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„,Protestiert gegen die Diktatur‘ schrieben wir auf Zettel“
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Feldschery – die Dorfdoktorinnen
Bei Geburten und Todesfällen, medizinischen Notfällen oder etwa auch zur Impfung gegen das Coronavirus werden sie gerufen: Feldscherinnen wie Gulgena, Alfira und Nursilja. Feldscher – das deutsche Lehnwort und auch das Berufsbild stammen aus dem Militär. Im Russischen meint feldscher allerdings eine zivile, ausgebildete – nicht studierte – medizinische Fachkraft, die Diagnosen stellt, Patienten behandelt und nur notfalls an einen Facharzt überweist. Die feldschery sind quasi die Dorfdoktoren und ersetzen diese gerade in weitläufigen, dünn besiedelten Gegenden – wie dem Rajon Archangelsk in Baschkirien. Dort hat die Dokumentarfotografin Natalja Madiljan sechs von ihnen für Republic mit der Kamera begleitet.
Morgens um 5.30 Uhr aufstehen. Bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit macht, muss die Feldscherin Gulgena Chissmatullina noch die Kühe melken und die Milch verarbeiten: Quark, Sahne und Butter macht sie selbst. Um acht Uhr morgens verlässt sie das Haus, um auf dem Weg zum Gesundheitszentrum noch bei zwei Familien vorbeizuschauen. Im Gepäck hat sie ein Dreiliterglas Milch und Hammelfleisch aus der eigenen Wirtschaft – Sadaqa, eine muslimische Gabe der Barmherzigkeit für eine junge Familie, die kürzlich ein neues Haus bezogen und ein eigenständiges Leben begonnen hat.Feldscherin Gulgena Chissmatullina
Gulgena arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Feldscherin. Sie leitet das Gesundheits- und Geburtshilfezentrum von Arch-Latyschi, das zwei Dörfer versorgt: Maxim Gorki und Gorny. Die Feldscherin empfängt in dem Zentrum Patienten, fährt zu Notfällen und kommt zur Pflege von Kindern und schwangeren Frauen ins Haus. In Gorki gibt es eine große Schule und ein Wohnheim der Veteranen – auch das fällt in die Zuständigkeit der Feldscherin. Insgesamt kümmert sich Gulgena um 1250 Menschen.
Pro Tag kommen 10 bis 15 Patienten in das Gesundheitszentrum. Am Morgen findet die medizinische Pflichtuntersuchung für Fahrer der Dorfverwaltung, Fahrer von Schulbussen und Landmaschinen statt. Die Zahl der Patienten im Dorf ändert sich mit den Jahreszeiten: Im Mai hat niemand Zeit zum Kranksein – man ist mit Aussaat und Gartenarbeit beschäftigt. Im Winter geht‘s.
Die Feldscherin hier auf dem Land kennt längst alle ihre Patienten: Geburten, Todesfälle, Krankheiten, Freud und Leid, alles läuft über den Dorfdoktor.
„Sie erzählen uns alles, und manchmal verstehen wir gut, warum ein Mensch genau jetzt krank geworden ist, welche Probleme und welchen Stress er durchmacht. Dann muss man auch Psychologin sein“, sagt Gulgena.Jede Feldscherin hat ihre eigenen Strategien zur Erholung nach der Arbeit – Gulgena macht Gymnastik, versucht, viel spazieren zu gehen und besucht die Moschee.
Feldscherin Alfira Nugamanowa
Eine Feldscherin auf dem Land hat keinen freien Tag, ihre Tasche ist immer gepackt: „Wir sind jederzeit startklar. Wenn man uns ruft, kommen wir und helfen.“ Die Feldscherin Alfira Nugamanowa lebt und arbeitet im Dorf Kisgi. Ein unfassbar malerischer, entlegener Ort im Vorland des Ural, an einer Biegung des Flusses Inser. Das Gesundheitszentrum von Kisgi ist ein Holzhaus mit Ofenheizung. Es ist zur Gänze Aufgabe der Feldscherin, zu putzen und den Hof in Schuss zu halten, sie muss ohne Hilfe auskommen.
Alfira ist schon seit über 40 Jahren Feldscherin. Sie hat zwei erwachsene Söhne und Enkelkinder, die alle in Neftekamsk wohnen. Während des muslimischen Fastenmonats Ramadan nimmt sich Alfira Urlaub: In ihrem Alter ist es schon zu anstrengend, gleichzeitig zu fasten und zu arbeiten. Doch einen Teil der Arbeit muss sie auch im Urlaub machen – derzeit laufen die Impfungen gegen Covid, und auch Erste Hilfe müssen die Dorfbewohner immer bekommen können. Während der Vorbereitungen zum Zuckerfest in der Moschee kommt ein Mann zur Feldscherin, um seinen verletzten Finger zu untersuchen und verbinden zu lassen.
An einem normalen Arbeitstag ist eine Feldscherin bis zum Mittag im Gesundheitszentrum und nachmittags bei Noteinsätzen und Hausbesuchen. Eigentlich hat sie keine festen Arbeitszeiten: Morgens wie abends kommen Patienten, um ihre Spritzen zu kriegen, und es gibt nächtliche Notrufe. Die Telefonnummer der Feldscherin steht auf der Liste mit den wichtigsten Nummern. Insofern ist Dorfdoktor nicht nur ein Beruf, sondern Berufung.
„Wenn du siehst, dass ein Mensch, der oft bei dir war, krank ist und im Sterben liegt – natürlich ist das schwer. Oder ein Patient hat einen Infarkt und kriecht vor Schmerzen auf dem Boden, aber der Rettungswagen kommt nicht. Und selber kannst du ihn nicht fahren, weil er nicht transportfähig ist. Du musst ihm also das leben retten: Dann lebt er weiter und freut sich, und du freust dich auch.“
Feldscherin Natalja Shaworonkowa
Natalja Shaworonkowa hält im Gesundheitszentrum von Krasny Silim die perfekte Ordnung. Sanitäterin hat sie keine, eine Putzfrau auch nicht, also lastet die Aufrechterhaltung der Ordnung genau wie die Behandlung der Patienten auf den Schultern der Feldscherin.
Natalja wurde in der Oblast Uljanowsk geboren und kam nach Baschkirien, als sie einen jungen Mann aus dem Dorf Silim heiratete. Dort begann sie 1983 ihre Tätigkeit als Feldscherin.Das Versorgungszentrum von Krasny Silim ist für drei weitere Dörfer zuständig: Magasch, Kusnezowka und Lukinsk. Um 7.30 Uhr verlässt Natalja das Haus, um vor Beginn ihres Arbeitstages die Fahrer zu untersuchen. „Bis acht Uhr abends versorge ich Notfälle, aber wenn jemand später kommt, kann ich ihn auch nicht wegschicken“, sagt Natalja. Zu Notfällen geht die Feldscherin zu Fuß.
Die Arbeit einer Feldscherin auf dem Land besteht nicht nur in Erster Hilfe und Hauskrankenpflege. Im Sommer muss das Gras gemäht werden, im Winter der Schnee geschaufelt, und auch die Raumpflege ist Pflicht der Feldscherin und der Sanitäterin, sofern es eine gibt. In manchen Gesundheitszentren wird mit einem Ofen geheizt und es gibt keine Wasserleitung.
Feldscherin Nursilja Chairetdinowa
Die Feldscherin Nursilja, die das Versorgungszentrum von Terekly leitet, wurde im benachbarten Asow geboren, hat 1985 die Medizinische Fachschule von Belorezk abgeschlossen und als Medizinerin in Ufa und in der Oblast Tscheljabinsk gearbeitet. Als sie einen Mann aus Terekly heiratete, begann sie hier ihre Tätigkeit als Feldscherin – zuerst ab 2003 im Nachbardorf Kurgasch und ab 2010 in Terekly.
Nursilja hat fünf Kinder – drei Söhne und zwei Töchter. Die älteren Kinder studieren in Ufa, der mittlere Sohn dient in der Armee, und die jüngeren wohnen noch bei den Eltern und gehen zur Schule.Nursiljas Tag beginnt wie bei vielen Feldscherinnen um sechs Uhr – sie muss die Kühe melken, die morgendlichen Aufgaben im Haushalt erledigen, dann bringt sie die Kinder zur Schule und fährt selbst zur Arbeit. Auf dem Weg zum Gesundheits- und Geburtshilfezentrum schaut sie bei alten Frauen rein, die ihre Spritzen brauchen, und am Abend kommen Mütter mit Kindern zur Behandlung zu ihr nach Hause. Auch Notrufe gibt es: „Außerhalb der Arbeitszeit fährt eigentlich nur der Krankenwagen, aber manchmal kommen sie her, bringen einen Patienten, oder man läuft eben hin. Und wenn‘s durch den Fluss geht, dann eben in Watstiefeln“, erzählt Nursilja.
Ein typisches Gesundheits- und Geburtshilfezentrum – das sind mehrere Räume in einem Verwaltungsgebäude, in dem oft auch die Regionalverwaltung untergebracht ist oder die Post, eine Bibliothek, ein Museum oder ein Kindergarten. Manchmal ist es ein frei stehendes Gebäude, dann ist es meistens aus Holz und renovierungsbedürftig. Die Toilette ist immer draußen, bisweilen in katastrophalem Zustand. Wenn der Zustand des Gebäudes zu erbärmlich ist, dann empfängt die Feldscherin ihre Patienten bei sich zu Hause, auch das kommt vor.
Hier in der Region läuft wie überall in Russland ein Programm, in dessen Rahmen in den Dörfern neue Versorgungszentren in Fertigbaucontainern eingerichtet werden. In der Region Archangelsk sind es zwei.Feldscherinnen Saituna Mussina und Ramsija Bikbulatowa
Das Gesundheitszentrum im Dorf Absanowo ist ein Holzhaus, schon das dritte seit Dienstantritt der beiden Feldscherinnen: Saituna Mussina, die das Zentrum leitet, und die Hebamme Ramsija Bikbulatowa. Beide sind seit 42 Jahren im Dienst. Das Einzugsgebiet umfasst 850 Menschen, im Sommer werden es mehr, denn dann kommen die Datschenbesitzer.
Fast alle „Mädels“ betätigen sich neben ihren medizinischen Aufgaben und der Hausarbeit auch noch kreativ – viele singen in Folklore-Ensembles, helfen in der Moschee, engagieren sich ehrenamtlich und bemühen sich, auch für sich selbst Zeit zu finden. Alle haben eine Landwirtschaft und machen selber Butter, Sahne und Quark und helfen auch noch anderen. Fast sieht es so aus, als hätte der Tag einer Feldscherin doppelt so viele Stunden wie der anderer Menschen.
Die durchschnittliche Dienstzeit einer Feldscherin beträgt 35 Jahre. Die Feldscherinnen witzeln: Unser jüngstes Mädel ist 45, aber das sind Einzelfälle, die meisten von uns sind über 55. In Russland läuft seit 2018 das Programm Feldscherin auf dem Land, bei dem Mediziner, die aufs Land ziehen, 500.000 Rubel [knapp 5800 Euro – dek] und eine Reihe von Vergünstigungen erhalten. Allerdings wird die Umsetzung dieses scheinbar attraktiven staatlichen Projekts deutlich durch die Schwierigkeiten behindert, mit denen die Neuankömmlinge konfrontiert sind.
„Mit zunehmendem Alter begann ich zu verstehen, dass man den Menschen mehr Gutes tun muss, und danach lebe ich jetzt. Wenn einer kommt, während ich Feierabend oder Urlaub habe, verweigere ich nie meine Hilfe. Ich freue mich, wenn Kinder zur Welt kommen, wenn Frauen schwanger werden, wenn jemand zu trinken aufhört. Den Menschen Gutes tun und Liebe schenken – ich bin stolz darauf, in einem Heilberuf tätig zu sein. Ich bin weder reich noch arm, aber ich lebe und freue mich über jeden neuen Tag“, sagt Gulgena Chissmatullina.
Text und Fotos: Natalja Madiljan
Original veröffentlicht am 20.07.2021 auf Republic
Übersetzung: Ruth Altenhofer
veröffentlicht am 13.08.2021
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HIV-Epidemie in Jekaterinburg?
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Am Ende eines Sommers
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Der Fall Timanowskaja: Wie man einen internationalen Skandal baut
„Ich wurde unter Druck gesetzt, man versucht, mich gegen meinen Willen außer Landes zu bringen.“ Mit diesen Worten wandte sich die belarussische Leichtathletin Kristina Timanowskaja am Sonntag aus Tokio an das Internationale Olympische Komitee.
Das Belarussische Olympische Komitee hatte zuvor den Abzug der Sportlerin von den Olympischen Spielen erklärt und dies offiziell mit ihrer „emotional-psychischen Verfassung“ begründet. Kritiker sehen den tatsächlichen Grund allerdings in Aussagen Timanowskajas, die sie zwei Tage zuvor auf ihrer Instagram-Seite gemacht hatte: Dort hatte sie sich darüber empört, dass sie nun kurzfristig und unabgesprochen in einer weiteren Disziplin (4-mal-400-Meter-Staffel) antreten müsse – anstelle ihrer Kolleginnen, die nicht an den Spielen teilnehmen konnten, weil Sportfunktionäre bei den Dopingtests geschlampt hätten.
Timanowskaja musste am Sonntag letztlich nicht nach Belarus ausreisen, wo sie nach eigenen Angaben womöglich Repressionen erwartet hätten. Kurz nach dem Vorfall am Flughafen von Tokio veröffentlichte der Telegram-Kanal Nik i Maik den mutmaßlichen Mitschnitt eines Gespräches, in dem Nationaltrainer Juri Moissewitsch und ein weiter Sportfunktionär Timanowskaja die Ausreise nahelegen und auch, in der Angelegenheit von nun an zu schweigen. Dimitri Nawoscha, Gründer des Sportportals sports.ru, spricht von einem „epochalen Dokument“: „Eine Mischung aus Lügen, direkten Drohungen, Victimblaming (,Du zerstörst das Schicksal anderer Menschen‘), Überredungen (,Mach es fürs Team!‘) – ein Dogmen-Mix aus Orthodoxie und Komsomol.“
Der im Juni nach Kiew geflohene politische Analyst Artyom Shraibman kommentiert den Vorfall um Timanowskaja auf seinem Telegram-Kanal und sieht darin seine bereits mehrfach geäußerte These über den Machtapparat Lukaschenkos bestätigt: „Das System verliert an Kompetenz und macht einen Fehler nach dem anderen.“
Der Fall der Athletin Timanowskaja demonstriert höchst anschaulich, wie ein bürokratisches System – das sich im vergangenen Jahr jegliche Selbstkontrolle abgewöhnt und innere Checks and Balances sowie die Reste von Kritikfähigkeit aufgegeben hat – wie dieses System aus einer völlig unbedeutenden Episode einen internationalen Skandal macht.
