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„Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit“
Nawalnys Stiftung FBK soll zur „extremistischen“ Organisation erklärt werden, das Exilmedium Meduza wurde auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt. Journalisten, Menschenrechtler, auch Wissenschaftler, die an den Protesten für Nawalny im Januar und Februar teilgenommen haben, berichten in den vergangenen Tagen über Hausbesuche von Sicherheitskräften. Diese und weitere Nachrichten zeigen, dass sich die innenpolitische Lage in Russland derzeit zuspitzt, der Druck auf die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien wächst.
Die Repressionen, aber auch das Schweigen in breiten Teilen der Gesellschaft, beides fließt ein in den unten stehenden Text von Andrej Loschak. Sein Text auf dem Online-Medium Projekt zeugt von verlorener Hoffnung und großer Verzweiflung, und auch davon, welch existenzieller Nerv derzeit in einem bestimmten Segment der russischen Gesellschaft getroffen ist und blankliegt.
Implizit wirft sein engagiertes Meinungsstück auch die offene Frage auf, wie objektiv Journalismus unter solchen Bedingungen noch sein kann, darf und muss.Was mit Alexej Nawalny und seinen Anhängern passiert, ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Da werden friedliche, gesetzestreue, unschuldige Menschen geächtet. Sie sind einem regelrechten Staatsterror ausgesetzt, der immer mehr Schwung aufnimmt. Endlose Lügen und Hasstiraden auf staatlichen Sendern und kremltreuen Müllkippen, fabrizierte Anklagen, Hausdurchsuchungen mit Beschlagnahmung (Diebstahl) von technischen Geräten, Geldstrafen, Geldstrafen, Geldstrafen, Festnahmen und Haftstrafen aufgrund völlig irrwitziger Beschuldigungen, strafrechtliche Verfolgung von Verwandten von „Volksfeinden“ (Nawalnys Bruder Oleg, Iwan Shdanows 66-jähriger Vater Juri et cetera), schließlich der Mordanschlag auf Alexej Nawalny, seine anschließende Verhaftung und erst vor Kurzem der Schlussakkord: der Vorwurf des Extremismus gegen seinen Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) und gegen alle, die damit zu tun haben.
Aus rechtlicher Sicht ist das ein klarer Fall von Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (so ähnlich klingt das in Artikel 282 des Strafgesetzbuchs, den die Opritschniki so lieben). Doch der Vorwurf des Extremismus bricht einfach so über den FBK herein, aus heiterem Himmel. Nicht einmal Beweise wurden vorgelegt. Die Leiter des Fonds fragten nach und bekamen zur Antwort: Sagen wir nicht, ist ein Staatsgeheimnis.
Ich spreche über Nawalnys Anhänger immer in der dritten Person, obwohl das natürlich geheuchelt ist – ich muss „wir“ sagen.
In meinem Fall wäre es treffender zu sagen „Anhänger von Nawalnys Freilassung“, aber das sind jetzt unwichtige Details. Natürlich bin ich Anhänger dieses Menschen, der im postsowjetischen Russland als erster eine richtige Heldentat in der öffentlichen Politik vollbracht hat. Ich bin Anhänger dieses Menschen, den der Staat zu töten versucht. Ich bin Anhänger dieses Menschen, der gegen Korruption kämpft und ehrlichen Herzens ein besseres Leben für seine beraubten Mitbürger will. Und der immer noch daran glaubt, dass seine Mitbürger dieses bessere Leben verdienen, auch wenn fast die Hälfte von ihnen die Repressionen gegen ihn unterstützen.Ich bin Anhänger dieses Menschen, den der Staat zu töten versucht
Ich bin Anhänger dieses Menschen, der mit verzweifeltem Mut, aber ausschließlich legalen Methoden gegen einen um die Macht kämpft, der alles hat: uneingeschränkte Macht, Opritschniki, Gerichte, diensteifrige Oligarchen, ein Milliardenbudget, das er nach Lust und Laune verschleudert, wo er es für nötig hält. Sein Gegner hat alles, Nawalny hat nur uns – 400.000 „Extremisten“. Na, und ein mitfühlendes Ausland, das aber trotzdem nicht helfen kann – und auch nicht helfen soll. Da gebe ich den Propagandisten recht: Das ist eine innere Angelegenheit. Solange die Bevölkerung nicht verstanden hat, wie wichtig die Absetzbarkeit der Staatsmacht und Wahlen sind, wird sich hier sowieso nichts ändern.
Da gebe ich den Propagandisten recht: Das ist eine innere Angelegenheit
Wir, Nawalnys Anhänger, wollen nichts anderes, als dass unsere Kandidaten zu Wahlen zugelassen (und rechtzeitig vorher aus der Haft entlassen) werden. Unsere Kandidatinnen – es sind übrigens viele Frauen dabei – wollen bei Wahlen um die Macht kämpfen, die seit 21 Jahren in denselben Händen liegt. Breshnew hat kürzer regiert. In den Programmen und Reden unserer Kandidaten ist nichts Illegales oder Misanthropes. Sie gefallen Ihnen nicht? Ihr gutes Recht. Aber unser Recht ist es, die zu wählen, die wir wählen wollen, und nicht die, die der amtierende Präsident genehmigt hat. Was genau soll daran extremistisch sein? Eigentlich heißt so etwas einfach „Politik“.
Mein Hauptinteresse gilt nicht den Machthabern und ihren Opritschniki. Was die betrifft, ist alles klar.
Mich interessiert, was diese 146 Millionen denken, die da abwartend rumstehen.
Ich schaue immer genau, welche Prominenten diese endlosen Petitionen für Nawalny unterschreiben. Tschchartischwili, Makarewitsch, Achedshakowa, Chamatowa, Swjaginzew … Gerade mal zehn bis fünfzehn Personen. Bei den jungen Stars sind es auch immer dieselben – Face, Noize MC, Oxxxymiron, Sascha Bortitsch, Semjon Treskunow, und das war’s dann auch schon. Das sind natürlich alles sehr ehrenwerte und für die russische Kultur sehr bedeutende Leute, aber wo ist der Rest? Warum stehen unter den Protestbriefen immer dieselben Namen? Worauf wartet ihr denn, ihr Meister der Kultur? Auf Erschießungen?
An den Protesten 2011 und 2012 waren viel mehr Leute beteiligt – auch aus dem Kulturbetrieb. Die Proteste richteten sich damals gegen Wahlfälschungen und Putins dritte Amtszeit. Seitdem hat Putin so viel Mist gebaut, dass die Gründe für die „Proteste mit weißen Bändchen“ dagegen direkt lächerlich wirken. Dritte Amtszeit? Ha-ha-ha. Jetzt sitzt er lebenslänglich da oben, abgesichert durch die Verfassung. Leben wir besser? Irgendwie nicht wirklich. Niemand hofft mehr auf irgendetwas, viele legen sich nach und nach eine zweite Staatsbürgerschaft zu, die Kinder schickt man ins Ausland, aber trotzdem sitzt man still und wartet ab.Wo ist der Rest?
Vor der Präsidentschaftswahl 2018 hatten wir eine wenn auch geringe, so doch eine Chance, die Geschichte zu verändern. Erstmals in der Geschichte Russlands gelang es einem oppositionellen Kandidaten abseits des Systems, im ganzen Land ein Netz aufzubauen und eine richtige Wahlkampagne zu starten, an der vor allem die Jugend aktiv teilnahm (worüber ich die Doku-Serie Wosrast nesoglassija gedreht habe). Aber leider hat die absolute Mehrheit der Erwachsenen diese Geschichte ausschließlich aus der Distanz verfolgt.
Chancen zum Zusammenschluss gaben uns Nawalny und sein Team dann auch bei der Wahl zur Moskauer Stadtduma 2019 und erst kürzlich bei Nawalnys Rückkehr nach Russland. Da begibt sich ein Mensch freiwillig in die Höhle des Löwen – um unseretwillen und zu unserer Rettung – und wird am Flughafen von ein paar tausend Fans in Empfang genommen. Ich glaube, der Entschluss, ihn „hardcore“ einzusperren, wurde genau in diesem Moment gefasst. Am 23. Januar gingen in Moskau rund 40.000 Menschen auf die Straße. Das ist weniger als 0,3 Prozent der Bevölkerung der Hauptstadt – hochgerechnet auf das ganze Land sind es etwa 400.000. Bei so einem wahnsinns-staatsbürgerlichen Aktivitätspegel hätten sie Nawalny gleich direkt auf der Gangway des Flugzeugs erschießen können, oder auch zerstückeln, wie die Saudis es vor nicht allzu langer Zeit mit einem Oppositionellen gemacht haben. Kriminelle Macht respektiert nur Gewalt.
0,3 Prozent – ist das euer Ernst?Niemand hofft mehr auf irgendetwas, viele legen sich nach und nach eine zweite Staatsbürgerschaft zu, die Kinder schickt man ins Ausland, aber trotzdem sitzt man still und wartet ab
Diesen Dezember sind die Proteste mit weißen Bändchen zehn Jahre her. Schon damals schrien wir „Putin ist ein Dieb!“ und „Weg mit Putin!“, wohlwissend, dass uns in den nächsten zwölf Jahren mit diesem Mann nichts Gutes bevorstand. Im darauffolgenden Jahr wurden die Proteste niedergeschlagen und die Menschen verkrochen sich in den Schlupfwinkeln ihres Privatlebens. Lang genug war der Widerstand tot, bis es Nawalny und seinem Team gelang, ihm neues Leben einzuhauchen. Putin beschloss, Nawalny und seine Anhänger zu vernichten. Die Folge ist, dass die Situation heute so aussieht: Wenn Sie Nawalny nicht unterstützen oder sich raushalten (was ein und dasselbe ist), unterstützen Sie nicht nur die Tötung eines unschuldigen Menschen und die Diskriminierung von Hunderttausenden. Sie unterstützen auch den Status quo des herrschenden Regimes. Somit unterstützen Sie Korruption, die Unabsetzbarkeit des Präsidenten, fehlende Rechtsprechung, Verarmung der Bevölkerung, politische Morde, die übelsten Regime der Welt – von Belarus bis Myanmar, Monatsgehälter von 150 bis 200 Dollar, Inflation, Braindrain, Investitionsflucht, Kapitalflucht, häusliche Gewalt, Homophobie, Verschuldung der Bevölkerung, schrumpfende demografische Entwicklung, Krieg gegen die Ukraine, internationale Isolierung, die Rehabilitierung des Stalinismus, Ramsan Kadyrows Terror, den durchgedrehten Duma-Drucker, Lüge und Hate Speech der Propaganda, Militarisierung, das stetig wachsende Budget für die heimische Polizei, die schrittweise Abschaltung des Internets, Zensur nicht nur in den Medien, sondern auch in Kultur und Wissenschaft und so weiter und so fort.
Vor allem aber unterstützen Sie Perspektivlosigkeit.
Davon sprechen jetzt alle. Wir leben in der trübsinnigen Matrix eines alternden KGB-Offiziers, der für immer im 20. Jahrhundert feststeckt und das ganze Land mit hineinzieht. Mit ideologischen Einstellungen aus den 1970er Jahren und einer Moral aus den Neunzigern. Das habe ich ganz deutlich gespürt, als ich den Film Fuck this Job über die Geschichte des TVSenders Doshd sah. Da gibt es am Anfang eine Szene aus dem Jahr 2011, in der Präsident Medwedew den Sender besucht. Ich war beeindruckt, wie fähig und modern er wirkt, in die Zukunft gerichtet und sogar leise Hoffnungen weckend. Alles zeigt sich im Kontrast, wie es so schön heißt. In was für einen Abgrund der Verzweiflung müssen wir da in den letzten zehn Jahren gestürzt sein, um in Medwedew einen zukunftsweisenden Politiker zu sehen!
Meine tiefe Überzeugung ist: Wenn die Leute, die diese Hoffnungslosigkeit satthaben – und das sind nicht 400.000, sondern zig Millionen –, lernen würden sich zusammenzuschließen, dann würden wir in einem anderen Land leben.
