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Anders sein – Dissens in der Sowjetunion
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Annäherungen
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Minsk-21, Transitzone
Zichan Tscharnjakewitsch, 1986 in der süd-belarussischen Stadt Pinsk geboren, gilt als einer der bekanntesten Literaturkritiker und -kenner seiner Generation. In diesem Text beschreibt er die momentane Lage, in der sich viele seiner Landsleute nach einem Jahr der scharfen Repressionen befinden. Eine Lage, die einem Zwischenzustand gleicht, wie in der Transitzone eines Flughafens, in der man die Gedanken ordnend vor sich hindämmert, bevor man endlich seinen Weg fortsetzen und in die Zukunft aufbrechen kann.
Russische Version auf Colta.ru
Die Stadt ist alt geworden, das spürt man. Obwohl, verflixt – ich weiß nicht, wie ich es euch erklären soll. Vielleicht ist mir etwas ins Auge geraten – Staub, ein Spiegelsplitter, und plötzlich ist alles verkehrt.
In den Trolleybussen riecht es nach Kölnisch Wasser, nach süßlichen Fahnen von Obstwein, nach vergilbtem Mull selbstgebastelter Masken, nach warmem, feuchtem Kohlendioxid: Das schlägt sich an den geschlossenen Fenstern nieder und trägt den Tod in sich. Immer hustet jemand, ständig sitzt jemand ohne Maske da und hustet. Was hast du hier verloren, Jacques-Yves Cousteau, das erste Mal in deinem Tiefsee-U-Boot, sehr unbequem, wie lang sich dieser Tauchgang wohl hinzieht.
Ich stürze aus dem Trolleybus und stehe vor einer Polizeistreife. Denn in letzter Zeit geht es mir immer so: Wenn ich aus dem Trolleybus steige, stoße ich unweigerlich auf eine Polizeistreife. Neulich ging ich beim Polizeirevier Perwomaiski die Bjalinskaha Straße entlang und sah, wie die Patrouillen losmarschierten: Jede Minute kamen drei aus dem Tor heraus, dann wieder drei, insgesamt dreißig Mann mit Schlagstöcken. Hätte man die Szene gefilmt, hätte sie eins zu eins in den Director’s Cut von The Wall gepasst. Wäre später natürlich rausgeflogen. Denn eigentlich ist das langweilig. Nichts Lebendiges, keine hyperboreische Freude in den Bewegungen, keine Sturmhauben und Munitionsgürtel mehr. Routine.
Das letzte Mal, dass einer der berühmten grünen Gefängnistransporter zielstrebig durch die Stadt rollte, war im Juli. Es war heiß, und die schwarzen Sturmhauben ragten aus den offenen Autofenstern, scannten angespannt die Umgebung. Es war der letzte Schultag und offenbar hatte sich jemand im Innenministerium gedacht, dass zumindest ein paar angenebelte Schulabgänger, die Fahnen von Eukalyptus und Menthol verströmten, sich mit inoffizieller Symbolik schmücken, regierungsfeindliche Parolen rufen, sich einer Festnahme widersetzen und an Uniformen zerren würden. Aber nein.
Was soll ich denn sagen über die Zukunft? Sie dauert schon lange. Zeitspannen haben mich schon früher beschäftigt. Einmal habe ich den Sohn von Jakub Kolas gefragt, was denn Janka Kupala für ein Typ war. Während ich mich mit ihm über die 1930er und 1940er Jahre unterhielt, spürte ich eine gigantische, kosmische Distanz. Denn Gewalt verdichtet das Zeitgefühl. Gefüllt mit Gewalt, vergehen die Tage langsamer, sind voller Leidenschaft, Schmerz, Moosbeersaft. Je mehr kaputte Seelen, desto größer die Amplitude. Und das Blut in den Adern fließt nicht mehr, sondern verklumpt, verstopft und sperrt dich ein zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Außerdem: Zukunft ist nur im Prozess ihrer Gestaltung möglich. Dafür braucht man Baumaterial und ständig erneuerbare Energiequellen. Modelle, Pläne, Programme, für die es Spielregeln gibt und die man befolgen und umsetzen kann. Besser: nicht nur umsetzen kann, sondern auch wirklich will. Gleich nach dem Aufstehen, ohne erst mal eine zu rauchen.