Ausländische Journalisten fragen oft: Warum musste man denn gleich Sanktionen provozieren, um Protassewitsch festzunehmen? Warum musste man sich ausgerechnet 80 Prozent [der Wählerstimmen – dek] andichten vor einem Jahr?
Doch dafür gibt es keinen Grund. Das System funktioniert nicht so, dass es bei der Entscheidungsfindung alle Risiken abwägt. Die Anreize sind hier anders gelagert: Um jeden Preis gilt es, das zu löschen, was den Zorn des Ersten [Mannes im Staate – dek] entflammen könnte. Und wenn der Zorn entbrannt ist, dann muss er mit doppeltem Einsatz gelöscht werden.
Ich bin ziemlich sicher, dass sich alles wie folgt entwickelt hat: Timanowskaja veröffentlicht ein Video mit Kritik an den Sportfunktionären, die die Dopingtests von anderen Athletinnen vergeigt haben und nun Timanowskaja zwingen, an deren Stelle zu laufen. Telegram-Kanäle greifen das Video auf.
Wenn Lukaschenkos Zorn entbrannt ist, dann muss er mit doppeltem Einsatz gelöscht werden
Das Fernsehen läuft in dem Modus: Auf alles eindreschen, was Telegram-Kanäle aufgreifen. Im Endeffekt ist Timanowskaja nun die Anti-Heldin aller Nachrichtensendungen im Staatsfernsehen. Lukaschenko schaut Fernsehen und ist wütend: Wir haben ihr doch alles gegeben, haben sie auf unsere Kosten trainiert, und sie zieht da ihre Show ab und postet solche Sachen. Lukaschenko greift zum Hörer und fordert, Timanowskaja von den Spielen abzuziehen und sie mit dem nächsten Flugzeug nach Hause zu schicken.
Die Sportfunktionäre beeilen sich, die Weisung auszuführen, aber es sickern schon Informationen durch. Also denken sie sich eine Version aus über eine ärztliche Untersuchung und eine instabile Gefühlslage der Läuferin [als offizielle Erklärung des Rückzugs von den Spielen – dek]. Die Läuferin bestreitet aber, dass sie überhaupt untersucht worden sei. Internationale Medien greifen die Geschichte auf und machen daraus einen Skandal, der durchaus zum Ausschluss von Belarus aus dem IOC oder anderen Sanktionen im Sportbereich führen kann.
Ich wette – sollte es so kommen – dann wird im nächsten Stadium von einer geplanten Provokation und einer im Voraus gekauften Timanowskaja die Rede sein. Sie hat ja auch einen verdächtigen Nachnamen [ähnlich zu dem von Swetlana Tichanowskaja – dek]. Und alles im Rahmen eines hybriden Kriegs, nach dem gescheiterten Blitzkrieg. Alles, damit die Region Grodno an Polen fällt. Oder ist es jetzt die Region Gomel an Japan?
Aber im Ernst: Bei dieser Geschichte geht es nicht nur um die Mechanismen, wie unser Staat funktioniert, sondern auch um dessen Reputation. Hätten Sportfunktionäre irgendeines anderen Landes als Belarus – und vielleicht abgesehen von Nordkorea – beschlossen, einen Sportler zum Flughafen zu bringen, der wegen einer Meinungsverschiedenheit mit seinen Vorgesetzten von den Spielen abgezogen wurde, hätte dem niemand Beachtung geschenkt. Aber in unserem Fall ist selbst im fernen Japan jedem klar, was Timanowskaja im Vorzeigeland der europäischen Sicherheit droht.
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„Die Belarussen sind wirklich aufgewacht!“
Bystro #23: Hat der Protest Belarus bereits verändert?
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Mediamasterskaja #2: „Allein die Wahrheit zu sagen, ist politisch“
Was macht es mit dem Journalismus, wenn der Staat immer schärfer gegen unabhängige Medien vorgeht? In der zweiten Folge des Mediamasterskaja-Podcast diskutieren der russische Journalist Maxim Trudoljubow und sein belarussischer Kollege Alexander Klaskowski diese Frage.
In Russland wie Belarus geraten unabhängige Medien derzeit unter immer stärkeren Druck – wenn auch unter unterschiedlichen Vorzeichen. In Russland haben nach den Solidaritätsprotesten für Alexej Nawalny im Januar/Februar 2021 und vor der Dumawahl im September die Maßnahmen gegen unabhängige Medien und Journalisten dramatisch zugenommen: Erst am vergangenen Freitag haben Behörden das Investigativmedium The Insider zum sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt. Zuvor waren der Chefredakteur und weitere Redakteure des Onlinemagazin Projekt ebenfalls auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt worden. Genauso wie das Onlinemagazin VTimes und das reichweitenstarke unabhängige Portal Meduza.
Gegen Journalisten anderer unabhängiger Medien wurden mitunter Strafverfahren eingeleitet, etwa gegen vier Redakteure des Studierendenmagazins Doxa – sie hatten zu Solidaritätsprotesten für Nawalny aufgerufen, die Staatsanwaltschaft wertet das als „Aufruf an Minderjährige, an rechtswidrigen Handlungen und illegalen Demonstrationen“ teilzunehmen.Die Situation in Belarus ist noch zugespitzter als in Russland: Die belarussischen Machthaber gehen seit mehr als einem Jahr gezielt gegen unabhängige Medien und Journalisten vor. Auch in den vergangenen zwei Wochen hat es in ganz Belarus wieder Durchsuchungen gegeben, sowie zahlreiche Festnahmen. 27 Journalisten befinden sich derzeit noch in Haft oder unter Hausarrest. Viele Medienschaffende haben das Land bereits verlassen, weil es nahezu unmöglich geworden ist, in Belarus seiner Arbeit nachzugehen. Es ist zu befürchten, dass Alexander Lukaschenko die Strukturen des unabhängigen Journalismus vollständig zerschlagen will.
In unserer Podcast-Reihe Mediamasterkaja (dt. Medienwerkstatt) begleiten wir Medienprozesse in Russland und Belarus kritisch und erörtern sie mit unterschiedlichen Akteuren. In der ersten Folge diskutieren die belarussische Philosophin Olga Shparaga und die Gender-Forscherin Lena Ogorelyschewa, inwieweit die Rolle der Frauen bei den Protesten auch die belarussische Medienwelt geprägt hat.
In der zweiten Folge fragen wir den russischen Journalisten Maxim Trudoljubow und seinen belarussischen Kollegen Alexander Klaskowski, inwiefern der starke Druck auf Medien den unabhängigen Journalismus in beiden Ländern beeinflusst. Wir bringen einige Auszüge aus dem russischsprachigen Podcast in deutscher Übersetzung.
Alexander Klaskowski: Ich bin Alexander Klaskowski und arbeite bei der Nachrichtenagentur BelaPAN. Das ist eine unabhängige Nachrichtenagentur, was für Belarus untypisch ist, weil man den nichtstaatlichen Medien bei uns, offen gesagt, bereits den Todesstoß versetzt. Bei BelaPAN leite ich die analytischen Projekte, außerdem gelte ich als Medienexperte. Seinerzeit habe ich an der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Vilnius unterrichtet und Workshops unter der Schirmherrschaft des Belarussischen Journalistenverbands geleitet. Manchmal gebe ich Kommentare zu Themen, die mit Medien zusammenhängen.
Maxim Trudoljubow: Mein Name ist Maxim Trudoljubow. Ich habe viele Jahre für die Zeitung Vedomosti gearbeitet. Das ist ein Wirtschaftsblatt, das wir 1999 gegründet haben. Vor ein paar Jahren habe ich wegen des Gesetzes, das im Wesentlichen ausländischen Verlegern und Konzernen verbietet, Eigentümer von Medienunternehmen in Russland zu sein, dort gekündigt. Ich habe für ausländische Verlage, unter anderem für die New York Times, geschrieben. Später fing ich an, mit Meduza zusammenzuarbeiten, wo ich seit über einem Jahr das Projekt Idei [dt. Ideen] leite. Als Redakteur des Projekts The Russia File arbeite ich außerdem mit dem amerikanischen Kennan Institute zusammen.
Einerseits ist der Bereich der unabhängigen Medien in Russland ziemlich aktiv und entwickelt sich selbst heute noch weiter, aber er ist nicht sehr groß. Unabhängige Medien überleben zum Großteil dank privater Spenden, das gilt auch für das unabhängige Onlinemedium Meduza, mit dem ich zusammenarbeite. Als Meduza zum sogenannten ausländischen Agenten erklärt wurde, war das ein harter Schlag für das Budget [Meduza waren damit unter anderem wichtige russische Werbekunden weggebrochen – dek]. Die Verleger haben darüber nachgedacht, die Zeitung zuzumachen, aber dann gingen sie das Risiko ein und veranstalteten eine Spendenkampagne. Kurzum, bislang konnte das Medium überleben.
Mediamasterskaja: Unser heutiges Thema ist Objektivität im Journalismus, die nächste Frage richtet sich vermutlich vor allem an Alexander: Alexander, wie ist Ihre Einschätzung, kann der Journalismus unter den derzeit gegebenen Umständen in Belarus objektiv bleiben?
Alexander: Wenn ich mir einen Schlenker in die Theorie erlauben darf: Ich denke, Objektivität im Journalismus ist ein Mythos. Ich will jetzt nicht zu sehr in die Tiefe gehen, aber völlig objektiven Journalismus gibt es nicht. Außerdem gibt es sehr unterschiedlichen Journalismus. Es gibt einen Journalismus der Fakten und einen Journalismus der Meinungen. Wenn wir von einem Reporter sprechen, dann ja, aber er sollte meiner Meinung nach weniger objektiv, sondern vor allem unvoreingenommen sein. Also keine Fakten verschweigen, nichts verfälschen und so weiter. Das ist eine etwas anders gelagerte Forderung. Ein Reporter sollte sich also bemühen, unvoreingenommen zu sein. Meinetwegen, objektiv zu sein. Einigen wir uns auf diesen Begriff.
Wenn es sich aber um einen Kolumnisten handelt, dann versteht es sich von selbst, dass es lächerlich wäre, von ihm Objektivität zu verlangen. Der Clou seiner Texte ist ja gerade der subjektive Blick, die Meinung eines Menschen, der den Nagel auf den Kopf trifft. Und die Menschen, seine Leser schätzen gerade das – wie er die Dinge wahrnimmt, beurteilt, Prognosen für gesellschaftliche Ereignisse stellt.Was den Einfluss der politischen Situation betrifft: Ja, sie hat einen Einfluss, kurz gesagt, einen negativen, wie man an den belarussischen Medien sieht. Es ist allgemein bekannt, dass Journalisten freiheitsliebende Menschen sind, und wenn man sie in die Ecke treibt … Wenn das Regime sie, umgangssprachlich ausgedrückt, fertigmacht, dann ist klar, dass sie dieses Regime nicht gerade lieben werden. Und das schlägt sich natürlich auch in den Texten nieder.
Ja, die politische Situation hat einen Einfluss, kurz gesagt, einen negativen, wie man an den belarussischen Medien sieht
Ich sehe in einer Reihe von Medien eindeutig expressive Überschriften, die in Hinsicht auf die Regierung klar negativ aufgeladen sind. Obwohl das im Idealfall nicht so sein sollte. Aber Menschen, die Tag für Tag fertiggemacht werden – kurzum, rein menschlich kann ich es verstehen. Der professionelle Anspruch verlangt, dass man sich unbefangen verhält, aber das klappt nicht.
Maxim, verfolgen Sie die Situation in Belarus? Halten Sie es für möglich, unter dem Regime, unter dem Ihre Kollegen gerade arbeiten, unbefangen zu bleiben?
Maxim: Als erstes möchte ich im Namen der russischen Medien unser Mitgefühl und generell unser allgemeines Verständnis ausdrücken. Wir machen uns natürlich große Sorgen wegen all dem, was in Belarus passiert. Ich verfolge es mit, soweit es mir möglich ist.
Ich bin mir nicht sicher, ob man in dieser Situation völlig objektiv bleiben kann. Ich denke auch, dass es psychologisch wirklich schwer ist. Allein schon aufgrund des großen Drucks auf alles, was im weitesten Sinne unabhängig ist: Sei es politischer Aktivismus, Medien oder irgendeine ehrenamtliche Tätigkeit, die nicht unmittelbar vom Staat genehmigt wurde. Im Prinzip ist es in existentieller Hinsicht eine sehr schwierige Situation, deswegen kann man auch keine überragende Objektivität fordern.
Ich bin mir nicht sicher, ob man in dieser Situation völlig objektiv bleiben kann
Zur Objektivität als solcher würde ich gern noch sagen, dass sie in der Form, wie wir sie heute überwiegend aus den westlichen Medien kennen, noch nicht lange existiert. Als die ersten Medien entstanden, die noch nicht so genannt wurden, konnten sie politische Pamphlete oder irgendwelche Blättchen sein – unabhängig und unvoreingenommen waren sie nie. Ganz im Gegenteil. Es waren immer sehr scharfe politische Statements. Und das zog sich über knapp 200, 300 Jahre lang so hin. Erst im 20. Jahrhundert, hauptsächlich nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Mittelstand sehr schnell wuchs und die Wirtschaft sich entwickelte, entstand vor allem in den USA ein großer Markt an Menschen, denen objektive Information wichtig war.
