben sich die Umfragewerte wieder erholt, aber jetzt beginnen sie wieder zu sinken.
Die wesentlichen Folgen dieser Krise für die Gesellschaft sind wirtschaftliche
Die wesentlichen Folgen dieser Krise für die Gesellschaft werden sich erst langfristig zeigen, denn sie sind wirtschaftlicher Natur: sinkende Löhne, Verlust von Arbeitsplätzen, Schließung von Unternehmen, allgemeine Verschlechterung des Lebensstandards. Unsere Umfragen zeigen, dass die Menschen vor allem wirtschaftliche Probleme interessieren; selbst der Zustand des Gesundheitswesens nimmt – trotz Pandemie – nur Platz drei oder vier auf der Liste der Ängste der russischen Bürger ein. Diese Ängste haben sich jetzt zugespitzt.
Machen die Menschen die Regierung für die Situation verantwortlich oder halten sie das für höhere Gewalt?
Im Grunde ist das unwichtig. Ja, mag sein, dass die Menschen die Regierung nicht unmittelbar für die aktuelle Krise verantwortlich machen. Aber der zunehmende Pessimismus wird sich unweigerlich auch auf das Verhältnis zu den Machthabern auswirken. Die Müdigkeit wächst – die Probleme werden größer. Das bedeutet, dass auch die Forderungen an die Regierung zunehmen werden, die unfähig ist, diese Probleme zu lösen.
Sie haben vom Rating des Präsidenten gesprochen. Wie ist es mit den Umfragewerten der anderen Regierungsorgane und -institutionen?
Hier muss man unterscheiden zwischen Institutionen wie der Armee und der Kirche, die eine eher symbolische Autorität haben – die unerschütterlich bleibt –, und solchen, die unmittelbar für das Regieren verantwortlich sind. Ihre Wahrnehmung in der Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert. Die schwersten Schläge waren die Rentenreform und der generell sinkende Lebensstandard.
Ist die Bevölkerung mit dem Vorgehen der Regierung im Zusammenhang mit der Pandemie einverstanden?
Insgesamt eher ja. Etwa zwei Drittel sind einverstanden, ein Drittel nicht. Zu den einzelnen Maßnahmen sind die Meinungen differenzierter. Das Tragen der Masken beispielsweise haben alle mehr oder weniger akzeptiert, wenn auch zum Teil nur als Lippenbekenntnis – nicht alle tragen sie richtig.
Nur die modernsten Bevölkerungsschichten und Wirtschaftszweige können ins Homeoffice wechseln
Am schlechtesten haben die Menschen auf Geschäfts- und Betriebsschließungen reagiert, auf den harten Lockdown, die Ausgangsbeschränkungen und die Strafen bei Verstößen – sowohl in Moskau als auch im ganzen Land. Ich denke, das hängt damit zusammen, dass ein Lockdown für einen großen Teil der Bevölkerung automatisch sinkende Einkommen bedeutet, für manche sogar den Verlust des Arbeitsplatzes. Nur die modernsten Bevölkerungsschichten und Wirtschaftszweige können ins Homeoffice wechseln, ohne dass sie Einbußen haben. Also haben die Menschen Angst davor. Indem die Regierung jetzt keinen harten Lockdown verhängt, gibt sie auch der öffentlichen Meinung nach.
Wie viele Prozent der Menschen glauben an diverse Verschwörungstheorien?
Es ist schwierig, das genau einzuschätzen, wir haben nicht direkt danach gefragt. Konsequente Anhänger solcher Theorien gibt es vielleicht zwischen fünf und zehn Prozent – das sind die, die in jeder Umfrage zum Thema Covid gerne betonen, das Problem mit dem Virus sei erfunden und das Impfen dazu da, die Bevölkerung zu chippen usw. Doch der Anteil derer, die das nicht ausschließen, ist viel höher. Ein Viertel der Befragten glaubt zum Beispiel, dass die Behörden die Statistik absichtlich aufbauschen, um die Menschen einzuschüchtern und sie gefügig zu machen. Bei aller Akzeptanz der Corona-Maßnahmen bleibt das Misstrauen der Gesellschaft gegenüber der Regierung groß.
Wie stehen die Russen zu der angelaufenen Impfkampagne gegen Covid mit dem einheimischen Impfstoff?
In den letzten sechs Monaten wollten sich konstant 60 Prozent nicht impfen lassen, 40 Prozent schon. Unter den Ersteren sind nicht nur Impfgegner oder solche, die dem einheimischen Impfstoff nicht vertrauen. Fast die Hälfte der Russen hat keine große Angst, sich anzustecken, weil sie die Krankheit nicht besonders ernst nimmt. Im Moment wird viel für die Impfung geworben – ich glaube, es ist nicht nur wichtig, ihre Sicherheit zu beweisen, sondern auch weiter darüber zu sprechen, dass wir es mit einer wirklich ernsthaften Erkrankung zu tun haben. Nicht alle verstehen das. Das erklärt unter anderem auch das falsche Tragen der Masken.
Fast die Hälfte der Russen hat keine große Angst, sich anzustecken
Nichtsdestoweniger ist die Pandemie das wichtigste Ereignis des vergangenen Jahres und stellt alles andere im öffentlichen Bewusstsein souverän in den Schatten. So gesehen haben die Menschen das Ausmaß natürlich verinnerlicht. Unsere Befragten schätzen das Jahr 2020 als eines der schwersten in den letzten dreißig Jahren ein, seit es also regelmäßige soziologische Messungen gibt.
Die Abstimmung über die Verfassungsänderungen, einschließlich der Nullsetzung der Amtszeiten des Präsidenten, liegt jetzt ein halbes Jahr zurück. Wie stehen die Menschen heute dazu?
Auf die offene Frage nach den wichtigsten Ereignissen des Jahres nannten die Menschen die Nullsetzung an zweiter Stelle. Insgesamt überwiegt eine positive Wahrnehmung der Verfassungsänderungen, etwa 60 zu 40. Dafür sind vor allem diejenigen, die darin eine Stärkung der sozialen Garantien und der Staatssouveränität sehen. In den Fokusgruppen sagten einige, die Verfassung sei Anfang der 1990er Jahre von den Amerikanern geschrieben oder zumindest diktiert worden, das sei nun endlich korrigiert. Zum Teil wiederholen die Menschen hier die Thesen der offiziellen Propaganda, während die Propaganda sich zu einem gewissen Grad aus den Klischees speist, die im öffentlichen Bewusstsein existieren, und sie dadurch auch wieder verstärkt. Diejenigen, die gegen die Änderungen sind, sind in erster Linie gegen die Nullsetzung selbst bzw. die „Hauptänderung“, wie sie sie nennen.
Insgesamt überwiegt eine positive Wahrnehmung der Verfassungsänderungen
Wichtig ist, dass sich die Einschätzung dieses Ereignisses, wie auch anderer wichtiger politischer Ereignisse des Jahres, wiederum je nach Alter, bevorzugten Informationskanälen und dem Grad des Vertrauens in die Regierung deutlich unterscheidet. Junge Leute, die sich im Internet informieren, und Bürger, die das Vertrauen in die Regierung bereits verloren haben, sind häufiger gegen die Verfassungsänderungen, sie unterstützen häufiger oppositionelle Politiker und haben Verständnis für die Protestierenden, sei es in Chabarowsk oder Belarus. Auch die Wahrnehmung der Impfkampagne hängt davon ab, ob man Putin und der Regierung vertraut oder nicht. Genauso ist es mit allen Initiativen der Regierung, zum Beispiel dem Installieren von Überwachungskameras in Moskau. Diejenigen, die der Regierung vertrauen, meinen, das sei gut für die Sicherheit, und die, die das nicht tun, dass es der Überwachung der Bürger diene und so weiter.
Also sind die sinkenden Umfragewerte der Regierung, die wir in den letzten Jahren beobachten, auch deshalb wichtig, weil viele Initiativen der Regierung bei einem wesentlichen Teil der Bevölkerung nun stillschweigend auf Ablehnung stoßen werden. Das wirkt sich unweigerlich auf die Qualität der Regierung aus. Eine Revolution wird es nicht geben, aber jede neue Entscheidung wird immer schwerer verdaut werden.
Steigt die Zahl derjenigen, die kein Vertrauen in die Regierung haben?
Unzufriedenheit mit dem Präsidenten und der Regierung ist keine Randerscheinung mehr. Gab es direkt nach der Krim die berüchtigten 86 Prozent, „Putins Super-Mehrheit“, die sich mehrere Jahre auf ungefähr diesem Niveau hielt, so sind es jetzt 60 bis 65 Prozent. Ein Drittel und mehr machen heute diejenigen aus, die mit der Situation unzufrieden sind, die die Regierung nicht stillschweigend unterstützen. Das ist immer noch der kleinere Teil der Bevölkerung, aber es sind trotzdem sehr viele. Doch diese Unzufriedenen bleiben zersplittert und in vielerlei Hinsicht desorientiert.
Viktor Martinowitsch gehört zu den bekanntesten Schriftstellern seines Landes. In seinen Romanen befasst er sich mit den Mechanismen autoritärer Macht und ihren Auswirkungen auf den Lebensalltag der Menschen. In dieser Woche ist sein neuer Roman Revolution in der deutschen Übersetzung von Thomas Weiler erschienen. Anders als der Titel vermuten ließe, geht es in dem Roman allerdings nicht um die Protestbewegung, die Belarus seit dem 9. August 2020 in Atem hält. Vielmehr beschäftigt er sich mit dem, was Macht ist, wie sie in zwischenmenschlichen Beziehungen wirkt und wie sie Menschen letzten Endes zum Schlechten verändert. Über sein neues Buch und über die Proteste in seiner Heimat hat Martinowitsch unlängst in einer Veranstaltung des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB) gesprochen.
Auch in Kolumnen und Interviews äußert sich der Schriftsteller immer wieder zu politischen Ereignissen in Belarus. So auch in diesem Beitrag, der sich mit dem aktuellen Stand der Protestbewegung beschäftigt und den Blick in deren nahe Zukunft wagt. Geschrieben hat Martinowitsch den Artikel für die Internetseite des Kulturprojektes Budzma, veröffentlicht wurde er schließlich auch auf der Seite des belarussischen Mediums Nasha Niva.
Wahrscheinlich stecke ich schon zu lange da drin.
Und erinnere mich an sehr viel.
Jedenfalls sehe ich keinen Anlass für Optimismus.
Ihr könnt das als Denkanstoß nehmen.
Als Einladung zur Desillusionierung.
Zur Planung dieses Jahres und eures Lebens.
Als Entscheidungshilfe, wie ihr leben und was ihr ändern wollt.
Ihr meint, die Proteste leben im Frühjahr 2021 wieder auf?
Die Proteste sind nicht das Coronavirus, da gibt es keine erste und zweite Welle. Die Menschen, die im Sommer und Herbst in Massen auf die Straße gegangen sind, haben dafür gebüßt, haben gesessen, haben Repressionen unvorstellbaren Ausmaßes erlebt – wieso sollten sie wiederkommen?
An diesem Punkt waren wir schon mal.
Und es hat zu nichts geführt.
So war das in den 2000er Jahren: Im Herbst schlug die Opposition vor, bis zum Frühling zu warten. Und dann, nach dem traditionellen Tag der Freiheit und dem Tschernobyl-Marsch, wollte sie auf den Herbst warten, in dem sich die „wirtschaftliche Lage verschlechtern“ sollte. Im Herbst wiederholte sich dann das Ganze. Schon der Ausdruck „traditionelle Protestaktion“ ist ein Oxymoron. Ebenso die „geheime Protestaktion“.
Es ist doch offensichtlich, aus der Situation „Eine Million an der Stele“ wurde die Situation „Flashmob in der Metro: Menschen tragen weiß-rot-weiße Strümpfe und fotografieren sich ohne Gesichter“.
Ihr meint, Elite und Nomenklatura würden sich aufspalten lassen?
Die Krise des Jahres 2020 ist nicht mit der Krise des Jahres 1996 vergleichbar. Als ein Mann nur einen Schritt von einem Amtsenthebungsverfahren entfernt war und die Hälfte der Parlamentsabgeordneten und ein Teil der Verfassungsrichter, wenn nicht gegen ihn, so doch wankelmütig waren. Bei vergleichbarer Lage auf den Straßen und Plätzen … Und wie endete es? Mit einer Beschränkung der Sitze „im neuen Parlament“ und einer Verfassungsänderung, nach der eine Amtsenthebung schwieriger zu bewerkstelligen ist als eine Oscar-Nominierung für einen staatlich produzierten Kinofilm.
Ihr hebt auf die wirtschaftliche Lage ab? Da kann ich nur sagen: Ja, ja! Warten wir den Herbst ab! Sie wird sich verschlechtern und … (das hatten wir schon).
Ihr seid überzeugt, Putin sei enttäuscht, dass die Zusagen von Sotschi, einen Dialog zu starten und die Machtbefugnisse neu zu ordnen, nicht eingehalten wurden? Was kann der denn schon, dieser Putin? Sie sehen ja, Nawalny zu vergiften, haben sie auch nicht geschafft. Und hier haben wir es mit einem geopolitischen Gambitspiel zu tun, einer komplizierten Geschichte. Außerdem dürfte es im Frühjahr aller Voraussicht nach auch in Russland hoch hergehen, weshalb sollte man also die unzufriedenen Russen noch damit ermuntern, dass man die Proteste bei den Nachbarn in Veränderungen münden lässt?
Ich weiß, was das Regime getan hat und was es tun wird. Mit der Zusage, die Verfassung ändern zu wollen, hat es sich Zeit erkauft, die Proteste zu ersticken. Und nun, da die Spannungen unter den Ofen gekehrt sind, packt es den Stier beim Euter, schleppt das Ganze bis zum Jahr 2025 und erklärt, die Zeit sei „noch nicht reif für Veränderungen“ (wie gehabt).
Und manch einer wird tatsächlich zurückkehren zu diesem Leben.
Wird für die belarussische Sprache auf Etiketten kämpfen. Stets darum bemüht zu verschweigen, dass man diese Sprache binnen drei Tagen zurückhaben könnte, würde sich etwas Größeres ändern.
Manch einer wird für die Verteidigung von Kurapaty trommeln — ein Heiligtum, wenn man bedenkt, dass der aktuelle Furor dort seinen Ursprung hat, in Kurapaty, in der ausgebliebenen nationalen Einigung um dieses Unglück. Aber hätten sich die Dinge 1996 anders entwickelt, stünde in Kurapaty längst ein großes Denkmal und die umliegenden Hektar Land wären unantastbar.