Noch will man nach dem Lesen der Morgennachrichten sofort eine Zigarette rauchen: Einer ist zu Hause umgebracht worden, einer im Gefängnis gestorben, einer kam aus dem Gefängnis, hatte plötzlich Krebs und starb; wieder ein anderer sitzt einfach und lebt noch, hat zehn Tage bekommen. Oder zehn Jahre. Gerade waren es noch 700 politische Gefangene, kaum schaust du dich um, sind es schon über 900. Gerade hieß es noch, ein paar tausend politische Strafprozesse, und bumm, plötzlich sind es 5000. Sind fünf noch ein paar? Keine Ahnung, ich bin kein Linguist.
Keiner meiner Freunde kauft Lebensmittel auf Vorrat. Das ist alles Luxus, den man vielleicht gar nicht brauchen wird. Ein halbes Dutzend Eier, zwei Syroki, ein kleiner Becher Schmand. Eine Packung Toastbrot wirkt schon merkwürdig. Planst du etwa für eine ganze Woche? Willst du 100 werden?
Und immerzu hustet jemand. Gestern bin ich in die Stadt gegangen, um mir den chinesischen Impfstoff spritzen zu lassen, damit ich ein Zertifikat bekomme, mir ein Ticket an die nächstbeste Küste kaufen kann, wo ich mitsamt der Kleidung ins Meer steige und vielleicht gleich dort abkratze. Im Stadtzentrum tummelten sich scharenweise Migranten, manche sogar mit Dolmetschern. Sie schienen bester Stimmung. „Ungefähr so werde ich auch drauf sein, wenn ich das Meer sehe“, dachte ich. Aber den chinesischen Impfstoff gab es nirgends, es gab nur noch Sputnik. „Ist hier vielleicht der chinesische aufgetaucht?“ habe ich bei den Impfstationen im ZUM und im GUM gefragt. „Noch nicht, kommen Sie morgen wieder. Alle fragen danach – Sie sind viele, und ich bin hier ganz allein.“
„Hätte ich ihr Geld zustecken sollen, oder Konzertkarten für Gasmanow?“, so die trostlosen Gedanken eines Menschen, der sich in der Fernsehgeräteabteilung des ZUM umschaut. Auf zwanzig Bildschirmen gleichzeitig die Übertragung einer Sendung über die Entwicklung strukturschwacher Regionen. Es wurde vorgeschlagen, irgendwo Geld aufzutreiben und es großzügig in die Erneuerung der bestehenden Ordnung zu stecken.
Alle Regionen, die in der Sendung rückständig genannt wurden, würden im Fall einer Grenzziehung im Osten in den unteren und mittleren Schichten der Atmosphäre bestimmt zu Schmugglerparadiesen und bei Aufstiegsströmungen zu Freihandelszonen. Doch solange es keine Grenze gibt, fahren die Bewohner lieber auf Baustellen nach Moskau, um Estrich zu gießen und wer das nicht kann, um sich die Kehle zu füllen. Ich behielt meine Gedanken aber für mich. Wer weiß, was für Gerätschaften in dieser Fernseherabteilung noch herumstehen. Wozu habe ich überhaupt diesen ganzen Absatz geschrieben? Ich interessiere mich doch eigentlich gar nicht für Politik.
Auf den Bildschirmen läuft jetzt ein Fußballspiel. Doch für Fußball interessiere ich mich auch nicht. Ja klar, ich habe davon gehört, dass letztes Jahr bei der Nationalmeisterschaft im Finale, in den letzten entscheidenden Sekunden, jemand den Ball von der Spielfeldmitte direkt ins Tor des amtierenden Meisters befördert hat. Doch der Schiedsrichter hat das Tor für ungültig erklärt. Als die Mannschaft daraufhin rebellierte, hat der Schiedsrichter alle einsperren lassen, die Fans im Stadion mit Granaten beworfen und dann ebenfalls festnehmen lassen. Die, die die Übertragung verantworteten, wurden auch eingesperrt, und jetzt buchtet man die ein, die die Übertragung gesehen haben. Ich habe das Spiel natürlich nicht gesehen, ich habe nur davon gehört. Ich besitze ja nicht einmal einen Fernseher. Wie gesagt, ich interessiere mich nicht für Fußball.