Es ist also eine ziemlich junge Tradition, die erst einige Jahrzehnte besteht. Deswegen lässt sich schwer behaupten, die Objektivität sei eine immanente Eigenschaft von Medien. Objektivität ist eine komplizierte Sache. Es ist eine philosophische Frage, ob es sie überhaupt geben kann. Wir sind alle Menschen mit eigenen Ansichten und Meinungen.
Im Großen und Ganzen lässt sich sagen, dass ich mich der Tradition objektiver Medien verpflichtet fühle und bei dem, was ich mache, versuche, auf Quellen zu verweisen und alle zu Wort kommen zu lassen: Bei einem Konflikt müssen alle Parteien zu Wort kommen, bei einer Story verschiedene Blickwinkel aufgezeigt werden. Geht es um den Staat, wird auch der Blickwinkel des Staates erwähnt, und so weiter. Insgesamt pflegt man also auch in Russland weiterhin diese Arbeitstradition, die schon nach Objektivität strebt. Hauptsächlich in unabhängigen Medien. Auch wenn dieser Sektor sehr klein ist, wird diese Tradition im Großen und Ganzen bewahrt. Und sie wird weiterleben, wie mir scheint.
Liebe Kollegen, wenn Sie vom Journalismus der Fakten und nicht der Meinungen sprechen, könnten Sie vielleicht eine Art Checkliste für Journalisten nennen, wie man objektiv bleibt, unabhängig von der Situation, die gerade entsteht? Wie schafft man es, dass die eigene politische Haltung die „trockenen“ Fakten nicht überwiegt?
Alexander: Banal gesprochen, ist es eine Frage der Professionalität. Wir alle haben irgendwo irgendwas gelernt. Dort wurde uns aus professioneller Sicht erklärt, was Fakten sind, wie man mit ihnen umgeht, dass man sie nicht manipulieren darf und so weiter. Kurzum, es ist einfach wichtig, sich an diese Kriterien zu halten und seine Emotionen davon zu trennen.
Etwas anderes ist es, wenn es – wie im heutigen Belarus – schon eine politische Haltung ist, die Wahrheit zu sagen. Beispielsweise ist das Berichten über die Proteste bereits eine politische Haltung , denn das geht mit Risiko einher.
Im heutigen Belarus ist es schon eine politische Haltung, die Wahrheit zu sagen
Derzeit wird ein Beschluss vorbereitet, demzufolge das gesamte Material von tut.by – eines bereits zerschlagenen und gesperrten Portals, 15 Mitarbeiter sind bereits in Haft – als extremistisch eingestuft werden soll. Das bedeutet zum Beispiel, dass jemand, der vor zehn Jahren einen Artikel von tut.by abgetippt oder verlinkt hat, von heute auf morgen zum Extremisten erklärt werden kann.
Aber ich schweife ab. Worauf ich hinaus will, ist, dass es heute schon ein Risiko darstellt und von politischer Haltung zeugt, einfach nur ehrlich und objektiv zu berichten über das, was passiert, und an Themen zu rühren, die der Regierung nicht passen.
In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass es sehr wichtig ist, den Kontext des Materials professionell darzustellen. Ein konkretes Beispiel ist die Pressekonferenz mit Roman Protassewitsch neulich. Hier kommt die Ethik mit ins Spiel – der Journalist der BBC ist gegangen. Einige westliche Diplomaten sind gegangen, weil sie fanden, dass da ein Gefangener vor laufender Kamera gefoltert werde. Demnach sei es unethisch, überhaupt etwas zu senden. BelaPAN, wo ich arbeite, hat das Material gesendet, wofür uns sowohl einige Kollegen als auch einfach ein politisiertes Publikum auf Facebook attackiert haben.
Es ist sehr wichtig, den Kontext professionell darzustellen
Aber wir haben in unseren Berichten immer den Kontext betont: Wer ist Protassewitsch, wie ist er in diese Pressekonferenz hineingeraten? Wir haben Details wie die Meinung seines Vaters ergänzt, der erklärt, dass er einige Dinge, milde ausgedrückt, nicht aus freien Stücken sagt. Sprich, wir haben die Information gesendet, denn sie zu verschweigen, wenn es doch den Fakt, die Pressekonferenz vor unserer Nase, gibt – das wäre doch unprofessionell.
Maxim: Da stimme ich Alexander zu. Es ist zweifellos eine sehr schwierige Situation, wenn so ein Druck vonseiten des Staates ausgeübt wird. In Russland ist es nicht ganz so schlimm, aber die Situation ist sehr dynamisch, und sie entwickelt sich im Großen und Ganzen in dieselbe Richtung.
Eigentlich hindert merkwürdigerweise die Regierung die Journalisten sehr oft selbst daran, objektiv zu berichten. Indem sie beispielsweise ein Medium zum ausländischen Agenten erklärt, hindert sie es einfach daran, seine Arbeit zu machen. Das ist ja quasi auch ihr Ziel. Das leuchtet ein. Aber das Medium wird weniger objektiv, weil es viel schwieriger wird, Kommentare von Staatsbeamten zu bekommen oder sogar von Wirtschaftsvertretern, die Angst haben, mit den falschen Leuten in Verbindung gebracht zu werden. Im Endeffekt wird die journalistische Arbeit erschwert.
Es wird immer schwieriger professionelle Standards zu befolgen
In dieser Situation war beispielsweise die Zeitung VTimes. Das sind meine Kollegen, die früher bei Vedomosti gearbeitet haben. Nachdem Vedomosti von einem kremlnahen Verleger aufgekauft wurde, hatten sie ihre Unabhängigkeit eingebüßt, die Leute haben gekündigt, angefangen wieder zu arbeiten und „wurden kürzlich zu ausländischen Agenten“. Sie haben zugemacht. Nicht nur, weil sie kein Geld verdienen konnten, sondern weil ihnen bewusst war, dass sie nicht objektiv sein konnten. Das sind alles Menschen, die in der Tradition eines objektiven, faktenbasierten Journalismus stehen, der zwingend voraussetzt, dass man bei jeder Story mit allen Seiten spricht. Deswegen haben sie zugemacht. Diese Standards, diese Regeln zu befolgen, wird immer schwieriger.
Alexander: Genau, ich würde Maxims Gedanken gern noch weiterführen. Rein technisch oder technologisch läuft es folgendermaßen: Wenn in Belarus Webseiten gesperrt oder andere Medien dicht gemacht werden, wandert die journalistische Arbeit, der Content, zu anderen Plattformen. Insbesondere zu Telegram (der beliebtesten Plattform unter diesen Umständen), weil man es nicht nicht einfach dichtmachen kann. Aber auf Telegram herrscht ein ganz anderer Stil. Ein viel schärferer. Und weniger Faktencheck. Ich möchte den Gedanken, den Maxim schon formuliert hat, nochmal betonen: Die Regierung drängt den Journalismus tatsächlich dahin, bei bestimmten Formen schärfer, radikaler zu werden. Sie wollen die professionellen Webseiten nicht haben und bekommen dafür Telegram, was überhaupt keine Diplomatie kennt und grob gesagt, das Regime einfach kurz und klein hackt, es von vorn bis hinten zerlegt.
Die Regierung drängt den Journalismus tatsächlich dahin, bei bestimmten Formen schärfer, radikaler zu werden
Maxim: Ja, die sozialen Medien sind noch ein Thema für sich.
Die Statements in den sozialen Medien, ein aufgenommenes Video, ein Podcast – das alles verlagert den Schwerpunkt auf eine möglichst große Reichweite, auf die Idee, die Fakten dem Publikum – einem großen Publikum – möglichst zugänglich zu präsentieren. Dafür muss vereinfacht werden, müssen Ecken und Kanten abgeschliffen werden, Dinge eher attraktiv und anziehend, statt scharfsinnig und genau dargestellt werden. Die Entwicklung geht, objektiv betrachtet, auf der ganzen Welt in diese Richtung. Bei Weitem nicht nur in Russland oder Belarus.
Aber vor dem Hintergrund der Ereignisse bei uns bekommen wir gewissermaßen eine Verdopplung aller Effekte, weil wir nämlich noch den staatlichen Druck haben, neben dem Marktdruck, der Veränderung des Publikumsgeschmacks, dem Auftauchen neuer Plattformen, die ausgesprochen verlockend sind, auch für Journalisten. Das steht außer Frage. Weil sie nämlich einen sehr schnellen und wirkungsvollen Auftritt bieten. Aber all diese Dinge schaden den ursprünglichen Standards. Deswegen verwischen die Standards, leider.
Alexander: Ich möchte noch Folgendes sagen: Wenn wir mit einer gewissen Skepsis über die Objektivität und andere Standards sprechen, bedeutet das nicht, dass diese nicht wichtig wären. Ich würde folgende Parallele ziehen: Es gibt die Normen der Moral, aber wir befolgen sie nie zu hundert Prozent, ansonsten wären uns allen längst Engelsflügelchen gewachsen. Wir sündigen, wir verstoßen immer gegen irgendwelche Regeln. Aber das bedeutet nicht, dass man die moralischen Normen in die Tonne treten kann. Es existieren trotzdem Begriffe wie „ein anständiger Mensch“ oder ein „niederträchtiger Mensch“, mit dem niemand etwas zu tun haben möchte. Genauso ist es mit dem Journalismus. Du kannst nicht immer zu hundert Prozent den Standards entsprechen, aber das bedeutet nicht, dass du dich nicht darum bemühen solltest.
Soziale Netzwerke, Blogs, Telegram-Kanäle – das alles senkt einerseits die journalistischen Standards. Andererseits könnte man sie doch auch als Quellen glaubwürdiger Information betrachten, gerade vor dem Hintergrund, dass die Redaktionen der unabhängigen Medien schließen und die Menschen trotzdem irgendwoher ihre Information beziehen, Nachrichten lesen müssen. Können die neuen Medien die Redaktionen ersetzen, die uns in den vergangenen 10, 20 Jahren auf dem Laufenden gehalten, Analysen und nicht nur Nachrichten geliefert haben?
Maxim: Qualitativ hochwertige Information wird immer mehr zu einer „Luxusware“. Wirklich gute Qualität kostet. Menschen, für die sie lebenswichtig ist, sind bereit zu zahlen. Menschen, für die sie nicht wichtig ist, werden nie dafür zahlen. Und dann gibt es noch die Menschen, die aus Prinzip sagen, sie würden nie für Inhalte aus dem Internet zahlen. In diesem Bereich ist es wirklich die persönliche Entscheidung eines jeden einzelnen.
Du kannst nicht immer zu hundert Prozent den Standards entsprechen, aber das bedeutet nicht, dass du dich nicht darum bemühen solltest
In der modernen Welt, wo es keine großen Zeitungen mehr gibt, naja, es gibt sie natürlich schon, aber ihr Einfluss ist nicht vergleichbar mit dem von früher. Nirgendwo. Nicht nur in Russland. Nicht nur in Belarus. Das ist überall so. Die Welt ist sozusagen in Stückchen zerfallen und jeder entscheidet selbst, wie er leben möchte, wie er mit Information umgehen möchte.
Jemand, der den Wert von Information und von einer qualitativ hochwertigen Analyse kennt, wird dafür bezahlen. Ich habe aber den Verdacht, dass die meisten es nicht tun werden. Im Endeffekt finden sich die Menschen umgeben von qualitativ immer schlechterer Information wieder, immer weiter von der Welt der Fakten entfernt, in der wir mehr oder weniger existieren. Und dann wundern wir uns noch, warum sich Menschen beispielsweise nicht impfen lassen wollen. Warum sie irgendwelche komischen Geschichten, Verschwörungstheorien und so weiter glauben.
Jemand, der den Wert von Information und von einer qualitativ hochwertigen Analyse kennt, wird dafür bezahlen
So ist die moderne Welt. In ihr gibt es zum einen harte Fakten und Analysen, Information von höchster Qualität, die nur wenigen zugänglich sind. Und dann geht es immer weiter nach unten. Außerdem gibt es noch die Propaganda, die auf Hochtouren läuft. Ganz unterschiedliche Propaganda. Nicht nur bei uns im Land, das ist eine sehr verbreitete Erscheinung auf der ganzen Welt.
Das Bild, das wir bekommen: Von der höchsten bis zur niedrigsten Qualität gibt es alles in ein und derselben Welt, in ein und derselben Stadt, bis ins Private hinein. Einer konsumiert das eine, der andere das andere. Kurzum, jeder entscheidet für sich selbst.
Alexander: Ich möchte sagen, dass ich ein Anhänger des klassischen professionellen Journalismus bin und überzeugt, dass er unersetzlich ist. Und zwar nicht aus beruflichen Ambitionen oder Stolz, sondern aufgrund dessen, was ich beispielsweise bei der Arbeit sehe.
Ich ergreife nochmal die Gelegenheit für die Nachrichtenagentur BelaPAN zu werben. Kollegen aus anderen Häusern haben in den letzten Jahren angefangen, von einer Monetarisierung des Contents zu sprechen. Darüber können wir nur lachen, weil wir vom ersten Tag an Information verkaufen – wir leben davon. Andere Medien hatten uns abonniert, solange es sie in Belarus noch gab, jetzt sind es vor allem ausländische Botschaften. Wenn ich mit den Diplomaten spreche, sagen sie: „BelaPAN – das ist verifizierte Information, das schätzen wir, und dafür zahlen wir.“ Es gibt also Blogger wie Sand am Meer, aber sie entscheiden sich für BelaPAN, weil ihnen diese Blogger gestohlen bleiben können.
Ich bin ein Anhänger des klassischen professionellen Journalismus und überzeugt, dass er unersetzlich ist
Ich breche es natürlich etwas herunter, weil es eine Reihe von Bloggern gibt, die eigentlich professionelle Journalisten sind, aber das Leben zwingt sie einfach dazu, sich als Blogger „auszugeben“, bei Telegram oder in sozialen Netzwerken zu veröffentlichen. Aber dort produzieren sie exakt dasselbe, was sie gewohnt sind und gelernt haben zu produzieren.
Für manche ist das sicher zugänglicher und es imponiert ihnen mehr, wie Maxim schon sagte. Aber ich sehe auch, dass eigenverantwortliche, selbstständige Menschen, die es gewohnt sind, die Wirklichkeit kritisch zu durchdringen und selbst Entscheidungen zu treffen – dass sie zu den klassischen Medien tendieren, oder zu Bloggern, die in Wirklichkeit professionelle Journalisten sind.