Manch einer wird seine Bemühungen und seine Rhetorik auf die Erneuerung der Paläste lenken, jener Paläste, in deren Fenstern unlängst noch alle Scheiben ganz waren und die alten Eichentüren intakt, die aber zusehends verfallen und weiter verfallen werden, wenn der Staat sie wieder an sich reißt, da man hier nichts vollständig besitzen kann, unterstehen wir doch alle dem Kreisexekutivkomitee.
Diejenigen, die sich weiter erinnern, werden weiter schreien.
Weiter stöhnen.
Sie werden sich an internationale Organisationen wenden, die immer gleichgültiger reagieren werden, da an Belarus als Transitland das große Kapital derjenigen hängt, die hinter europäischen Politikern stehen.
Bald werden diese gramgebeugten Rechtschaffenen selbst bei den Menschen hier im Land kein Gehör mehr finden. Auch bei denen, die alles gesehen haben und überall dabei waren, denen die Erinnerung daran aber zu schmerzhaft ist. Dann doch lieber shoppen gehen und Serien schauen, außerdem ist es einfach eine Riesengaudi, im Gummireifen die vereiste Tubingbahn in Silitschy runterzusausen …
Wir werden uns zerstreiten darüber, wer was falsch gemacht hat. Wieso es gekommen ist, wie es gekommen ist. Wir werden den ehemaligen Führungsfiguren Vorhaltungen machen, besonders jenen, die ins Ausland gegangen sind (dabei hätten sie in erster Linie unser Mitgefühl verdient). Wir werden uns wundern über die Blumen, die manche weiterhin an den Orten ablegen, wo Taraikowski ermordet und Bondarenko zusammengeschlagen wurden.
Ich bin einer von denen, die sich erinnern und sich immer erinnern werden.
Nicht nur an 2020.
Sondern auch an 2010 (Blutlachen im Schnee, schwarze Phalangen in der Dunkelheit, das Aufblitzen der Lichter auf den Helmen).
Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ist am 18. Januar 2021 zu 30 Tagen U-Haft verurteilt worden. Der Prozess gegen den Kreml-Kritiker fand in einer Moskauer Polizeistation statt. Seine Anwältin hatte erst wenige Minuten vor Beginn erfahren, dass überhaupt eine Verhandlung stattfindet. Beobachter und Anhänger Nawalnys sprechen von einem beispiellosen Vorgang. Zudem könnte Nawalnys Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher demnächst in eine Gefängnisstrafe umgewandelt werden. Ihm drohen dreieinhalb Jahre Haft, abzüglich bereits verbüßter zehn Monate Hausarrest. Darüber soll am 2. Februar entschieden werden.
2014 waren Nawalny und sein Bruder Oleg wegen Betrugs des französischen Kosmetikkonzerns Yves Rocher zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Oleg Nawalny musste die Strafe absitzen, Alexej bekam Bewährung. Schon den Prozess damals hielten viele Beobachter für politisch motiviert, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) befand das Urteil 2017 für „willkürlich und deutlich rechtswidrig“. Das Präsidium des Obersten Gerichts in Russland bestätigte es im April 2018 trotzdem.
Beim Prozess in der Moskauer Polizeistation wurde Nawalny gestern nun vorgeworfen, gegen die Bewährungsauflagen verstoßen und sich nicht bei den Behörden gemeldet zu haben: und zwar „mindestens sechs Mal“ noch vor seiner Ausreise nach Deutschland. Außerdem sei der „Angeklagte Nawalny auch in der Zeit vom 17.08.2020 bis zum 29.12.2020“ nicht zur Registrierung bei den russischen Behörden erschienen. Nach dem Nowitschok-Anschlag auf ihn am 20. August 2020 war Nawalny eine Zeit lang in der Berliner Charité in Behandlung gewesen. Erst am Sonntag war er aus Deutschland nach Moskau zurückgekehrt. Noch am Flughafen wurde er festgenommen.
Die Umstände des Prozesses in der Polizeistation gestern sorgten für großen Unmut in liberalen Kreisen. Nawalnys Stab rief zu landesweiten Demonstrationen am kommenden Samstag auf. Den bislang ausbleibenden Massenprotest in der russischen Gesellschaft erklärten Kommentatoren in unabhängigen Medien unter anderem damit, dass viele der offiziellen Propaganda Glauben schenkten, wonach Nawalny wahlweise ein Niemand beziehungsweise Agent des Westen sei. Zudem hat die Duma erst Ende 2020 eine ganze Reihe von Gesetzesänderungen verabschiedet, die auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit weiter einschränken.
Die unabhängige Plattform Mediazona, mitbegründet von den Pussy Riot-Mitgliedern Nadeshda Tolokonnikowa und Maria Aljochina, begleitet und dokumentiert viele Gerichtsprozesse in Russland. Sie hat eine Tonbandaufzeichnung der Verhandlung erhalten. Das gekürzte Transkript, das sie schließlich veröffentlichte, überträgt dekoder ins Deutsche:
Die Richterin Jelena Morosowa betritt den Saal und bittet Nawalny, sich vorzustellen; der macht mit müder Stimme seine persönlichen Angaben. Morosowa verliest seine Rechte und fragt, ob er Fragen dazu hat.
Nawalny (beginnt mit müder Stimme, echauffiert sich dann aber mehr und mehr):Ich … Verstehen Sie, ich weiß, dass Sie da irgendwelche Worte gesagt haben – ja, die habe ich wohl verstanden. Aber, verstehen Sie, bewerten Sie doch mal bitte selber die Situation. Ich habe nicht ohne Grund den Prozess mit den Worten begonnen, dass Sie wohl verrückt geworden sind. Sie sagen, dass ich bestimmte Rechte hätte. Sie haben erklärt, dies sei ein öffentlicher Prozess, doch Sie lassen nicht einen einzigen Journalisten herein, der …
Morosowa: Das Gericht hat gefragt, ob Sie Ihre Rechte verstanden haben, die Ihnen vom Gericht erklärt wurden.
Nawalny (lauter): Ne-i-n! Gestatten Sie mir zu antworten. Hier ist überhaupt kein Gericht! Das ist irgendein Mist, verstehen Sie, irgendein Quatsch ohne Rechtskraft! Nur weil Sie eine Robe tragen, ist das hier noch lange kein Gericht! Das Gericht sollte 100 Meter von hier entfernt im Gericht von Chimki tagen.
Sie haben mich hierher gezerrt, Sie haben niemanden darüber informiert, Sie haben hier niemanden hereingelassen! Sie nennen das hier eine öffentliche Verhandlung, doch Sie lassen keine Journalisten herein. Sie sagen, Publikum habe freien Zutritt, lassen aber niemanden rein; das Gebäude ist bewacht. Das ist kein Gericht!
Hier ist überhaupt kein Gericht! Das ist irgendein Mist, verstehen Sie, irgendein Quatsch ohne Rechtskraft!
Vorhin haben Sie mir gesagt, vor einer halben Stunde: „Ich gebe Ihnen Zeit für ein vertrauliches Gespräch mit Ihrem Anwalt.“ Die ganze Zeit über war ich in Begleitung von zwei Polizeibeamten mit Scheiß-Bodycams! Verstehen Sie?! Das ist absurd! Sie sagen das eine, und sofort geschieht das Gegenteil!
Morosowa: Ich bitte Sie, während der Verhandlung nicht zu schreien. Ich bitte Sie, die Prozessordnung einzuhalten.
Nawalny: Was soll ich denn sonst tun?! So, wie Sie diese Ordnung verletzen, verletzt sie sonst niemand! (Senkt die Stimme.) Gut. Nur unterbrechen Sie mich bitte nicht, hören Sie mich bitte an.
Morosowa: Sie verstoßen gerade gegen die Prozessordnung.
Nawalny: Sie tun das. Euer Ehren, so wie Sie dagegen verstoßen … (Fängt wieder an zu schreien.) Entlassen Sie mich bitte aus dem Verhandlungssaal!
Morosowa (teilnahmslos, leicht genervt): Ins Verhandlungsprotokoll wird aufgenommen, dass im Verhandlungssaal gegen die Prozessordnung verstoßen wird … durch Nawalny.
Die Richterin bittet die Zuhörer, Mobiltelefone mit Videokameras auszuschalten. Sie wiederholt nochmals die einzuhaltende Prozessordnung: Dem Gericht ist im Stehen zu antworten, die Ansprache ist „Hohes Gericht“ oder „Euer Ehren“, Zwischenrufe sind nicht gestattet.
Nawalny: Lassen Sie uns bitte die Prozessordnung einhalten. Eine Gerichtsverhandlung ist nicht möglich ohne Ladung der Anwälte – in den Unterlagen fehlt eine solche. Eine Verhandlung ist unmöglich ohne Kenntnis der Unterlagen und ohne vertrauliches Gespräch mit einem Anwalt – Sie sagten mir, Sie würden mir 30 Minuten gewähren. Was ist das bitte für ein vertrauliches Gespräch, wenn ich mit den Anwälten und zwei Polizeibeamten mit Bodycams zusammensitze? Erscheint Ihnen das nicht merkwürdig? Mir schon. Welche Achtung vor dem Gericht möchten Sie von mir? Das ist doch kein Gericht. Sie begehen gerade eine Straftat, und Sie werden hundertprozentig sitzen. Sie sind doch eine junge Frau. Ihr Putin stirbt schneller, als …
Morosowa (lauter): Das Gericht ruft Sie zur Ordnung …
Das ist doch kein Gericht. Sie begehen gerade eine Straftat, und Sie werden hundertprozentig sitzen
Nawalny: Deswegen werden Sie sitzen, aber in einem normalen Gericht, und man wird Sie verurteilen.
Morosowa: Ein weiterer Ordnungsruf mit Eintrag in das Verhandlungsprotokoll.
Nawalny: Tragen Sie ein, was Sie wollen, mir ist Ihr Protokoll vollkommen schnurz.
Morosowa: Setzen Sie sich, bitte. Sie haben die Gelegenheit zur Stellungnahme und zum Stellen von Anträgen.
Nawalny: Ich stelle einen Antrag auf Einlass von Journalisten, die sich zum jetzigen Zeitpunkt hier befinden, mindestens zwei. Wenn Sie aus dem Fenster schauen, sehen sie: Dort stehen Journalisten, viele. Doch unsere werte Staatsanwaltschaft hat gesagt, dass wir nicht alle hier hereinlassen können. Ich stelle den Antrag, ich fordere, dass Sie die Journalisten der Medien Doshd und Mediazonazulassen. Sie stehen dort und können Ihnen nicht persönlich ihre Anträge übergeben, denn es wird ihnen nicht erlaubt. Aber wenn wir einen transparenten öffentlichen Prozess haben, dann fordere ich eine dreiminütige Pause, in der wir mindesten zwei Vertreter der Medien hereinrufen.
Die Verteidiger Olga Michailowa und Wadim Kobsew unterstützen den Antrag Nawalnys. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft Koloskowa sagt, dass der Antrag auf Anwesenheit von Vertretern der Medien schon gestellt und geprüft wurde. Die Richterin lehnt das sofort ab, da sich „im Gerichtssaal akkreditierte Medien befinden, die für eine Videoaufzeichnung sorgen“.
Der Anwalt Kobsew nimmt auf den Antrag Nawalnys Bezug und sagt, dass er gezwungen war, sich mit seinem Mandanten in Anwesenheit von Polizisten mit Bodycams zu besprechen. Er bittet um Zeit, um mit Nawalny unter vier Augen zu reden. [Staatsanwältin] Koloskowa insistiert, dass „genug Zeit gegeben worden sei“. Die Richterin lehnt den Antrag der Verteidigung ab.
Kobsew: Wir haben die Unterlagen nicht in vollem Umfang erhalten. Wir haben weder einen Beschluss noch irgendein anderes gerichtliches Schreiben gesehen, demzufolge heute um 12:30 Uhr ein Prozess angesetzt war, in diesem Format einer Sitzung außerhalb des Gerichts.
Michailowa: Ich möchte das unterstreichen und darauf hinweisen, dass die Unterlagen überhaupt keine Angaben darüber enthalten, dass eine Verhandlung anberaumt worden ist.
Wir haben weder einen Beschluss noch irgendein anderes gerichtliches Schreiben gesehen, demzufolge heute um 12:30 Uhr ein Prozess angesetzt war
Die Vertreter der Staatsanwaltschaft und der Behörden des Inneren weisen das zurück und die Richterin weist den Einwand der Verteidigung zurück.
Kobsew: Gestern wurde im Lauf der Festnahme bei einer Durchsuchung Nawalnys der Auslandsreisepass beschlagnahmt. Eine Kopie des Passes findet sich in der Akte. Im Festnahmeprotokoll ist der Pass unter den Gegenständen, die beschlagnahmt wurden, nicht aufgeführt. Wir bitten darum, den Pass ausfindig zu machen und ihn Nawalny oder uns, seinen Verteidigern, auszuhändigen.
Nawalny: Das ist eine komische Situation. Gestern wurde mir mein Pass an der Grenze abgenommen. Man hat mich hierher gebracht und alle Sachen protokolliert: Schnürsenkel, Gürtel und so weiter. Aber der Pass wird im Festnahmeprotokoll nicht unter den beschlagnahmten Gegenständen aufgelistet. Das heißt, sie haben ihn gestohlen, verloren oder was auch immer mit ihm gemacht. Er sollte entweder Teil der Prozessunterlagen oder im Festnahmeprotokoll aufgeführt sein. Ich möchte, dass das festgehalten wird. Vielleicht wurde er aus Versehen nicht aufgenommen, einfach vergessen in dem Getümmel. Das ist ein wichtiges Dokument, in der Tat mein einziges Dokument, das mich ausweist in diesem Gericht.
Die Vertreter der Staatsanwaltschaft und des Inneren sind dagegen, die Richterin weist den Antrag unverzüglich ab, „da diese Frage den Rahmen der Prüfung der vorliegenden Unterlagen sprengt“.
Anwältin Michailowa bittet darum, Nawalnys Pressesprecherin Kira Jarmysch in den Saal zu lassen, doch laut Vertreterin der Behörden des Inneren ist „die Höchstzahl der für diesen Saal zugelassenen Personen bereits erreicht“. Die Richterin lehnt unverzüglich ab unter Berufung auf „Maßnahmen zur Sicherstellung der Hygieneregeln“. Nawalny bittet, Ilja Pachomow und Ruslan Schaweddinow vom FBK ins Gericht zu lassen. Die Richterin lehnt unverzüglich ab.