Die Stadt ist voll gelbem Ahorngestöber. Instagram ist voll bunter Blätter und in Vorstadtwäldern gefundenen Steinpilzen und Rotkappen. Es gibt auch Fans von Täublingen und Milchlingen, aber das ist eine Kaste für sich, viele Likes bekommen sie nicht. Der Schwarze Milchling ist außerdem ein Vorratspilz – da zeigt sie sich wieder, die Zukunft, die es nicht gibt. Und auch Spielregeln gibt es nicht. Nicht wie beim Angeln – fangen, ausnehmen, braten, essen. Das ist schon näher dran an der Realität.
Wie dem auch sei, man muss das Leben genießen. Ich halte mein Gesicht in die Sonne. Nichts hindert die letzten warmen Strahlen, nichts bremst die Lichtgeschwindigkeit, denn ich stehe neben dem neuen Gebäude des Obersten Gerichtshofes. Der Platz davor ist eine riesige Ödnis ohne Bäume. Ich bin gerade arbeitslos geworden; im Land wurden mehrere hundert Organisationen aufgelöst, und heute war unsere an der Reihe. Angeblich haben wir irgendwelche Vorschriften im „globalen Computernetzwerk Internet“ ignoriert und den Kontrollinstanzen Dokumente vorenthalten. Dass sie die Hälfte dieser Dokumente bei der Durchsuchung konfisziert und die andere Hälfte zusammen mit dem Büro versiegelt haben, hat niemanden interessiert. Ich stehe da und denke nach über das „globale Computernetzwerk Internet“. Ist es wirklich so global? Und geht es überhaupt um Computer, und wenn ja, warum?
Wenn Prousts Held sich schlaflos im Bett wälzt und seine blassen Beine betrachtet, denkt er an die Frauen, mit denen er es gut hatte. Wenn ich nicht schlafen kann, denke ich eher an das, was der in Ungnade gefallene Schauspieler Alexander Schdanowitsch einmal gesagt hat: „Jetzt in Belarus zu bleiben, ist wie in einem Zimmer zu wohnen, in dem sich unter dem Bett eine giftige Schlange versteckt.“ Eine Freundin von mir, sie ist Künstlerin, erwiderte, das Leben sei grundsätzlich eine Schlange unter dem Bett, nur sei es in Belarus eine schwarze Mamba. Ehrlich gesagt, wenn du schon ein Jahr chronisch an Schlafstörungen leidest, kommt es dir so vor, als würde unter deinem Bett ein ganzes Schlangennest hausen.
Wenn einem etwas scheint, dann muss man sich bekreuzigen, so ein Sprichwort. Schließlich kann man seine subjektiven Wirklichkeiten, die einen in Form von Empfindungen überkommen, nicht anderen Menschen aufzwingen. Ja, hier in dieser Stadt, wo zwölf deiner Freunde schon im Gefängnis gesessen haben und weitere Angehörige immer noch sitzen, kann man Lebensfreude nur imitieren. Andererseits musst du sie auch imitieren, sonst frisst dich die Brut auf, die unter deinem Sofa zischt.