Lassen Sie uns ein Jahr nach vorn springen und uns vorstellen, was mit dem belarussischen und dem russischen Journalismus sein wird, wenn man die Krisen berücksichtigt, die sie gerade durchleben. Lassen sich Prognosen machen? Und wenn ja, welche?
Alexander: Was Belarus betrifft, sind die Prognosen leider nicht sehr erfreulich. Denn die Repressionen dauern an, die Gerichtsprozesse dauern an, knapp 30 Journalisten befinden sich gerade in Haft.
Vieles hängt von der Entwicklung der politischen Lage ab. Wenn die Regierung doch noch versucht, mit der EU und Washington das Gespräch zu suchen, wird es vielleicht ein kleines bisschen leichter, obwohl mit einer Liberalisierung natürlich nicht zu rechnen ist. Deswegen werden die Medien – ich rede von den unabhängigen Medien (den staatlichen Journalismus klammere ich gleich aus, denn ich würde ihn nicht als Journalismus bezeichnen, es ist die reinste Propaganda, die immer tiefer sinkt, sodass sie überhaupt nicht mehr Gegenstand einer professionellen Diskussion sein kann), also die nichtstaatlichen Medien, die noch da sind, werden vermutlich auf andere Plattformen ausweichen, sprich, lernen in diesem aggressiven, hochaggressiven Umfeld zu überleben, irgendwelche neuen Kanäle zur Informationsvermittlung erfinden, weil das in der Gesellschaft gefragt ist.
Die nichtstaatlichen Medien, die noch da sind, werden vermutlich auf andere Plattformen ausweichen, sprich, lernen in diesem hochaggressiven Umfeld zu überleben
Die Belarussen haben bewiesen, dass sie eine, wenn auch noch nicht gänzlich so doch zunehmend politische Nation sind. Und Bürger brauchen keine Propaganda, sondern professionelle, durchdachte, vielseitige Information. Das ist gefragt, und deswegen werden die belarussischen Medien weiterarbeiten, wenn auch in einer etwas partisanischen Form.
Positive Aussichten sind nur bei einem Regimewechsel denkbar, bei einem Wandel des gegenwärtigen Systems, das sich mittlerweile schlicht in einen Polizeistaat verwandelt hat.
Alexander, was denken Sie, wenn wir die positiven politischen Szenarien annehmen – wird tut.by in irgendeiner Form wieder zum Leben erwachen?
Alexander: Die Regierung tut gerade alles, um die Plattform zu vernichten, sie verpassen ihr gerade den Todesstoß. Deswegen wird die Regierung erstmal versuchen tut.by vollends zu erwürgen, die waren ein zu großer Reizfaktor für sie.
Die belarussischen Medien werden weiterarbeiten, wenn auch in einer etwas partisanischen Form
Ich denke, es gibt die Möglichkeit, dass dieses Portal teilweise, natürlich nicht ganz, im Ausland wiederentstehen wird. Denn jetzt wurde tut.by ja lahmgelegt, weil sich der Content, soweit ich weiß, rein physisch auf einem Server in Belarus befand, den man ganz plump ausschalten konnte. Aber wenn der Server im Ausland wäre, wenn die Leute – und die Belarussen haben in dieser Hinsicht im vergangenen halben Jahr einen enormen Fortschritt gemacht – mit VPN, Psiphon und all diesem Schnickschnack umgehen können, dann werden sie, wie die Erfahrung Chinas, des Irans und anderer repressiver Regimes beweist, die Information finden. Das lässt sich nicht mehr unterbinden.
Maxim, vielleicht könnten Sie abschließend noch ein paar Prognosen über die Entwicklung des objektiven Journalismus in Belarus und Russland geben?
Maxim: Es ist etwas traurig, Prognosen zu machen, denn ausgehend von dem, was wir jetzt haben, bekommen wir in der Zukunft exakt dasselbe, minus noch ein paar Zeitungen. Das war’s. Das ist nicht besonders interessant.
Ich mache mir eher Gedanken über das Schicksal des faktenbasierten Weltbildes. Eines Weltbildes, das die Analytik ernstnimmt, das auf dem fußt, was man beweisen, und nicht auf dem, was man erfinden kann. Bis vor kurzem waren wir der Ansicht, dass Fakten existieren. Aber in den vergangenen 10, 15 Jahren beobachten wir, wie diese Überzeugung schwindet. Es ist seltsam, das zu sehen, aber es passiert vor unseren Augen, die Menschen finden es zuweilen viel interessanter, die Welt ganz anders zu sehen, als wir es früher mal, teils in der sowjetischen Schule, gelernt haben.
Es ist etwas traurig, Prognosen zu machen, denn ausgehend von dem, was wir jetzt haben, bekommen wir in der Zukunft exakt dasselbe, minus noch ein paar Zeitungen
Das ist ein globaler Prozess. Er hängt von unterschiedlichen Faktoren ab: dem politischen Populismus, der Demokratisierung des Zugangs zu jeglicher Information, der Entwicklung der sozialen Medien, wo jeder Mensch längst selbst Autor, Journalist und Verfasser von Texten, Statements, Bildern und Tönen ist.
Qualitativ hochwertige Information – das, was wir gewohnt sind als Standard zu setzen, als das einzig Wichtige zu betrachten, nennen wir es provisorisch „objektiver“, faktenbasierter Journalismus – wird heutzutage zu einem Gut für ein sehr kleines Segment der Gesellschaft.
Wir leben in einer Welt, in der darüber gestritten wird, ob es überhaupt Fakten gibt, ob es überhaupt Objektivität gibt. In Wirklichkeit ist das das fundamentale Problem – weitaus mehr als das Schicksal der Medien in autoritären Staaten. Die autoritären Staaten sind in diesem Fall einfach ein Teil des Weltgeschehens und der Veränderungen auf der Welt.Weitere Themen
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„Die zwei slawischen Autokratien leugnen den Lauf der Zeit“
Seit 2016 lädt die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zu einem Diskussionsklub ein – um die dringendsten gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zu diskutieren. Beim zweiten Klub-Treffen des Jahres Anfang Juni 2021 ging es um das Buch Das Licht, das erlosch des bulgarischen politischen Analysten Iwan Krastew. Neben Krastew und Alexijewitsch nahm die russische Politologin Ekaterina Schulmann an der Diskussion teil, die der belarussische Analyst Artyom Shraibman moderierte.
Mit seinem Co-Autor Stephen Holmes vertritt Krastew in Das Licht, das erlosch einmal mehr die These eines „Nachahmungsimperativs“ des Westens nach dem Kalten Krieg. Damals hätte in Mittel- und Osteuropa ein Zeitalter der Imitation begonnen, doch auch unter dem Eindruck der Bevormundung seien Gefühle der eigenen Unzulänglichkeit immer größer geworden. Schließlich habe der Westen knapp 30 Jahre nach Ende des Kalten Kriegs seine Glaubwürdigkeit und Strahlkraft verloren.Krastews Buch wurde in Westeuropa kontrovers diskutiert. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann etwa kritisiert unter anderem, dass Krastew mit „dem Westen“ einen Kampfbegriff und eine normative Bezugsgröße aus Zeiten des Kalten Krieges bemühe, die es so heute gar nicht mehr gebe. Auch unterscheide Krastew zu wenig zwischen liberaler Demokratie und neoliberaler Wirtschaftsordnung.
Vor dem Hintergrund zunehmender Gewalt und Repression in beiden Gesellschaften, sowie angespannter politischer Beziehungen mit Westeuropa fragt der Klub: Wo stehen Russland und Belarus knapp 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion? Und wie sieht ihre gesellschaftliche und politische Zukunft aus? Das belarussische Magazin Kyky hat Teile der Diskussion transkribiert – in denen vor allem die Politologin Ekaterina Schulmann den Thesen Krastews teilweise energisch widerspricht.
Swetlana Alexijewitsch: Die Zeit hat alle unsere Illusionen und Erwartungen auf den Kopf gestellt, unsere ganze emotionale Trägheit. Vor allem in Belarus sind wir gezwungen, nach Solshenizyns Büchern zu leben. Weder meine noch eure Generation – niemand hat damit gerechnet. Wenn wir an unseren Enthusiasmus der 1990er Jahre denken, hätten wir nie gedacht, dass wir dort hinkommen, wo wir heute sind. Es gibt viele drängende Fragen, aber ich glaube, noch viel wichtiger ist es zu verstehen, warum wir da gelandet sind, wo wir heute sind. Warum all unsere Illusionen, die wir hatten, als wir uns an die Perestroika machten – warum nichts davon eingetroffen ist, sich nichts bewahrheitet hat.
Wenn wir an unseren Enthusiasmus der 1990er Jahre denken, hätten wir nie gedacht, dass wir dort hinkommen, wo wir heute sind
Als ich Das Licht, das erlosch von Iwan Krastew und Stephen Holmes gesehen habe, war ich schwer beeindruckt. Wir sollten aufhören, Angst zu haben, mal vor der Vergangenheit, mal vor der Zukunft, mal vor der Gegenwart. Wir leben in ständiger Angst. Versuchen wir doch einmal, unserer neuen Realität ins Gesicht zu schauen.
Artyom Shraibman: Nachahmung ist ein Prozess, der viele Länder der Welt erfasst hat, aber vermutlich nicht alle. Es ist wichtig zu verstehen, warum er ausgerechnet unsere Länder erfasste und was das Ende dieser Epoche für uns bedeutet.
Iwan Krastew: Anfang der 1990er Jahre war klar, dass die Welt das westliche Lebensmodell imitieren würde, weil es zwei globale Ideologien gab, die den Kalten Krieg begründeten. Eine davon hat den Krieg nicht nur verloren, sie hat auch aufgehört, sich selbst zu glauben.
[Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis] Fukuyama sprach von dem Ende der Geschichte, heute lachen alle über diese Idee. Aber Anfang der 1990er Jahre war Demokratie ein Synonym für die Modernisierung der Gesellschaft. Alle dachten, dass sie dieses Modell imitieren werden. Wir wollten leben wie im Westen: Die Ungarn wollten das, die Bulgaren, die Polen.
Aber wenn man jemanden imitiert, gibt man zu, dass er besser ist als man selbst. Das wirft eine zweite Frage auf: Was passiert mit der eigenen Identität? Und es gibt noch einen dritten Punkt: Man imitiert nicht Christus, sondern eine andere Gesellschaft, die sich ständig verändert. Daher kommen die starken antiliberalen Stimmungen, die man in Teilen der ungarischen und auch der polnischen Gesellschaft beobachten kann: Man wollte etwas anderes als das, was man imitiert hat. Schließlich erschien den Polen die westliche Gesellschaft Ende der 1980er als durchaus konservativ, alle gingen in die Kirche. Und sehen Sie sich an, wie sich diese Gesellschaft innerhalb von 30 Jahren verändert hat.
Man wollte etwas anderes als das, was man imitiert hat
Es gab in der Tat eine Zeit, in der selbst autoritäre Regime die Menschen davon überzeugen wollten, dass sie demokratisch legitimiert sind, dass sie wie die westlichen Demokratien sein wollen, es aber nicht gelingt. Doch diese Zeiten sind seit vier, fünf Jahren vorbei. Jetzt sehen wir in Russland und Belarus eine andere Rhetorik: Wir wollen nicht so sein wie ihr, im Gegenteil, und wir werden nie so sein wie ihr.
Ekaterina Schulmann: Einen Teil dessen, was Iwan anspricht, bezeichnet man als Problem oder, wenn man so will, als Tragödie der aufholenden Entwicklung. Länder, die das Gefühl haben, rückständig zu sein, versuchen den Weg zum Fortschritt durch Nachahmung abzukürzen. Doch bevor wir konstatieren, dass die Länder der Zweiten Welt aufgehört haben, die Länder der Ersten Welt zu imitieren, sollten wir uns daran erinnern, dass das westliche Lebensmodell universelle Anziehungskraft besitzt.
Niemand will etwas grundsätzlich anderes (das gilt auch für China und den postsowjetischen Raum), alle wollen iPhones, Supermärkte und Cafés, niemand will in Askese leben. Außerdem reagieren die Menschen sehr empfindlich auf Einschränkungen, die ihr Privatleben betreffen. Sie sind bereit, politische Freiheiten zu opfern – zum einen, weil sie nicht wirklich verstehen, was das ist, zum anderen, weil sie diese Freiheiten nie wirklich gehabt haben. Sie haben den unmittelbaren Zusammenhang zwischen politischer Freiheit und Lebensstandard noch nicht erkannt. Aber die Konsumfreiheit wollen ausnahmslos alle. Insofern wird die Nachahmung nicht aufhören, solange sich Wunsch und Wirklichkeit gleichen.Wir sollten uns daran erinnern, dass das westliche Lebensmodell universelle Anziehungskraft besitzt
Es hat sich kein Alternativangebot, kein neuer Zivilisationstypus herausgebildet. Wie Iwan schon sagte, gab es zwei globale Ideologien, von denen die eine gestorben ist und die zweite gesiegt hat, das ist nach wie vor wahr. Aber es gibt auch eine zunehmende Diskrepanz zwischen dem gewollten Lebensstil und dem politischen Überbau. Genau darin liegt die Gefahr oder die Attraktivität des chinesischen Beispiels. China scheint der ganzen Welt sagen zu wollen: Man kann auch ohne den politischen Überbau des Westens Dutzende Millionen von Menschen aus der Armut führen und Riesenstädte errichten, ohne die Risiken, die die Demokratie in sich birgt. Das ist ein neues autoritäres Angebot, das nicht ideologisch ist. Es macht keinen Versuch, das Märchen von Orthodoxie, Selbstherrschaft, Volkstümlichkeit nachzuerzählen; Versuche dem Wahlvolk zu gefallen – das ist keine Ideologie. Auf dem Markt der Ideen hat der Westen insofern immer noch das absolute Monopol.