Bis vor Kurzem hätten Nawalny und der FBK uns diese Gelegenheit gegeben, aber anscheinend haben wir versch… Alexej wird im Gefängnis erledigt, der FBK steht am Rande der Zerstörung, und mit hoher Wahrscheinlichkeit beginnt demnächst die größte Hexenjagd seit der McCarthy-Ära. Ich weiß, dass Täter-Opfer-Umkehr ein schlechter Motivator ist, aber ich kann's mir nicht verkneifen: Dass wir an diesen Punkt gelangt sind, ist nicht allein Putins Schuld. Wissen Sie, wie viele Menschen einen Dauerauftrag für monatliche Spenden an den FBK haben? 19.700 Personen – bei so viel Unterstützung wird meine Generation die glänzende Zukunft Russlands definitiv nicht mehr erleben. In U-Haft landen könnten diese 19.700 Leute dafür umso schneller.Wenn die Leute, die diese Hoffnungslosigkeit satthaben, lernen würden sich zusammenzuschließen, dann würden wir in einem anderen Land leben
Um nicht endgültig Grabesstimmung zu verbreiten, schließe ich mit einem Zitat aus der letzten Rede des unermüdlichen Optimisten Nawalny – denn im Unterschied zu mir und Putin weiß Alexej wie man Hoffnung sät: „Es ist sehr wichtig – einfach keine Angst vor Leuten zu haben, die die Wahrheit suchen, und sie vielleicht sogar irgendwie zu unterstützen: direkt oder indirekt. Oder vielleicht nicht einmal zu unterstützen, aber wenigstens diese Lügerei nicht auch noch zu fördern, zu diesen Märchen nicht auch noch beizutragen, die Welt rundherum nicht zu verschlimmern. Das birgt natürlich ein kleines Risiko, aber erstens ist es klein, und zweitens, wie ein ausgezeichneter Philosoph der Gegenwart namens Rick Sanchez sagte: ‚Leben ist Risiko. Und wenn du nichts riskierst, dann bist du wohl einfach ein schwammiger Haufen zufällig angeordneter Moleküle, die mit dem Strom des Universums mitschwimmen‘.“
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Lancelot im Schlund des Drachen
Entmutigung – das ist das Gefühl, das Andrej Swjaginzew vor allem verspürt, wenn er an die Situation des inhaftierten Alexej Nawalny denkt. Bei einem Publikumsgespräch in Nowosibirsk wurde der renommierte Regisseur (Leviathan, Die Rückkehr) nach Nawalny gefragt, der in Haft in Hungerstreik getreten ist, um eine angemessene ärztliche Behandlung zu erwirken. Sein Team hatte vergangene Woche über kritische Kaliumwerte des Oppositionellen informiert, ein Herzstillstand drohe.
Dem Aufruf, für Nawalnys Leben auf die Straße zu gehen, waren am gestrigen Mittwoch, 21. April, schließlich russlandweit mehrere tausend Menschen gefolgt. Die NGO OWD-Info berichtet von über 1700 Festnahmen, mehr als 800 davon allein in Sankt Petersburg.
Mit dem in Nowosibirsk artikulierten Gefühl, dass der Staat abwesend sei, sich immer weiter von den Menschen entferne, ist Swjaginzew nicht alleine – auch die Politologin Tatjana Stanowaja konstatiert dies in einer Analyse von Putins Rede zur Lage der Nation.
dekoder bringt Swjaginzews Statement auf Deutsch, das Taiga.info und Meduza verschriftlicht haben.
Für mich ist völlig offensichtlich, dass es in diesem Land weder Recht noch Gesetz noch sonst irgendetwas gibt. Man kann sich auf nichts verlassen, nur auf irgendeine Art von Gemeinsamkeit, auf Kameraderie, auf ein Hören, eine Schulter.
Mich entmutigt die aktuelle Situation enorm, weil mir völlig unklar ist, welches Instrumentarium nötig ist, um dieser Walze etwas entgegenzusetzen. Sie walzt im wahrsten Sinne des Wortes einen Menschen zu Tode, der jetzt für alle in den Flammen verbrennt. Lancelot im Schlund des Drachen. Das ist ein bezaubernder Anblick, bewundernswert, denn an Mut fehlt es diesem Mann nicht. Doch er hat diesen Weg natürlich vollkommen bewusst gewählt, er brennt wie eine Fackel, das ist klar.
Was können nun die anderen tun? Zuschauer bleiben in diesem Zweikampf, den man nicht mal Zweikampf nennen kann, oder irgendwie daran teilnehmen? Es ist völlig unklar.
Noch etwas hat mich ergriffen und entzückt: Ein Mensch, der [in Solidarität mit Nawalny] in den Hungerstreik getreten ist. Er heißt Nikolaj Formosow und ist ein ehemaliger Professor der Higher School of Economics und der MGU. Man muss handeln, denn reden ist völlig sinnlos. An den Menschen [den Präsidenten Russlands Wladimir Putin] wendet sich schon die ganze Welt. Alle bedeutenden Persönlichkeiten bitten um eine ganz einfache Sache: Gewährt dem Mann medizinische Hilfe. Doch er [Putin] ignoriert die weltweite Stimme, obwohl das Volk es schon herausschreit.
Ein merkwürdiges Gefühl entsteht. Ein Gefühl der Abwesenheit des Staates, ein Gefühl der Abwesenheit dessen, der geschworen hat, Garant für das Leben und die Würde seiner Bürger zu sein. In diesem Zustand ist es sehr schwer eine Handlung zu finden, ein Wort.Weitere Themen
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Die Fehler des Zaren
In den vergangenen Tagen häufen sich die schlechten Nachrichten rund um Alexej Nawalny: Der inhaftierte Oppositionspolitiker muss nach drei Wochen Hungerstreik in einer Klinik behandelt werden – am gestrigen Montag, 20. April, wurde er in ein Gefängniskrankenhaus verlegt, aus dem in der Vergangenheit immer wieder über Fälle von Folter und Gewalt berichtet wurde. Zuvor hatten zahlreiche internationale Politiker und auch Mediziner eine angemessene Behandlung Nawalnys gefordert, die USA drohten Konsequenzen an, sollte Nawalny im Gefängnis sterben.
Unterdessen sollen Nawalnys Wahlkampfbüros und der von ihm gegründete Fonds für Korruptionsbekämpfung FBK als extremistisch eingestuft werden. Außerdem wurde vergangene Woche das Büro des Studentenmagazins Doxa durchsucht, vier Redaktionsmitgliedern wird vorgeworfen, Minderjährige zu illegalen Protestaktionen aufgerufen zu haben (aus demselben Grund verhängte die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor nach den Protesten im Januar und Februar unter anderem auch Geldstrafen gegen internationale Soziale Netzwerke). Nawalnys Team rief nun zu Protesten am morgigen Mittwoch, 21. April, auf.
Bei den Nawalny-Solidaritätsprotesten im Januar und Februar hatten Sicherheitskräfte hart durchgegriffen, es kam insgesamt zu mehr als 10.000 Festnahmen, auch unabhängige Medien wurden verwarnt und mussten Inhalte löschen, Mediazona-Chefredakteur Sergej Smirnow musste für 15 Tage in Haft.Die verschärften Repressionen des Kreml erinnern den Wirtschaftswissenschaftler Konstantin Sonin an eine andere Episode der russischen Geschichte – nämlich die Oktoberrevolution 1917. Aus der Konfrontation zwischen Zar und Revolutionären sollte der Kreml heute seine Lehren ziehen – sonst, so warnt Sonin im Onlinemagazin Vtimes, könne es zu einer Katastrophe für Staat und Gesellschaft kommen.
Vor vielen Jahren, als ich in der Schule war, hat man uns erklärt, dass die Revolution eine sehr gute Sache war: Dass die zaristische Regierung alles falsch gemacht hatte, und dass die Revolutionäre alle Helden und tolle Kerle waren.
Es verging einige Zeit, und es wurde möglich, Bücher und Artikel zu lesen, über Geschichte zu diskutieren und nicht nur solche Schlüsse zu ziehen, die in den Schulbüchern standen. Es stellte sich heraus, dass die Opfer nicht nur diejenigen waren, die vom Zaren hingerichtet oder im Bürgerkrieg getötet worden waren. Es stellte sich heraus, dass die Revolution sogar für diejenigen eine Tragödie war, die sie für notwendig gehalten hatten. Und auch, dass die Menschen, die die Ordnung verteidigten, genauso viel Recht auf Leben hatten wie diejenigen, die diese Ordnung zu stürzen versuchten. Es stellte sich heraus, dass die zaristische Regierung die Bürger vor den Gefahren von Revolutionen zu Recht gewarnt hatte.
Doch Lehren aus der Geschichte zu ziehen heißt nicht einfach, Helden in Verbrecher umzubenennen und umgekehrt. Dass jemand nicht mehr als Bösewicht angesehen wird, heißt nicht, dass er richtig gehandelt hat oder dass er nicht verantwortlich ist. Die zaristische Regierung – vom Zar und seiner Familie bis hin zu den Ministern und Polizeigenerälen – ist genauso schuldig wie die Revolutionäre: Sie alle haben das Land verloren und eine Tragödie zugelassen, die in der Geschichte ihresgleichen sucht.
Außenpolitisches Gezocke? Check! Unmoral und Korruption? Noch ein Häkchen
Die Parallele zum Hier und Jetzt ist offensichtlich: Taubheit gegenüber den Bedürfnissen der Bürger? Wird heute als Tapferkeit angesehen! Ungerechtfertigte Brutalität? Manche durchgedrehten Hirne glauben, dass es sogar noch mehr Brutalität brauche! Außenpolitisches Gezocke? Check! Unmoral und Korruption? Noch ein Häkchen. Statt der demonstrativen Arroganz der zaristischen Minister gibt es heute grobes Gopnik-Gehabe. Gucken Sie sich doch das Außenministerium an – das eigentlich ein Beispiel an Höflichkeit und Professionalität abgeben sollte.
Die Geschichte mit Alexej Nawalny bündelt all diese Fehler wie unter einem Brennglas. Wenn man den Anführer der russischen Opposition zum Extremisten, Terroristen und Spion ausländischer Geheimdienste erklärt, ist das für den heimischen Gebrauch sehr komfortabel: Denn bei der Anwendung besonderer Maßnahmen nimmt das die Schuldgefühle. Aber genau das taten die Minister des Zaren, als sie Revolutionäre beschuldigten, für das Ausland zu arbeiten. Demonstrative Brutalität? Nawalny wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit umgebracht und irgendjemand glaubt, das würde alle Probleme lösen. Genau so hat auch die Zarenregierung nicht nur Terroristen erhängt, sondern auch jene, die nur von der Revolution gesprochen haben. Die Namen der hingerichteten Revolutionäre sind bis heute nicht vergessen. Im Gegenteil: Über Jahrzehnte hinweg legitimierten diese Namen Akte des Terrors, Hinrichtungen der neuen Machthaber und Gräueltaten im Bürgerkrieg.
Nawalny wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit umgebracht und irgendjemand glaubt, das würde alle Probleme lösen
Dass Millionen von Nawalnys Unterstützern in Russland dessen Rettung vor dem Tod und Freilassung brauchen, versteht jeder. Aber wenn man nachdenkt und auf die russische Geschichte schaut: Nawalnys Leben und Freiheit brauchen auch die konservativen Bewahrer nicht weniger. Der Tod, der demonstrative Mord an Nawalny würde natürlich einige Oppositionsführer und Teile der Bevölkerung abschrecken. Es würde den Hütern der Macht eine Verschnaufpause verschaffen. Aber der Preis dafür sind Keime des Hasses und der Brutalität, die über Jahrzehnte bleiben werden. Bereits jetzt sind die politischen Repressionen unvereinbar mit Wirtschaftswachstum und -entwicklung. Wenn man sie noch verstärkt, kann man damit eine wirtschaftliche Katastrophe verursachen. Und diese Katastrophe wäre selbstverschuldet, man kann und muss sie tunlichst verhindern.
Ich persönlich hoffe, dass das viele in der politischen Führungsebene Russlands verstanden haben. Man muss kein Anhänger Nawalnys sein, um – seinem Vorgesetzten oder auch öffentlich – zu sagen, dass der Mord eines politischen Opponenten schlecht ist, dass die Festnahme der Redaktion einer Studentenzeitung schlecht ist, dass das Verprügeln friedlicher Bürger auf Demonstrationen schlecht ist. Schlecht nicht für die Opposition, die Zeitung und die Bürger, sondern schlecht für Russland, für die Welt und die Stabilität. Welche Millionen, welche beruflichen Erfolge können schon – wenn auch erst in einigen Jahren – diesen Gedanken kompensieren: „Ich war in der Regierung in jenem Jahr, als wir Nawalny getötet und das Land zugrunde gerichtet haben“?