„Na, Sie waren ja ewig nicht mehr zum Haareschneiden hier, bestimmt zwei Monate. Ist schon völlig rausgewachsen. Heute kam ein merkwürdiger Typ hier rein, der wollte unbedingt die Haare auf Pump geschnitten bekommen, hatte wohl sein Geld versoffen und kam dann her. Bei uns im Wohnheim wimmelt es von denen, wollen mal dies, mal das, und dann kommt noch dein Göttergatte, bettelt rum. Welches Wohnheim? Na, das für Energietechniker. Warum soll ich Energietechniker sein, ich bin kein Energietechniker, ich weiß gar nicht, wie viele es bei uns noch gibt von denen, vielleicht gar keine mehr, alle möglichen wohnen da, seit letztem Jahr sind es weniger geworden, die haben alle Rot-Weißen rausgefischt und auf die Straße gesetzt, wissen Sie, woran sie die erkennen? An den Augen. Als die auf die Straßen gekommen sind, da wurden ja die Augen gefilmt, und so haben sie nachher alle erkannt. Bei uns wurden vierzig Leute rausgeworfen. Aber jetzt ist kein Platz mehr, natürlich sind dafür Neue nachgekommen, sogar ein stellvertretender Minister hat bei uns gewohnt, als der alte entlassen wurde. Aus Witebsk kam der neue, hat immer gelächelt, unsere Mädels waren gleich Feuer und Flamme, aber dann kam seine Frau übers Wochenende, hat sie gesehen, und gesagt „Schluss, morgen ziehe ich hierher“. Die hat dann niemanden gegrüßt. Aber jetzt haben sie irgendeine Dienstwohnung bekommen. Aber klar, unsere Mädels sind heiß. Ach was, die sind keine Energietechnikerinnen. Die haben alle drei, vier Kinder, leben vom Kindergeld. Draußen findet man gar keinen Parkplatz mehr, die kaufen sich alle einen Geely auf Kredit, die Kinder lassen sie barfuß im Flur rumlaufen, in dreckigen T-Shirts, stehen alle rum und rauchen, sagen Hi!, die Kinder sind bis abends sowieso wieder durchnässt, das härtet ab, da braucht man keine Schuhe zu kaufen, wenn sie barfuß rumrennen Und dann immer: Hast du einen Bonbon für mich, manchmal geb ich ihnen eins. Haben Sie auch Kinder? Ja? Ach so.“
Insgesamt glaube ich nicht, dass sich alles auf Dauer beruhigt hat. Nur die Ordnung hat sich verändert im direkten wie im übertragenen Sinn. Die Belarussen waren schon immer Meister im Universum des Überlebens, diese Fähigkeit kann ihnen niemand nehmen. Ein vernünftiger Mensch denkt strategisch, das mag die Staatsmacht nicht. Denn das strategische Denken – das zukunftsgerichtete Denken, das Denken in großen Begriffen – spielt nie auf der Seite der Gewalt. Jede Thrombose wird früher oder später bereinigt, der Organismus versteht die Notwendigkeit, sich selbst zu heilen, damit das Blut normal fließen kann.
Aber bis dahin, bis dahin rauche ich in der Dunkelheit und atme die Fäulnis der Ebbe ein.
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Liquidierung des Gedenkens
„Ein Schock“ – so reagiert die deutsche Sektion der Menschenrechtsorganisation Memorial auf die Nachricht vom Donnerstag, 11. November: Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat an diesem Tag die Auflösung der NGO gefordert, die Verhandlung ist für den 25. November angesetzt, wie die Menschenrechtsorganisation auf ihrer Seite berichtet.
Memorial macht sich seit der Perestroika vor allem auch für eine Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit stark. Die NGO ist regelmäßig Ziel von Einschüchterungs- und Behinderungsversuchen seitens der russischen Behörden. Seit 2014 steht das Menschenrechtszentrum von Memorial auf der Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“. 2016 bekam auch die gesamte Organisation das Stigma angeheftet.
Für Oleg Kaschin sind das alles keine Einzelfälle mehr, sondern Episoden einer regelrechten Vernichtungskampagne. Wie auch für zahlreiche andere Beobachter ist die Logik dahinter für Kaschin „klar und nachvollziehbar“: Der Kreml strebe nach einem Monopol der Erinnerungskultur, Konkurrenten auszuschalten gehöre da einfach dazu. Warum Säuberungen auf dem Feld der Erinnerungskultur aber nicht funktionieren können – das zeigt der Journalist auf Republic.