China scheint der ganzen Welt sagen zu wollen: Man kann auch ohne den politischen Überbau des Westens Dutzende Millionen von Menschen aus der Armut führen
Als der Sprecher der russischen Staatsduma vor einiger Zeit sagte, Russland sei die letzte Insel der Demokratie und der Freiheit, konnte man schwer nachvollziehen, was in diesem Moment in seinem komplexen Hirn vor sich ging. Klar ist jedoch, dass Demokratie und Freiheit als etwas Gutes wahrgenommen werden. Nur dass diese Dinge im Westen faul geworden und verdorben sind, wohingegen es sie bei uns nun einfach gibt.
In Russland spricht man oft davon, dass wir mehr Europa sein werden als Europa selbst, das die wahre Freiheit gegen Toleranz eingetauscht habe. Nach dem Motto: Ihr beschwert euch über die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor? Ihr habt ja keine Ahnung von der grausamen Hetze gegen Menschen und der Selbstzensur, die in den sozialen Netzwerken im Westen florieren.
In Russland spricht man oft davon, dass wir mehr Europa sein werden als Europa selbst
Das Buch, mit dem wir das Gespräch begonnen haben, wurde vom russischsprachigen Publikum nicht ohne Schadenfreude aufgenommen: Die im Westen haben ihre historische Niederlage eingestanden! Aber Niederlage im Vergleich zu wem? Zu diesen ewig imitierenden Autokratien, die zu 80 Prozent aus Propaganda und 20 Prozent aus Gewalt bestehen? Sollen die das neue historische Angebot sein?
Niederlage im Vergleich zu wem? Zu diesen ewig imitierenden Autokratien, die zu 80 Prozent aus Propaganda und 20 Prozent aus Gewalt bestehen?
Sie können ja nicht einmal formulieren, wer sie selbst sind. Heute sind sie eine souveräne Demokratie, morgen verteidigen sie sich gegen geheimnisvolle Feinde und machen sich nicht einmal mehr die Mühe zu erklären, was sie überhaupt zu verteidigen versuchen. Das einzige erklärte Ziel ist es, den Tag irgendwie durchzustehen und die Nacht zu überleben. Die Macht geben wir nicht ab, weil es ohne uns nur noch schlimmer wird – das ist das Einzige, was sie ideologisch anzubieten haben.
Artyom Shraibman: Betreten wir wirklich eine neue Ära? Und ist sie überhaupt neu, haben wir nicht im 20. Jahrhundert und noch früher ähnliche Umbrüche, eine ähnliche Abkehr von Formen eines nationalen Selbstverständnis gesehen?
Ekaterina Schulmann: 30 Jahre postsowjetischer Transit gehen zu Ende. Während dieser Zeit haben sich im postsowjetischen Raum drei politische Ordnungen herausgebildet: primitive mittelasiatische Despotien (Usbekistan u. a.); schwache Demokratien mit einem instabilen Staatsapparat, einem nicht erreichten Gewaltmonopol und einer ziemlich starken Rolle von Zivilgesellschaft, aber auch oligarchischen Gruppen (Ukraine, Kirgistan, Republik Moldau, Georgien, Armenien); und der dritte Typus – personalisierte Autokratien, die zwar Wahlen durchführen, aber durch die Wahlen keinen Wechsel riskieren wollen; die die Vorteile des Konkurrenzkapitalismus für sich nutzen, aber gleichzeitig eine extrem hohe Staatspräsenz in der Wirtschaft erschaffen (Russland, Belarus, Kasachstan). Das sind unsere drei Karten: eine Drei, eine Sieben, ein Ass. Oder, wenn Sie so wollen, die drei Wege, die die postsowjetische Entwicklung einschlagen konnte.
Jetzt können wir beobachten, wie unterschiedlich die Autokratien in die für sie kritische Übergangsperiode eintreten. Bisher scheint Kasachstan von den dreien am besten abzuschneiden – sein politisches System hat den Mut gefunden, einzugestehen, dass ein Übergang notwendig ist und stattfinden wird.
Die zwei slawischen Autokratien haben sich entschieden, den Lauf der Zeit zu leugnen, sie krallen sich am Status quo fest, den sie Stabilität und Souveränität nennen, und laufen jetzt doppelt so schnell, um auf der Stelle zu bleiben.
Denn es hat sich herausgestellt, dass man den Status quo nicht aufrechterhalten kann, ohne eine unglaubliche Menge an Ressourcen reinzustecken. Ich glaube nicht, dass dieses Stadium – der Versuch, die Notwendigkeit eines Übergangs zu leugnen – die Endstation ist.
Die zwei slawischen Autokratien haben sich entschieden, den Lauf der Zeit zu leugnen, sie krallen sich am Status quo fest
Das russische Modell, das vielfältiger und flexibler als das belarussische ist, ist noch dabei, diese komplexe Gleichung für sich zu lösen: Was müssen wir ändern, damit alles gleich bleibt? Das politische System in Belarus verhält sich dabei sekundär und komplementär zum russischen. Wenn bzw. falls sich das russische Modell transformiert, wird das belarussische folgen.
Die Todesstarre, der Krampf, der unsere beiden Systeme befallen und zahlreiche Prozesse auf Zwangspause gestellt hat, verdient Beobachtung, aber keine Verabsolutierung. Man sollte es nicht als finale Etappe einer dreißigjährigen Entwicklung sehen, als Ende der Geschichte. Lassen Sie uns nicht Fukuyama spielen.Artyom Shraibman: Wenn Belarus, Kasachstan und Russland denselben institutionellen Weg gehen, den die Länder Zentral- und Osteuropas gegangen sind, wird sich nicht irgendwann herausstellen, dass es eine Sackgasse ist? Was sollen die jungen, noch ungewissen Regime nach Lukaschenko, Putin und Nasarbajew aufbauen, wenn selbst ein wesentlicher Teil der Bevölkerung in den jungen Demokratien Osteuropas von der Imitation enttäuscht ist?
Ekaterina Schulmann: Wie sollen wir uns modernisieren, wenn der Westen nicht mehr das Vorbild ist? Wissen Sie, einer der Faktoren für die Erosion des Ideals ist die Annäherung daran. Das heutige Belarus und sogar Russland sind dem Westen viel ähnlicher als der Sowjetunion. Unsere Autokratien haben sich den Vorbildern angenähert, die sie sich vorgestellt hatten. Wir haben uns den Kapitalismus angeschafft, Wahlen, sogar ein bisschen freie Presse, breite Uferpromenaden und Elektroroller, aber in die Erste Welt dürfen wir immer noch nicht.
Der Sowjetmensch hat sich den legendären Westen als Schlaraffenland vorgestellt. Aber als das westliche Leben immer vertrauter wurde, entdeckte man darin immer mehr Flecken und Risse. Zumal man über den kollektiven Westen heutzutage nur nachsinnen darf, wenn man Nikolai Platonowitsch Patruschew ist.
Einer der Faktoren für die Erosion des Ideals ist die Annäherung daran
Was können wir über den nächsten Entwicklungssprung der postsowjetischen Autokratien sagen? Sie werden offenkundig urbanisierte Staaten mit einer gebildeten Bevölkerung bleiben und sich weiter in diese Richtung entwickeln; sie sind nicht so sehr Industriemächte als vielmehr Länder, in denen der Dienstleistungssektor eine immer größere Rolle spielt. Das ist nicht unbedingt der geeignetste Nährboden für eine primitive Diktatur.
Obwohl die neuen Möglichkeiten, jede einzelne Geldtransaktion, jede Bewegung nachzuverfolgen, einschließlich der Bewegung von Informationseinheiten, neue Möglichkeiten für Planung und Umverteilung bieten. Der Staat gibt seinen Bürgern Geld, unterstützt die Wirtschaft, und will im Gegenzug dafür deine Daten – wissen, was du schreibst, sagst, wo du dein Geld aufbewahrst, wohin du geschaut hast – und im nächsten Schritt auch deine Loyalität.
Was die nächste Zukunft bringt
Artyom Shraibman: Ekaterina, Sie haben das, was in Belarus und in Russland passiert, als „Krampf“ bezeichnet. Worin wird das münden? Der eine wie der andere Leader scheint sich ganz wohl zu fühlen, sie haben keine Angst, den Einsatz zu erhöhen, den Griff noch fester zuzudrücken. Wo ist die Wand, gegen die dieser Krampf prallt?
Ekaterina Schulmann: Dass der Druck erhöht wird, ist kein Anzeichen für die Abwesenheit von Angst. Jemand, der sich nicht bedroht fühlt, führt keine Eskalation herbei. Ich will nicht darüber urteilen, wer sich wohl fühlt und wer nicht. Bedenken wir einfach, dass die ganze Arbeit dieser politischen Systeme darin besteht, einen Eindruck zu erwecken, und zwar zum großen Teil einen falschen. Dafür werden gigantische Ressourcen aufgewendet.
Ich habe die Situation nicht als Krampf bezeichnet, weil ich sie für ein kurzfristiges Phänomen halte. Ineffektive politische Modelle können sehr langlebig sein.Bedenken wir einfach, dass die ganze Arbeit dieser politischen Systeme darin besteht, einen Eindruck zu erwecken, und zwar zum großen Teil einen falschen. Dafür werden gigantische Ressourcen aufgewendet
Was ist diese Wand, diese Schwelle, hinter der sich etwas qualitativ transformiert? Die Wahlen 2024 sind der nächste Punkt. Wenn die Beliebtheit des amtierenden russischen Präsidenten nach 2021 weiter sinkt, könnte er auf den Gedanken kommen: Sollte ich es nicht lieber machen wie Jelzin? Sollte ich nicht meinen Nachfolger mit den Überresten meiner eigenen Popularität ausstatten und ihm das Verlangen nach Erneuerung, das in der Gesellschaft so groß ist, als Geschenk hinterlassen?
Jelzin war extrem unpopulär, und sein Nachfolger wurde quasi über Nacht ein gefragter Mann. Warum? Weil die Menschen einen neuen Leader wollten, aber keine Revolution. Ein Nachfolger muss gleichzeitig Erbe und Antagonist sein. Ich denke, je näher 2024 rückt, desto mehr könnte diese politische Parallele eine Rolle spielen.Weitere Themen
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„Hinter den Vergiftungen gibt es ein System“
Der Giftanschlag auf Alexej Nawalny war kein Einzelfall. Hinter den (versuchten) politischen Morden steckt laut Recherchenetzwerk Bellingcat System. Es gebe zahlreiche Hinweise auf die Beteiligung des FSB, die Fäden für die Auftragsmorde führten jedoch ganz nach oben – und nur der erste Mann im Staat zahle den Preis für deren Erfolg oder Misserfolg.
Zu diesen Erkenntnissen kommt der Investigativjournalist und Recherche-Leiter von Bellingcat Christo Grozev. Er ist der Mann hinter den Untersuchungen zum Abschuss von Flug MH17 und zu den Giftanschlägen auf Alexej Nawalny, Wladimir Kara-Mursa und Dimitri Bykow. Jede Recherche liefert neue Hinweise, legt Verbindungen zu älteren Fällen offen und zeigt Ähnlichkeiten in der Arbeit von FSB und seinem sowjetischen Vorgänger KGB auf.
Wie ist das System der politischen Morde in Russland aufgebaut? Warum stehen nicht nur oppositionelle Politiker wie Nawalny, sondern auch Schriftsteller wie Bykow auf der Abschussliste? Wie hängen die verschiedenen Fälle zusammen? Und warum bindet dieses System Wladimir Putin nur noch fester ans Präsidentenamt?
Auf diese Fragen antwortet Christo Grozev im Interview mit Yevgenia Albats – Chefredakteurin des Online-Mediums The New Times und Kennerin der FSB-Geschichte.
Jewgenija Albats: Viele kennen Ihren Namen und wissen, dass Sie Teil des Recherchenetzwerks Bellingcat sind und unmittelbar an der Aufklärung von Morden und Mordversuchen arbeiten, die die Politische Polizei in Russland verübt. Sie untersuchten unter anderem die Anschläge auf Alexej Nawalny, Wladimir Kara-Mursa, Dimitri Bykow. Ich habe eine ganze Reihe von Fragen zu diesem Thema, aber vielleicht erzählen Sie mir zuerst: Wer sind Sie, Christo Grozev? Die russische Propaganda behauptet, dass Sie bei der CIA sind, oder dem britischen Geheimdienst MI-6 oder MI-5, vielleicht auch beim israelischen Mossad … Also, wer sind Sie?
Christo Grozev: Die Behauptung, ich würde für westliche Geheimdienste arbeiten, gab es schon, bevor ich in Russland als Journalist bekannt wurde. Aber die Antwort ist ziemlich einfach: Ich wurde in Bulgarien geboren, bin gleich nach der Schule für eine Weile nach Europa gegangen – ich wollte Musikradio machen, das war gegen Ende des Kommunismus. Dann bin ich nach Bulgarien zurück, wollte dort den ersten Musiksender gründen. Das war damals noch verboten, also betrieb ich einen Piratensender. Danach habe ich in den USA Journalismus studiert. Gleich nach der Uni bekam ich einen Job: Ich sollte die ersten kommerziellen Rundfunksender in Russland aufbauen. Ein amerikanisches Unternehmen, das seine Erfahrung aus den USA nach Russland und Osteuropa bringen wollte. Dort machte ich Karriere, wurde zunächst Regionaldirektor, dann geschäftsführender Direktor der ganzen Radiogruppe. Dann habe ich in den Niederlanden investiert – das ist alles. Das war ein Selbstläufer, ich musste mich nicht jeden Tag darum kümmern. Und dann begann der Krieg. Der Dritte Weltkrieg, wie ich ihn nenne, der 2014 begann. Und ich fing an, meinen Blog zu führen …
Heute ist es ein globaler Krieg mit dem Einsatz von Informationen als Waffe
Sie meinen die Annexion der Krim? Und die Truppen im Donbass?
Ja, das war der Anfang. Aber danach veränderte sich alles. Heute ist es ein globaler Krieg … Weder ein kalter noch ein bewaffneter, aber dennoch ein Krieg, an dem alle Seiten irgendwie beteiligt sind. Mein Blog widmete sich zunächst dem, was man „weaponization of information“ nennt, also dem Einsatz von Information als Waffe, damals durch Russland, aber nicht nur – zu Beginn des Krieges auch durch die Ukraine. Dann kam MH17, und das wurde mein Hauptthema, dadurch bin ich zu Bellingcat gekommen. Nach ein paar Untersuchungen übernahm ich die Recherche-Leitung.