Nawalny: Da das Gericht offensichtlich die Seite der Anklage eingenommen hat, da mir mein Grundrecht auf Verteidigung verweigert wurde, da Medien und Publikum nicht zum Prozess zugelassen wurden und sich hier nur Personen befinden, die auf unklare Weise hierher geraten sind und von der Staatsanwältin, der Richterin oder von Polizeibeamten hierher gebracht wurden, da es kein Dokument gibt, in dem ein Gerichtsprozess festgelegt wurde – das kann nicht einfach aus dem Nichts auftauchen, man kann nicht einfach loslegen und jemanden in der Küche verurteilen, irgendwer hätte dieses Gericht einberufen müssen und dann hätte es irgendwer hierher verlegen müssen – in Folge dessen lege ich Einspruch gegen die Anberaumung dieser Sitzung ein.
Man kann nicht einfach loslegen und jemanden in der Küche verurteilen, irgendwer hätte dieses Gericht einberufen müssen
Anwalt Kobsew meint, dass Richterin Morosowa befangen sei und eine Sitzung außerhalb des Gerichts in einer Polizeistation eine „beispiellose Maßnahme, wie ich sie noch nie in Russland gesehen habe“. Die Anwältin Michailowa ergänzt, dass Morosowa über keine gesetzlichen Vollmachten zur Verhaftung eines auf Bewährung Verurteilten verfüge, und „diese Gerichtsverhandlung gar nicht stattfinden dürfte“. Die Vertreter von Staatsanwaltschaft und der Behörden des Inneren weisen das zurück. Die Richterin zieht sich für zehn Minuten ins Beratungszimmer zurück. Danach lehnt sie Nawalnys Einspruch ab. Die Verhandlung wird fortgesetzt.
Das Wort ergreift Naumowa, Vertreterin der Polizeiverwaltung von Chimki.
Naumowa: Sehr geehrtes Gericht, am 03.03.2015 wurde der Verurteilte Nawalny in die Zweigstelle №11 der Strafvollzugsverwaltung (FSIN) der Stadt Moskau bestellt. Am 10.03.2015 fand mit Nawalny ein Aufklärungsgespräch statt, es wurden die Bedingungen der Bewährungsstrafe erklärt und die ihm auferlegten Pflichten. Die Verpflichtungserklärung wurde unterzeichnet …
Naumowa erzählt mehrere Minuten die gesamte komplizierte Geschichte der Beziehungen zwischen Nawalny und dem FSIN. Nach dem Urteil im Fall Yves Rocher wurde der Politiker dazu verpflichtet, sich zweimal im Monat – je am ersten und dritten Montag – in einer Zweigstelle des FSIN zu melden.
Im Jahr 2020 sei Nawalny „systematisch“ nicht zur Meldung erschienen, erzählt Naumowa: Zweimal im Januar 2020, einmal im Februar, zweimal im März, dann im Juli und im August.
Nach der Vergiftung am 20. August 2020 wurde Nawalny zur Behandlung nach Deutschland ausgeflogen, worüber man beim FSIN „aus den Medien“ erfahren habe. Die Behörde habe Angaben über Nawalny beim Omsker Krankenhaus erfragt und am 16. Oktober „per Einschreiben an die Meldeadresse“ über seine Meldepflicht bei der Strafvollzugsbehörde (FSIN) informiert.
Dann legt Naumowa eine Auskunft der Berliner Charité vom 11. November vor, wonach Nawalny dort vom 22. August bis zum 23. September behandelt wurde. Nach seiner Entlassung befand sich Nawalny in ambulanter und physiotherapeutischer Behandlung. Nach der schweren Vergiftung brauchte er eine lange Rehabilitation, doch, so merkt Naumowa an, sei in den Dokumenten der Charité keine genaue Angabe über die benötigte Zeit bis zur Genesung gemacht worden.
Der Auftritt der Vertreterin der Polizei von Chimki wird übertönt durch die „Lasst ihn frei!“-Rufe vor den Fenstern der Polizeistation.
Naumowa: … zur Feststellung des faktischen Aufenthaltsorts des Verurteilten Nawalny hat die Strafvollzugsbehörde unter der Meldeadresse des Verurteilten nachgeforscht. Am 16.09.2020 und am 16.12.2020 haben Mitarbeiter im Rahmen der Besuche bei der Meldeadresse festgestellt, dass der Verurteilte zum Zeitpunkt der Überprüfungen nicht an der Meldeadresse anwesend war. Daher ist der Strafvollzugsbehörde der faktische Aufenthaltsort des Verurteilten Nawalny seit dem 24.09.2020 unbekannt. Mit der Anordnung der regionalen Strafvollzugsbehörde Moskaus vom 29.12.2020 wurde der Verurteilte Nawalny zur Fahndung ausgeschrieben.
Am 17.01.2021 [bei der Landung Nawalnys in Moskau – dek] wurde der Aufenthaltsort des Verurteilten festgestellt. Mitarbeiter der Moskauer FSIN-Behörde und Mitarbeiter der Polizei des Stadtkreises Chimki haben Nawalny für eine Frist von bis zu 48 Stunden festgenommen.
Naumowa beantragt beim Gericht, Nawalny für eine Frist von 30 Tagen zu inhaftieren. Die Richterin Morosowa zählt die im aktuellen Fall vorliegenden Unterlagen auf, während von draußen Rufe hereindringen.
Morosowa: Bitte, Herr Alexej Anatoljewitsch Nawalny, wie stehen sie zu den vorliegenden Anschuldigungen?
Nawalny: Ich hab nicht verstanden, was die Polizeidirektorin von Chimiki mit all dem zu tun hat? Kann die Polizeidirektorin von Chimiki Sie in einer Anordnung darum bitten zu heiraten? Oder ein Gericht dazu verpflichten, dass dieses entscheiden möge, dass sie verheiratet werden? Was hat die Polizeidirektorin von Chimki damit zu tun?
Ich hab nicht verstanden, was die Polizeidirektorin von Chimiki mit all dem zu tun hat? Kann die Polizeidirektorin von Chimiki Sie in einer Anordnung darum bitten zu heiraten?
Es wurde ein Prozess angesetzt, es gibt die Strafvollzugsbehörde FSIN. Der FSIN glaubt, dass ich irgendwo nicht erschienen sei, der FSIN setzt eine Gerichtsverhandlung an. Ich bin ein auf Bewährung Verurteilter. In Ihren Unterlagen ist die Fahndungsausschreibung, da steht schwarz auf weiß, in Großbuchstaben, extra für die Staatsanwälte und Richter aus Chimki: „Eine verfahrenssichernde Maßnahme gibt es nicht.“ Und dann kommt die Polizeichefin von Chimki und sagt: „Kommt, wir inhaftieren ihn!“ Wie soll man das denn überhaupt verstehen?
Der Verfahrensweg ist wie folgt, so steht es schwarz auf weiß im Gesetz: „Der FSIN kann beantragen, eine Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe umzuwandeln.“ Und sie haben es beantragt. Es wurde ein Gerichtstermin festgelegt. Wenn die Polizei glaubt, dass ich festgenommen werden muss, dann kann sie mich für 48 Stunden festnehmen.
Wie kann sich (lacht) eine Polizeichefin von Chimki überhaupt in dieses System einmischen und meine Festnahme beantragen? Das ist doch lachhaft.
Anwältin Michailowa sagt, dass die Behördenleiterin sich auf drei Artikel des Strafgesetzbuches bezieht: Und zwar auf Artikel 46 über die Nichteinhaltung der Auflagen für gemeinnützige Arbeit, Artikel 397 über die Inhaftierung von Verurteilten, die sich Geldstrafen, Arbeiten oder Freiheitsbeschränkungen entzogen haben, und Artikel 399 [Strafvollstreckungsordnung – dek]. Keiner dieser Artikel sehe Freiheitsstrafen von 30 Tagen für Verurteilte während der Bewährungszeit vor.
Michailowa: Außerdem möchte ich das Gericht auf Folgendes aufmerksam machen. Erstens, Nawalny ist nicht untergetaucht. Er hat der Strafvollzugsbehörde mitgeteilt, dass er in Deutschland in ärztlicher Behandlung ist, ein ärztliches Attest der Charité wurde vorgelegt, und dieses befindet sich, soweit ich weiß, in den Unterlagen …
Kobsew: Es ist nicht in den Unterlagen. Wir verweisen darauf in unserer Stellungnahme.
Michailowa: Leider ist bei dieser Gerichtssitzung kein Vertreter des Strafvollzugsdienstes FSIN anwesend, der uns aufklären könnte. Ich denke selbstverständlich, dass das nicht richtig ist – man hätte auch einen Vertreter des Strafvollzugsdienstes zu dieser Gerichtsverhandlung laden müssen. Der FSIN wurde darüber informiert, wo Nawalny sich aufhält, dass er sich nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus in ambulanter Behandlung befindet und von Ärzten der Charité beobachtet wird. Diese Dokumente sind einsehbar in den Unterlagen, die dem Simonowski-Gericht vorgelegt wurden, wo eine Anhörung für den 29. Januar anberaumt wurde [diese wurde inzwischen auf den 2. Februar verschoben – dek]. Da die Frage der Umwandlung der Bewährungsstrafe in eine Gefängnisstrafe bei dieser Gerichtssitzung am 29. Januar verhandelt wird, entspricht die jetzige Verhandlung wiederum nicht dem Gesetz.
Wir haben eine Bescheinigung, die wir ganz kürzlich von der Charité erhalten haben. Da die Gerichtsverhandlung so notfallmäßig anberaumt wurde, hatten wir leider keine Zeit, diese Bescheinigung ins Russische übersetzen zu lassen. Sie ist auf den 15. Januar datiert, ich bitte, sie der Akte beizufügen. Daraus geht hervor, dass Nawalny in der Charité behandelt wurde, dann unterzog er sich einer Reha, und diese endete am 15. Januar.
Michailowa führt an, dass Nawalny auf Russlands Ersuchen hin im Rahmen einer Übereinkunft für Rechtshilfe in Deutschland vernommen wurde. In dem Ersuchen wurde Nawalnys Adresse in Deutschland angegeben, was bedeutet, dass die russischen Behörden wussten, wo sie ihn finden konnten. Am 20. Januar 2021 ist für den Politiker ein Gerichtstermin angesetzt, im Fall einer Verleumdungsklage; die Gerichtsvorladung dafür wurde an Nawalnys deutsche Adresse geschickt. An diese Adresse schickte auch das Bezirksgericht Simonowski der Stadt Moskau seine Vorladung an Nawalny.
Als Michailowa fertig ist, listet der Richter die Dokumente und Anträge auf und fragt, ob alle mit der Zulassung der Bescheinigung in deutscher Sprache einverstanden sind. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft erhebt Einspruch, da „Gerichtsverfahren in der Russischen Föderation auf Russisch geführt werden“, der Richter lehnt [die Zulassung] ab.
Kobsew: Ich unterstütze die Position von Alexej Anatoljewitsch und meiner Kollegin. Ich bin auch deshalb der Meinung, dass dem Antrag der Polizeichefin von Chimki nicht stattzugeben ist, weil Nawalny – wie gesagt – vom Zeitpunkt seiner Vergiftung bis zu seiner gestrigen Rückkehr nicht zur Inspektion erschienen ist. Und aus hinreichendem Grund. Damit gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, seine Bewährungs- in eine Haftstrafe umzuwandeln. Insofern als zudem alle staatlichen Stellen sehr wohl über Nawalnys Wohnsitz in Deutschland Bescheid wussten … Eine Person zur Fahndung auszuschreiben ist nur möglich, wenn der Aufenthaltsort der Person nicht bekannt ist. In diesem Fall war der Aufenthaltsort bekannt. Wenn der Aufenthaltsort festgestellt ist, es aber nicht möglich ist, die Person zu vernehmen, ist dies kein Grund, sie zur Fahndung auszuschreiben. Genau aus diesem Grund hat Nawalny gezielt Eingaben sowohl beim Gericht als auch bei der Strafvollzugsbehörde gemacht, wo er seine Adresse in Berlin angab. Deshalb wurde er unrechtmäßig auf die Fahndungsliste gesetzt.
Kobsew führt die Erklärung des Obersten Gerichtshofs an, dass es möglich ist, eine Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe zu verwandeln, wenn Verstöße gegen Auflagen vor Ablauf der Bewährungszeit begangen wurden oder wenn sich herausstellt, dass der Verurteilte untergetaucht ist. Nawalny sei jedoch aus einem triftigen Grund nicht zur Strafvollzugsbehörde erschienen und habe keine Verstöße begangen. Nach Kobsews Rede steht die Vertreterin der Staatsanwaltschaft Koloskowa auf und ersucht, dem Antrag auf Verlängerung von Nawalnys Haftzeit stattzugeben. Die Richterin zieht sich unter Rufen von der Straße in den Beratungsraum zurück. Sie verspricht, in 15 Minuten zurück zu sein, kommt aber erst eine Stunde später wieder und verliest ihre Entscheidung: Nawalnys U-Haft wird auf 30 Tage verlängert.
Unter den reichsten Menschen der Welt ist und bleibt Putin der geheimnisumwobenste, resümierte im März 2019 Wladislaw Inosemzew. Der Wirtschaftswissenschaftler gab damit seine Einschätzung zu einem damals verabschiedeten US-Gesetz ab, dessen Aufgabe darin besteht, korrupte Machenschaften des russischen Präsidenten aufzudecken. Die US-Nachrichtendienste werden mit ihren Beweisen in keiner Weise Putins Legitimität beeinträchtigen, schrieb Inosemzew – wohl aber ein Licht auf die Geschäfte von Putins nächstem Umfeld werfen.
Nun werfen nicht die ausländischen Nachrichtendienste dieses Licht, sondern vermehrt unabhängige russische Medien: So hat im November 2020 das Online-Magazin Projekt in seiner Recherche über die mutmaßliche Ex-Geliebte des Präsidenten berichtet, eine Millionärin. Das Investigativmedium Washnyje istorii zieht den Kreis enger und nähert sich Putins Tochter und ihrem Ex-Gatten an – der mit 32 Jahren zum jüngsten Dollarmilliardär des Landes wurde.
Im Januar 2019 entdeckte Troy Hunt, ein australischer Fachmann für Websicherheit, in einem Hackerforum etwas, das sogar ihn, der schon lange Jagd auf gestohlene Userdaten machte, in Staunen versetzte. Hunt ist ein Cyber-Robin-Hood: Seit vielen Jahren durchstöbert er Foren von Cyberkriminellen und kauft Datenbanken gehackter Accounts – nicht, um daran zu verdienen, sondern um die Opfer vor der drohenden Gefahr zu warnen.
Doch an jenem Tag stieß Hunt auf ein Archiv, dessen Dimensionen ihn verblüfften. In der Datenbank befanden sich 773 Millionen E-Mail-Adressen und 21 Millionen Passwörter. Der Verkäufer des Archivs nannte es Collection #1. Über Hunts Fund wurde weltweit berichtet, man sprach von der größten Sammlung gehackter Accounts, die jemals veröffentlicht wurde. Wer hätte ahnen können, dass in der riesigen Collection #1, zufällig entdeckt von einem australischen Cyber-Robin-Hood, zwischen hunderten Millionen E-Mail-Adressen der Kontakt eines Mannes auftauchen würde, den man ruhig als Hüter eines der wichtigsten Staatsgeheimnisse Russlands bezeichnen kann.