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Keine Nischen mehr
Der Alltag in Belarus ist weiterhin von Festnahmen und Gerichtsurteilen geprägt. Mittlerweile gibt es 359 politische Gefangene, es wurden infolge der Proteste seit dem 9. August 2020 über 3000 Strafprozesse in die Wege geleitet. Zudem sind die Machthaber um Alexander Lukaschenko bedacht, durch schärfere Gesetze und Verordnungen jegliche Protest- und Kritikmöglichkeit zu bekämpfen und die Berichterstattung über Protestaktionen und Repressionen durch den Staat zu erschweren. Das Parlament hat kürzlich eine Erweiterung und Verschärfung der Extremismus-Gesetze beschlossen. Auch der Sender Euronews wurde in Belarus blockiert.
Was passiert mit dem Alltag, mit dem Leben, wenn man in einem politischen System lebt, dass die eigene Entfaltungsmöglichkeit immer mehr einschränkt? Der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch lotet diese Fragen in einem Beitrag für die Internetseite des Kulturprojektes Budzma aus, veröffentlicht wurde der Text schließlich auch auf der Seite des belarussischen Mediums Nasha Niva.
Zeiten wie diese habe ich noch nicht erlebt.
Dabei dachte ich, ich hätte schon alles mitgemacht und wäre von Anfang an dabei gewesen.
Bislang hatten die unsicheren Kantonisten durchgehalten, weil es immer noch irgendwo eine Nische gab.
Wenn sie die Leute wegen der Kundgebungen in Kurapaty einbuchteten, konntest du noch zum Michalok-Konzert im Gorki-Park gehen. Wenn sie dann auch noch Michalok und Kulinkowitsch verboten (das hatten wir schon mal), gingst du eben in eine Kunstausstellung, die dich daran erinnerte, dass da noch jede Menge Andersdenkende waren wie du.
Zeiten wie diese habe ich noch nicht erlebt
Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, als ich bei einer Lesung in Deutschland vorsichtig gefragt wurde, ob wir, die Bewohner aus dem Land des Glücks, eigentlich einfach so für Reisen durch den Eisernen Vorhang kämen. Damals fand ich, die Deutschen würden übertreiben.
Es war ja nicht alles schlecht.
Ich weiß noch, wie ich erklärte, ein Buch könne man ja im 21. Jahrhundert nicht mehr komplett verbieten, ein starker Text bezwinge jedes Verbot.
Und jetzt stehen wir hier.
In einer Welt von Texten, die als extremistisch eingestuft werden.
In einer Welt von Kunstausstellungen mit unpolitischen Themen (Medizin und Ärzte, come on!), die geschlossen werden, nicht von der Kommission zur Bekämpfung von Pornografie, sonst wäre es ja noch Kunst, sondern vom Ministerium für Katastrophenschutz.
Noch vor einem Jahr betete jeder Theaterregisseur, jede Organisatorin einer Kulturveranstaltung und jeder Schriftsteller vor einer Signierstunde: „Hoffentlich kommt jemand, hoffentlich kommt jemand.“
Denn Zuschauer, Publikum, Leserinnen waren wählerisch angesichts des reichhaltigen kulturellen Angebots und kamen nicht zu jedem.
Auch jetzt wird gebetet.
Nur anders.
Nämlich: „Hoffentlich kommt keiner.“
Gemeint sind damit natürlich nicht Zuschauer, Publikum und Leserinnen.
Es gibt praktisch keine künstlerischen Aktivitäten mehr, die nicht mit einem blauen Kleinbus mit getönten Scheiben enden.
Und vor allem lässt sich unmöglich vorhersagen, wo, an welchem Punkt, das Signal gegeben wird.
Da denkst du, du bist Künstler. Oder Eigentümer einer Kultureinrichtung. Wo ist da der Grund zu Verhaftung? Der Anlass für ein Strafverfahren?
Es ist wie in dem bekannten Spruch: Als sie die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, weil ich kein Kommunist war. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, weil ich kein Gewerkschafter war. Als sie mich geholt haben, war niemand mehr da, der für mich hätte sprechen können.
Zum ersten Mal gibt es keine Nischen mehr.
Was immer du tust – es gibt keine Sicherheitsgarantie. Wenn du in Krewa Masleniza gefeiert hast, hast du immer noch die Chance, dass sie später nicht mal ein Strafverfahren gegen dich einleiten.
Nur will niemand mehr riskieren, das auszuprobieren.
Was immer du tust – es gibt keine Sicherheitsgarantie
Die aktivsten Leute sind gegangen. Das sind so viele, dass ich kürzlich gemerkt habe: Inzwischen sind wirklich sämtliche belarussischen Bands, die ich jahrelang im Auto gehört habe (Nizkiz gab es damals noch nicht, sorry), im Ausland. Die letzten Verbliebenen haben versucht sich zu bewegen, als hätte sich die Lage nicht geändert. Doch sie sind schnell an ihre Grenzen gestoßen.
Niemand ist mehr unschuldig.
Es ist ganz offensichtlich: Sie wollen ganze Tätigkeitsbereiche „mit einem glühenden Eisen ausbrennen“. Da kannst du tschechische Autos oder Nivea-Creme verkaufen, das allgemeine Verbotsregime wird auch dich erreichen. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Nach der nächsten lauten Unterredung. Die selbst jene erstarren lässt, die das Ganze ausführen sollen.
Das allgemeine Verbotsregime wird auch dich erreichen. Es ist nur eine Frage der Zeit
Musiker sind schuld, weil sie die falschen Lieder singen.
Sportlerinnen sind schuld, weil sie die falschen Aufrufe gestartet haben.
Werbeleute sind schuld, weil sie den falschen Leuten Platz einräumen.
Händler sind schuld, weil sie angeblich nicht mit belarussischen Waren handeln (stimmt das denn)?
Journalistinnen sind schuld, weil sie in diesem Land schon immer schuld sind.
Sogar Theaterleute sind schuld! Theaterleute, hört ihr?! Überall, auf der ganzen Welt sind Theaterleute seit Shakespeares Zeiten noch nie für etwas verantwortlich gewesen. Höchstens dafür, dass niemand über ihre Scherze lachte. Und jetzt haben sie sich der Illoyalität schuldig gemacht.
Und müssen ausgemerzt werden.
Du, eine freie, selbstbewusste Person, die nichts als einen guten Lime-Coffee möchte, bist nur ein einziges falsches Wort von einem feuchten, vergitterten Keller entfernt.
Eine einzige Tat, die vor einem Jahr noch niemand wahrgenommen hätte.
Das Leben hier wird zum Tanz über dem Abgrund.
Und erfordert viel Mut.
Jeder neue Morgen ist eine Herausforderung: Bist du noch Mensch? Bist du noch frei?
Alles ist verboten, selbst Reportagen über die Aktivitäten auf den Straßen.
Es ist verboten, am falschen Tag vor die Tür zu gehen.
Du hast Gleichgesinnte angehupt? Du hast gute Chancen, den Führerschein zu verlieren.
Und ich denke Folgendes.
Die Nischen.
Die von früher.
Die gab es nicht aus Gutmütigkeit.
Denn das Sowjetsystem kannte keine Gutmütigkeit. Und die jetzt, die haben einfach alles aus den früheren, totalitäreren, aber auch wesentlich durchdachteren Zeiten übernommen.
Und die Typen von früher mit ihren Hornbrillen und aufgedunsenen Gesichtern waren komischerweise davon ausgegangen, dass der Pöbel (also Menschen wie du und ich) doch ein Ventil braucht, um seinen ästhetischen Dampf ablassen zu können. Sie haben keinen Krieg geführt, sie wollten einfach ewig regieren. Und sie taten alles dafür, diese Herrschaft zu ermöglichen.
Deshalb gab es in der UdSSR auch die Schestidesjatniki. Wosnessenski, Wyssozki, das Taganka-Theater, Mark Sacharow, Andrej Tarkowski, Andrej Sacharow, Ales Adamowitsch, Uladsimir Karatkewitsch.
Was jetzt geschieht, ist der Versuch, das Atmen zu verbieten.
An ein derartiges Experiment haben sich nicht einmal die großen, müden Vorgänger herangewagt, die das Fundament jener Angst gelegt haben, die hier nun wieder alles beherrschen soll.
Waren das denn Idioten?
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Covid-19: Augen zu und durch
Herdenimmunität schon im August? Glaubt man russischen Politikern, dann werden bis dahin 70 Prozent der Menschen in Russland geimpft und die Einschränkungen aufgehoben sein. Dabei liegt die Impfquote derzeit bei nur rund fünf Prozent, die Mehrheit der Russen (62 Prozent) will sich laut Umfragen nicht gegen Covid-19 impfen lassen.
Wie kommt dann ein solcher offizieller Optimismus zustande? Die für den Gesundheitsschutz zuständige Behörde Rospotrebnadsor glaubt etwa, dass es in Russland keine dritte Welle geben wird: Die Immunitätsrate steige, sowohl durch die Geimpften als auch durch diejenigen, die schon infiziert waren. Die Anzahl der Letzteren beziffert der unabhängige Demograf Alexej Rakscha auf rund 35 Prozent. Was jedoch mit einer so hohen Durchseuchung einhergeht: Von April 2020 bis April 2021 beträgt die Übersterblichkeit laut Rakscha rund eine halbe Million Menschen, fast alle Todesfälle stehen im Zusammenhang mit Covid-19. Auch andere Forscher, wie der Tübinger Datenwissenschaftler Dmitry Kobak, kommen auf ähnliche Zahlen.
Die Übersterblichkeit ist damit in Russland so hoch wie in kaum einem anderen Land der Welt. Halbherzig beschlossene und kaum durchgesetzte Corona-Einschränkungen werden oft als Grund dafür genannt, aber auch das marode Gesundheitssystem: Gemessen am Bruttoinlandsprodukt beträgt der Anteil der Gesundheitsausgaben in Russland vier bis fünf Prozent, in Deutschland liegt er bei etwa zwölf Prozent.
Auch das Onlinemedium Projekt hat sich auf die Suche nach den Gründen für die hohe Übersterblichkeit gemacht – und eine erschreckende Bilanz des Corona-Jahres 2020 gezogen. dekoder bringt die Analyse mit den Daten der Übersterblichkeit von Dmitry Kobak.
„Man ging davon aus, dass wir zu nichts taugen, niemand sind und nichts können. Aber wir konnten. Und zwar besser als andere Länder.“ Mit diesen Worten zog Wladimir Putin eine in seinen Augen erfolgreiche Bilanz aus einem Jahr Kampf gegen Corona.
Mitte Februar 2021, als er das sagte, lagen die Sterberaten für das Jahr 2020 in Russland und anderen Ländern bereits vor. Den Zahlen nach war Russland weltweit einer der Außenseiter in diesem Kampf: Im vergangenen Jahr starben in Russland 2.124.000 Menschen. Das sind 20 Prozent beziehungsweise 321.000 Menschen mehr, als es ohne Coronavirus gewesen wären. Es starben doppelt so viele wie nach offiziellen Angaben an dem Virus gestorben sind.
Quelle: Dmitry Kobak/Github
Woran sind all diese Menschen gestorben?
Rosstat hat mit dem Ausbruch der Epidemie im April 2020 aufgehört, die Zahlen zu den Todesursachen zu veröffentlichen, obwohl die früher monatlich herausgegeben wurden. Wir können uns also nur auf offizielle Aussagen verlassen. Laut Vizeregierungschefin Tatjana Golikowa hängt die Übersterblichkeit zu 81 Prozent mit dem Coronavirus zusammen – demzufolge hätte das Virus also mindestens 260.000 Opfer gefordert.
Wo sind die meisten Menschen gestorben?
Anfang 2020 schränkte Ramsan Kadyrow als einer der ersten regionalen Regierungschefs die Einreise in die Tschetschenische Republik ein und verhängte eine strikte Quarantäne. Doch die kaukasischen Traditionen waren stärker.