Wenn ich das richtig verstehe, haben Sie mit dem Radiosender viel Geld gemacht.
Nicht viel nach russischen, also Oligarchen-Maßstäben. Aber für bulgarische Verhältnisse schon. Ich kann gut davon leben und meinem Hobby nachgehen. Ich kann sogar in mein Hobby investieren, was ich seit vier Jahren tue.
Diese Recherchen bezahle ich
Bellingcat zahlt Ihnen also kein Gehalt?
Nein. Ich bestehe immer noch darauf, dass sie mich nicht bezahlen, damit die Frage, woher das Geld für die Recherchen kommt, ganz klar beantwortet werden kann. Bei Bellingcat ist zwar auch alles transparent, aber für mich ist es einfacher zu sagen: „Ich. Ich bezahle diese Recherchen.“ Deshalb garantiere ich mit meinem Namen: Niemand hat für mich diese Recherchen bezahlt, weder die Amerikaner noch die Briten noch sonst wer. Meine Finanzen lassen sich leicht überprüfen: Das sind die Dividenden aus dem kommerziellen Musiksender, mehr gibt es nicht.
Sie investieren Ihr Geld, Ihre Zeit und Ihre Sicherheit – denn es ist klar, dass diese Arbeit gefährlich ist – in Untersuchungen, die mit Russland und russischen Politikern zu tun haben. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Das ist nichts, was ich vorher geplant hätte. Untersuchungen werden dort gemacht, wo Verbrechen verübt werden. Es gibt einen Krieg, das ist Fakt, und Russland ist eine der Kriegsparteien. Die offensichtlichsten grenzüberschreitenden Verbrechen, hinter denen der Staat steht, sind die russischen Verbrechen. Auch das ist ein Fakt.
Als wir anfingen, die Katastrophe um den Flug MH17 zu untersuchen, wusste ich nicht, dass Russland für den Abschuss des Flugzeugs verantwortlich ist. In den ersten Stunden nach dem Vorfall hielt ich es für wahrscheinlicher, dass die Ukraine es versehentlich abgeschossen hatte. Ich hielt die Mitschnitte abgefangener Telefonate, die der SBU [Inlandsgeheimdienst der Ukraine – dek] im Internet veröffentlicht hatte, für eine Fälschung. Erst später dann verstand ich, dass sie nicht gefälscht waren. Wissen Sie, wie? Weil sie damals auch die Telefonnummern veröffentlicht haben, von denen diese Mitschnitte stammten. Ich fing an, diese Nummern anzurufen, und hatte tatsächlich Separatisten am Apparat, die mir alles erzählten.
Sie haben gezeigt, dass es ein System hinter den Vergiftungen gibt
Aber nun zu Ihrer jüngsten Untersuchung, bei der mir das Wichtigste zu sein scheint, dass Sie gezeigt haben, dass es ein System gibt: nämlich die Kooperation zwischen der 2. Abteilung des FSB und dem NII 2 [Institut für Kriminalistik des FSB – dek]. Zur 2. Abteilung des FSB gehört der Verfassungsschutz, die sogenannte Dienststelle „S“. Sie ist die Nachfolgerin der 5. Hauptverwaltung des sowjetischen KGB, die gegen Dissidenten und Andersdenkende kämpfte, die Kirche, Profisportler, NGOs und so weiter überwachte. Wir wissen, dass es in der Geschichte der Politischen Polizei in der Sowjetunion immer Abteilungen gab, die für politischen Terror und Morde verantwortlich waren. So war es früher, vor den Verbrechen, die Sie jetzt untersuchen. Woher wissen Sie, dass es tatsächlich eine Kollaboration zwischen der politischen, ideologischen Spionageabwehr und einem Institut gibt, das sich auf Vergiftungen spezialisiert?
Zunächst einmal möchte ich sagen, dass wir das nicht objektiv wissen. Das werden wir tun, sobald wir irgendein Dokument finden, das uns zeigt, wie alles organisiert ist. Im Moment können wir lediglich auf analytischem Wege Hypothesen aufstellen. Ich stelle alle Fakten zur Verfügung, die wir haben, und dann können Sie, wenn Sie möchten, eine Gegenhypothese aufstellen. Was wir sehen, ist, dass an jeder Vergiftungsoperation Menschen aus unterschiedlichen Abteilungen beteiligt sind. Wir haben lange gerätselt, aus welchen Abteilungen sie kommen. Wir hatten gedacht, das wären Ad-hoc-Gruppen, Brigaden aus Fachleuten mit unterschiedlichem Background. Aber dann wurde uns klar, dass es offenbar doch eine klare Arbeitsteilung gibt. Und der erste Teil – die Beschattung, während der die Entscheidung vorbereitet wird – wird ausschließlich von Leuten aus der 2. Abteilung des FSB übernommen, die General Sedow untersteht.
Jede neue Untersuchung liefert uns auch zu älteren Fällen neue Erkenntnisse. Bei dem aktuellen Fall haben wir zum Beispiel gesehen, dass die Leute, die sowohl Nawalny als auch Bykow und Kara-Mursa beschattet hatten, alle aus Sedows Abteilung kommen. Aus seiner Abteilung kommen auch diejenigen, die im Ausland Menschen erschießen, wie zum Beispiel im Fall Khangoshvili.
Der erste Teil wird vom FSB ausgeführt. Dann werden Chemiker, Ärzte eingeschaltet
Das ist ein wichtiger Punkt. Sie sagen also, die Beschattung wird von Mitarbeitern der 2. Abteilung des FSB durchgeführt?
Ja. Aber das ist keine „einfache“ Beschattung, über die alle Bescheid wissen. Diese Beschattung hat das Ziel, eine Handlung herbeizuführen. Anders als bei einer einfachen Beschattung wird hier nie etwas an die örtlichen Strukturen delegiert. Weder weiß der lokale FSB, dass diese Menschen kommen, noch sprechen sie mit jemandem vor Ort, mit Ausnahme der Region Stawropol und Tschetschenien.
Der erste Teil des Auftrags wird also ausschließlich von Menschen aus der 2. Abteilung ausgeführt. Und dann, ab einem bestimmten Zeitpunkt, werden Spezialisten aus dem NII 2 eingeschaltet. Das sind dann Chemiker, Ärzte oder Fachleute für Chemiewaffen oder Chromatographie-Spezialisten, es gibt auch Fachleute, die wissen, wie man Spuren verschiedener Chemikalien findet, und so weiter und so fort. Aber die kommen erst in der letzten Phase dazu.
So wurde uns die Arbeitsteilung klar. Und auch, dass die Beteiligten sich gegenseitig nicht unbedingt gut kennen. Kudrjawzew, zum Beispiel, der „Spurenbeseitiger“ aus dem NII 2, mit dem Nawalny telefoniert hat, kannte die Namen seiner Kollegen nicht … Er wusste zum Beispiel nicht, wie der Kollege aus der 2. Abteilung heißt, mit dem seine direkten Kollegen aus dem NII 2, Ossipow und Alexandrow, zusammen den Anschlag auf Nawalny verübten.
Wer sind Ossipow und Alexandrow?
Ossipow und Alexandrow sind zwei Chemiker und Ärzte, zwei Schlüsselfiguren aus dem NII 2. Sie arbeiten seit 2008 in diesem Dienst. Dem Vergiftungsdienst. Nach unserem Kenntnisstand sieht die Rangordnung folgendermaßen aus: Diese Ärzte führen Aufgaben aus, die ihnen die 2. Abteilung überträgt. Die 2. Abteilung wiederum steht in Kontakt zur politischen Führung.
Das heißt, der Auftrag kommt von oben …
Man könnte es so formulieren: Die Listen führt die 2. Abteilung des FSB.
Haben Sie diese Listen jemals gesehen?
Nein, wir selbst nicht. Ich habe schon vor langer Zeit von der Existenz dieser Listen gehört, schon 2014/2015. Von Menschen, die früher beim FSB oder in den Machtstrukturen tätig waren. Ich habe ihnen nicht geglaubt. Ich dachte, falls es sie gibt, dann eher im Wirtschaftsbereich, dass jemand [privat] Abschusslisten führt. Aber jetzt weiß ich, dass diese Listen doch über die 2. Abteilung erlassen werden. In der letzten Phase, wenn der Anschlag verübt wird, ist immer jemand aus der 2. Abteilung und ein oder zwei Vertreter der Chemiebrigade aus dem NII 2 involviert.
Vielleicht wählen sie einen Kriminellen, der tut, was man ihm sagt
Das heißt, das NII 2 ist eine rein ausführende Instanz.
Sie sind Dienstleister. Und hier ist wichtig zu verstehen, dass die Leute aus der 2. Abteilung, die die Operation vorbereiten, sie nicht zwangsläufig mit den Händen des NII 2 zu Ende bringen. Vielleicht wählen sie auch ein anderes Mittel, eine Pistole zum Beispiel und einen Kriminellen, der einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist und tut, was man ihm sagt.
Das war eine sehr beliebte Methode des KGB.
Ja. Und einige von unseren zukünftigen Recherchen werden vermutlich zeigen, wie das gemacht wird. Das heißt, durch die 2. Abteilung des FSB, aber mit anderen Händen.
Der KGB entließ für die Ausführung eines Auftrags gewöhnlich einen Häftling mit lebenslanger Haftstrafe aus dem Lager, oder jemanden, der in den Uranminen seine Strafe verbüßte.
Etwas Ähnliches konnten wir in der Ukraine beobachten, als ein Oberst der ukrainischen Militäraufklärung eliminiert werden sollte, der offenbar russische Militärinteressen im Osten der Ukraine verletzt hatte. Der Mann, den sie dort hinschickten, reiste mit einem gefälschten Pass ein, einem tadschikischen oder kirgisischen. Aber der Anschlag missglückte, die Autobombe tötete ihn selbst. Wir haben uns daraufhin angeschaut, wer er war, welchen Background er hatte, wir konnten ihn identifizieren. Wie sich zeigte, war er ein ehemaliger Polizist, Ermittler beim Drogendezernat in Moskau. Er war der Erpressung einer sehr großen Bestechungssumme überführt und zu einer hohen Haft- und einer riesigen Geldstrafe verurteilt worden, fast eine Million Dollar. Und vier, fünf Monate nach der Verurteilung tauchte er plötzlich in Kiew auf – offenbar hatte man ihm angeboten, seine Probleme loszuwerden …
Es gibt eine Arbeitsteilung: Morde im Ausland sind in der Regel Sache des Militärnachrichtendienstes
Warum hat man mit der Beseitigung Litwinenkos in London Lugowoi beauftragt – der doch beim KGB gearbeitet hat, für die Nomenklatura zuständig war, zu Gaidars Personenschutz gehörte und so weiter?
Ich habe diesen Fall nicht untersucht, aber logisch kann ich es mir so erklären, dass sie jemanden gebraucht haben, dem Litwinenko vertraute und den er treffen würde, obwohl er Angst vor einem Anschlag hatte. Übrigens erinnere ich mich, dass es wohl auch gegen Lugowoi zu jener Zeit oder schon früher ein Strafverfahren gab.
Ja stimmt, Lugowoi hatte ebenfalls große Probleme mit den russischen Behörden. Und das Attentat auf Skripal und seine Tochter in Salisbury – da gilt es doch als bewiesen, dass die Killer aus dem Militärnachrichtendienst GRU kamen.
Da gibt es eine Arbeitsteilung: Morde im Ausland sind in der Regel Sache des GRU. Nur die Morde an Tschetschenen übernimmt normalerweise der FSB. Das gilt als dessen Territorium, da werden die Grenzen Russlands sozusagen virtuell ausgeweitet. Deshalb war auch die Ermordung Khangoshvilis in Berlin 2019 Sache des FSB. Genau wie der Mord an einigen anderen Islamisten und Terroristen (die sie in deren Augen sind) 2014, 2015 und noch 2016 in der Türkei. Aber der Anschlag in Salisbury war ganz sicher Sache des GRU. Nicht nur, weil es das Ausland war, sondern auch, weil das Opfer ein Kollege war, jemand vom Militärgeheimdienst.
Nur sehr wenige Leute sind in die politischen Morde eingeweiht
Das sind also die Ausführenden. Und die Auftraggeber beziehungsweise diejenigen, die den Auftrag für die oberste Führung Russlands ausarbeiten, das sind die 2. Abteilung und der ihm zugehörige Verfassungsschutz. Die 2. Abteilung wird von General Sedow geleitet. Wo genau verorten Sie seine Rolle?
Wir sehen nur eine Hierarchieebene zwischen General Sedow und dem ranghöchsten Mitarbeiter, der konkret an diesen Attentaten beteiligt war: Roman Mesenzew aus der 2. Abteilung, der Kara-Mursa bis zu dessen Vergiftung beschattet hat. Er steht in der Rangordnung ziemlich weit oben, ist entweder Oberst oder General. Dieser Roman Mesenzew steht in direktem Kontakt zu General Sedow, das heißt, seinem direkten Vorgesetzten. Deshalb glaube ich, dass der Weg vom Chef der 2. Abteilung zu den Todesschwadronen, wie man sie bezeichnen kann, recht kurz ist.
Es ist doch aber erstaunlich, dass ein Oberst oder General die Beschattung übernimmt, da stimmt doch etwas nicht.Noch einmal: Das ist keine Beschattung, verstehen Sie? Das ist eine sehr verantwortungsvolle Arbeit. Nur sehr wenige Leute sind eingeweiht. Dieser Kreis darf nicht erweitert werden, sonst hätten wir das, was wir jetzt wissen, schon vor fünf bis zehn Jahren gewusst. Diese Art von Arbeit ist nicht nur illegal, sondern auch illegitim. Und nur Leute, die das bereits verinnerlicht haben, bleiben weiterhin eingeweiht. Sonst könnte es jemanden geben, auch innerhalb des FSB, der davon erfährt, dass sie politische Gegner beschatten, und der sich dann einfach besäuft, es seiner Frau erzählt und so weiter, und dann würde alles ins Rollen kommen. Deshalb wissen nur sehr wenige von der Existenz dieser Unter-Unter-Unterabteilung der Dienststelle S [Verfassungsschutz – dek]. Und das macht es manchmal erforderlich, dass auch jemand aus der Führungsebene mitarbeitet.