Dieser Mensch arbeitet weder im Verteidigungsministerium, noch entwickelt er Geheimwaffen oder rekrutiert Mitarbeiter ausländischer Geheimdienste. Er ist ein Unternehmer aus Sankt Petersburg, von dem die meisten Menschen in Russland wahrscheinlich noch nie gehört haben. Und obwohl er bereits mit 32 Jahren zum jüngsten Dollarmilliardär des Landes wurde, gibt es in seiner Biografie Dinge, die noch viel mehr Aufmerksamkeit verdienen.
Mit 32 Dollarmilliardär und Hüter wichtiger Staatsgeheimnisse
Der Mann, um den es hier geht, ist in ein russisches Geheimnis eingeweiht, das mindestens so streng gehütet wird wie geheime Atomraketenstützpunkte: Er kennt Wladimir Putins Familie und weiß Bescheid über Hunderte Millionen Dollar schwere Offshore-Deals von Verwandten des Präsidenten.
Woher hat dieser Mensch so viel Einblick in Wladimir Putins Familie und ihre Geschäfte? Ganz einfach: Mehrere Jahre lang war er selbst ein Mitglied der russischen First Family. Er heißt Kirill Schamalow und war verheiratet mit Wladimir Putins Tochter Katerina Tichonowa.
Teil I
Anfang 2020 erhielten Mitarbeiter von Washnyje istorii Zugang zum E-Mail-Archiv von Kirill Schamalow. Die Dokumente wurden den Journalisten von einer anonymen Quelle zugespielt, die sich vermutlich mithilfe der Daten aus der Collection #1 Zugang zu Schamalows E-Mail-Postfach verschafft hatte. Wir kennen weder seinen (oder ihren) Namen noch die Motive. Die Person schrieb nur, dass sie dieses Archiv auch anderen russischen Medien angeboten habe, aber niemand auch nur einen Blick auf das Material werfen wollte. Die Quelle stellte lediglich eine Bedingung: keine medizinischen Daten verwenden. Sie teilte uns außerdem mit, dass sie Schamalow über den Klau seines Accounts informiert habe.
Der Sohn von Putins Freund
Kirill Schamalow ist der Sohn von Nikolaj Schamalow, einem der ältesten und engsten Freunde Wladimir Putins. Schamalow senior gehörte zum Kreis der Wenigen, die der Präsident regelmäßig zu seinem Geburtstag einlud. Mitte der 1990er Jahre waren Schamalow und Putin Mitgründer der berühmten Datschen-Kooperative Osero bei Sankt Petersburg. Als Wladimir Putin Präsident wurde, bekamen fast alle seine Datschen-Nachbarn hohe Posten in der Politik oder in Staatskonzernen.
Nikolaj Schamalow (2020 wurde er 70 Jahre alt) hat sich nach Auskunft seiner Bekannten mittlerweile zur Ruhe gesetzt und verbringt viel Zeit bei der Jagd. Doch sein Geschäft wird von seinen Söhnen weitergeführt. Der älteste, Juri, leitet seit über 15 Jahren eine der größten privaten Rentenversicherungen Russlands, Gazfond. Eine noch beeindruckendere Karriere hat aber der jüngste Sohn Kirill gemacht.
Die „Neuen Petersburger“
Kirill Schamalows E-Mail-Archiv ist nicht nur deshalb von großer gesellschaftlicher Bedeutung, weil es bisher unbekannte Details zu wichtigsten Geschäftsabschlüssen und politischen Entscheidungen enthält. Dieses Archiv ist gewissermaßen eine Milieustudie zur russischen Elite im 21. Jahrhundert in eigens von ihr verfassten Briefen.
Die russische Elite – das sind unter anderem die Kinder derjenigen, die in den Medien und im Volksmund als „Piterskije“, „die Petersburger“, bezeichnet werden: Putins zahlreiche Datschen-Nachbarn, seine Judo-Sparringspartner, Masseure und Kollegen aus der Petersburger Stadtverwaltung, die Anfang der 2000er Jahre Schlüsselpositionen im Land einnahmen. Doch seither sind mehr als 20 Jahre vergangen, die Piterskije sind gealtert, und an ihre Stelle sind ihre Kinder und Enkel getreten – die Neuen Piterskije.
Zusammen mit den Schlüsselpositionen haben die Neuen Piterskije von ihren Eltern auch die Führungsmethoden übernommen.
2009 war Schamalow erst 27 Jahre alt. Aber er war bereits Vize-Präsident für Business Administration beim größten russischen Petrochemie-Konzern Sibur und hatte zuvor bereits bei Gazprom, Rosoboronexport, der Gazprombank und im Apparat der russischen Regierung gearbeitet.
Doch der größte Sprung seiner Karriere kam erst später: 2014 erwarb Schamalow 17 Prozent des Unternehmens Sibur im Wert von fast 80 Milliarden Rubel [damals etwa 1,65 Milliarden Euro – dek] und erhöhte damit seine Anteile am Konzern auf mehr als 21 Prozent. Dieser Deal brachte ihn mit einem Schlag auf die Forbes-Liste der reichsten Russen und machte ihn außerdem zum jüngsten Dollarmilliardär des Landes. Zu diesem Zeitpunkt war Schamalow gerade mal 32 Jahre alt.
Doch dem war ein noch bemerkenswerteres Ereignis vorausgegangen. Wie die internationale Nachrichtenagentur Reuters mitgeteilt hatte, heiratete Schamalow 2013 die Vorsitzende der Stiftung Innopraktika, Katerina Tichonowa. Mittlerweile gibt es in den Medien zahlreiche Beweise, dass es sich dabei um die jüngere Tochter von Wladimir Putin handelt; der Kreml jedoch verweigert schon seit vielen Jahren die Bestätigung der Verwandtschaft.
Kirill Schamalows E-Mail-Archiv lässt weder einen Zweifel daran, dass es sich bei Tichonowa um die Tochter des russischen Präsidenten handelt (aus Rücksicht auf ihre Sicherheit veröffentlichen wir hier keine persönlichen Dokumente), noch dass sie im Februar 2013 seine Frau wurde. Davon zeugen die gegenseitigen E-Mails sowie Fotos von ihrer Hochzeit, die nie zuvor an die Öffentlichkeit gelangten.
Wahrscheinlich würden wir an dieser Episode ihres Privatlebens gar nicht rühren (wobei fraglich ist, wie privat das Leben des Präsidenten und seiner Familie sein kann), wäre da nicht Folgendes: In Schamalows Mails wird erwähnt, dass seine Offshore-Firma ein Aktienpaket des Konzerns Sibur im Marktwert von 380 Millionen Dollar für gerade mal 100 Dollar gekauft hat.
Und dem zeitlichen Ablauf nach zu urteilen, könnten diese zwei unglaublichen Glücksfälle im Leben des jungen Geschäftsmannes – die Ehe mit der Präsidententochter und die quasi geschenkten Aktien des größten Petrochemie-Konzerns des Landes – miteinander zusammenhängen.
Kirill Schamalows Mailfach sagt nichts darüber, wie und wo Katerina Tichonowa und er sich kennengelernt haben. Es gibt nur indirekte Hinweise darauf, dass Schamalow und Tichonowa sich seit ihrer Kindheit kennen und auch als Jugendliche in Kontakt geblieben sind. Wann aus ihrer Bekanntschaft mehr wurde, wissen wir nicht, aber 2012 waren sie bereits vollauf damit beschäftigt, sich ein gemeinsames Luxusleben in Russland und Frankreich einzurichten.
Ein Anwesen auf der Rubljowka und ein Schloss in Biarritz
Am 2. Juni 2012 bekam Schamalow eine E-Mail von der Frau, die von dem jungen Paar mit dem Um- und Ausbau einer Villa beauftragt worden war, und zwar im Dorf Ussowo an der Rubljowskoje Chaussee – einem der teuersten Orte Russlands. Das Haus befindet sich in der Nähe des Anwesens des Präsidenten in Nowo-Ogarjowo.
„Sehr geehrter Kirill, anbei übersende ich Ihnen Fotos von den Möbeln, die Katja für den Garten ausgesucht hat. Sie sind alle in Italien vorrätig (wie uns bestätigt wurde). Für die Bestellung muss eine Vorauszahlung in Höhe von 60 Prozent der ausgewiesenen Gesamtsumme überwiesen werden“, schreibt ihm die Frau.
Im Anhang findet sich eine Liste von Einrichtungsgegenständen für den kleinen Gartenpavillon: Tisch, Sofa, ein paar Sessel, Stoffvorhänge – im Gesamtwert von 53.000 Euro.
Diese E-Mail leitete Kirill an Katerina Tichonowa weiter, mit dem Kommentar:
„Gefällt mir, keine Einwände. Was denkst du?“
Insgesamt kosteten Umbau, Möbel und Einrichtung fast neun Millionen Euro. Nimmt man das Grundstück und das Haus selbst dazu, könnten sich die Gesamtkosten für das Anwesen auf etwa 15 bis 17 Millionen Euro belaufen.
Das Haus in Ussowo war nicht die einzige teure Immobilie von Kirill Schamalow und Katerina Tichonowa. Zeitgleich zum Umbau des Anwesens bei Moskau richteten sie ein kleines Schloss in Frankreich ein.
Im Oktober 2012 hatte Schamalow über seine Firma Alta Mira mit Sitz in Monaco eine Villa im Städtchen Biarritz gekauft. Das Anwesen gehörte früher der Familie von Gennadi Timtschenko, einem alten Freund von Wladimir Putin und einem der größten russischen Öl-Exporteure. Den Dokumenten in Kirill Schamalows Postfach nach zu urteilen, kostete ihn das Haus in Frankreich rund 4,5 Millionen Euro.
Biarritz und seine Umgebung kann man ruhig als Auslandsreiseziel Nummer eins von Wladimir Putins Familie bezeichnen. Wie das Netzwerk OCCRP herausfand, erwarb 2013 ein weiterer russischer Staatsbürger ein Haus unweit von Kirill Schamalows Schloss: Artur Otscheretny. Er ist verheiratet mit Ljudmila Putina, der Ex-Ehefrau des russischen Präsidenten. Das Paar hatte 2013 offiziell die Scheidung bekanntgegeben, und 2016 entdeckte die Zeitung Sobesednik, dass Ljudmila Putina in den Papieren zu ihrer Sankt Petersburger Wohnung ihren Nachnamen in Otscheretnaja geändert hatte.
Von 2013 bis 2014 ließen Schamalow und Tichonowa die französische Villa von Designern einrichten. Daran, dass die jüngste Tochter des russischen Präsidenten plante, das Mini-Schloss auch zu benutzen, gibt es keinen Zweifel: Sie war unmittelbar in die Gespräche um die Renovierung des Anwesens in Biarritz involviert.
Unternehmer sollten bescheidener sein. Sie haben Recht
Während der Schwiegersohn des russischen Präsidenten Aktien von Offshore-Firmen besaß, ausländische Konten eröffnete und Immobilien in Ländern der NATO erwarb, leitete Wladimir Putin den Prozess der „Nationalisierung der russischen Eliten“ ein. 2013, genau zu der Zeit also, als Schamalow und Tichonowa fleißig ihr französisches Schlösschen einrichteten, brachte Putin einen Gesetzentwurf in die Staatsduma ein, der es Beamten und Führungskräften von Staatsunternehmen verbieten sollte, Konten im Ausland zu eröffnen und ausländische Bankeinlagen oder Wertpapiere zu besitzen. Das Verbot erstreckte sich auch auf Ehepartner und minderjährige Kinder. Im Erläuterungstext hieß es, das Gesetz diene „der Gewährleistung der nationalen Sicherheit“.
Das luxuriöse Anwesen von Schamalow und Tichonowa in Ussow kann der Präsident wohl ebenfalls kaum gutgeheißen haben. 2016 antwortete er auf die Frage einer Journalistin des Portals Znaknach dem nicht gerade bescheidenen Lebensstil der Chefs von Staatskonzernen: „Was unsere Geschäftsleute anbelangt, auch innerhalb von Unternehmen mit staatlicher Beteiligung und dass sie derart provokante Immobilien bauen, da stimme ich Ihnen zu – sie sollten bescheidener sein. Sie haben Recht. Ich habe ihnen das schon mehrfach gesagt. Und ich hoffe, dass sie darauf hören. […] Man muss verstehen, in was für einem Land wir leben, und die Leute nicht reizen.“
Hochzeit in Igora
Die Hochzeit mit Katerina Tichonowa wird in Kirill Schamalows Korrespondenz zum ersten Mal am 7. September 2012 erwähnt. An diesem Tag erhielt er eine E-Mail von einer Frau, die sich um die Hochzeitvorbereitungen kümmerte:
„Ich möchte Ihnen und Jekaterina für die angenehme Bekanntschaft und unser Treffen danken. Wir haben die wichtigsten Punkte, die wir dort besprochen haben, in einer kurzen Übersicht zusammengefasst.“
Dem Schreiben war ein kurzer Ablaufplan für die Hochzeitsfeier im Skiort Igora in der Nähe von Sankt Petersburg beigefügt. Ursprünglich sollte die Feier im Januar 2013 stattfinden, wurde dann aber auf den 23. bis 25. Februar verschoben.
Ab Ende Januar versendete Schamalow an seine Freunde Hochzeitseinladungen mit detaillierter Beschreibung des Dresscodes:
„23. Februar. Herren: Dresscode Cocktail im russischen Stil. Samtjackett, dazu Halstuch, Hemd mit Stehkragen. Damen: Cocktail im russischen Stil. Kleid, Rock oder Sarafan, bodenlang, in Pastelltönen, Haare geflochten, Kopftuch;
24. Februar. Herren: Creative Black Tie im russischen Stil. Smoking und Fliege dürfen farbig sein. Damen: Creative Black Tie im russischen Stil. Abendkleid in A-Form, Hochsteckfrisur mit Tiara-Kopfschmuck im Kokoschnik-Stil;
25. Februar. Herren: Casual chic im russischen Stil. Lockerer Anzug mit Polohemd, Rollkragen oder Pullover. Damen: bodenlanger Glockenrock, Feinstrickpullover.“
Insgesamt lud das Brautpaar rund 100 Gäste ein. Auf der langen Gästeliste fehlten die Eltern von Katerina Tichonowa – der Präsident und seine Gattin (zu diesem Zeitpunkt war die Scheidung noch nicht offiziell). Ihr Fehlen auf der Liste könnte allerdings auch mit dem Sicherheitskonzept erklärt werden, für das sechs Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes des Präsidenten (SBP) verantwortlich waren. Für diese hatte das junge Paar sogar eigens ein Haus angemietet.