Die drohende Liquidierung von Memorial fällt aus dem Rahmen der sonstigen staatlichen Attacken auf gesellschaftliche Institutionen und wirkt beispiellos und einzigartig; für den Staat verständlich ausgedrückt hieße das: Genauso gut hätte man eine altehrwürdige Kirche abreißen, ein ewiges Feuer löschen oder ein Grab schänden können. Alle bisherigen Pogromaktionen gegen politische und gemeinnützige Organisationen, Medienredaktionen, Wissenschafts- und Bildungseinrichtungen gingen – so schmerzvoll sie auch gewesen sein mögen – nicht über das unmittelbare Verhältnis zwischen dem Staat und denjenigen hinaus, die nicht gefallen. Aber hier kommt nun außer dem Staat und denjenigen, die er zerstört, noch ein drittes Subjekt hinzu – ein körperloses, ätherisches, und trotzdem äußerst auffälliges, markantes.
Es geht um die Strafe für historisches Erinnern
In diesem neuen Kapitel geht es um die die Bestrafung des historischen Erinnerns. Natürlich ist da noch der Aspekt unserer ewigen verfluchten Unsicherheit: Theoretisch wäre es denkbar, dass irgendein glubschäugiger Beamter, der den Kontext nicht kapiert, auf seinem Zettelchen gelesen hat, dass da irgendwelche Menschenrechtler gegen die Auflagen für „ausländische Agenten“ verstoßen, eine Resolution verhängt, und der seelenlose Mechanismus setzt sich seelenlos knarzend in Bewegung. Doch die Wahrscheinlichkeit einer solchen Erklärung ist zugegebenermaßen verschwindend gering, und die Rede ist eben nicht von einem seelenlosen Mechanismus, sondern von Menschen aus Fleisch und Blut, die alles verstehen, die einen Kopf und ein Herz und Hände haben (und zwar einen kühlen, ein warmes und saubere, wie es im Märchenbuch dieses Berufsstandes gleich zu Anfang heißt). Und eine Seele haben sie auch – nur dass sie schwarz ist, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt.
Jede einzelne Episode des Drucks auf Memorial ließe sich als ein Einzelfall beschreiben: Der Fall Ojub Titijew in Grosny – klar, Tschetschenien, Kadyrow rechnet mit seinen Feinden ab. Der Fall Juri Dmitrijew in Karelien – auch klar, hier geht es um Dmitrijew selbst, vielleicht sind hier persönliche Rechnungen offen, vielleicht gibt es ja wirklich keinen Rauch ohne Feuer, jedenfalls ein Einzelfall, kein System. Auch als Ljudmila Ulitzkaja Brillantgrün ins Gesicht gespritzt wurde, ließ sich das erklären: Der Kreml hat sich im Spiel mit den Gopniki vergessen, mit ihnen gemeinsame Sache gemacht, Putin war außer sich vor Zorn, als er davon hörte, jetzt kriegt man jemanden dran und damit hat sich die Sache. Kürzlich dann der Skandal, als der Film Gareth Jones gezeigt wurde (die Entscheidung über die Liquidierung von Memorial lag da vermutlich bereits auf irgendeinem Schreibtisch und wartete darauf, abgesegnet zu werden) – selbst dieser Vorfall, als Halbstarke den Saal stürmten, in Begleitung eines Fernsehteams von NTW und der Polizei, die die Tür mit Handschellen versperrte und die Personalien aufnahm – selbst dieser Unsinn ging nicht über die mittlerweile zur Gewohnheit gewordenen „lokalen Auswüchse“ hinaus.
Als das Oberste Gericht vor sieben Jahren bereits einmal einen Antrag auf die Liquidierung von Memorial prüfte, erklärte der damalige Leiter Arseni Roginski, ein Dissident mit noch sowjetischer Prägung, das sei kein großes Drama – es gebe viele Projekte, viele juristische Personen, das Ökosystem sei riesig und es sei wohl kaum jemand in der Lage, es vollends zu zerstören. Jetzt ist Roginski nicht mehr da, er ist gestorben, und gestorben sind auch die Zweifel, was die Kräfte und Möglichkeiten des Gegners angeht – längst ist klar, dass es keine Festungen gibt, die diese Leute nicht einnehmen könnten. Der Liquidierungsantrag der Staatsanwaltschaft an das Oberste Gericht verbindet alle bisherigen Auswüchse zu einer einzigen großen Vernichtungsoperation. Das war auch so klar, aber jetzt ist es offiziell bestätigt.