Bereits im Mai waren traditionelle Hochzeitsfeiern wieder erlaubt, obwohl Großveranstaltungen offiziell verboten blieben. Und im September, als die Zahlen in Russland erneut stiegen und sich die zweite Coronawelle anbahnte, vergnügte sich Kadyrow persönlich auf der Hochzeit seines Neffen. Die zahlreichen Gäste trugen, wie Kadyrow selbst, keine Schutzmasken. Drei Wochen später besuchte das tschetschenische Oberhaupt im Kreise seiner Vertrauten und des tschetschenischen Mufti die Beisetzung des an Covid verstorbenen Dumaabgeordneten Wachi Agajew – wieder ohne Masken oder Einhaltung der Abstandsregeln.
Ganz ähnlich sah es in Dagestan aus. Im Juli, kurz nachdem die Einschränkungen gelockert worden waren, hielt man in der Republik eine Flottenparade ab. „Gerade erst hat man im städtischen Krankenhaus von Machatschkala eine Abteilung mit 750 Betten geschlossen. Gleich morgen früh wird sie wieder aufgemacht“, schrieb Israfil Israfilow, Assistent des Chefarztes, nach der Parade auf seinem Telegram-Kanal.
Tschetschenien war 2020 bei der relativen Übersterblichkeit der (traurige) Spitzenreiter unter den russischen Regionen. Zu den am schlimmsten betroffenen Gebieten gehören außerdem andere nordkaukasische Regionen, aber auch einige dichtbevölkerte Regionen im europäischen Teil Russlands und Sibirien. Auf den hinteren Plätzen rangieren abgelegene und dünn besiedelte Gebiete: Burjatien und Magadan oder die Halbinsel Tschukotka im äußersten Nordosten Russlands.
Relative Übersterblichkeit: Sterbedaten in Russland 2020 verglichen mit prognostizierten Werten auf Grundlage von Sterbedaten der Vorjahre (Angaben in Prozent), Quelle: Dmitry Kobak (Berens Lab, Universität Tübingen). Mehr zur Methodik auch in den Russland-Analysen.
Warum haben ausgerechnet diese Regionen so viele Verluste zu beklagen?
Auf dem Höhepunkt der Pandemie fehlte es vor allem an Einsatzkräften und Betten: „Wir haben genug Krankenwagen, aber niemanden, der sie fahren kann“, konstatierte Dimitri Asarow, Gouverneur der Oblast Samara, im November 2020 ratlos.
Im Oktober waren in Samara drei Mal so viele Notrufe eingegangen wie im September; die Menschen beklagten, dass sie über 24 Stunden auf einen Krankenwagen warten müssen.
Die Regionen waren unterschiedlich gut für eine Pandemie gewappnet: Die Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen ging teilweise um das Zwei- oder Mehrfache auseinander. So standen Anfang 2020 in Inguschetien und Tschetschenien [in Tschetschenien lag die relative Übersterblichkeit nach den Daten von Dmitry Kobak bei rund 47 Prozent, in Inguschetien bei rund 32 Prozent, s. Grafik oben – dek] 44 bis 55 Krankenhausbetten pro 10.000 Einwohner zur Verfügung, während es auf der Halbinsel Sachalin und in Magadan [wo die relative Übersterblichkeit äußerst gering ist, s. Grafik – dek] über 100 waren.
Am Ende waren genau die Regionen, die am Anfang der Epidemie am schlechtesten mit medizinischem Personal und Krankenhausbetten ausgestattet waren, die mit den meisten Opfern.
So hatte zum Beispiel die Oblast Samara Anfang 2020 bei der Verfügbarkeit von examiniertem Krankenpflegepersonal auf Platz 63 von 85 russischen Regionen gelegen, bei der Anzahl der Betten pro Einwohner auf Platz 72. [Die relative Übersterblichkeit der Oblast Samara liegt nach den Daten von Dmitry Kobak bei rund 27 Prozent, s. Grafik – dek].
Tatarstan [eine Region mit einer hohen relativen Übersterblichkeit von rund 28 Prozent, entsprechend der Daten von Dmitry Kobak, s. Grafik – dek], rangierte vor der Epidemie auf Platz 81 bei der Anzahl der Betten. Und der Spitzenreiter Tschetschenien hatte sowohl bei der personellen Ausstattung der Notdienste als auch bei den Krankenhausbetten pro Einwohner Platz 83 von 85 eingenommen.Der Abbau von stationären Kapazitäten wurde in Russland in den 2000er und 2010er Jahren durchgeführt und war gewollt: Das Gesundheitsministerium war der Meinung, dass „moderne Behandlungsmethoden es heute ermöglichen, dem Patienten ambulant die gleiche Hilfe zukommen zu lassen, die früher eine langwierige stationäre Behandlung erfordert hatte“. Dabei waren in abgelegenen Regionen mit geringer Bevölkerungsdichte die Normen für die Anzahl der Krankenhausbetten höher als in zentralen Regionen. In der Folge standen dichtbevölkerte Gebiete in Zentral- und Südrussland, der Wolga-Region und im Nordkaukasus zu Beginn der Corona-Epidemie schlechter da als die Randgebiete des Landes. Die Regierung musste handeln.
Warum halfen die zusätzlichen Mittel nicht?
Die Zentralregierung versuchte die Regionen bei der Vorbereitung auf die Epidemie zu unterstützen. Eine der ersten Maßnahmen im Frühjahr 2020 war die Bereitstellung von Geldern für die Ausstattung der Krankenhäuser: insgesamt 65 Milliarden Rubel [damals rund 800 Millionen Euro – dek] für Instandsetzung, medizinische Geräte, Umrüstung von Abteilungen zu Corona-Zentren und die Einrichtung von „Coronabetten“. Später wurden noch einmal 9 Milliarden Rubel [damals rund 110 Millionen Euro – dek] allein für die Ausstattung mit Betten bereitgestellt.
Das Problem war, dass das meiste Geld längst nicht diejenigen Regionen bekamen, die am schlechtesten dastanden. Die Höhe der Subventionen richtete sich nach der Einwohnerzahl – und so landeten die größten Summen in den Regionen Moskau, Sankt Petersburg und Krasnodar.
Dabei hätten die föderalen und regionalen Behörden ausreichend Zeit gehabt, den Problemregionen gezielt zusätzliche Mittel für Extrabetten zur Verfügung zu stellen. Im Frühjahr und Frühsommer traf die Epidemie nur eine Handvoll meist zentraler Regionen. Aber die Entscheidungsträger auf allen Ebenen orientierten sich bei der Ressourcenverteilung an den damals geltenden Normen – ein Bett pro eintausend Einwohner in den Millionenstädten und 0,5 Betten in Städten mit geringerer Einwohnerzahl. Es wurde schnell klar, dass das ein Fehler war – die Betten reichten nicht aus.
In der sibirischen Oblast Omsk wurden im verhältnismäßig ruhigen Juli zum Teil nicht einmal Intensivpatienten stationär behandelt. So verweigerte man einer älteren Frau aus Omsk innerhalb von vier Tagen drei Mal die Aufnahme ins Krankenhaus. Erst nach weiteren zwei Tagen brachte man sie in die Klinik, wo sie schließlich verstarb. In jenem Monat überstieg die Sterblichkeit das Mittel der letzten Jahre um 28 Prozent, genau so ein Zuwachs hielt sich auch in den Monaten August und September.
All das brachte allerdings weder die Behörden der Oblast Omsk noch das Gesundheitsministerium dazu, die Anzahl der Betten aufzustocken; das geschah erst im Oktober. In der Folge gehörte Omsk zu den am schwersten vom Coronavirus betroffenen Regionen.
Obwohl die allgemeine Sterblichkeit im Juli in jeder dritten Region die offiziellen Werte der vorhergehenden Jahre um zehn Prozent überstieg, sahen sich die Behörden durch den langsamen Anstieg der Patientenzahlen dazu veranlasst, die Betten, die während der ersten Welle eingerichtet oder umgerüstet worden waren, massenweise wieder umzufunktionieren. Das führte dazu, dass die Ausstattung mit Coronabetten auf dem niedrigsten Stand im ganzen Zeitraum der Pandemie war, als die zweite Welle das Land traf.
Die Patientenzahlen stiegen so rasant, dass man mit den Betten nicht mehr hinterherkam. So wuchs zwischen dem 14. September und dem 24. Dezember die Zahl der Neuerkrankten um das 6-fache an, während sich die Anzahl der Betten lediglich um das 2,2-fache erhöhte.
Wie die Regierung die Bekämpfung der Pandemie den Regionen überließ
Seit Mitte September stieg die Zahl der Neuinfizierten in Russland täglich an. Anfang Oktober kamen aus den Regionen massenhaft Klagen über mangelnde medizinische Hilfe – keine Krankenwagen, stundenlange Wartezeiten vor den Polikliniken, keine stationären Aufnahmen. Die Angehörigen eines 48-jährigen Mannes aus Nowosibirsk erzählten, dass sie eine Woche lang auf eine Blutuntersuchung oder einen Arzt gewartet hätten und dann zwei Tage lang vergeblich versuchten, einen Krankenwagen zu rufen. Der Mann starb im Krankenhaus, einen Tag nach seiner Einweisung.
Einer der Gründe für die Probleme im Herbst war vermutlich, dass die Regierung die Gouverneure Anfang November dazu verpflichtete, nicht etwa über die Anzahl der Hospitalisierungen oder Todesfälle wöchentlich Bericht zu erstatten, sondern über die Anzahl der freien stationären Betten. Das Niveau durfte 20 Prozent nicht unterschreiten. Wie man diese Vorgaben erreicht – ob man mehr Betten schafft oder weniger Patienten aufnimmt –, blieb den Regionen selbst überlassen. Bald häuften sich Klagen, dass man in den Regionen sogar Schwerkranke abweisen würde, zum Beispiel weil noch CT-Untersuchungsergebnisse fehlen würden.
In Pensa standen die Menschen zu Dutzenden Schlange, um sich die Lunge röntgen zu lassen
Auch in die Polikliniken, die nach dem Willen der Regierung alle Nicht-Intensivpatienten aufnehmen sollten, war kein Reinkommen. In Pensa standen die Menschen zu Dutzenden Schlange, um sich die Lunge röntgen zu lassen. Warten musste man draußen. Genau so sah es in Kasan, Nishni Nowgorod, Samara und in anderen Großstädten aus.
Am 26. Oktober entschied das Gesundheitsministerium, dass mittelschwer erkrankte Patienten zu Hause behandelt werden dürfen. Aber auch das brachte nicht viel: Die Ressourcen in den Krankenhäusern waren schnell erschöpft, und bei der Regierungsversammlung am 16. November konstatierte Gesundheitsminister Michail Muraschko, dass in mehr als der Hälfte der Regionen die Stationen zu 90 Prozent ausgelastet seien. Nach wie vor reichte der Platz nicht einmal für die Intensivpatienten.
Was war mit der Quarantäne?
Es wäre logisch anzunehmen, dass man der zweiten großen Corona-Welle im Herbst aktiv mit Quarantänemaßnahmen begegnet wäre. Aber während sich die Lage stetig verschlechterte (im November und Dezember gab es täglich dreimal mehr Neuinfizierte als im Mai, auf Krankenwagen wartete man teilweise mehrere Tage), wurden weder landesweit noch in den einzelnen Regionen Beschränkungen ähnlich dem Lockdown im Frühjahr eingeführt.
In vielen Regionen waren die Maßnahmen eher halbherzig: Die Gastronomie durfte tagsüber öffnen, in Vergnügungszentren wurden Kinderspielzimmer geschlossen, älteren Menschen wurde empfohlen, zu Hause zu bleiben. Aber da es kaum Kontrollen gab, hielt sich auch kaum jemand an die Empfehlungen.
Paradoxerweise waren die Einschränkungen in den Ballungszentren oft weniger streng als in dünner besiedelten Gebieten. So wurde beispielsweise in Kysyl im südlichen Sibirien, einer Stadt mit 119.000 Einwohnern, im Sommer der öffentliche Nahverkehr eingestellt, während man in den Großstädten auf solch drastische Maßnahmen verzichtete. In Omsk [die achtgrößte Stadt Russlands mit rund 1,2 Millionen Einwohnern – dek] wurde das Tragen von Mund- und Nasenschutz erst zum 1. November verpflichtend, und selbst diese Maßnahme bezeichnete Gouverneur Alexander Burkow noch als „durchaus harte, ja sogar harsche Entscheidung“.