Teil III
Seinem Postfach nach zu urteilen war Kirill Schamalow sowohl vor seiner Heirat mit Katerina Tichonowa als auch danach – als Schwiegersohn des russischen Präsidenten – Eigentümer von Offshore-Firmen. Ein Großteil der Firmen, die von Juristen aus verschiedenen Ländern geführt wurden, war auf Strohmänner registriert. Haupthüter der Offshore-Geheimnisse von Kirill Schamalow und dessen Vater Nikolaj war Dario Item, Botschafter des kleinen Inselstaates Antigua und Barbuda, der die Interessen seines Landes in Spanien, Monaco und Liechtenstein vertritt.
Ein großzügiges Geschenk
Im Juni 2013 kaufte Kirill Schamalows Offshore-Firma Kylsyth Investments Ltd. mit Sitz in Belize von einer anderen Offshore-Firma, Volyn Portfolio Corp. mit Sitz auf den britischen Virgin Islands, 38.000 Aktien einer dritten Offshore-Firma auf der Insel Guernsey, Themis Holdings Ltd. Zu diesem Zeitpunkt war die Themis Holdings Ltd. die Muttergesellschaft des Unternehmens Sibur. Mit anderen Worten: Mit dem Kauf von Anteilen der Themis Holdings Ltd. erwarb Kirill Schamalow automatisch 3,8 Prozent am Konzern Sibur. Bereits vor diesem Deal hatten ihm 0,5 Prozent der Holding gehört: Insgesamt hielt er nun also einen Anteil von 4,3 Prozent.
Doch das Interessanteste an dieser Reihe von Deals ist nicht einmal, dass Wladimir Putins Schwiegersohn – ungeachtet der vom Präsidenten geplanten „Nationalisierung der Eliten“ – exotische Offshores für seine Investitionen in ein strategisches russisches Unternehmen benutzte, sondern wie viel er für diese Aktien bezahlt hat: 3,8 Prozent der Anteile am Konzern Sibur kosteten ihn bloß einhundert Dollar. Dabei hat Schamalow selbst in einem Interview mit der Zeitung Kommersant den Gesamtwert des Konzerns auf rund zehn Milliarden Dollar geschätzt. Damit könnte der Marktwert seines Aktienpakets bei etwa 380 Millionen Dollar liegen (den Rabatt für fehlenden Anspruch auf Kontrollrechte nicht mitgerechnet) – oder, mit anderen Worten: 3,8 Millionen Mal höher, als der Schwiegersohn des russischen Präsidenten dafür bezahlt hat.
Der Pressedienst von Sibur übermittelte Washnyje istorii eine Stellungnahme von Dimitri Konow, dem Vorstandsvorsitzenden des Konzerns:
„Die Transaktionen im Jahr 2013 fanden im Rahmen eines 2011 von Aktionären ins Leben gerufenen Programms statt, das der zusätzlichen Motivationssteigerung eines breiten Kreises von leitenden Managern des Unternehmens dienen sollte. In jeder Etappe gab es andere Teilnehmer und unterschiedliche Bedingungen für die verschiedenen Teilnehmergruppen. Die Bedingungen für den Aktienverkauf der von Ihnen angesprochen Transaktion unterschieden sich nicht von denen für einige andere Manager. Exklusive Bedingungen für K. N. Schamalow persönlich gab es nicht. Womöglich ist Ihnen nicht bewusst, dass bei der Bewertung des Aktienwerts die Höhe der Schulden der betreffenden juristischen Person berücksichtigt wird/wurde“, teilte Konow mit.
Washnyje istorii hat sich jedoch die Verträge von elf Topmanagern genau angeschaut, die an dem Optionsprogramm von Sibur teilgenommen haben, von dem Konow spricht. Sie alle haben echtes Geld für ihre Anteile bezahlt – abzüglich eines Rabatts von etwa 15 Prozent des Marktwerts, was der gängigen Praxis solcher Motivationsprogramme entspricht. So musste beispielsweise der geschäftsführende Direktor Sergej Komyschan laut Vertrag für 0,26 Prozent an Sibur-Aktien 21,6 Millionen Dollar zahlen. Das heißt, für ein fünfzehn Mal kleineres Paket als das des Präsidenten-Schwiegersohns hat Komyschan 216.000 Mal mehr bezahlt. Alexej Filippowski, der Vizepräsident des Unternehmens, musste für sein Paket von 0,15 Prozent 12,7 Millionen Dollar zahlen.
Auf unsere Frage, warum andere Manager im Gegensatz zu Schamalow echtes Geld für ihre Aktien bezahlen mussten, entgegnete Dimitri Konow bloß, unsere Zahlen seien „inkorrekt“. Welche Zahlen seiner Ansicht nach korrekt sind, sagte er allerdings nicht.
Wenn man die Dinge beim Namen nennt, ist also Folgendes passiert: Die Offshore-Firma des Schwiegersohns des russischen Präsidenten hat für 100 Dollar etwas gekauft, was eigentlich rund 380 Millionen kostet.
Und das war erst der Anfang der beispiellosen Bereicherung von Kirill Schamalow.
Auf der Suche nach der passenden Mitgift
Kirill Schamalow hatte sehr viel Glück mit seinen Beratern und Assistenten. Den E-Mails nach zu urteilen, war ein ganzes Team für ihn tätig: Es recherchierte Investitionsprojekte für ihn, schrieb Redebeiträge für seine Auftritte bei Foren und Sitzungen des Direktorenrats, inklusive der Antworten auf mögliche Fragen aus dem Publikum. Ganz wie zu Studienzeiten, als man ihm dabei half, sein Diplom zu verteidigen und seine Rede für den Prüfungsausschuss vorzubereiten.
Nach der Hochzeit mit Tichonowa hatten die zahlreichen Helfer des Präsidenten-Schwiegersohns alle Hände voll zu tun: Sie mussten ein groß angelegtes Finanzprojekt finden, das in den Besitz ihres Chefs übergehen sollte. E-Mails mit märchenhaften Angeboten über Milliarden von Dollar landeten eine nach der anderen in Schamalows Postfach – und Wladimir Putins Schwiegersohn suchte sie sich so aus, wie wir uns im Supermarkt Milch aussuchen.
Am 16. Mai 2013 schickte Schamalows Assistent Denis Nikijenko ihm den Vorschlag, Anteile an gleich drei Unternehmen zu kaufen – Rostelekom, Tele2und Trikolor TV –, um sie danach zu einem „nationalen Telekommunikations-Champion“ zu vereinen, wie es in dem Schreiben hieß. Die Gesamtkosten für die Realisierung dieser Idee beliefen sich auf neun Milliarden Dollar. Wo sollte Schamalow dieses Geld hernehmen? Nikijenko erklärte das in einer Notiz:
„Die finanzielle Grundlage für den Erwerb könnten Kreditressourcen von der WTB, Sberbank und Gazprombank bilden. Zur Bildung der 20 bis 30 Prozent sogenannter Eigenmittel wäre es denkbar, befreundete Finanzinstitutionen zu beteiligen, zum Beispiel Gazfond oder Gazprombank.“
Abgesehen davon, dass Schamalows Assistent vorschlägt, dieses enorme Vorhaben auf Kosten von Staatsbanken zu finanzieren, enthält das Zitat eine weitere interessante Formulierung: die „20 bis 30 Prozent ‚sogenannte Eigenmittel‘“.
Jeder, der bei der Bank eine Hypothek aufnehmen will, um eine Wohnung zu kaufen, muss 20 bis 30 Prozent des Kaufpreises selbst aufbringen. Genauso ist es, wenn ein Investor Aktiva erwerben will, besonders wenn es sich dabei um riesige Projekte über hunderte Milliarden Rubel handelt. Wie aus Nikijenkos E-Mail hervorgeht, hatten Schamalows Betraute jedoch offenbar nie vor, Eigenmittel ihres Chefs einzusetzen. Stattdessen schlugen sie vor, „befreundete Finanzinstitutionen zu beteiligen, zum Beispiel Gazfond“ – der, wie der Zufall es will, von Schamalows älterem Bruder Juri geleitet wird.
Im April 2014 schrieb Nikijenko Schamalow schließlich eine weitere E-Mail, die gleich mehrere Vorschläge enthielt. Der erste war, 51 Prozent an dem Konzern VSMPO-Avisma zu erwerben, dem weltgrößten Titanproduzenten (dieses Paket kostete zu diesem Zeitpunkt über eine Milliarde Dollar).
„Warum 51 Prozent? Wenn eine Person, die mehr als 50 Prozent der Anteile an einem Unternehmen besitzt, auf der Sanktionsliste landet, können US-Bürger und -Konzerne keine Geschäfte mehr mit diesem Unternehmen machen. Weil die USA an einer Zusammenarbeit mit VSMPO-Avisma interessiert sind, wäre es somit unwahrscheinlich, dass der Konzern oder ein Teilhaber auf die Sanktionsliste kommt“, erklärte Nikijenko die Vorteile einer Übernahme des Titankonzerns.
Der zweite Vorschlag bestand darin, ein zusätzliches Aktienpaket des Konzerns Sibur zu erwerben.
„Die Unternehmensbeteiligung von GNT (gemeint ist Gennadi Nikolajewitsch Timtschenko – Anm. Washnyje istorii) schränkt die operative Geschäftstätigkeit des Konzerns ein. Sibur erhält bereits Absagen von Banken und Geschäftspartnern (weil Timtschschenko auf der Sanktionsliste der USA steht – Anm. Washnyje istorii). Um dieses Problem zu lösen, schlagen wir vor, GNT seine Anteile abzukaufen. Die Transaktion kann durch zwei Manager des Unternehmens mit nachträglicher Zusammenführung der Anteile in eine Hand realisiert werden (dieser Vorgang, bei dem eine künstliche Schuld geschaffen und daraufhin von einem zweiten Aktienpaket getilgt wird, ist gut erprobt)“, heißt es in dem Schreiben.
Wie der weitere Verlauf zeigt, entschied sich Kirill Schamalow offenbar für diesen Vorschlag. Das Interessanteste an der E-Mail ist die Beschreibung des Schemas für den Kauf der Sibur-Aktien von Gennadi Timtschenko: die Schaffung einer „künstlichen Schuld“ und deren Tilgung durch ein weiteres Aktienpaket. Derartige Schemata werden in der Rechtsliteratur und in Handelsgerichtsurteilen als populäres Mittel beschrieben, um die Kontrolle über Unternehmen zum Spottpreis zu bekommen.
Der Kauf von Sibur
Am 1. August 2014 registrierte Kirill Schamalow unter seiner Privatadresse in der Zoologitscheskaja Uliza in Moskau die Firma Jausa 12. Laut seinen E-Mails kaufte diese Firma bereits sechs Tage später, am 7. August, 17 Prozent von Sibur. Der Marktwert dieses Aktienpakets lag bei fast 80 Milliarden Rubel [damals etwa 1,65 Milliarden Euro – dek]. Gegenüber Kommersant sagte Schamalow, die Mittel dafür habe er bei der Gazprombank geliehen (in dessen Direktorenrat sein Bruder Juri sitzt – Anm. Washnyje istorii), als Sicherheit hätten eigene Vermögensgegenstände gedient. Welche Vermögensgegenstände das genau waren, sagte er nicht.
Im Rahmen des Sibur-Optionsprogramms hatte Schamalow fast zum Nulltarif über vier Prozent der Holding akkumuliert. Mit dieser Kreditsicherheit hätte er theoretisch ein Darlehen von rund 500 Millionen Dollar bekommen können. Aber woher hatte der junge Geschäftsmann das restliche Geld für den Erwerb der Aktien?
Leider enthält Schamalows Korrespondenz keine Antwort auf diese Frage, vorausgesetzt man will nicht die E-Mail seines Assistenten Denis Nikijenko als solche werten, in der zum ersten Mal die Idee der Übernahme von Timtschenkos Sibur-Anteilen mithilfe einer „künstlichen Schuld und ihrer Tilgung durch ein zweites Aktienpaket“ geäußert wurde.
Wann und wie Schamalows Firma Jausa 12 ihren Riesenkredit abbezahlt hat, wissen wir nicht. Der letzte im Rosstat zugängliche Jahresabschluss stammt aus dem Jahr 2016, in der Zeile „Verbindlichkeiten“ sind dort immer noch 80 Milliarden Rubel angegeben. Den Daten des Föderalen Steuerdienstes zufolge beschloss Schamalow im September 2017, Jausa 12 aufzulösen, was er im Dezember desselben Jahres auch tat.
Wie dem auch sei, als zweitgrößter Aktionär der größten Petrochemie-Holding des Landes (mit einem Anteil von 21,3 Prozent), zog Schamalow die Aufmerksamkeit der Medien auf sich. Wahrscheinlich, um den Fragen zu seinen Verwandtschaftsbeziehungen und der Herkunft seines Vermögens zuvorzukommen, gab der Schwiegersohn des Präsidenten der Zeitung Kommersant ein Interview. Das Blatt stellte keine unangenehmen Fragen.
Das Interview endete mit einer patriotischen Äußerung Schamalows: „Ich bin in Russland geboren, aufgewachsen und lebe hier. Mein Business ist hier. Und zwar komplett nach russischem Recht, nicht irgendwo im Offshore. Irgendwelche Hintertürchen und Geschäfte im Ausland – das ist nichts für mich“, erklärte Wladimir Putins Schwiegersohn. Dabei hat er offenbar vergessen, dass er die Sibur-Aktien über eine Firma in Belize gekauft hatte, sein Schloss in Frankreich auf eine Firma in Monaco gemeldet war und er 2015, im selben Jahr, in dem das Interview stattfand, mehrere Konten in der Schweiz eröffnet hatte. Aber 2017, als die Sanktionen einen immer weiteren Kreis von Wladimir Putins Bekannten erfassten, begannen Schamalows Finanzbeauftragte, die Geschäfte seiner Firmen und Fonds mit Konten bei europäischen Banken einzustampfen, und registrierten auf seinen Namen einen eigenen Fonds – den Centurion International Fund auf der Insel Labuan, einem Offshore-Gebiet in Malaysia. Der Fonds läuft über Offshore-Unternehmen aus Belize – einem winzigen Staat an der Karibischen Küste.