Denn hinter ihren Rücken hervor blickt in eure Tschekisten-Augen die größte Tragödie des Volkes …
Wir wollen das Verhältnis zwischen den Erben des NKWD und den Erben seiner Opfer nicht einfacher machen, als es ist. Natürlich schüttelt es unsere Staatssicherheit, wenn sie das Wort „Menschenrechtler“ nur hört. Das war schon Mitte der 1990er Jahre so, und der durchschnittliche russische Silowik wird dir, wenn du ihn fragst, voller Überzeugung erzählen, wie Sergej Adamowitsch Kowaljow (Vorsitzender von Memorial in den 1990er Jahren) unseren Jungs in Tschetschenien in den Rücken geschossen hat. Seit dem Krieg ist die Liste der Vorwürfe eines durchschnittlichen Silowik oder eines durchschnittlich Loyalisten oder Patrioten gegen Memorial um weit mehr als einen Punkt gewachsen: die LGBT-Frage, der Georgienkrieg, der Donbass und vieles andere mehr. Ja sogar der Film, dessen Vorführung im Memorial-Büro vor sechs Wochen gesprengt wurde, war ein polnischer Film über den Holodomor in der Ukraine, den das offizielle Russland bestreitet. Schaut man also durch ein Fenster in der Lubjanka oder im Kreml auf Memorial, sieht man da eine echt feindliche Organisation.
Ein echter Feind in allen Belangen, und vermutlich hätten sie ihn schon 1999 oder sagen wir Mitte der 2000er ausgeschaltet, so wie Lew Ponomarjows NGO Sa prawa tscheloweka [dt. Für Menschenrechte] oder Limonows Partei oder die ganzen anderen. Aber irgendetwas hielt sie davon ab, und wir verstehen auch, was: die in der Erde verscharrten Knochen, der Solowezki-Stein, die verrottenden Lagertürme in der Tundra und in den Wäldern, die Maske der Trauer in Magadan, der Butowski Poligon und die Kommunarka. Ja sogar Solschenizyn und Ljudmila Alexejewa, die sie mit Sicherheit auch verachtet und gehasst haben, aber tief in eurem Inneren habt ihr gespürt, dass man ihnen nicht feindlich gegenüberstehen darf – denn hinter ihren Rücken hervor blickt in eure Tschekisten-Augen die größte Tragödie des Volkes, dessen Führung euch nun zugefallen ist und die ihr immer noch, gelinde gesagt, ein wenig fürchtet. Deshalb habt ihr Denkmäler und Museen eingeweiht, und Neumärtyrer-Kirchen, und deshalb habt ihr es ertragen, musstet es ertragen, habt Memorial ertragen, seine euch unangenehme Positionen bis hin zur LGBT-Frage. Habt es ertragen, doch nun ist Schluss. Gesunken, ja, gefallen ist die psychische Hemmschwelle. Gestern durfte man nicht, aber heute darf man. Habt ihr vielleicht kapiert, dass Ljudmila Alexejewa nicht mehr bei euch anrufen wird.
Die russische Staatsmacht macht keinen Hehl daraus, dass sie die einzige Quelle historischen Erinnerns sein will
Und, ja, Gareth Jones wird nun nicht mehr gezeigt werden, und womöglich ist das total egal, aber bald wird auch die Website gesperrt sein, der die Menschen alljährlich Ende Oktober die Namen der Toten entnehmen, um sie am Solowezki-Stein vorzulesen, und dann werden eines Tages Forscher der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft den Beweis erbringen, dass die Deutschen im Herbst 1941 bis zur Kommunarka vorgedrungen sind, und dort in den Gräben in Wirklichkeit sowjetische Partisanen liegen (und das ist gar nicht mal unbedingt eine Metapher – wie wir wissen, ist es mit Sandarmoch im Fall Dmitrijew fast genauso passiert).