Den Preis für den Erfolg oder Misserfolg eines politischen Auftragsmordes zahlt der erste Mann im Staat
[Bellingcats Auswertungen von Passagierlisten russischer Linienflüge haben Bewegungsprofile von FSB-Mitarbeitern offengelegt und zahlreiche Hinweise auf Nawalnys Vergifter geliefert. – dek] Wohin ist General Sedow denn geflogen?
Sedow ist recht viel geflogen, doch eine konkrete Überschneidung sehen wir mit Oberst Eduard Bernezki, der beispielsweise das Attentat auf Khangoshvili in Berlin unmittelbar koordinierte und überwachte. In Russland sind sie mehrmals zusammen geflogen, General Sedow und dieser Eduard Bernezki. Und einige Zeit später koordinierte Bernezki das Attentat auf eine der Zielpersonen. Daher ist Sedow mit Sicherheit eingeweiht, anders kann es nicht sein. Den Preis für den Erfolg oder Misserfolg eines politischen Auftragsmordes zahlt nämlich der erste Mann im Staat. Deshalb würde es dieser erste Mann niemals zulassen, dass jemand anderes die Entscheidungen fällt und absegnet.
Ehemalige KGBler sagen Folgendes: Niemand lässt sich auf einen politischen Mord ein, wenn es keine Garantie gibt, dass er am Ende nicht der Dumme ist. Und der Einzige, der deinem Vorgesetzten diese Garantie geben kann, der wiederum dir einen solchen Befehl erteilt, ist der erste Mann im Staate – der Generalsekretär oder der Präsident.Aber glauben diese Leute – hier geht es um die Giftmischer und die Leute aus der 2. Abteilung –, glauben die ihrem General Sedow aufs Wort, dass diese Entscheidung auf höchster Ebene getroffen wurde? Ich würde an deren Stelle nicht darauf vertrauen, dass mich jemand im Falle des Falles rettet …
Da können wir nur Vermutungen anstellen. Jedoch wissen wir etwas durch die Aussagen von Sudoplatow und dessen Stellvertreter Eitington, die nicht an der Spitze des NKWD, der OGPU, des NKGB et cetera standen, sondern Abteilungsleiter waren. Sie wussten nämlich, dass der Befehl zur Beseitigung eines politischen Widersachers unmittelbar von Stalin oder von Stalin und Molotow kam. Sudoplatows Aufzeichnungen zufolge konnte es anders gar nicht sein.
Der Fall Bykow: ‚Es gab eine Vergiftung, das haben Ärzte nachgewiesen, auch wenn sie nicht wussten, womit.‘
Da ist noch eine wichtige Frage. Beim Fall Nawalny konnten Sie nicht nur aufdecken, dass er von Leuten des NII 2 beschattet wurde, es ist ihnen auch gelungen, einen der „Spurenbeseitiger“ zu kontaktieren: Kudrjawzjew, der in eben diesem NII 2 arbeitet. Wir haben keine Zweifel, wer den Mord mit dem Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe in Auftrag gegeben hat. Was aber die Mordversuche an Kara-Mursa und Bykow angeht … Wir sehen, dass in beide Fälle Ossipow vom NII 2 verwickelt war. Woher wissen wir aber, dass Bykow vergiftet wurde? Dmitri Muratow, der seinerzeit unmittelbar Bykows Abtransport aus Ufa organisiert hatte, erzählte mir, dass Bykow sehr hohe Blutzuckerwerte hatte, und er starke Zweifel hat, dass es eine Vergiftung war. Welche Beweise haben Sie?
Zum einen gab es eine Beschattung, und zwar eine vorbereitende, nach demselben Prinzip, das wir bei Nawalny gesehen haben. Zuerst war es nur die Dienststelle S, dann wurde ein Chemiker und Arzt hinzugeholt, Ossipow. Der verbringt einen Großteil seiner Arbeitszeit im NII 2. Eine Analyse seiner Telefon- und Verbindungsdaten zeigt, dass er ausgerechnet mit Fachleuten für Nowitschok zu tun hat. Das heißt, er steht im Wesentlichen in Kontakt mit Leuten aus dem ehemaligen 33. Institut [33. Zentrales Forschungsinstitut des Verteidigungsministeriums – dek] und mit jenen, die jetzt im Wissenschaftszentrums Signal tätig sind und dort an einer Weiterentwicklung des Nervengifts Nowitschok arbeiten. Das heißt, er ist nicht irgendein beliebiger Beschatter. Er machte sich unter falschem Namen auf, auch das ist wichtig. Denn die Beschattung wird oft unter dem Klarnamen durchgeführt. Wenn sie sich aber entscheiden aktiv zu werden, nehmen sie die zweiten Pässe, um keine Spuren zu hinterlassen (wobei sie damit meiner Ansicht nach nur noch mehr Spuren hinterlassen).
Deshalb ist Ossipow unter dem Namen Spiridonow ausgerechnet nach Nowosibirsk geflogen, ohne Rückflugticket und mit einer zweiten Person, die am Tag der Vergiftung Nawalnys ebenfalls mit Nawalny in Tomsk war. Ihr Vorgesetzter Sucharew fliegt zur gleichen Zeit nach Sotschi, ebenfalls ohne Rückflugticket.
Und in der Nacht, nachdem Bykows Hotelzimmer ungefähr sechs Stunden lang leergestanden hatte (der ideale Zeitpunkt, um dort reinzugehen), da kauften sie sofort Tickets und kehrten am nächsten Tag nach Moskau zurück. Zwei Tage später fällt Bykow ins Koma.
Es bleibt die Frage, ob das Koma durch eine Vergiftung ausgelöst wurde. Und als Antwort sollte man nicht die Worte oder Versionen von Herrn Muratow übernehmen, der Bykow seinerzeit sehr geholfen hat, der ihm wohl wirklich das Leben gerettet hat. Weil die Ärzte in ihrer Diagnose „Vergiftung durch unbekannte Substanz“ geschrieben hatten. Was von erhöhtem Blutzucker begleitet wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach, weil er in einem prädiabetischen Zustand war. Man muss aber wissen: Eine Vergiftung mit organischen Phosphaten wird stets von einem erhöhten Glukosespiegel begleitet.
Also, es gab eine Vergiftung, das haben die Ärzte nachgewiesen, auch wenn sie damals nicht wussten, womit. Der Giftmörder war ganz in der Nähe. Welche harmlose Erklärung wollen Sie mir da geben?
Bykow glaubte aufgrund unserer Ergebnisse sofort, dass er vergiftet wurde
Es gab den Anschlag auf Wladimir Kara-Mursa, die Gründe sind mehr oder weniger klar. Er ist ein Politiker, der ganz direkt den Magnitsky-Act vorantreibt, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in anderen Ländern. Es liegt auf der Hand, wer sich warum an ihm rächen will. Bei Alexej Nawalny ist es noch offensichtlicher. Er ist Putins persönlicher Feind. Dann gibt es noch den Fall Pjotr Wersilow, bei dem man in der Charité keine giftigen Substanzen gefunden hat. Allerdings vermuten Angehörige, dass er ebenfalls mit etwas vergiftet wurde.
Aber nun zurück zu Bykow. Er ist zweifellos sehr talentiert und hat hervorragende Romane geschrieben; einige seiner Vorlesungen sind einfach genial. Ein Dichter! Warum hätte man ihn vergiften wollen?
Zu den Motiven weiß ich keine Antwort. Und der Umstand, dass es keine offensichtlichen Motive gab, hat mir noch mehr innere Überzeugung abgefordert, dass es sich um einen Vergiftungsanschlag handelte. Denn es ist sehr viel einfacher, den Leser zu überzeugen, dass jemand vergiftet wurde, wenn es ein offensichtliches Motiv gibt. Fehlt das, ist die Unsicherheit viel größer. Deswegen haben wir so lange für diesen Bericht recherchiert.
Ich kann es Ihnen nicht sagen, ich habe Bykow einen Tag vor der Veröffentlichung gefragt. Er wusste auch keine Antwort, glaubte aber aufgrund unserer Ergebnisse sofort, dass er vergiftet wurde.
Sie reden mit Pseudowissenschaftlern. Das ist die Art Berater, die sie haben
Wir wissen nicht, wie es in ihren Köpfen aussieht, wie sie denken. Vielleicht haben sie irgendein Labor, in dem sie Risikomodelle erstellen. Ich weiß, dass diese Leute Pseudowissenschaft betreiben. Das sieht man an ihren Telefongesprächen, aus den Verbindungsdaten, den Gesprächen mit diversen Wahrsagern und Hellsehern.
Sie reden mit Pseudowissenschaftlern … Das ist die Art Berater, die sie haben … Daher ist es durchaus möglich, dass sie irgendein virtuelles Labor haben, in dem ihnen jemand etwas prophezeit, wie in Minority Report, falls sie den Film gesehen haben …
Könnte es sein, dass sie getestet haben, welche Dosis tödlich ist, welche nicht, bei Menschen mit unterschiedlicher Statur, mit unterschiedlichen Begleiterkrankungen?
Das wäre zu grausam, sogar für sie. Kann ich mir nicht vorstellen. Das wäre zu viel.
Ich denke, das Risiko, dass eine solche Operation scheitert, wäre zu groß, als dass sie an so zentralen Persönlichkeiten herumprobieren würden. Sie würden das bei irgendwelchen unbekannten Leuten machen.
Mörder heranzuziehen ist ein besonderer Prozess
In einem der Videoclips sagen Sie zurecht, dass wir von Fällen wissen, in denen ein Giftanschlag misslungen ist, dass wir aber nicht wissen, wie viele Menschen ermordet wurden. Rätselhafte Todesfälle hat es sowohl in London als auch in Moskau gegeben, und wohl auch an anderen Orten. Sie haben mir in einem der Interviews gesagt, dass es, wenn man all die Daten bei Gericht vorlegen würde, sehr schwierig wäre, sie zu leugnen, dass das Gericht genug Beweise hätte, um ein Verfahren wegen versuchten Mordes oder Mordes zu verhandeln. Was meinen Sie, würde so etwas die russische Staatsführung davon abhalten, mit dieser Praxis fortzufahren oder nicht?
Ich denke, das würde den Staat nicht aufhalten. Es würde aber sehr viel schwieriger werden, diese Strukturen schnell zu regenerieren, sie überhaupt wiederherzustellen. Mörder heranzuziehen ist nämlich ein besonderer Prozess. Es gibt ein recht großes Kontingent an Leuten, die zu den Sicherheitsdiensten gehen, um ihre Heimat zu verteidigen. Im weiteren Verlauf sind sie bereit, sich ein recht breites Verständnis, eine weit gefasste Definition von Feind eigen zu machen. In keine dieser Definitionen passt für einen frischgebackenen FSBler aber ein Feind wie Nawalny, ein Feind wie Bykow.
Am Anfang ist der Feind ein Terrorist, der während des Musicals Nord-Ost oder in einer Schule Geiseln nimmt oder Unschuldige mit einer Bombe umbringt und so weiter. Darauf sind sie vorbereitet, verstehen sogar, dass man einiges jenseits des Gesetzes machen muss, allerdings im Namen einer guten Sache. Aber nach einer Weile entfernen sich die Ziele von diesem Verständnis, es kommen Feinde hinzu, die nicht mehr ganz so offensichtlich Feinde sind – und das geht so weit, dass sie aufhören, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden und schließlich zu Geiseln ihrer eigenen Arbeit werden. Dieser Prozess braucht nach unseren Beobachtungen allerdings mindestens fünf, sechs, sieben Jahre.
Das heißt also, die Todesbrigaden bestehen aus auserwählten Menschen, die sich längst nicht alle zu direkten politischen Morden bereiterklären, selbst auf Befehl nicht. Müssen General Sedow und die Führungsriege des NII 2 jetzt, wo viele von diesen Leuten durch Ihre Recherchen im Rampenlicht stehen, intensiv an den Personalressourcen arbeiten, um neue Todesbrigaden aufzubauen?Absolut richtig. Umso mehr, als es sehr viel schwieriger sein wird, neue Leute für etwas zu rekrutieren, bei dem es nicht mehr wie früher die Garantie gibt, dass alles auf immer geheim bleibt. Wie es aussieht, haben ein paar nichtsnutzige Journalisten es offenbar geschafft, sie zu enttarnen und ihr Privatleben zu zerstören, weil sie bereits von ihren Nachbarn gehasst werden, verstehen Sie? Und von ihren Verwandten. Ich denke, es wird sehr viel schwieriger werden, neue Leute zu rekrutieren.
Nach dem, was er getan hat, kann er nicht von dieser Macht zurückzutreten
Da wäre noch ein Punkt. Wir alle erinnern uns, wie US-Präsident Joe Biden die Frage eines amerikanischen Journalisten bejahte, ob er Putin für einen Mörder halte. Der Sender NBC, der Putin vor dem Treffen der beiden Präsidenten [in Genf] interviewte, fragte ihn ganz direkt: „Sind sie ein Mörder?“ Putin wird zum Gefangenen einer aus seiner Sicht schlecht erledigten Arbeit (aus unserer Sicht: Danke, dass sie nicht mal fähig sind zu morden). Wäre ich an Putins Stelle, würde ich mich fragen: Was nützen mir Vollstrecker, die nichts sauber hinkriegen und mich in eine so heikle Lage bringen? Umso mehr, wenn dann sogar die Kinder fragen: „Papa, hast du wirklich Morde genehmigt?“ Oder der engste Kreis sagt: Wie können wir einen Präsidenten akzeptieren, von dem die ganze Welt sagt, dass er ein Mörder ist? Da entstehen doch für Putin, was sein Überleben betrifft, ganz erhebliche Risiken, oder nicht?