Teil IV
Kirill Schamalow konnte man durchaus auch vor seiner Liebesbeziehung mit Katerina Tichonowa zu den einflussreichsten Persönlichkeiten Russlands rechnen – dank der Freundschaft seines Vaters mit dem russischen Präsidenten und seinen eigenen zahlreichen Beziehungen zu Vertretern der Neuen Petersburger. Schamalow war erst 27, als er gebeten wurde, im Streit um die Moskauer Flughäfen Einfluss auf die Entscheidung der Handelsgerichte zu nehmen. Durch die Ehe mit Katerina Tichonowa stieg er allerdings in eine ganz andere Liga auf: Vom Sohn eines Freundes wurde er zum Familienmitglied Wladimir Putins – mit allen Möglichkeiten, die dieser Status mit sich brachte.
Ein gemütliches Zuhause
Einer der Hochzeitsgäste war Kirill Dmitrijew, Chef des Russian Direct Investment Funds (RDIF). Er stand als Gast der Braut auf der Liste: Dmitrijew ist mit Natalja Popowa verheiratet, Katerina Tichonowas Stellvertreterin bei der Stiftung Innopraktika.
Der von Dmitrijew geleitete Staatsfonds ist einer der wichtigsten staatlichen Player innerhalb der russischen Wirtschaft. Sie wurde 2011 auf Initiative des Präsidenten (damals Dimitri Medwedew) und des Premierministers (damals Wladimir Putin) gegründet. Hauptaufgabe des RDIF ist es, führende russische Unternehmen zu finanzieren und ausländische Investoren für Projekte zu ködern. Seit seiner Gründung hat der RDIF fast zwei Billionen Rubel [Stand Januar 2021: 22 Milliarden Euro – dek] in verschiedene Unternehmen in Russland investiert.
Dem vorliegenden Archiv zufolge bekam Schamalow die ersten Mails von Dmitrijew Mitte 2012, also in einer Zeit, als er sich gerade mit Tichonowa ein gemütliches Zuhause errichtete. Die jungen Paare (Dmitrijew und Popowa, Schamalow und Tichonowa) waren miteinander befreundet. Sie machten mehrfach zusammen Urlaub im Ausland, und Schamalow und Dmitrijew schrieben einander alle paar Tage zu den verschiedensten Themen.
Unter anderem schickten der Schwiegersohn des russischen Präsidenten und der Chef des RDIF einander permanent Links und diskutierten Wirtschaftsmeldungen. Das war aber noch nicht alles – mehrmals finden sich in Schamalows Posteingang vertrauliche Dokumente des RDIF, die Dmitrijew seinem geschäftstüchtigen Freund übersandte.
Eine Hand wäscht die andere
Kirill Dmitrijew versorgte seinen Freund Schamalow nicht nur mit Informationen, sondern auch mit enormen Summen aus der Staatskasse für sein Unternehmen. Im Januar 2015 schickte der RDIF-Direktor dem Präsidenten-Schwiegersohn einen Artikel der Vedomostimit dem Titel RDIF unterstützt Sibur. Darin hieß es, Dmitrijews Staatsfonds plane gemeinsam mit ausländischen Investoren, in ein Projekt von Sibur zu investieren, das den Bau eines Petrochemiewerks mit dem Namen Sapsibneftechim in Tobolsk, Oblast Tjumen, vorsah.
„Langsam kommen wir in die Gänge :-)“, schreibt Dmitrijew in einer E-Mail. „Super!“, antwortet Schamalow, der zu dem Zeitpunkt der zweitgrößte Aktionär von Sibur ist.
Sapsibneftechim ist das größte Petrochemiewerk Russlands. Es wurde im Mai 2019 in Betrieb genommen. Seine Fertigstellung kostete insgesamt schätzungsweise 9,5 Milliarden Dollar. Ende 2015 erklärte der RDIF auf seiner Website, er habe gemeinsam mit anderen Investoren mehr als ein Drittel der Projektfinanzierung zur Verfügung gestellt (3,3 Milliarden Dollar). Doch für die Errichtung einer so großen Anlage reichte Schamalows Firma die Beteiligung des befreundeten Staatsfonds nicht. Und so griff ihm der Schwiegervater unter die Arme.
Im Oktober 2015 stimmte Wladimir Putin zu, dass Sibur 1,75 Milliarden Dollar aus dem Nationalen Wohlstandsfonds erhalten soll. Dieser Fonds ist eigentlich für die Förderung der privaten Altersvorsorge der Staatsbürger da, sowie dafür, Defizite in der Rentenkasse auszugleichen.
Doch nicht nur Schamalow profitierte von seiner Freundschaft mit Kirill Dmitrijew. Dem Chef des RDIF brachte seine enge Bekanntschaft mit Wladimir Putins Schwiegersohn ebenfalls satte Gewinne. Ein Beispiel dafür ist der Kauf des Sibur-Terminals für die Verladung von Flüssigerdgas am Handelshafen Ust-Luga durch den RDIF. Aus der Korrespondenz geht hervor, dass nicht alle Top-Manager von Sibur so begeistert von der Idee waren, den Terminal zu verkaufen. Im November 2015 war der Deal unter Dach und Fach: Für 700 Millionen Dollar hatte der RDIF zusammen mit einem Investorenkonsortium den Terminal in Ust-Luga gekauft.
Auf die Anfrage von Washnyje istorii, warum er Schamalow vertrauliche Dokumente des RDIF zukommen ließ und inweiweit er dafür gegenüber dem von ihm geleiteten Staatsfonds hafte, reagierte Kirill Dmitrijew nicht.
Begehrter Partner mit Ressourcen
Das Besondere am Business von Wladimir Putins Schwiegersohn war nicht nur, dass es ihm gelang, Aktien eines strategischen Unternehmens millionenfach unter ihrem Marktwert einzukaufen, sondern er war auch ein enorm gefragter Partner, bei dem Unternehmer mit den verlockendsten Angeboten buchstäblich Schlange standen. Unter anderem wurden Schamalow Beteiligungen an verschiedensten Firmen offeriert, ohne dafür irgendwelche Gelder zu verlangen – offenbar in der Annahme, dass Putins Schwiegersohn diesen Unternehmen etwas bieten könne, was im heutigen Russland wertvoller ist als Geld.
So bekam Schamalow 2017 von seinem ehemaligen Studienkollegen Dimitri Utewski eine Beteiligung an einer großen Müllentsorgungsfirma in der Nähe von Sankt Petersburg angeboten. Utewski versprach ein „fixes Jahreseinkommen“ und bat im Gegenzug – wörtlich – um eine „administrative Ressource (mindestens auf der Ebene eines Gouverneurs)“. Wie Schamalow konkret auf diesen Vorschlag reagierte, wissen wir nicht, aber in seinem E-Mail-Verkehr gibt es genügend Beispiele dafür, wie er seinen Partnern half, Probleme auf höchster Staatsebene zu lösen.
Zusammen mit seinem Vater war Schamalow jahrelang Miteigentümer des [Zementherstellers – dek] Russkaja zementnaja kompanija und der Holding Sibirski zement. Oleg Scharykin, Hauptgesellschafter dieser Firmen, sagte einmal in einem Interview mit dem Kommersant, mit Schamalow senior verbinde ihn eine Freundschaft: „Nikolaj Terentjewitsch und ich sind vor allem gute Freunde, und unsere Geschäfte beruhen auf zwischenmenschlichen Beziehungen.“
2016 fand sich dieser Scharykin in einer unangenehmen Situation wieder: Am 7. April hatten Ermittlungsbeamte und FSB-Mitarbeiter seinen Wohnsitz in der Siedlung Nikologorskoje bei Moskau und seinen Firmensitz in Moskau durchsucht. Bereits am 11. April, also nur vier Tage später, erhielt Kirill Schamalow eine E-Mail von Waleri Bodrenkow, dem Vizepräsidenten von Sibirski zement. Betreff: „Lightversion für den Garanten“, im Attachment mehrere Belege und ein an Wladimir Putin adressierter Brief von Oleg Scharykin. (Mit „Garant“ ist der russische Präsident gemeint, i. S. v. „Garant der Verfassung“ – Anm. d. Red. Washnyje Istorii)
In dem Brief an den „Garanten“ schrieb Scharykin, die Durchsuchungen seien von seinem „Businesskontrahenten“ Andrej Murawjow initiiert worden, dem ehemaligen Präsidenten von Sibirski zement.
„Ich bitte Sie inständig, verehrtester Wladimir Wladimirowitsch, diese Situation unter Ihre persönliche Kontrolle zu bringen und der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation den Auftrag zu erteilen, das Vorgehen der Organe des FSB und des Ermittlungskomitees der RF im Zuge der Durchsuchung meines Wohnsitzes rechtlich zu überprüfen“, heißt es am Ende von Scharykins Brief.
Kirill Schamalow ließ diese E-Mail nach Erhalt umgehend ausdrucken. Wir wissen nicht, ob er sie danach seinem Schwiegervater vorlegte, aber es war nicht das einzige Mal, dass Scharykin ihn um Hilfe bat, und im Archiv finden sich Beweise, dass Wladimir Putins Schwiegersohn diese Bitten erhörte.
Ein Jahr später, im April 2017, schickte Oleg Scharykin Kirill Schamalow zwei weitere an den russischen Präsidenten gerichtete Briefe. In einem beklagte er sich, dass seine Firma Keramitscheskije technologii optische Elemente für Boden- und Weltraumteleskope entwickele, aber die staatliche Gesellschaft Roskosmos sie nicht kaufe:
„Ich würde Sie bitten, dem Generaldirektor der Staatlichen Weltraumorganisation Roskosmos I. A. Komarow den Auftrag zu erteilen, ein gemeinsames Programm zur Verwertung der vorhandenen Technologie zu erarbeiten“, appellierte Scharykin an Putin.
Wie es aussieht, konnte Schamalow seinem Partner zumindest teilweise helfen. Zwei Wochen später, am 12. Mai 2017, schrieb Scharykin ihm wieder eine E-Mail:
„Guten Morgen, Kirill. Hier die Protokolle. Das Treffen mit KSW verlief gut, er hat sich alles genau angesehen. Festen Händedruck.“
Die Abkürzung KSW entspricht den vollständigen Initialen von Kirijenko Sergej Wladilenowitsch, dem ehemaligen Chef von Rosatom und zu jenem Zeitpunkt – wie auch heute noch – stellvertretender Leiter der russischen Präsidialadministration. Seinem Schreiben hängte Scharykin das Protokoll des Treffens mit dem Chef von Rosatom an, bei dem die weitere Zusammenarbeit des Staatskonzerns mit der Firma Keramitscheskije technologii besprochen wurde. Anfragen von Washnyje istorii ließ Scharykin unbeantwortet.
Teil V
Katerina Tichonowa verwendete für den Mailwechsel mit Kirill Schamalow mehrere E-Mail-Adressen. Für ihren Hauptaccount aber wählte sie einen Usernamen, der viel über Wladimir Putins Tochter und ihre Interessen verrät: Hypatia von Alexandria. So hieß eine Gelehrte im antiken Alexandria, die Philosophie, Mathematik und andere Disziplinen unterrichtete. Hypatia wurde nicht nur für ihre wissenschaftlichen Erfolge, sondern auch für ihre Bescheidenheit gepriesen.
Hypatia: Bescheidenheit und Rock’n Roll
In den Mails des jungen Paares ging es, abgesehen von der Einrichtung ihrer schicken Häuser in Russland und Frankreich, vor allem um zwei Themen: Rock‘n‘Roll-Akrobatik und das Innovationsprojekt Innopraktika.
Die von Tichonowa geleitete Stiftung wurde 2012 gegründet. Sie verbindet das Zentrum für nationale intellektuelle Reserven der MGU mit der Stiftung Nationale intellektuelle Entwicklung zur Förderung wissenschaftlicher Projekte von Studenten, Doktoranden und jungen Wissenschaftlern, die ebenfalls der MGU untersteht. Vornehmlich kümmert sich Innopraktika um die Vermittlung zwischen Business und Wissenschaft, um innovative Technologien in Russland zu entwickeln und sie auf dem Markt zu positionieren. Die Liste der Partner von Innopraktika würde jede russische Nonprofit-Organisation vor Neid erblassen lassen. Zu ihnen zählen die mächtigsten Konzerne, darunter auch solche mit staatlicher Beteiligung: Rosneft, Rosatom, Sibur, Rostec, Gazprombank, RDIF und viele mehr.
Innopraktika wurde für viele Großunternehmer gewissermaßen zur Eintrittskarte in die Sphäre führender Forschungs- und Entwicklungsprojekte (zumindest an der MGU). Und wie Katerina Tichonowas E-Mails zeigen, wusste sie ihre Ehe mit Schamalow für die Voranbringung ihres Fonds zu nutzen. Mehrmals bat die Tochter von Wladimir Putin ihren Mann außerdem, zusammen mit seinen Partnern ihr liebstes Hobby zu finanzieren – Rock‘n‘Roll-Akrobatik.
Am 14. April 2014 schickte sie ihrem Mann den Entwurf einer E-Mail von Iwan Sbitnew, dem Präsidenten des russischen Verbands der Rock‘n‘Roll-Akrobatik, die an den Generaldirektor des Erdgasförderunternehmens Nowatek, Leonid Michelson, adressiert war:
„[…] Wir möchten Sie bitten, die Möglichkeit einer Unterstützung für den russischen Verband der Rock‘n‘Roll-Akrobatik in Form einer Spende für die satzungsgemäße Tätigkeit in Höhe von einer Million Dollar jährlich über fünf Jahre zu prüfen“, stand am Ende seiner E-Mail.
Innerhalb der nächsten zehn Tage leitete Tichonowa zwei weitere Schreiben gleichen Inhalts von Sbitnew an Schamalow weiter, eines an den Präsidenten der Gazprombank Andrej Akimow (ohne Angabe der Summe) und eines an den Generaldirektor von Sibur, Dimitri Konow (10 Millionen Rubel [damals rund 200.000 Euro – dek]).
Die Chefs dieser russischen Großkonzerne, die Tichonowa um Unterstützung bat, schlugen ihre Bitten nicht ab: Sibur, Nowatek und die Gazprombank tauchten mehrfach in der Liste der Partner und Sponsoren des Verbandes der Rock‘n‘Roll-Akrobatik auf.
Trennung
Anfang 2018 berichtete die internationale Nachrichtenagentur Bloomberg von der Trennung Kirill Schamalows und Katerina Tichonowas. Etwa ein halbes Jahr zuvor hatte Schamalow das Sibur-Aktienpaket verkauft, das er 2013 von Gennadi Timtschenko erworben hatte. Bloombergs Quellen zufolge machte Schamalow mit diesem Verkauf keinen Gewinn, weil er dieses Paket als Garantie des Vertrauens des russischen Präsidenten bekommen hatte. In Schamalows E-Mail-Archiv finden sich keine Angaben dazu, wie viel er für die Sibur-Aktien bekommen hat.