Einschränkungen in den Ballungszentren waren oft weniger streng als in dünner besiedelten Gebieten
Ähnlich sah es im Bildungssektor aus. Während in Tschita in Südostsibirien die Schulen in den Distanzunterricht wechselten, gingen in Sankt Petersburg, Pensa [rund 550 Kilometer Luftlinie entfernt von Moskau – dek], Tschetschenien, Tatarstan und Dagestan die Kinder weiter zur Schule, nur vereinzelt gab es kurzzeitige Quarantänemaßnahmen.
Die Entscheidung der Gouverneure gegen den Lockdown wurde von der Landesregierung und Präsident Putin gestützt. Ende Oktober rief Putin beim Forum Rossija Sowjot die Regionen dazu auf, „gerechtfertigte, punktuelle Lösungen“ zu finden, die es erlauben „die größtmögliche Sicherheit der Menschen sowie einen kontinuierlichen Arbeitsbetrieb von Unternehmen und Organisationen zu gewährleisten“.
Abgesehen von dem Ressourcendefizit und der hohen Bevölkerungsdichte haben die Regionen mit der höchsten Übersterblichkeit aber noch etwas anderes gemeinsam: eine extrem niedrige offizielle Zahl von Corona-Toten. Demzufolge hat das Coronavirus in Tatarstan, Mordowien, der Oblast Pensa und Tschetschenien praktisch keine Opfer gefordert – offiziell war das Virus dort lediglich für fünf bis sieben Prozent der gesamten Übersterblichkeit verantwortlich. Liegt dieser Wert in den Regionen unter zehn Prozent, dann, so sagt Gesundheitsexpertin Gusel Ulumbekowa, sei dies ein Zeichen dafür, dass diese offiziellen Daten „statistische Fehler“ enthalten.
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Bystro #23: Hat der Protest Belarus bereits verändert?
Seit dem 9. August 2020 protestieren die Belarussen gegen Machthaber Alexander Lukaschenko. Sie fordern die Durchsetzung ihrer Grundrechte und Neuwahlen. Was war der Auslöser für die historischen Proteste? Warum hat die autokratische Staatsführung derart Vertrauen in der Gesellschaft eingebüßt? Wie gespalten ist das Land? Welche Rolle spielen Russland und die EU für die Haltung der Belarussen?
Félix Krawatzek ist diesen Fragen zusammen mit anderen Wissenschaftlern in einer Studie für das Zentrum für Osteuropa und internationale Studien (ZOiS) auf den Grund gegangen. Im Bystro liefert er Antworten auf sieben wichtige Fragen.
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1. Man sagt, dass der Wahlbetrug bei der Präsidentschaftswahl ein wesentlicher Antreiber für die Proteste war. Bestärkt die Umfrage diesen Eindruck?
Der eklatante Wahlbetrug war der unmittelbar entscheidendste Faktor für die Massenproteste. Aber bereits im Vorfeld der Wahl fand eine breite gesellschaftliche Mobilisierung statt, die sich quer durch die Altersgruppen und Regionen des Landes zog. Diese Unterstützung – beispielsweise in Form von solidarischen „Menschenketten“ – galt insbesondere den unabhängigen potentiellen Präsidentschaftskandidaten: Viktor Babariko und Waleri Zepkalo. Beide galten als aussichtsreiche Kandidaten, wurden aber von der Wahlkommission Mitte Juli nicht zur Wahl zugelassen. Nach dieser massiv kritisierten Entscheidung wandelten sich die kleineren Märsche und Versammlungen zu Massenveranstaltungen für die einzige unabhängige Kandidatin, Swetlana Tichanowskaja, und ihre beiden Unterstützerinnen: Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa.
Die Umfrage verdeutlicht zudem die Wichtigkeit der exzessiven Polizeigewalt für die Teilnahme an den Protesten. Menschen gingen verstärkt auf die Straße, weil sie von der Gewalt schockiert waren. In unserer Umfrage geben annähernd 80 Prozent der Protestierenden dies als Grund an. -
2. Wie geschlossen stehen die Belarussen hinter den Protesten, und wie hoch ist der Anteil derjenigen, die nach wie vor die Machthaber unterstützen?
Die Einschätzung der Proteste ist vielfältig. Die Umfrage verdeutlicht jedoch, dass es die Protestbewegung nicht geschafft hat, die breite gesellschaftliche Frustration über das Regime hinter sich zu vereinen. 29 Prozent der von uns befragten Belarussen geben zwar an, dass sie vollständig mit den Protesten übereinstimmen. 20 Prozent sagen aber auch, dass sie dies überhaupt nicht tun. Weitere 19 Prozent sind unschlüssig und geben an, dass sie nicht wissen, wie sie auf diese Frage antworten sollen. Einigkeit gibt es hingegen darüber, dass die Proteste weiterhin gewaltfrei bleiben sollen.
Das Vertrauen in die Institutionen, nicht nur in den Präsidenten, war Ende 2020 ausgesprochen gering. Etwas mehr als 40 Prozent der von uns befragten Menschen haben gar kein Vertrauen, weitere 15 Prozent eher kein Vertrauen in den Präsidenten und 18 Prozent beantworten diese Frage nicht. Diese Zahlen sehen für andere staatliche Institutionen recht ähnlich aus. Man kann davon ausgehen, dass knapp 30 Prozent der Bevölkerung den Machthaber weiter unterstützen. -
3. Lukaschenko genoss bei einer Mehrheit der Bevölkerung über viele Jahre großes Vertrauen. Warum war das so?
Der Rückhalt für den Präsidenten lässt sich aufgrund der unklaren Datenlage eigentlich nicht verlässlich ermitteln. Die ritualisierten Wahlsiege mit 80 Prozent bilden die öffentliche Meinung nicht ab. Aber auch die tatsächliche Beliebtheit der Oppositionskandidaten der vergangenen Jahrzehnte ist unklar. Größere Proteste folgten bereits auf frühere Präsidentschaftswahlen (2001, 2006 und insbesondere 2010) und sind ein Indiz dafür, dass die Unterstützung für den Staatsapparat seit einiger Zeit auf tönernen Füßen stand.
Durch eine Kombination aus Zuckerbrot und Peitsche versuchte man, den Rückhalt für den Präsidenten sicherzustellen. Und das Regime hat eine gewisse Weitsicht im Umgang mit potentiellen Herausforderungen unter Beweis gestellt – früher als in Russland schikanierte Belarus unabhängige NGOs oder versuchte, jugendlichem Missmut durch eine loyale Jugendorganisation den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Darüber hinaus gab es keine glaubhafte und öffentlich wahrnehmbare politische Opposition – es fehlt an unabhängigen Parteien und bis 2020 auch an charismatischen Gegenkandidaten, die die weitgefächerte Frustration mit dem Präsidenten hinter sich vereinen konnten. Stattdessen konnte Lukaschenko vermeintliche Erfolge im wirtschaftlichen und sozialen Bereich auf seinem Konto verbuchen und mit einer Rhetorik der Stabilität und Warnungen vor Chaos Teile des Landes hinter sich vereinen. -
4. Was hat dazu geführt, dass die Belarussen ihr Vertrauen in die Staatsführung verloren und sich letztlich von den staatlichen Institutionen entfremdet haben?
Ein ganz wichtiger Katalysator, ein externer Schock für das System, war die gravierende Auswirkung der Covid-19-Pandemie und der gesellschaftliche Missmut, wie mit dieser umgegangen wurde. Eine von uns im Juni 2020 durchgeführte Umfrage hat ergeben, dass knapp die Hälfte der jungen Menschen die offizielle Politik der Regierung, keinerlei Einschränkungen als Antwort auf die Pandemie einzuführen, ablehnten. Menschen verloren also bereits vor der Wahl massiv an Vertrauen in die Staatsmacht. Der Umgang mit Covid-19 verdeutlichte einem breiten Teil der Bevölkerung, dass sich der belarussische Gesellschaftsvertrag auflöste.
Darüber hinaus ist die Situation 2020 besonders, da die Menschen in den Selbstorganisationsprojekten im Zuge der Pandemie bereits die gemeinsame Erfahrung der Mobilisierung machten und so vor der Wahl ein Gefühl dafür hatten, wie weit verbreitet der Missmut über den Amtsinhaber war. Bei früheren Wahlen dagegen konnten die Menschen durch die annähernd perfekte Kontrolle der Medien kaum einschätzen, wie die tatsächliche Stimmungslage war. Auch mit der rapiden Verbreitung der sozialen Medien hatte man 2020 jedoch ein anderes Gefühl für die gesellschaftliche Stimmung. Das erste vom Staat verkündete Ergebnis am 9. August 2020 stand dann in einem massiven Missverhältnis zu den eigenen Erwartungen. In unserer Umfrage geben 65 Prozent an, dass die Wahl ihrer Meinung nach gefälscht war. -
5. Lässt sich etwas über eine Veränderung von gesellschaftlichen Werten im Zuge der Proteste sagen?
Im Augenblick lässt sich beispielsweise feststellen, dass es ein neues Selbstbewusstsein dafür gibt, dass man eine belarussische Nation ist: Es hat sich eine Art gesellschaftliches „wir“ entwickelt. Durch die Proteste wurde dieses Gefühl sicherlich bestärkt; was sich besonders in dem symbolischen Kampf um die weiß-rot-weiße Fahne zeigt. Protestierende begreifen die Farben als Ausdruck belarussischer Identität, wohingegen der Amtsinhaber sie aus der Öffentlichkeit verbannen möchte und als faschistisches Symbol der Kollaboration diffamiert.
Darüber hinaus sind Menschen, die an Protesten teilgenommen haben, eher pro-demokratisch eingestellt und haben eine Präferenz für marktwirtschaftliche Ideen, also wie beispielsweise Wettbewerb oder wirtschaftliche Chancengleichheit.
Von einem Wandel durch Proteste zu sprechen wäre jedoch verfrüht. Zudem bleibt es fraglich, wohin sich das gegenwärtige Momentum entwickelt. Die traumatisierende Erfahrung von Gewalt kann auch dazu führen, dass sich 2020 als Warnsignal in den Köpfen der Menschen verankert, was dann eher ein Hindernis für eine zukünftige Mobilisierung darstellt. -
6. Es heißt ja immer, der Protest sei nicht geopolitisch ausgerichtet. Welche Rolle aber spielen die EU und Russland in der Haltung der Belarussen?
Insbesondere junge Menschen wenden sich von Russland ab und Europa zu. Unsere Umfragen zeigen, dass in der Altersgruppe der 18–34-Jährigen mehr als die Hälfte der Meinung ist, dass engere Beziehungen mit der EU erstrebenswert sind, selbst wenn dadurch Beziehungen zu Russland leiden würden. In der allgemeinen Bevölkerung sind knapp 40 Prozent dieser Meinung. Protestteilnehmer sind besonders pro-europäisch eingestellt. Ein knappes Viertel der von uns Befragten hofft, dass die EU in Zukunft die Visavorschriften erleichtert.
Gleichzeitig ist klar, dass die engen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verbindungen zwischen Belarus und Russland fortbestehen bleiben sollen. Russisch ist die den öffentlichen und privaten Alltag dominierende Sprache, selbst wenn knapp 28 Prozent der Befragten angeben, dass sie gerne mehr Belarussisch sprechen würden. Darüber hinaus findet die Idee eines russisch-belarussischen Einheitsstaates kaum Unterstützung in der allgemeinen Bevölkerung – bei uns befürworten dies nur knapp sieben Prozent der Befragten. -
7. Mit welchen Herausforderungen hat man zu kämpfen, wenn man eine Umfrage in einem autoritären Land und dazu unter schwierigen politischen Bedingungen durchführt?
Bei einer solchen Umfrage gibt es praktische und inhaltliche Herausforderungen.