Vernichtet wird ein historisches Institut, das noch von Andrej Sacharow gegründet wurde
Die russische Staatsmacht macht keinen Hehl daraus, dass sie die einzige Quelle historischen Erinnerns sein will. Memorial & Co sind für sie seit einiger Zeit nicht bloß Gegenspieler, sondern Rivalen. Rivalen, mit denen man bei Gelegenheit bis zur Vernichtung kämpft. Die Logik ist klar und nachvollziehbar. Aber dennoch – Erinnern ist kein Marktplatz, es ist Metaphysik, und auf diesem Spielfeld mit den Methoden klassischer staatlicher Säuberungen vorzugehen ist gefährlich und unberechenbar. Indem sie sich Memorial entledigen, entwerten sie auch die eigene Version der Geschichte – keinen Groschen ist sie wert, wenn man für ihre Untermauerung ein ganzes historisches Institut vernichten muss, das übrigens noch von Andrej Sacharow begründet wurde.
Aber selbst Sacharow ist bei denen jetzt nur noch der Erfinder der Wasserstoffbombe und dreifacher Held der sozialistischen Arbeit.
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„Sie wollen mich einfach zum Schweigen bringen“
Folter und Gewalt in Russlands Gefängnissen sind ein offenes Geheimnis – immer wieder drangen Augenzeugenberichte darüber an die Öffentlichkeit. Auch Olga Romanowa, Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja, weist seit Jahren darauf hin, dass das russische Gefängniswesen systematisch darauf ausgerichtet sei, Menschen zu brechen. Dem ehemaligen Häftling Sergej Saweljew ist es nun gelungen, ein großes Archiv an Daten, die Foltervideos aus russischen Gefängnissen enthalten, aus dem Knast zu schmuggeln. Das Material zeugt von einem systematischen Folternetzwerk in mehreren russischen Gefängnissen. Saweljew wandte sich damit an den Menschenrechtler Wladimir Ossetschkin, der einzelne Videos auf seiner Plattform Gulagu.net veröffentlichte, benannt nach dem stalinistischen Lagersystem.
Die explizite Gewalt auf den Videos erschütterte viele. Doch obwohl sich auch Russlands Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa erschüttert zeigte und Sergej Saweljew für seinen Mut lobte, wurde der Ex-Häftling zur Fahndung ausgeschrieben und Haftbefehl gegen ihn erlassen. Er ersucht derzeit politisches Asyl in Frankreich.Meduza hat Sergej Saweljew interviewt und mit ihm darüber gesprochen, inwiefern er selbst Opfer von Gefängnisfolter wurde, wie er an das Material kam – und warum die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Andrej Sarafimow/Meduza: Sagen Sie ein paar Worte über sich. Wie alt sind Sie, und wo kommen Sie her?
Sergej Saweljew: Ich bin 31. Ich bin aus Belarus, geboren wurde ich in Minsk. Dort habe ich auch den Großteil meines Lebens verbracht.
Warum haben Sie sich nach der Veröffentlichung der Foltervideos dafür entschieden, Ihre Identität preiszugeben?
Dem Geheimdienst ist meine Identität sowieso bekannt. Nur die Öffentlichkeit wusste nicht, wer ich bin. Der Geheimdienst hatte mich längst ausfindig gemacht, also machte es keinen Sinn mehr [meinen Namen geheim zu halten]. Das genaue Datum weiß ich nicht, aber ich bin mir sicher, dass sie seit einigen Monaten wissen, wer ich bin.
Wie würden Sie beschreiben, was auf den Videos zu sehen ist?
Die „Aktivisten“ – so nennt man die anderen Häftlinge im Tuberkulose-Gefängniskrankenhaus OTB-1 in Saratow – können sich jeden Mithäftling vornehmen, den die Leitung rauspickt. Dann bringen sie ihn in die Folterkammer und foltern ihn auf jede erdenkliche Weise. Angefangen bei banalen Schlägen und Erniedrigungen bis hin zu krassen Formen sexueller Gewalt. Sie können einem Menschen antun, was sie wollen.
Wer entscheidet, welcher Häftling gefoltert wird?
Verschiedene Leute in leitenden Positionen in und außerhalb der jeweiligen Einrichtung. Ich bin mir sicher, dass die Spuren noch viel höher führen: bis hin zu den Leitern des FSIN [Strafvollzugsbehörde] und des FSB.
Sie können einem Menschen antun, was sie wollen
Manche Entscheidungen wurden wahrscheinlich auch vor Ort getroffen. Aber in den meisten Fällen kamen die Anweisungen von oben.