2018 kam Kirill Schamalow auf die Blacklist der USA, weil er nach seiner Hochzeit mit der Tochter des russischen Präsidenten „zu einem ausgewählten Kreis von Milliardären aus dem Umfeld von Wladimir Putin gehörte“. Die amerikanischen Behörden waren mit dieser Entscheidung reichlich spät dran: Die letzte E-Mail von Schamalow an die Präsidententochter stammt vom 15. Juni 2017. Er leitete Tichonowa eine E-Mail von einem berühmten Sankt Petersburger Architekten mit mehreren Planungsentwürfen für eine Villa im Grünen weiter (ohne genaue Adressangabe). Danach gibt es im Archiv keine E-Mails mehr zwischen den beiden.
Kirill Schamalow und Katerina Tichonowa ignorierten die Anfragen von Washnyje istorii. Wir baten auch den Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dimitri Peskow, um einen Kommentar zur Nutzung von Offshore-Firmen durch Wladimir Putins Schwiegersohn, zum Kauf von Aktien millionenfach unter dem Marktwert und zu den Luxusimmobilien in Russland und Frankreich, über die Schamalow zusammen mit der Präsidententochter verfügte. Dazu sagte Peskow wörtlich: „Solche Fragen sind schon oft unbeantwortet geblieben.“
Seit Anfang Dezember 2020 befindet sich Alhierd Bacharevič zusammen mit seiner Frau, der Dichterin Julia Cimafiejeva, in der steirischen Stadt Graz. Beide haben von Anfang an die Proteste in ihrer Heimat gegen das autokratische System Alexander Lukaschenkos unterstützt. In einem Interview für Radio Svaboda sagte Bacharevič, nachdem er in Österreich angekommen ist: „Ich habe Belarus psychisch gebrochen und krank verlassen, voller Hass auf den Staat, voller Schmerz und Schuld. Ich denke, diese Wunde wird niemals heilen. Aber meine persönlichen Wunden sind nichts im Vergleich zu den Wunden derer, die körperlich gefoltert und zerstört wurden … Wir leben zwischen einem schrecklichen Trauma und einer hellen Hoffnung.“
Die protestierenden Belarussen bezeichnen diejenigen, die im Namen von Lukaschenko Gewalt anwenden, als „Faschisten“. Auf der anderen Seite diffamiert Lukaschenkos Machtapparat die Protestierenden als „Faschisten“. Ein Wort also mit einer schaurigen, wechselvollen Geschichte, auch in Belarus. In einem Essay für die belarussische Wochenzeitung Swobodnyje nowosti Plus befasst sich Bacharevič mit dem Faschismus, der ihn seit seiner Kindheit begleitet.
Ihre Gesichter bleiben dir sofort in Erinnerung, du prägst sie dir förmlich ein, wider den eigenen Willen – so wie Kinder Schimpfwörter auf der Straße lernen. Ihre müden Zungen sind behäbig wie ihre staatseigenen Fahrzeuge. Dafür kennen sie die wichtigsten Wörter.
„Nicht wir sind die Faschisten“, erklärt ein hoher Polizeibeamte siegessicher in einem Interview. „Ihr seid die Faschisten!“
Punkt. Er hat alles gesagt. Etwas huscht über sein müdes Gesicht. Ein Ausdruck von . . . etwas Kindlichem, Lebendigem. Das ist doch eine Beleidigung! Eine einfache kindliche Beleidigung. Und eine genauso kindliche, sture Argumentation, eine genauso ausgefeilte Formulierung. Wie hieß es doch in der Kindheit: „Was man sagt, ist man selber!“, „Selber, selber, lachen alle Kälber.“ Kurz gesagt: „Nicht wir sind das. Ihr seid das. Selber schuld.“
Ihr, die Faschisten.
Es ist klar, an wen er sich damit wendet. An uns. Das Volk. Das ist alles, was er uns nach den zwei Monaten andauernden Straßenprotesten sagen kann. Er ist doch auch ein Teil dieser Proteste: Er nimmt daran aktiv teil, wenn auch auf der anderen Seite. Aber er weiß sehr gut, wie die Bevölkerung ihn und seine Befehlsempfänger nennt. Man nennt sie bereits offen so, ohne Angst zu haben; man schreit dieses treffende Wort, spuckt es ihnen hinterher.
„Faschisten!“
Es ist gar nicht so leicht, ein Faschist zu sein. Besonders in Belarus
Wir riefen es ihnen in den Neunzigern zu. Ihnen, den Menschen in Uniform. Wir riefen es ihnen sechsundzwanzig Jahre lang zu. Ich rief ihnen dieses Wort zu, als ich noch ganz jung war: Und es war das erste Wort, das uns damals in den Sinn kam. Ich sang in einer Punk-Band über den Faschismus, und als ich über die „Braunen“ ins Mikrofon kreischte, meinte ich keinesfalls irgendwelche rechtsradikalen Glatzköpfe, die mir in einem Hinterhof auflauerten. Ich meinte sie – die vom Volk gewählte Staatsmacht – und auch dieses unglückselige, blinde, verachtete Volk selbst.
Faschisten.
Du riefst ihnen dieses Wort im Sommer zu, als wir machtlos beobachten mussten, wie diese vermummten Wesen auf einem Platz Radfahrer festnahmen, einfach nur, weil sie Radfahrer waren. Sie schnappten sie und stießen sie in die fahrenden Blechgefängnisse hinein. Du riefst es ihnen zu, als sie wehrlose Menschen neben dem Hotel Minsk jagten und Hotelgäste diese Jagd von ihren Fenstern aus mitverfolgten. Sie schauten zu und hatten das Gefühl, als wären sie in einer Zeitmaschine gelandet. Es gibt derzeit so viele Fahrzeuge auf den Minsker Straßen . . . Panzerwagen, Wasserwerfer, Gefängnistransporter, Absperrsysteme, Kastenwagen des Militärs, unheilbringende Minibusse für die Jagd auf Menschenfleisch . . . Zeitmaschinen. Maschinen der gestohlenen Zeit.
Es schien, als hätten sie sich schon längst daran gewöhnt. Hätten schweigend zugestimmt: Ja, wir sind Faschisten, was soll's. Aber dem ist nicht so. Es ist gar nicht so leicht, ein Faschist zu sein. Besonders in Belarus.
Hier ist ein „Faschist“ mehr als nur ein Faschist.
Manchmal ist es einfach nur ein Job, „Faschist“ zu sein. Man muss doch sein Brot verdienen. Faschisten möchten auch essen. Und Kinder von Faschisten weinen auch. Ein Faschist braucht auch seine Pension. Der Sozialstaat vergisst niemanden.
Wer war er nur, dieser schreckliche Faschist unserer sowjetischen Kindheit?
Diejenigen, die in der UdSSR geboren und aufgewachsen sind, haben das Wort „Faschist“ bereits in ihrer frühen Kindheit zum ersten Mal gehört. Seitdem begleitet es uns wie eine Impfnarbe auf dem Oberarm. Auch in unserem Bewusstsein setzte sich dieses Wort wie eine Impfung fest. „So etwas darf nie wieder passieren“, „Niemand ist vergessen und nichts ist vergessen“, „Wir sind das Land, das den Faschismus besiegt hat“ – so wurden wir großgezogen. Uns wurde der ewige Hass auf den Feind anerzogen, oder genauer gesagt, auf das Wort, welches den Feind bezeichnete. Der Feind war weit weg, wir wurden aus irgendeinem Grund von niemandem bedroht, und für alle Fälle brachte man uns bei, Wörter zu hassen.
Ah, diese herrlichen Wörter . . . „USA“, „BRD“ . . . „Spione“, „Verräter“, „Militärclique“ . . . „Kapitalismus“, „Revanchismus“, „Zionismus“, „Wettrüsten“ . . . „Faschisten“ . . . Wer war er nur, dieser schreckliche Faschist unserer sowjetischen Kindheit? Also erstens war er Deutscher. Die sinnlose Wendung „Befreiung von den deutsch-faschistischen Eroberern“ hat in unserer Kindheit niemanden erstaunt. Vom italienischen Faschismus erzählte man uns in der Schule nicht. Zweitens ist der Faschist ein Folterer, ein Sadist. Drittens muss er eine schöne Uniform tragen. Viertens ist es jemand, der nicht hier unter uns leben könnte. Unter sowjetischen Kindern und Erwachsenen. Er hat überhaupt kein Recht, unter Menschen zu leben. Und in unserem Land kann er sowieso nicht leben, da das kein Land ist, in dem Faschisten am Leben gelassen werden.
Ein guter Faschist ist ein toter Faschist.
Mit der Zeit lösten sich all diese Bedeutungen auf, wurden schwammiger und verschwanden. Bis auf eine. Ein Faschist ist zuallererst ein Sadist, der Inbegriff von Grausamkeit. Das Böse schlechthin. Ein Wort, das eines Tages aus der reinen Politik in die trübe Pfütze der sowjetischen Moral stürzte – und dann auch dortblieb.
Einmal, als ich ungefähr fünfzehn war, musste ich einen ganzen Tag auf einen kleinen Jungen aufpassen, der viel jünger war als ich. Er war ein verwöhntes, lautes Bürschlein. Er dachte, ich habe ihm nichts zu sagen, und wollte das Haus verlassen. Ich verbot es ihm, immerhin war ich verantwortlich für ihn. Er schrie und zappelte mit den Beinen, ich hielt ihn an den Armen fest. Er fing an zu schreien: „Du bist ein Faschist! Faschist! Umbringen sollte man dich!“ Trotzdem ließ ich ihn nicht hinaus. So wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben Faschist genannt. Damals erschrak ich. Weil ich außer Empörung und Ärger noch etwas spürte. Eine seltsame Freude, eine Aufregung und – eine Befreiung. Für ein paar Minuten war ich ein echter Faschist; und sei es nur für diesen einen Lümmel. Also stark und mit Macht ausgestattet. Ich bin über mich selbst hinausgewachsen. Ich stand über allen anderen. Über allen Moralvorstellungen, über den Menschen. Das einzige Gesetz war meine Macht. Ich verachtete dieses plärrende Kind, und ich hatte große Lust, es zu schlagen. Genau in diesem Augenblick, als er mich zum Faschisten erklärt hatte, wusste ich, dass ich – ein gewöhnlicher Teenager – alles darf.
Alles innerhalb der Grenzen meiner kleinen Welt.
Tatsächlich gab es in der Kindheit eine Menge „Faschisten“ rund um uns. Filme und Bücher, Zeitungen und Museen, unsere Spiele und sogar unsere sadomasochistischen Träume, in denen sich Eros, Thanatos und Geschichtsstunden so wonnig vereinten, waren voll mit ihnen. Sogar das Wort „Faschist“ war eindrucksvoll in seinem Klang und Aussehen: Es war kurz, widerwärtig und schön. Es ist interessant, dass das Recht auf gendergerechte Sprache hier nie infrage gestellt wurde. Eine strenge Lehrerin, eine hysterische Direktorin, eine ungeliebte Verwandte, einfach ein böses Weib auf der Straße konnte eine „Faschistin“ sein. Vor allem aber besitzt ein Faschist: Macht und Uniform. Man erkennt ihn sofort. Und er muss Waffen haben – seien es auch nur das Alter, die Stimme, das Dienstalter oder die Amtsbezeichnung.
Es waren die Erwachsenen, die uns den Faschismus beibrachten. Sie vergaßen dabei allerdings, was das ist. Und wiederholten, wie einen Zauberspruch, dass der Faschismus nie zurückkommen würde.
Nein, nein, nein, er kommt nicht zurück. Schlaf ein.
Der kyrillische Faschismus ist das einundzwanzigste Jahrhundert
Ja, ein Faschist in meinem Land ist nicht dasselbe wie ein „Fascist“.
Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wie man dieses Wort in andere Sprachen übersetzt. Wahrscheinlich sollte es in Übersetzungen nur kyrillisch geschrieben werden. Faschismus auf Kyrillisch ist nicht das gleiche wie Faschismus in lateinischen Buchstaben mit seinen nostalgischen Erinnerungen an schwarze Hemden, staatlichen Korporatismus und den römischen Gruß. Nein, es ist kein Fascism. Der kyrillische Faschismus ist das einundzwanzigste Jahrhundert, die glänzenden Titelblätter des neuen Völkischen Beobachters, die eleganten Anzüge und einheitlichen Köpfe der Staatsbediensteten, der Schrecken, der im Netz Kreise zieht, die täglichen Lügen wie vom Fließband und die in der EU erstandenen Gummigeschosse für Andersdenkende. Er ist nah, man kann sogar Tickets dafür bestellen. Er ist irgendwo unweit der Wörter Unesco und UNO. Faschisten – das sind die, die man gestern noch Geschäftspartner nannte. Das sind die, die man de facto anerkannte und deren Hände geschüttelt wurden. Der Faschismus ist autonom und abergläubisch – wie ihr, unsere europäischen Freunde.
Aber westlich und nördlich von Belarus liest kaum jemand fließend Kyrillisch. Dort meint man, dass der „Faschismus“ (in lateinischen Buchstaben) in Europa zurzeit undenkbar ist. Und der kyrillischen Schrift im Osten darf man ohnehin nicht glauben. Dort ist alles verdreht und verzerrt: Schaut euch nur ihre Buchstaben an, das sind Parodien auf die anmutigen Buchstaben des lateinischen Alphabets.
Von der kyrillischen Schrift geht immer eine Bedrohung aus. Ständig ist bei denen irgendetwas nicht in Ordnung. Weil sie . . . Weil dort drüben einfach nicht Europa ist.
Und jetzt schon wieder.
Jedes Mal, wenn wir jemanden Faschist nennen, stehlen wir dieses Wort von jenen, die darauf einmal stolz waren.
Die zugängliche Kunst mochte das Wort „Faschismus“ immer
Natürlich ist „Faschist“ ein Wort aus dem Arsenal der Propagandisten. Es ist immer bei der Hand. Wie ein auf der Straße herumliegender Pflasterstein. Heb ihn auf und wirf! Schmeiß ihn auf die Faschisten, da triffst du auf jeden Fall jemanden. Du hast schon getroffen – in dem Augenblick, in dem du deinen Feind erfunden hast.
Faschist – das ist ein Passwort aus acht Buchstaben. Wie oft du es auch eingibst, es wird jedes Mal passen. Der Zugang zum Feind ist gewährt. Auch wenn du ein paar Buchstaben auslässt.
Die antifaschistische Propaganda ist gewiss auch Propaganda. Aber wenn unbewaffnete Menschen bis an die Zähne Bewaffneten gegenüberstehen und Worte in die Hand nehmen – ist das schon etwas Größeres. Eine Anschuldigung. Denn Worte sind unsere einzigen Waffen. Der Terror der Bewaffneten gegen die Unbewaffneten – ist das denn nicht Faschismus? Wie viele Opfer braucht es noch, damit das Wort aufhört, ein einfaches Lexem zu sein? Wie viel Schmerz und Grauen, Entführungen und Folter, damit „Faschismus“ das Gewicht und die Form seiner echten Bedeutung erlangt?