Rein praktische Schwierigkeiten wurden durch Covid-19 verstärkt, denn mit der Pandemie ist es unmöglich geworden, persönliche (face-to-face) Umfragen durchzuführen. In Belarus kommt noch hinzu, dass Telefonate systematisch abgehört werden. Mit Telefonumfragen würde man die Teilnehmer also gefährden. In Folge der zunehmenden Repressionen seit Dezember 2020 bleiben online-Umfragen die einzige Möglichkeit, um an Daten zu gelangen. Diese haben den Vorteil, dass sie die Anonymität der Befragten schützen und somit auch kritische Fragen ermöglichen.
Rein praktisch ist das größte Problem, dass man wenig Vergleichswerte und somit Orientierung für eigene Fragen hat. Darüber hinaus ist die Formulierung der Fragen in autoritären Kontexten kniffelig. Eigene Ideen können nicht direkt in eine Frage übertragen werden, da diese mitunter mit der Lebenswelt der Befragten nichts zu tun hat und man unmotivierte Antworten erhält. Schlussendlich gilt es in der Analyse, gerade in einem autoritären Kontext, ein besonderes Augenmerk auf die Option „möchte nicht antworten“ zu haben. Sie könnte ein Hinweis auf eine mögliche Selbstzensur sein.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Félix Krawatzek
Veröffentlicht am 13.04.2021Weitere Themen
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Im Dschungel der Entmenschlichung
Die Beleidigung von Oppositionellen durch staatliche Medien sowie durch den Staatschef persönlich hat in Belarus Tradition. Bereits in früheren Jahren nannte Alexander Lukaschenko, dessen Machtinstrument eine gelenkte Staatswirtschaft ist, private Unternehmer „von Läusen befallene Flöhe“. Seit dem Beginn der Proteste am 9. August 2020 greifen staatliche Medien wieder verstärkt auf diffamierende Tiervergleiche zurück. Am 21. März 2021 sorgte einmal mehr Grigori Asarjonok für einen Skandal, der in seiner TV-Sendung bekannte Oppositionelle als Ratten bezeichnete. Asarjonok gehört zu den bekanntesten Moderatoren in den Staatsmedien. Im Fernsehen präsentiert er nicht selten einen Galgenstrick in Verbindung mit Fotos von führenden Oppositionellen wie Swetlana Tichanowskaja oder Pawel Latuschko.
Die belarussische Journalisteninitiative mediaIQ gibt in einem Stück für das Medium The Village Belarus Einblicke in das verbale und illustrative Diffamierungsarsenal, das staatliche Medien gegen die Demokratiebewegung verwenden.
Grigori Asarjonoks neuester Beitrag über „Volksverräter“ wurde am 21. März ausgestrahlt; es ging um den ehemaligen belarussischen Botschafter in der Slowakei Igor Leschtschenja. Am Schluss der Sendung rief der Moderator die Zuschauer auf: „Glaubt nicht an die Reue der Ratten, für ihre Beteuerungen werden wir teuer bezahlen.“ Daraufhin bekamen die Zuschauer eine Videomontage gezeigt: links im Bild – Aufnahmen von Ratten, rechts – Bilder der ehemaligen BT-Moderatoren Jewgeni Perlin und Denis Dudinski, von Igor Leschtschenja (er wurde gleich zwei Mal gezeigt), der Schwimmerin Alexandra Gerassimenja, Swetlana Tichanowskaja, Pawel Latuschko und Olga Karatsch. Untermalt war die Videosequenz mit einem Lied über Ratten, die „in Schlösser in Übersee fliehen“.
Entmenschlichung der einen und Vergöttlichung der anderen
Das ist Dehumanisierung – ein Verfahren, bei dem „Fremde“ mit Tieren oder sonstigen Wesen („Unmenschen“, „Parasiten“, „Watniki“) verglichen werden, das heißt sie werden für Propaganda- und Manipulationszwecke entmenschlicht. Demgegenüber steht die Vergöttlichung des „Eigenen“ oder seiner Handlungen – so hat zum Beispiel der CTV-Moderator Jewgeni Pustowoi Lukaschenko mit Moses verglichen.
Die Methode der Dehumanisierung wird von den belarussischen Staatsmedien gerne verwendet, um Protestierende und Lukaschenko-Gegner zu diskreditieren. Besonders beliebt ist sie bei dem CTV-Moderator Grigori Asarjonok. Am 12. Oktober vergangenen Jahres wandte er sich mit folgenden Worten an die Demonstranten: „In der Herde oder im Internet seid ihr mutig, aber ihr werdet fliehen wie feige Schakale.“
Am 24. Oktober sagte Asarjonok in seiner Sendung Geheime Triebfedern der Politik – 2020 zu dem Politologen Andrej Lasutkin, er würde einem Insektenforscher gleichen, und erklärte: „Sie beschäftigen sich schon lange mit diesen Käfern, Spinnen, Raupen, Schmetterlingen und anderen Gliedertieren, die man die belarussische Opposition nennt.“
Politologen als Spezialisten für Getier
Wenige Tage später, am 28. Oktober, kommentierte Asarjonok die Solidaritätsaktionen im Nationalen Opern- und Balletttheater und der Belarussischen Staatlichen Philharmonie: „Die Provokateure tun alles, damit die Menschen nicht mehr in Ruhe eine Vorstellung genießen können. Sie trampeln mit ihren dreckigen Füßen und Seelen in die Theater, Ausstellungen und Kinos. Iwan Bunin hatte fürwahr recht, als er sagte: ‚Eines der auffälligsten Erkennungsmerkmale einer Revolution ist die ungezügelte Gier nach Spiel, Verstellung, Pose, Schaubude. Im Menschen erwacht der Affe.‘ Aber wir werden diesen Affen zurückdrängen, mit einem hübschen Lied und den Spezialmitteln des Innenministeriums.“
Hier verschleiert die Entmenschlichung Gewalt, denn es ist psychologisch einfacher, Gewalt gegen Tiere als die gegen Menschen zu rechtfertigen.
In der Sendung Geheime Triebfedern der Politik – 2.0 vom 13. Februar 2021 nahm Asarjonok die gerade abgehaltene Allbelarussische Volksversammlung zum Anlass, die „Feinde“ zu dehumanisieren:
„Unsere Feinde haben sie gehasst (die Vollversammlung – Anm. mediaIQ). Haben die Delegierten verleumdet, eingeschüchtert und gelogen. Haben ihre persönlichen Daten veröffentlicht und mit Rache gedroht. Haben angekündigt, erneut Menschen auf die Straßen zu bringen. Doch bei dem Versuch, uns zu spalten, haben sie sich gegenseitig zerfleischt, die Schlangen und Ratten, Spinnen und Kröten.“
Hier sind ein paar Beispiele für Dehumanisierung aus anderen staatlichen Medien:
Dressierte Hunde mit Muttis Smartphone
Am 1. September 2020 verglich der TV-Sender Belarus 1 die Studenten, die an diesem Tag auf die Straße gingen, mit dressierten Hunden, die über „von Muttis Geld gekaufte Smartphones Befehle erhalten: gib Laut, Pfötchen, sitz oder lauf.“
Auch Andrej Mukowostschik, Kolumnist der Zeitung SB. Belarus segodnja, griff in seinen Beiträgen wiederholt zur Methode der Dehumanisierung. So bezeichnete er die Gegner des Regimes als „Schreihähne“, „tollwütige Ratten“, „Aasgeier“ oder „Aasfresser“ und weibliche Demonstrantinnen als „Herde von aggressiven, blökenden und (oft einsamen) Blauziegen“. In seiner jüngsten Kolumne schreibt er: „Ihr seid Bander-logen, ihr seid einfach Fleisch. Hände weg von dem, was andere aufgebaut haben.“
Bandar-log heißt der Stamm der verstoßenen Affen in Kiplings Dschungelbuch.
Und hier eine Karikatur aus SB. Belarus segodnja:
„Der Frauentag bei den Blauziegen / Der Herbst hat uns verblödet / Liebe belarussische Frauen! Es ist kein Geheimnis – ihr seid verschieden. Und anstatt nun Lobeshymnen anzustimmen, wie wundervoll, schön, klug und stark ihr doch in der Mehrzahl seid, möchte ich heute lieber über die Ausnahmen sprechen.“ Im Bild ist der Name Olga Karatsch eingeblendet sowie das Logo des Youtube-Kanals Ein Land zum Leben.
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„Der Zusammenbruch könnte unerwartet kommen“
Der Tag der Freiheit, der am 25. März zu Ehren der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik im Jahr 1918 begangen wurde, war für die Opposition nicht der erhoffte Aufbruch in eine zweite große Protestwelle. Die belarussischen Machthaber hatten vor allem in Minsk massiv polizeiliches und militärisches Gerät und Sicherheitskräfte aufgefahren. Den ganzen Tag über sowie an den Folgetagen kam es im ganzen Land zu Hausdurchsuchungen bei NGOs und Medien und zu Festnahmen. Am 25. und 26. März waren es laut der Menschenrechtsorganisation Viasna 96 über 200 Menschen, am 27. sogar 247.
Der Journalist Alexander Klaskowski liefert in seiner aktuellen Analyse für das belarussische Medienportal Naviny.by Gründe für den ausgebliebenen großen Protest. Dabei kommt er auch zu der Feststellung, dass das System Lukaschenko trotz der Machtdemonstration zum Tag der Freiheit ziemlich ausgelaugt wirke.
Direkt am Tag der Freiheit, am 25. März, gab es eine Reihe lokaler Aktionen – verhaftet wurden laut Angaben des Innenministeriums mehr als 200 Menschen. Für Samstag, den 27. März, sprechen zu dem Zeitpunkt, wo diese Zeilen geschrieben werden, Bürgerrechtler von knapp 190 Verhaftungen, darunter eine Vielzahl von Journalisten.
Die Pressesprecherin des Innenministeriums Olga Tschemodanowa berichtete in ihrem Telegram-Kanal unter der Überschrift Die Protestbewegung in Belarus geht gen Null, dass es „in keiner Region des Landes eine nicht genehmigte Massenveranstaltung gab“. Nur in Minsk seien „vereinzelte Gruppen mit nicht offiziell registrierter Symbolik gesehen worden, ein paar Demonstranten wurden zur Klärung in Polizeireviere gebracht.“
Tatsächlich – trotz der Aufrufe an die Belarussen in einigen Telegram-Kanälen und von Pawel Latuschko, einem Anführer der politischen Opposition, auf die Straße zu gehen – ist weder am 25. noch am 27. März ein fulminanter Start des heißen Frühlings gelungen. Diejenigen, die am Samstag versuchten, zum Treffpunkt vorzudringen, wurden präventiv festgenommen. Viele kreisten in der Nähe vom [im Laufe des Tages über Telegram bekannt gegebenen Treffpunkt – dek] Platz Bangalor und sorgten dafür, nicht erkannt zu werden.
Die Machthaber hatten sich vor dem Tag der Freiheit gefürchtet. Die Sicherheitskräfte wurden intensiv vorbereitet. Die Richter schmiedeten in den vergangenen Wochen demonstrativ harte Urteile gegen Protestteilnehmer vom letzten Jahr. Angekündigt wurde auch eine Verschärfung der Strafgesetzgebung. Am 25. und 27. März war die Hauptstadt überflutet von Menschen in Uniform, Zivilpolizisten, Wasserwerfern, Gefängnistransportern und anderem technischen Gerät. Das zeigte Wirkung.
Warum sind die Belarussen lieber zu Hause geblieben?
Und nun, wo klar ist, dass die Situation ohne besondere Exzesse unter Kontrolle gehalten werden konnte, atmet da ein Alexander Lukaschenko erleichtert auf? Denn nach außen wirkt es ja so, als hätte er die Proteste erstickt. Ja, mit harten Methoden, viele Belarussen sind wütend, er ist heftig zerstritten mit dem demokratischen Teil der Welt – aber er hat sie erstickt. Oder nicht ganz?
„Zu sagen, dass alles erstickt, gesäubert und zum Schweigen gebracht wurde, wäre falsch“, meint der Politikexperte Juri Drakochrust. Gegenüber Naviny.by betonte er, dass vom 25. bis 27. März unterschiedliche Demonstrationsformen zu beobachten gewesen seien: Feuerwerk, aus dem Fenster gehängte weiß-rot-weiße Flaggen, lokale Hofaktionen, „und manch einer hat auch versucht, auf den Bangalor zu kommen“.