Ja. Ich denke, er ist Gefangener seiner eigenen Vergangenheit. Ich sage das nicht als investigativer Journalist. Das ist meine persönliche Analyse. Nach dem, was er getan hat oder aus guter alter Tradition weiterhin tat, obwohl es nicht mehr angebracht war, kann er es sich nicht erlauben, von dieser Macht zurückzutreten. Und garantieren, dass er nicht geht oder zumindest nicht auf normale Weise geht, kann er nur, wenn er diese Strukturen aufrechterhält. Weil sonst niemand weiß, was in ein, zwei Jahren bei den Wahlen passieren wird. Es ist unmöglich, sich auf sanfte Art von solchen Entscheidungen, von einem solchen Arsenal zu lösen.
Er ist nicht mehr so sehr der Verteidiger und Förderer der Interessen der herrschenden Nomenklatura, sondern stellt für deren Kapital ein gewisses zusätzliches Risiko dar. Ich würde sagen: das ist ein Gefangenendilemma.
Ich denke aber, was in diesem Dilemma überwiegen wird … Vermutlich wird sich eher die Elite von ihm lossagen als er sich von der Elite. Weil die Elite dann ihr Gesicht wahren kann, und sei es um der eigenen Verwandten und Kinder willen, indem sie erklärt: Ich habe ja nicht gewusst, dass er das getan hat.
Es entsteht eine Mischung aus Adrenalin und dem Verlangen, die Ressourcen einzusetzen, die du in dir entdeckt hast
Umso mehr, als dass niemand in der Elite sicher sein kann, dass er nicht morgen auch auf einer solchen Liste landen könnte, wie unter Genosse Stalin. Meine letzte Frage, Christo. Sie sind wohlhabend, Sie leben in Europa, Sie kommen aus Bulgarien, und nicht aus Russland. Wozu machen Sie das alles?
Nun, das ist doch alles sehr ungerecht, und ich sehe, dass man es ans Tageslicht befördern und beweisen muss … Haben Sie mal den Film über diesen amerikanischen Chemielehrer gesehen, der zum Drogenhersteller wurde, Breaking Bad? Ich habe diesen Film vor anderthalb, zwei Jahren gesehen und dachte, dass ich diese Motivation zum Teil auch habe. Das heißt, du fängst an, etwas zu tun, was überhaupt nicht deine Aufgabe ist, und plötzlich stellt sich heraus, dass du es besser machst als die Geheimdienste. Und es entsteht eine Mischung aus Adrenalin und diesem Verlangen, die Ressourcen einzusetzen, die du in dir entdeckt hast … Es ist sehr schwer aufzuhören, wenn du das erstmal erkannt hast.
Vielen Dank für Ihre Arbeit.
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Russland droht die vierte Welle der Corona-Pandemie – wenn sich das Land nicht schon mittendrin befindet. Die offiziellen Zahlen – die viele immer noch für geschönt halten – sind erschreckend: Die Anzahl der Neuinfektionen pro Tag liegt demnach bei mehr als 20.000, mit 669 Toten am Tag war die Sterberate Ende Juni so hoch wie nie zuvor. Besonders stark betroffen sind die Metropolen, dabei sind allein in Moskau laut Behördenangaben 90 Prozent der Neuinfektionen auf die Delta-Variante zurückzuführen.
So war es auch Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin, der vor rund zwei Wochen Alarm schlug. In Moskau dürfen seit Montag nur noch Geimpfte, Getestete oder Genesene die Restaurants und deren Außenbereiche besuchen, was über QR-Codes geprüft wird. Außerdem verhängte Moskau eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen, einzelne weitere russische Regionen in der Folge ebenfalls. Nichtsdestotrotz wird am morgigen Freitag ein Viertelfinalspiel der Fußball-EM in der Sankt Petersburger Gazprom-Arena stattfinden – 50 Prozent Auslastung sind zugelassen, das sind knapp 30.000 Menschen.
Beim Direkten Draht mit Wladimir Putin am gestrigen Mittwoch war Corona eines der wichtigsten Themen. Putin betonte dabei die Notwendigkeit einer Impfung, schloss eine Impfpflicht jedoch aus und sagte, dass durch die neue Impfstrategie der Regionen ein Lockdown hoffentlich verhindert werden könne.
Immer wieder werden kritische Stimmen laut, dass eine einheitliche Coronastrategie fehle: Die Regierung habe vielmehr lange den Eindruck erweckt, als sei die Coronagefahr gebannt. Und auch jetzt überlasse sie die Verantwortung den Regionen – wohl aus Angst, vor der Dumawahl im Herbst unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen.Die Impfskepsis jedenfalls ist in Russland trotz der erschreckend hohen Zahlen nach wie vor groß: Laut John Hopkins University sind nur knapp 12 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft – und das, obwohl Russland mit Sputnik V als erstes Land einen Impfstoff zugelassen hatte. Laut Umfrageinstitut Lewada lehnen nach wie vor rund 60 Prozent der Menschen im Land eine Impfung ab.
In sozialen Medien entbrannte sogleich eine heftige Debatte über die teilweise geltende Impfpflicht. Die Linien verlaufen dabei jedoch nicht nur zwischen Corona-Leugnern, Impfgegnern und -befürwortern, vielmehr wird quer durch alle Milieus ein hohes Misstrauen gegenüber staatlich verordneten Maßnahmen deutlich.
Ein solches „Misstrauen auf allen Ebenen“ nimmt auch Journalist Andrej Sinizyn wahr und gibt auf Republic Einblick in ein zerrüttetes Gesundheits-und Vertrauenssystem.
Letztes Jahr, als meine Zwillinge zwei Monate waren, fuhren wir in die Poliklinik, um sie vorschriftsgemäß impfen zu lassen. Wir gingen nacheinander ins Behandlungszimmer (die Mutter mit der Tochter und ich mit dem Sohn). Als wir fertig waren, wunderten wir uns, warum ein Kind eine Schluckimpfung gegen Rotaviren, das andere aber eine Spritze bekommen hatte. Doch auf unsere empörte Nachfrage entgegnete die Krankenschwester, das müsse so sein. Erst zu Hause sagte unsere wachsame Großmutter (eine Kinderärztin mit langjähriger Berufserfahrung), die gerade zu Besuch war, eine Rotaviren-Impfung würde niemals gespritzt. Wir fuhren sofort wieder hin und es stellte sich heraus, dass die Krankenschwester sich vertan und meinen Sohn gegen Hepatitis statt gegen Rotaviren geimpft hatte („Was ist schon dabei? Nächstes Mal machen wir es eben andersrum.“).
Falsche Impfung? „Was ist schon dabei?“
Wir mussten ihn umgehend gegen Rotaviren und unsere Tochter gegen Hepatitis impfen lassen. Das war natürlich eine zusätzliche Belastung für den kleinen Körper (zuvor hatten beide auch noch „Prevenar“ bekommen), aber sonst wäre es noch gefährlicher geworden: Gegen Rotaviren gibt es eine Lebendimpfung, ein Kind könnte das andere anstecken, sie leben ja nicht nur zusammen, sie saugen auch noch an derselben Brust.
Selbstverständlich war der Papa schuld, weil er sich nicht im Voraus informiert hatte, welche Impfstoffe wie verabreicht werden. Anders gesagt, er hätte sich nicht blind auf die Pädiatrie verlassen dürfen, wo man offensichtlich Impfungen vertauscht, dies zunächst abstreitet und dann auch noch sagt: „Was ist schon dabei?“Gesundheitssystem am Boden – und dann bricht die Epidemie aus
Der Papa ist ja nicht erst seit gestern auf der Welt, er hat schon seine Eltern zu Grabe getragen – verstorben an einem Infarkt und an Lungenkrebs, beides war im Bezirkskrankenhaus nicht diagnostiziert worden. Und auch er selbst hat schon bei Gesprächen mit Ärzten widersprüchliche Erfahrungen machen müssen. Ob Sowjetunion oder Russland, ob Kinder- oder Erwachsenenmedizin – die Qualitätsunterschiede sind nicht sonderlich groß. Alles hängt vom jeweiligen Krankenhaus, den jeweiligen Ärzten und jeweiligen Krankenschwestern ab, und die haben nicht wirklich viele Anreize, ihre Arbeit gut zu machen. Darüber wurde bereits hundertfach berichtet. Das Ausbildungsniveau, die technische Versorgung, die Gehälter, die Korruption, der Druck durch die Verwaltung (Buchhaltung und Schönung der Daten, damit das Ergebnis stimmt), der Druck durch die Behörden (Stichwort „Ärzteverschwörung“), die berüchtigte Optimierung des Gesundheitswesens – das alles sind Faktoren, weshalb die medizinische Versorgung in Russland in den letzten Jahren ins Bodenlose gestürzt ist.
Und dann bricht in diesem Land eine Epidemie aus. Wir berichten über heldenhafte Ärzte, heldenhafte Krankenschwestern, heldenhafte Ehrenamtler – völlig zurecht. Sie sind Helden, sie retten Menschen, riskieren ihre Leben, sterben. Wir berichten von aus dem Nichts gestampften Covid-Krankenhäusern mit moderner Technik – auch zurecht, obwohl sich hier schon erste Fragen stellen: nach der medizinischen Versorgung jenseits von Covid und nach Korruption.
Korruption, Ineffizienz und schwindende Kompetenz
Vergessen wir nicht, dass das russische Gesundheitssystem immer noch von Korruption, Ineffizienz und schwindender Kompetenz geprägt ist. Und wenn wirklich große Aufgaben wie die Impfung der gesamten Bevölkerung anstehen, wird das besonders deutlich.
Die Novaya Gazeta berichtete davon, wie in Impfzentren Sputnik V gegen EpiVacCorona ausgetauscht wird (der Impfstoff hat zwar keine klinischen Studien durchlaufen, aber dafür hat der Leiter der Gesundheitsaufsichtsbehörde ihn mitentwickelt). Forscher haben ernsthafte Vorbehalte gegen EpiVac. Zudem wird einigen Patienten nach einer ersten Impfung mit Sputnik V als zweite Dosis EpiVac verabreicht, was prinzipiell nicht zulässig ist. Diese Fälle sind so häufig, dass sie sich nicht mehr mit Versehen oder Unwissenheit entschuldigen lassen – es scheint vielmehr, als bekämen die Kliniken entsprechende Anweisungen von oben. Zudem gibt es vermutlich Lieferengpässe bei Sputnik. Angenommen, Sputnik fehlt, die Logistik hinkt, aber, sieh an, EpiVac ist verfügbar – nehmen wir!
Die Menschen, die der Novaya davon erzählt haben, werden vor Gericht ziehen. Aber wie viele Menschen, die wissen, dass sie betrogen wurden, ziehen nicht vor Gericht? Und wie viele wissen es nicht mal?
Misstrauen auf allen Ebenen
Wenn wir behaupten, der Unwille der russischen Bevölkerung, sich impfen zu lassen, käme vom Misstrauen gegenüber der Regierung, denken die meisten wohl an Putin, Mischustin, Sobjanin oder irgendwelche Minister und Bürgermeister. Aber Misstrauen herrscht auf allen Ebenen, auch auf der untersten: Misstrauen untereinander ist allen wohlbekannt.
Gehört ein Arzt zum Machtapparat dazu? Für den Durchschnittsrussen absolut, und das seit Sowjetzeiten. Das Gesundheitswesen war ja staatlich (und ist es auch heute noch mehr oder weniger). Aber sogar, wenn es um konkrete Behandlungen geht, lehrt die Erfahrung mit diesem System einen Patienten, dass er ihm nur vertrauen soll, wenn es gar nicht anders geht. 60 Prozent der Lunge hin – na gut, dann rettet mich mal, wo wart ihr denn bislang? Aber mich impfen lassen? Nee, ich trink lieber einen Wodka, ein bewährtes Volksheilmittel.
Deswegen liegt Russland am 23. Juni mit einer Impfquote von 14,13 Prozent auch weltweit auf Platz 83. Während die Zahl der Infizierten unaufhaltsam steigt, Moskau und Petersburg brechen alle Rekorde bei der Corona-Sterberate.
„Mich impfen lassen? Nee, ich trink lieber einen Wodka“
In den sozialen Netzwerken wird hitzig diskutiert, ob das russische Volk gut oder böse sei, weil es sich trotz aller Gegebenheiten, trotz wirksamen Impfstoffs, nicht impfen lassen wolle und damit die Gesundheit anderer gefährde. Während die Regierung – endlich „aufgewacht“ – die Verantwortung für die Nicht-Impfung auf das Volk schiebt.
Aber eigentlich nehmen sich Volk und Regierung nicht viel. Das Problem ist nicht nur, dass ein Staat, der bisher gelogen hat, plötzlich die Wahrheit sagt und etwas Nützliches tut, während das Volk sein Glück nicht fassen kann und ihm nicht glaubt. Das Problem ist auch, dass der Staat das Nützliche mit seinen gewohnten Mitteln macht – sprich, einfach Mist –, indem er nur die halbe Wahrheit sagt, und auch die nur, wenn er davon einen Vorteil hat. Deswegen verliert nicht nur der Durchschnittsrusse den Überblick, sondern auch der Durchschnittsarzt, der zu diesem Russen sagt: „Der Impfstoff ist nicht ausreichend erforscht, lass dich lieber nicht impfen.“
Aber die Beamten wären keine Beamten, wenn sie die Bürger nicht zur Impfung motivieren würden: durch strenge Regelungen in Restaurants, Druck auf Unternehmen, die Einführung einer 60-prozentigen Impfpflicht, Androhung von Diskriminierung und Kündigung. Sie übererfüllen die Norm und reproduzieren Sowjetpraktiken, denen die Bürger längst zu entgehen gelernt haben.
Nicht alle natürlich. Die Impfpflicht („wie in der Sowjetunion“) kann die Quote anheben. Viele Bürger sind paternalistisch eingestellt; wenn eine „starke Hand“ uns zur Impfung zwingt – na dann machen wir’s halt. Aber irgendein „Impfkapital“ oben drauf, das wär doch fein? Natürlich mit der Verpflichtung, es in die Gesundheit zu investieren. Nur in die Gesundheit! Keine Auszahlung in bar, versteht sich … Na ja, höchstens für eine Reise in den Kaukasus. Oder für die Hypothek. Ein bisschen was für die Hypothek ist schon in Ordnung, oder Wladimir Wladimirowitsch? So kurz vor den Wahlen?
Dann lassen wir uns auch impfen. Wenn wir dann noch leben.
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