Ein Faschist, das ist einer, der alles Menschliche hinter sich gelassen hat. Ein Übermensch. Einer, der nicht mehr zu uns zurückkommen kann. Wir, wir leben doch zwischen Tod und Leben. Der Faschist aber – zwischen Tod und Rache. Zwischen sich – und sich. Einen Weg zurück zu den Lebenden gibt es nicht mehr. Wenn Faschisten an der Macht sind, musst du es ihnen unbedingt sagen. Aber zuerst musst du es dir selbst eingestehen.
Da gibt es einen Augenblick, in dem alle Farbspektren verblassen und nur zwei Farben bleiben. Sie nicht zu unterscheiden ist eine lebensbedrohende Krankheit. Nur zwei: Schauder und Hoffnung. Das Schwarz der Faschisten und unser Weiß. Ein schwarz-weißer Film über die Faschisten von damals, die quälen und töten, schwarz-weiße Aufnahmen der Kriegsjahre, von Okkupanten gemacht – all das ist jetzt, 2020, wieder Realität geworden. Aufnahmen von 1942 und 2020, nebeneinandergestellt, erschüttern uns in Belarus.
Wie sehr sie sich ähneln – die, die damals quälten, und die, die jetzt quälen. Fast Zwillinge. Und wie sehr sind wir uns nahe, als hätten wir uns auf einer historischen Brücke zufällig getroffen: die, die damals gequält wurden, und die, die heute gequält werden. Deine Vorfahren, das sind vermutlich jene, die dir einmal auf so einer Brücke begegnet sind. Und du hast dabei nicht weggeschaut.
Die Revolution ist eine Kampfansage an den Faschismus, die Revolution ist die Zeit der Einfachheit. Leider ist das so, sage ich, weil Kunst nicht einfach gestrickt sein kann. In der Kunst locken ja viele Versuchungen, eine davon – zugänglich zu werden. Die zugängliche Kunst mochte das Wort „Faschismus“ immer. Die Kunst spielt damit, wie mit einem Ball. Denn der Faschismus bietet klare und eingängige Bilder, die Künstler von der Verpflichtung zur Komplexität befreien. Die Literatur mag dieses Wort auch. Wenn du „Faschismus“ schreibst, musst du gar nichts mehr erklären. Gewalt und Macht sind ein endgültiges, universelles und auch das zugänglichste Bild.
Wenn sie uns sagen, dass wir Faschisten sind, ist das ein Verfahren, das aus der alten sowjetischen Propaganda stammt. Für Tausende Menschen wurde dies zu einer Erinnerung, die sie sich selbst ausgedacht haben.
Wenn wir ihnen sagen, dass sie die Faschisten sind, ist es ein von Millionen von Menschen geschriebenes Urteil.
Wenn die Macht jemanden einen Faschisten nennt, dann ist es eine faschistische Macht.
Das Recht zu entscheiden, wo Faschismus ist und wo nicht, darf nie der Macht gehören.
Alles ganz einfach.
Es war lächerlich, von den aussterbenden Sowjets Freiheit zu erwarten
In meinen fünfundvierzig (nur fünfundvierzig!) Jahren habe ich mehrere Regime erlebt. Ich bin unter dem Totalitarismus geboren und aufgewachsen, geriet dann in die Perestroika. Ich sah die Ratlosigkeit der Erwachsenen, die nie in einer anderen Epoche gelebt hatten. Dann gab es die Unabhängigkeit und vereinzelte zaghafte Blicke der neuen-alten Machthaber in Richtung demokratischer Ordnung. Das war noch keine Freiheit. Das war der Anfang der 1990er Jahre, und es war lächerlich, von den aussterbenden Sowjets Freiheit zu erwarten – aber es war zumindest ein Versuch, zumindest die Hoffnung auf Freiheit. Und dann begann die Diktatur. Und ich zog los nach Hamburg. Die sechs Jahre, die ich dort verbrachte, sind die einzigen Jahre in meinem Leben in einer Demokratie. Dann kehrte ich nach Minsk zurück. Und jetzt leben wir beide hier unter dem Faschismus.
Gratuliere.
Ebenfalls.
Wir werden sterben. Solche, wie wir, werden unter dem Faschismus nicht überleben. Sie ersticken.
Aber ist das tatsächlich Faschismus?
Damals wie jetzt: Angst und Brutalität
„Die Kunst der Dichtung erfordert Wörter“, meinte Brodsky. Aber pfeif auf die Dichtung. Wir brauchen doch immer Wörter. Wir Menschen sind zu Wörtern verdammt. Wir können dem Tod nicht ruhig entgegenschreiten, uns dem Tod nicht nähern, wenn wir nicht wissen, wie unser Leben heißt. Wir fragen uns immer: Wer sind wir? Wo sind wir? Wohin gehen wir? Wir ahnen, dass es keine Antworten gibt. Aber anstatt der Antworten gibt es Wörter. Es gibt Namen, und wir suchen sie. Das kann uns nicht einmal der Faschismus verbieten. Diskussionen darüber, wohin Belarus 2020 gekommen ist, fingen noch vor der Wahl am 9. August an. Was ist das für ein System, wie kann man es nennen, klassifizieren? Die Antwort hängt natürlich von vielen Faktoren ab, und einer davon ist, wo sich der Klassifizierende befindet. Internationale Analytiker sind stolz auf ihre Unparteilichkeit. Nein, das ist noch kein Faschismus, sagen sie. Viele formale Merkmale fehlen. Seltsam, aber mir scheint, sie würden ihre Meinung ändern, wenn sie nur für ein, zwei Wochen hier leben würden.
Das ist eine Junta aus Armee und Polizei, sagen die einen. Eine typische lateinamerikanische Erscheinung, die plötzlich in Osteuropa aufgetaucht ist. Nein, das ist gewöhnlicher Autoritarismus im Stadium der Agonie, sagen die anderen. Das ist ein hybrides Regime, erklären wieder andere. Mir kam einmal folgende Definition in den Sinn: Es ist wie im Jahre 1937, aber mit Internet. Damals, 1937, gab es Telegramme, die vom Staat genau unter die Lupe genommen wurden; für verdächtige Telegramme konnte man erschossen werden oder in Straflagern enden. Jetzt haben fast alle Telegram, und dafür, dass man „falsche“ Kanäle abonniert, kann man auch strafrechtlich verfolgt werden. Damals wie jetzt: Angst und Brutalität, Polizei-Einsatzwagen neben den Hauseingängen und Menschen, die mit Schrecken auf die Schritte im Treppenhaus hören. Gehst du auf die Straße, kann es sein, dass du einfach nicht mehr zurückkommst. Menschen verschwinden am helllichten Tag und werden erst später wiedergefunden. Man findet sie im Gefängnis – und freut sich noch: Er ist am Leben, sie ist am Leben. Gott sei Dank!
Einmal, damals noch im früheren Leben, sagte ein Freund von mir, ein Deutscher: Ihr habt in Belarus eine postmoderne Diktatur. Um die Gefahr, die von ihr ausgeht, zu verstehen, muss man erstens wissen, was die Postmoderne eigentlich ist. Zweitens braucht man einen guten Sinn für Humor und eine die Kapazitäten eines Menschen übersteigende Ironie. Drittens darf man nicht nach den Gesetzen der traditionellen Logik leben.
Heute schlagen wir schlaue Bücher auf und suchen nach Definitionen für das, was bei uns passiert. Wir suchen nach Parallelen. Geschichtsliebhaber und ältere Menschen wurden an die haitianischen Tontons Macoutes, an Pinochet, Salazar, Paraguay und vieles mehr erinnert. Wir tauschen im Netz gefundene Definitionen des Faschismus untereinander aus. Faschismus nach Nolte und nach Arendt, nach Payne oder nach Griffin . . . Nicht alle Punkte sind gleich. Wir streiten. Politologen runzeln die Stirn. Sie können Dilettanten nicht ausstehen. Nein, das kann nicht sein. Wie soll es im Jahr 2020 Faschismus geben? Wir aber lesen und erkennen unsere Realität wieder. Genau die Realität, die nicht nur draußen vor dem Fenster ist, nein, sie befindet sich sogar gleich unter dem Schädeldach. Ja, das ist Faschismus. Ganz besonders, wenn du über ihn liest und dich dabei mitten in ihm befindest. Ein Mensch mit einem Buch in einer durchsichtigen Kugel, aus der es keinen Ausweg gibt. Wir stehen vor dem Gefängnis in Schodsina, rauchen und warten auf jemanden.
„Faschisten! Deutsche Schweine! Ihr vergast uns! Juden und Freimaurer! Umbringen sollte man euch!“, ruft uns eine nette alte Frau an die 90 zu, die direkt gegenüber dem Gefängnis wohnt.
Unterstreichen Sie bitte die Wörter und Ausdrücke, die aus der bekannten Assoziationskette fallen.
Unsere Texte bedeuten nichts. Es gibt nur die Kugel. Durch ihre Wände hört man alles, sieht aber nichts.
Belarus hat den Faschismus nicht für sich entdeckt, es hat sich wieder an ihn erinnert
Was Faschismus ist, wussten wir hauptsächlich aus Büchern und Filmen. Die Massenkultur verschlang und verdaute den Faschismus schon vor so langer Zeit, dass wir glaubten, alles darüber zu wissen. Das Einzige, was uns überraschte: Wie man unter dem Faschismus überhaupt leben konnte. Ein menschliches Wesen zu sein und normale Bedürfnisse, Träume, Wünsche, Emotionen zu haben. In Zeit und Raum zu existieren. Konnte man sich so etwas unter dem Faschismus denn leisten? Der Protagonist in Nabokovs Erzählung Wolke, Burg, See gibt zu, dass er „keine Kraft mehr hat, Mensch zu sein“. Er lebt unter dem Faschismus, dem deutschen Nationalsozialismus der 1930er Jahre, aber in dieser Erzählung spricht Nabokov weder über die totale politische Kontrolle noch über die Gestapo. Der Faschismus zeigt sich über den Alltag, das sind die einfachen Menschen rund um uns – und das ist das Schrecklichste am Faschismus.
Wir lasen diesen Text als eine Warnung. Und jetzt hat es sich herausgestellt, dass wir in ihm leben. Es war plötzlich klar, dass man auch unter Faschismus Sushi essen oder Wein trinken, Sex haben, Kinder großziehen, etwas arbeiten, vor dem Einschlafen lesen oder spazierengehen kann. Unter Faschismus gibt es auch Musik. Man kann alles. Nichts ist erlaubt. Es gibt kein Gesetz, es gibt nur physische Bedürfnisse, Hass, Rebellion, Hoffnung – und das, was Czesław Miłosz „eine glühende Kugel der Angst“ nannte. Er erinnert sich an seine Jugend im besetzten Warschau und schreibt, dass er zu jener Zeit viel arbeitete, Gedichte schrieb, verliebt war, sogar manchmal tanzte, sich versteckte, anderen half, sich über das Essen freute, Wodka trank . . . Aber jeden einzelnen Augenblick, schreibt Miłosz, sah und spürte er diese „glühende Kugel“ gleich in seiner Nähe. Nichts konnte sie verjagen.
Wir spüren dasselbe. Außer dass manche Grenzen noch offen sind. Noch kann man die Kugel einpacken – und mitnehmen.
Die belarussische Dichterin Julia Cimafiejeva schreibt in ihrem Gedicht Der Stein der Angst über die Angst, die wie ein Edelstein von Generation zu Generation weitergegeben wird. In diesem Text wird unsere belarussische Angst zu einem seltsamen Schmuckstück, das man wie eine Halskette trägt. Ein Erbstück, mit dem man achtsam umgeht. Belarus hat den Faschismus nicht für sich entdeckt, es hat sich wieder an ihn erinnert. Das Land trug ihn immer bei sich. Warum? Wahrscheinlich aus Angst. Angst aufzuhören, man selbst zu sein.
„Wir sind doch keine Faschisten. Ihr seid Faschisten“
Belarus ist das erste europäische Land geworden, in das der Faschismus zurückgekehrt ist. Schwein gehabt. Nun sind wir wieder ein Teil der europäischen Geschichte. Warum kam es dazu?
Weil wir vorher nicht dort waren. Irgendwie wollten wir nicht. Wir hofften, heil davonzukommen.
„Menschen, seid wachsam!“, schrieb in seinem Buch Reportage unter dem Strang geschrieben der tschechische Journalist Julius Fučík kurz vor seinem Tod. Er wurde 1942 von Faschisten gefangengenommen und hingerichtet. Als ich in Westeuropa lebte, habe ich mit Erstaunen festgestellt, dass nur ganz wenige Menschen wissen, wer das war. Fast gar niemand.
Manchmal scheint es, dass sich nur die sowjetischen Kinder, die einst „Faschisten“ und „Russen“ spielten – so wie die belarussischen Kinder heutzutage „Menschen“ und „Schlägertrupps“ spielen –, noch an ihn erinnern. Und eigentlich können sich nur die sowjetischen Kinder, die gut in der Schule waren, an ihn erinnern. Den Namen von Fučík – gemeinsam mit einigen anderen – verwendete die sowjetische Propaganda ohne Ende. Aber niemand glaubte an Propaganda, und niemand nahm diesen geheimnisvollen Fučík ernst. Ja, er hatte da etwas gesagt. Von mir aus unter dem Strang. Diese Fučíks haben doch schon alle satt. Diese Geschichte, die niemand braucht . . . Sie bringt nur noch mehr Verwirrung.
Wir sind doch keine Faschisten. Ihr seid Faschisten. Ich höre förmlich die Stimme des Ermittlers, der das zu Fučík sagt – ruhig, bestimmt, müde, etwas gekränkt.
Julius Fučík wurde im Berliner Gefängnis guillotiniert. Nach geltendem Recht. Nach einem Gerichtsurteil. Unter Beachtung aller vom Gesetz vorgeschriebenen Abläufe. Die Schuld war bewiesen. Der Staat hat keinen Fehler gemacht. Der Staat muss sich doch schützen. Fučík war sein Feind und hat dafür bezahlt.
Man sagt, er hatte sogar einen Anwalt.
Alhierd Bacharevič ist aktuell im Rahmen des Programms Writer in Exile zu Gast in Graz, das in Kooperation von der Stadt Graz (Kulturressort) und der Kulturvermittlung Steiermark seit 1997 kontinuierlich bespielt wird. Die deutsche Übersetzung des Textes erschien am 24. Dezember 2020 erstmals in Die Presse.