Wobei der Experte unterstreicht, dass der Tag der Freiheit bislang immer ein Höhepunkt der Protestaktionen war. Dass es dieses Mal so bescheiden ablief, lässt folgende „Trendprognose“ zu: „Wahrscheinlich wird der ganze Frühling so.“
Wobei man festhalten muss: Im vorigen Jahr hatte fast niemand vorhergesehen, dass es im August solch heftige Proteste geben würde.
Warum sind die Belarussen jetzt lieber zu Hause geblieben? Drakochrust sieht hierfür hauptsächlich zwei Gründe. Erstens haben die Machthaber ihnen Angst eingejagt und zweitens setze der Müdigkeitsfaktor ein: „Ein derartiger gesellschaftlicher Aufbruch, ein solcher Drive lässt sich auf diesem Niveau nicht ewig aufrechterhalten.“ Nach einer derartig heftigen Flut wie vergangenes Jahr, komm jetzt erstmal politische Ebbe, so Drakochrust.Gewalt ist die Stütze des Systems
Allem Anschein nach zu urteilen, habe Lukaschenko die Situation unter Kontrolle gebracht. Aktuell sei seine Macht durch das Volk nicht bedroht, so der Politikexperte des Zentrums Strategie in Minsk Waleri Karbalewitsch. Der denkt ebenfalls, dass die Proteste im aktuellen Frühling kaum mit denen im vergangenen Jahr zu vergleichen sein werden.
Gleichzeitig, meint der Politologe, passe die gängige Metapher vom Moorbrand gut auf die heutige Situation in Belarus: Oben ist kein Feuer zu sehen, aber unten in der Tiefe lodert es.
„Die Proteststimmung ist nirgendwohin verschwunden. Die Lage hat sich für Lukaschenko eklatant verändert, ihm ist klar, dass nicht die Gesellschaft seine Stütze ist, sondern die rohe Gewalt. Und das ist sein Problem“, meint Karbalewitsch.
Speziell in den anstehenden Wahl- und Abstimmungskampagnen 2021 und 2022 sieht er eine Gefahr für das Regime. Nach Ansicht von Drakochrust könnten nicht nur diese Kampagnen einen neuerlichen Ausbruch der Protestaktivität hervorrufen, sondern auch wirtschaftliche Misserfolge der Regierung.
Ferner, so der Experte, sei es schwer einzuschätzen, „wie schwerwiegend der Schock war, den die Staatsmacht im vergangenen Jahr erfahren hat, und wie brüchig und schwach das System heute ist.“ Man dürfe auch nicht vergessen, dass es während der Perestroika nicht so aussah, dass „das Volk revoltiert und die Macht der Kommunisten abgeschüttelt“ habe – das sowjetische System sei „quasi an jeder Stelle von innen heraus zerfallen.“
Der Experte schließt nicht aus, dass die Ereignisse des vergangenen Jahres das System Lukaschenko enorm unterminiert und ins Wanken gebracht haben und „zum Vorspiel von dessen weiterer Destruktion“ geworden seien. Der Zusammenbruch könne unerwartet kommen, angestoßen beispielsweise durch wirtschaftliche Missstände.
Drakochrust zieht eine Parallele zu den russischen Revolutionen: 1905 haben selbst die heftigen Kämpfe in der Krasnaja Presnja den Aufständischen nicht zum Sieg verholfen, während 1917 Brotkrawalle in Petrograd zur Abdankung des Zaren geführt haben.
Der Machtapparat hat keine Antworten
Lukaschenko hat bis spätestens Anfang 2022 ein Referendum zur neuen Verfassung versprochen. Die Volksabstimmung wird womöglich mit Regionalwahlen verknüpft und im Dezember durchgeführt, vor den Neujahrsfeierlichkeiten. Das bedeutet, dass die Abstimmungskampagne bereits im Herbst startet.
Dann wird Lukaschenko vor einem Dilemma stehen: Falls er die Kampagne im brutalen Stil führt, werden die Legitimität der neuen Verfassung minimal, der Konflikt mit dem Westen verschärft und härtere Sanktionen wahrscheinlich. Falls er die Daumenschrauben lockert und dem Volk zumindest minimale Freiheiten in der Vorwahlzeit garantiert, dann könnte das System derart erschüttert werden, dass es aus den Fugen gerät. Eine gute Lösung gibt es für den Führer des politischen Regimes hier nicht.
Auch in der Wirtschaft wird es keine guten Lösungen geben bei dem altmodischen, staatszentralistischen Ansatz, den Lukaschenko predigt. Wenn sie einfach Geld drucken, um den Staatssektor zu retten und die Haushaltslöcher zu stopfen (und diese geniale Idee scheint zu erstarken), dann wird ein großer Knall ähnlich dem von 2011 mit seiner enormen Devaluation und Hyperinflation sehr wahrscheinlich. So oder so wird die Wirtschaft ohne Reformen stagnieren oder schrumpfen.
Schließlich ist auch der repressive Hammer eine riskante Methode. Eine über das Maß gespannte Sprungfeder kann plötzlich losschießen.
Der Protest ist vorerst notdürftig niedergetreten. Aber auf die Fragen, die die Gesellschaft im vergangenen Jahr äußerst scharf gestellt hat, hat Lukaschenko keine Antworten. Das Regime wirkte noch nie so ausgelaugt wie jetzt. Genau so ausgelaugt war das sowjetische System in den 1980er Jahren – und sein Ende war bloß eine Frage der Zeit.Eine andere Sache ist, dass nach dem alten Sowok nicht das Paradies kam. Auch der Zerfall des Lukaschenko-Regimes bedeutet nicht, dass gleich die lichte Zukunft anbricht. Doch damit nicht genug, denn diese Perspektive birgt in sich ernsthafte Risiken, darunter auch eine russische Expansion. Aber das ist ein anderes Thema.
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Nachdem lange unklar war, wohin der verurteilte Alexej Nawalny gebracht wurde, steht nun fest: Er ist in Lagerhaft in der Strafkolonie IK-2, auch Pokrowskaja-Kolonie genannt. Dieses Straflager in der Oblast Wladimir, knapp 100 Kilometer von Moskau entfernt, gilt als besonders hart.
Über Folter in russischen Lagern und Gefängnissen wird immer wieder berichtet. Nun druckte die Redaktion von Mediazona Auszüge aus einem 60-seitigen Brief ab, den der Häftling Iwan Fomin schrieb. Darin berichtet er über systematische Folter und sexuelle Gewalt in der Strafkolonie IK-6 in Melechowo, Oblast Wladimir.
Brisant ist das Schreiben nicht nur wegen der drastisch geschilderten Folter, sondern auch, weil Fomin behauptet, dass der Leiter der Kolonie Roman Saakjan ihn dazu nötigen wollte, seinen Anwalt aufzugeben. Saakjan wurde im Januar 2020 Leiter der IK-6 und diente zuvor in der IK-2 – wo Alexej Nawalny derzeit in Haft ist.
Nawalny selbst hatte erst Anfang der Woche in einem Instagram-Post seinen derzeitigen Aufenthaltsort bestätigt. Darin schreibt er, er habe noch keine Gewalt erfahren, aber „aufgrund der angespannten Haltung der Sträflinge, die Angst haben, auch nur den Kopf zu drehen, glaube ich die Geschichten gern, dass hier in IK-2 noch bis vor Kurzem Menschen mit Holzhämmern fast zu Tode geprügelt wurden“. Er nenne sein neues Zuhause „unser freundliches Konzentrationslager“.
Iwan Fomin wiederum stammt aus Usbekistan, er wurde 2014 verhaftet, einige Jahre zuvor war er zum Islam übergetreten, ihm wird Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Wie sein Anwalt sagte, wandte sich Fomin an Mediazona, um sich gegen die Terrorismus-Vorwürfe zu wehren. Mediazona widmet sich in zahlreichen Reportagen und Analysen dem russischen Strafsystem. Das Online-Medium wurde von den Pussy-Riot-Aktivistinnen Nadja Tolokonnikowa und Maria Aljochina nach deren Lagerhaft gegründet.
dekoder bringt einen Auszug der teilweise äußerst drastischen Schilderungen Fomins.
Ich komme ins Lager in der Oblast Wladimir, im Dorf Melechowo. Die Lagerverwaltung und die ganze Führungs-Bande der Insassen – die Stubenältesten Sawchosy und deren Helfer, die sogenannten Dnewalnyje – freuen sich sehr über meine Ankunft. Das sind sieben oder acht Männer, alles 100-Kilo-Riesen, wie aus dem Bilderbuch. Ich werde sofort aus der Menge rausgepickt, von den anderen getrennt und angebrüllt; dann müssen wir uns an die Wand stellen. Die Hände an die Wand, den Kopf und Blick nach unten gerichtet. Einer schreit mir direkt ins Ohr: „Fomin! Vorname, Vatersname? Wo geboren?“ Dann beschimpfen sie mich mit vulgären Worten und wollen meinen muslimischen Namen wissen. Ich sage: „Umar.“ Als sie das hören, sind sie beleidigt, sagen, ich hätte „meinen Glauben verraten“ und dass man „solche wie mich umbringen“ müsse. Sie nehmen mir meine Tasche mit den Büchern weg, es sind einige: Englischbücher und der Koran, ein Gebetbuch, verschiedene Klassiker. Nach dem Filzen bringen sie uns für zwei Wochen auf die Quarantänestation.
Wir müssen uns auf Hocker setzen, kerzengerade müssen wir dort sitzen, den Rücken durchgedrückt. Fünf Dnewalnyje und ein Sawchos, der Chef von denen, bewachen uns. Mir wird der Kopf kahlgeschoren, ich muss irgendwas unterschreiben – was, weiß ich nicht, ich darf nicht lesen, was genau ich da unterschreibe. Dann muss ich die Namen aller Verwaltungsmitarbeiter auswendig lernen. Danach nehmen sie einen von uns mit und führen ihn durch die „Küche“ raus – das heißt, durch den Wach- beziehungsweise Dienstraum nebenan –, von dort hören wir Stöhnen und Geräusche, als würde jemand gegen die Wand schlagen. So geht das jeden Abend. Zurück kommt der erste mit zerrissener Gefängnishose, humpelnd, setzt sich wieder hin. Dann holen sie den nächsten.
Wir hören Stöhnen und Geräusche, als würde jemand gegen die Wand schlagen. So geht das jeden Abend
Die ersten fünf Tage werde ich nicht aufgerufen, nur jeden Tag angeschrien. Morgens vor dem Frühsport sagt der Sawchos Roma Nowikow zu mir: „Bald werd ich dich f***.“ Ich halte mich gerade und schweige. Das sagt er jeden Tag zu mir, genau wie die Dnewalnyje – mir als einzigem von den ungefähr 20 Männern.
Außerdem fragen sie jeden Tag: „Trittst du zum Christentum über?“ Ich sage nein. Am sechsten Tag der Quarantäne bringen sie mich in einen Verschlag ohne Kameras. Sawchos Roma Nowikow sagt zu mir: „Heute ist deine letzte Chance, dich vor dem Petuschatnik [Sonderbaracke für missbrauchte Gefangene, die sogenannten Petuchi – dek] zu retten.“ Dort würde ich sonst durchge***** hinkommen und wie ein Sklave Klos putzen oder auf der Müllkippe arbeiten wie die anderen Petuchi. Er beschreibt, wie sie mich vergewaltigen würden, mir die Füße und Hände auf dem Rücken fesseln, ich würde daliegen, während sie mir die Fußsohlen und den Arsch versohlen. Wenn ich danach nicht gehorchte, würden sie mich mit einem Besenstiel vergewaltigen, erst von hinten und dann in den Mund. Wenn ich dann immer noch nicht gebrochen wäre, würden sie einen Petuch mit einem Steifen holen, der würde sich an mir aufgeilen, aber vorher würden sie mich an den Tisch fesseln, ohne Hose, die Beine auseinander, fast im Spagat. Ich würde auf diesem Tisch liegen, nach vorne gebeugt und die Beine gespreizt, die Hände an die Tischbeine gefesselt, und einer würde auf meinem Rücken sitzen. Und dann würde mich der Petuch mit seinem harten Schwanz in den Arsch f*****. Das erzählt mir der Sawchos alles ausführlich. Sagt, dass sie ihn genau so gebrochen hätten. Noch nie sei einer ungebrochen davongekommen, und das würde auch so bleiben. Er sagt, er sei russischer Nationalpatriot, kein Christ, sondern orthodox, und dass er ein Feind des Islam sei und immer sein werde.
Ich antworte: „Dann bringt mich lieber um, brecht mir alle Knochen.“ Er sagt, es gebe für mich „nur einen Ausweg“ – und wirft mir eine Schachtel mit Rasierklingen hin. Er sagt: „Die Ermittler haben dich freigegeben, ich soll dich mit allen Mitteln brechen, der Auftrag kommt von draußen.“ Und dann: „Ich komme in 30 bis 40 Minuten wieder und hoffe, dass dann die gesamte Decke mit deinem Blut vollgespritzt ist, aber wenn du noch lebst, nähen sie dich zu und bringen dich wieder zu uns in die Quarantäne.“ Er sagt, dass er mir keine zweite Chance geben würde, dass er mich selber ***** [vergewaltigt], das wär ihm ****** [egal]. Er lacht, geht weg und lässt mich mit den Rasierklingen allein.
Dann bringt mich lieber um, brecht mir alle Knochen
Ich sitze da und denke lange nach. Ich kann nicht Hand an mich legen, ich kann es nicht, wegen der Todsünde. Ich sehe meine Mutter vor mir, wie sie tränenüberströmt gegen die Lagertore hämmert. Als er dann wiederkommt, sage ich: „Gut, ich bin einverstanden. Ich nehme den orthodoxen Glauben an, nicht den christlichen.“
Es vergehen zwei Tage. Ich sitze auf meinem Hocker und verrichte im Sitzen das Namas [das muslimische Gebet]. Aber die Kamera verrät mich. Sie rufen ihn an, und abends werde ich geholt. Er sagt: „Du Hurensohn hast mich angelogen.“ Sie fangen an, mich mit Fäusten zu schlagen und zu treten, dann werde ich von den Dnewalny weggebracht. Er sagt: „Jetzt f***** wir dich.“
Ich sage ihm: „Du irrst dich. Ich habe Sport gemacht, auf dem Hocker, Gleichgewichtsübungen, und die Zeit dabei gezählt. Mir war kalt und ich wollte mich auf diese Art aufwärmen.“ Er glaubt mir: „Wenn dir kalt ist, geh in die Küche und bitte den Dnewalny um Tee.“
Sie holen einen Mann, er heißt Myschkin mit Nachnamen, glaube ich. Erst schlagen sie ihm mit der Faust in den Magen, dann werfen sie ihn auf den Boden, binden mit Klebeband seine Knöchel zusammen, die Handgelenke auf den Rücken. Einer stellt sich mit dem Knie auf ihn und biegt ihm die Arme zurück. Roma, der Sawchos der Quarantäne, sagt: „Jetzt machen wir ihm heiße Sohlen“. Sie fangen an, ihn mit einem Knüppel zu schlagen, der Knüppel ist extrem hart: ein schweres, dickes Stück Plastikrohr, mit einem winzigen Loch in der Mitte – solche Rohre habe ich noch nie gesehen. Mit diesem Rohr schlagen sie ihm auf die Fußsohlen und dann auf den Arsch. Dann holen sie einen Besenstiel, an dem angetrocknete Scheiße klebt. Dieser Sawchos Roma Nowikow zieht ihm die Arschbacken auseinander, spuckt in die Öffnung und schiebt ihm den Besenstiel hinten rein. Dann zieht er ihn wieder raus und hält ihn Myschkin unter die Nase. Fragt: „Was riechst du?“ – „Scheiße.“ Dann steckt er ihm das kotverschmierte Teil bis zum Anschlag in den Mund. Danach holen sie den Tataren (seinen Namen weiß ich nicht mehr), den sie „Mongole“ nennen. Mit dem machen sie dasselbe. Myschkin zwingen sie so zu einer Aussage, den Mongolen zwingen sie ebenfalls zu einer Aussage – über ein Verbrechen von anderen, von irgendwelchen Dealern. So zeigen sie mir, was sie mit den Leuten machen. Mir verzeihen sie und machen mich zum Gehilfen des Dnewalny.
Wir kommen schließlich in die untere Quarantäne – Block Nummer sieben, in den alle [Neuankömmlinge] kommen. Gleich am ersten Tag bringen mich der Sawchos und der Dnewalny in eine Lagerkammer. Keiner sagt irgendwas, ich stehe da und weiß nicht, was sie von mir wollen. Dann sagt der Sawchos von Block sieben, Renat Kurban: „Gleich wird einer hergebracht und setzt sich auf diesen Stuhl da. Du stellst dich hinter ihn.“ Bolschoi [dt. der Große – dek] und Bely [dt. der Weiße – dek] bringen einen Russen rein, seinen Namen weiß ich nicht mehr. Der setzt sich ruhig auf den Stuhl, sie stellen ihm Fragen, er antwortet. Dann gibt uns Kurban ein Zeichen, wir werfen ihn auf den Boden, binden mit einem weißen Seil seine Knöchel zusammen. Dann ziehen wir ihm die Hose runter und schlagen mit dem selben Rohr auf seine Fußsohlen und seinen Arsch, aber nicht lange, so 10 oder 15 Minuten. Der Sawchos fragt, was er draußen gearbeitet hat. Ich weiß nicht mehr, was er antwortet, aber er bietet seine Dienste an – Plastikfenster einsetzen (in der Kolonie). Dann holen sie noch zwei Männer und machen mit denen dasselbe.
Zwei Tage später machen sie mich zum Dnewalny: Roma Nowikow, der Sawchos der oberen Quarantäne, holt mich ab und wir gehen zusammen ins Büro des Ermittlers – das ist damals Hauptmann Michail Lwowitsch Stepanow. Er sagt, ich sei jetzt ihr Mann, er werde mir helfen und dann würde „alles gut“ werden. Er sagt, ich müsse dem Sawchos Kurban nun bei allem helfen: Leute schlagen und ****** [vergewaltigen], wenn nötig. Ich habe keine andere Wahl, als ihm zu gehorchen. Das war im Juni 2018.
Als ich Besuch von meinem Anwalt Schamil [Meshijew] bekomme, ruft man mich ins Lagerbüro und will wissen, warum ein Anwalt zu mir gekommen ist und was ich ihm sagen würde. Ich antworte, er sei nur wegen meiner Strafsache gekommen. Dann muss ich versprechen, dass ich nichts über das Lager sagen werde, nur dass alles gut sei und es mir gut gehe. Nur so kann ich mit meinem Anwalt sprechen, die Gespräche werden aufgezeichnet.
Dann bringt uns Roma Nowikow einen Typen aus Block fünf, besser gesagt zwei: einen Tadshiken und einen Armenier. Die beiden haben sich über irgendwas gestritten und eine Schlägerei angefangen. Sie bringen den Armenier in die Kompaniekammer, dort warten wir schon: ich, Bolschoi, Bely und der Sawchos Kurban. Er muss sich auf den Stuhl setzen, wir stehen dahinter. Der Sawchos befragt ihn zu der Schlägerei, das Gespräch dauert etwa fünf Minuten. Dann gibt uns Kurban ein Zeichen mit dem Blick, wir werfen ihn zu Boden, fesseln seine Hände und Füße, Bely setzt sich auf seinen Rücken, biegt die gefesselten Arme zurück und zieht ihm die Hose runter. Ich trete auf das Seil, mit dem die Füße zusammengebunden sind, Bolschoi schlägt ihm mit dem Knüppel auf die Fußsohlen, erst auf die eine, dann die andere und prügelt ihm den ganzen Hintern weich. Es wird laute Musik aufgedreht, da kommt Roma Nowikow, setzt sich hin und raucht eine, während wir den anderen schlagen. Ich versuche es ein paar Mal, aber ich verfehle die Fußsohlen. Also wechseln sich die beiden anderen ab, ich halte ihn nur fest, weil er schreit und nach seiner Mutter ruft. Dann kommt der Ober-Sawchos rein – sowas wie der Lager-Boss, er heißt Tocha – und schlägt ihm auf den Brustkorb, dahin, wo die Lunge ist. Der Armenier weint, fleht unter Tränen um Gnade, sagt, er habe alles verstanden. Als er danach aufsteht, ist sein Hintern riesig. Er war auch schon als er die Hose auszog lila und dreimal so groß wie normal gewesen, auch die Fußsohlen waren bereits geschwollen. Drei Tage danach kann der Armenier immer noch nicht laufen, er bekommt Bettruhe verordnet: Seine Füße schwellen immer weiter an, unter der Haut sammelt sich Wasser.
Wie aus Iwan Fomins Brief hervorgeht, erliegt der armenische Verurteilte später den Folgen der Schläge.
Im Juli 2018 berichtet die Novaya Gazeta vom Tod des 33-jährigen Gor Owakimjan, der in der Kolonie IK-6 in Melechowo seine Haftstrafe verbüßte. In den Unterlagen heißt es, er sei im Krankenhaus an einer doppelseitigen Lungenentzündung gestorben, aber die Familie des Opfers behauptet, auf seinem Körper seien Folterspuren zu sehen gewesen. Der Regionalsender Zebra TV berichtet, gegen die Gefängnisärzte werde wegen fahrlässiger Tötung aufgrund von unterlassener Hilfeleistung ermittelt (Absatz 2 Artikel 109 StGB).
Ich kann nicht mehr dort bleiben, aber ich weiß nicht, wie ich weglaufen soll, die ganze Zeit zerbreche ich mir den Kopf darüber, wie ich da rauskomme. Ich stehe unter Dauerüberwachung, zum Münztelefon begleitet mich ein Dnewalny, in seiner Anwesenheit kann ich nicht sprechen.
Eines Tages werde ich zum Lagerleiter Roman Saakowitsch Saakjan gerufen. Ich setze mich ihm gegenüber, er sagt: „Erzähl.“ Ich erzähle sehr viel, auch, wie wir den Armenier umgebracht haben. Er sagt: „Ich weiß. Du hast uns, der Gefängnisleitung, sehr geholfen. Und dem FSB.“ „Und jetzt“, sagt er dann, „schreib eine Erklärung, dass du auf einen Rechtsanwalt verzichtest, ich habe einen Anruf bekommen, dass man dich in drei, vier Tagen abholen kommt. Du stehst unter meinem persönlichen Schutz. Wegen Artikel 205 brauchst du dir keine Sorgen zu machen, das garantiere ich dir.“
Ich sagte: „***** nochmal, Roman Saakowitsch, ich werde keine Verzichtserklärung schreiben.“ Er: „Du bist ja bekloppt! Hast du nicht zugehört? Ich sage, wir setzten uns hin und besprechen hier, warum man dich angelogen hat.“ Ich antworte: „Verstehen Sie doch, ich will nicht in Haft sein, außerdem gibt es bei Artikel 205 sowieso keine vorzeitige Entlassung.“ Und er: „Du bist wirklich bekloppt! Schreib das jetzt auf. Um deinetwillen. Weißt du denn nicht, wer ich bin?“. Ich sage, ich hätte davon gehört. Er: „Gegen mich werden laufend Beschwerden geschrieben, aber das ist mir ***** [egal]. Ich habe keine Angst, ich hab breite Schultern.“ Und dann: „Hör mir mal zu, mein Guter, du könntest uns verlorengehen in diesem unermesslich großen Land.“ Ich versuche es noch einmal: „Lassen Sie mich ihn [den Anwalt] wenigstens sehen.“ Er daraufhin: „Denk lieber an die Sicherheit deiner Verwandten.“
An jenem Tag bekommt Iwan Fomin seinen Anwalt Schamil Meshijew nicht mehr zu sehen, aber die Verzichtserklärung unterschreibt er nicht. Fomin will sich gegen die Terrorismus-Vorwürfe wehren, genau aus diesem Grund habe er sich an Mediazona gewandt, sagt sein Anwalt Meshijew. Derzeit befindet sich Fomin im Untersuchungsgefängnis Nr. 3 der Stadt Serpuchow. Seinen Fall hat die Leitung des Ermittlungskomitees Naro-Fominsk übernommen.
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