Wofür brauchen die FSIN-Beamten die Folter? Was sind deren Ziele?
Die Ziele können sehr unterschiedlich sein. Angefangen bei banaler Bestrafung wegen Verstößen oder Ungehorsam bis hin zu Erpressung. Manchmal setzen sie Folter ein, um das Opfer später zu Falschaussagen gegen jemand anderen zu zwingen.
Auch Rache auf Bestellung von oben ist nicht ausgeschlossen.
Und werden die Ziele mittels Folter erreicht?
Das Ganze passiert ja nicht seit einem Jahr, es hat System in den Behörden, also sind sie [die FSIN-Beamten] mit den Ergebnissen offenbar zufrieden.
Sie sagten, Sie hätten den Großteil Ihres Lebens in Minsk verbracht. Wann und wie sind Sie nach Russland gekommen?
Das war 2013. Ein Bekannter hat mir einen Job angeboten. So bin ich in der Oblast Krasnodar gelandet und bin dort nicht mehr weggekommen. Ich wurde von Spezialeinheiten festgenommen, genauer gesagt vom FSB. Man beschuldigte mich, einen Drogendeal vorzubereiten.
Es geht darum, den Widerstand, den Willen zu brechen. Darum, einem Menschen zu zeigen, dass er keinerlei Rechte hat
Bei der Festnahme habe ich zum ersten Mal Gewalt durch die Silowiki erlebt. Das hat natürlich Spuren fürs ganze Leben hinterlassen. Ich bin noch nie derart brutal, derart heftig und derart krass zusammengeschlagen worden. Die Schläge dauerten den ganzen Tag. Zehn Leute haben auf mich eingeprügelt. Alle maskiert und mit Waffen.
Wollten sie ein Geständnis erzwingen?
Es geht eher darum, den Widerstand, den Willen zu brechen. Darum, einem Menschen zu zeigen, dass er keinerlei Rechte hat. „Wir machen alles, was wir wollen, und uns wird nichts passieren“.
Wie kam es, dass Sie vom FSB festgenommen wurden?
Ehrlich gesagt, drängt sich mir der Verdacht auf, dass die Sache von Vorneherein geplant war. Zu dieser Zeit [Saweljew wurde 2013 verhaftet – Anm. Meduza] war ja eigentlich die Drogenfahndung für solche Delikte zuständig, und doch hat der FSB die Angelegenheit übernommen. Das gibt mir zu denken.
Was ist im Untersuchungsgefängnis passiert?
In den ersten zwei Monaten wurde ich ungefähr einmal die Woche verprügelt. Das diente jetzt nicht mehr dazu, ein Geständnis aus mir rauszuprügeln, sondern damit ich die Protokolle unterschreibe, die sie zusammenstellen, ich leistete gar nicht groß Widerstand. [Das haben sie gemacht] damit ich nicht gegen die Ermittler aufmucke und nicht gegen den Strom schwimme. Als die Ermittlungen abgeschlossen waren, wurden die Akten dem Gericht übergeben und ich wurde ins Untersuchungsgefängnis Nr. 3 in Noworossisk verlegt.
Wie unterschied sich das vom vorherigen Untersuchungsgefängnis des FSB?
Der Verwaltung dort war alles egal, die haben sich um gar nichts gekümmert. Ich war mit genau den Dingen konfrontiert, von denen ich schon unzählige Male gehört hatte: Ein russisches Untersuchungsgefängnis bedeutet null Hygiene, überfüllte Zellen, keine Sanitäranlagen. Absolut menschenunwürdige Verhältnisse. Wir waren mit 26 Leuten in einer Zelle für 12. Geschlafen haben wir dann abwechselnd, in zwei oder sogar drei Schichten. Die Rohre sind undicht, der Betonboden platzt auf, der Putz bröckelt von der Decke, es gibt riesige Kakerlaken.
Ein russisches Untersuchungsgefängnis bedeutet null Hygiene, überfüllte Zellen, keine Sanitäranlagen
Der Gerichtsprozess dauerte fast anderthalb Jahre und hatte eher was von einer Vorlesung. Ich wurde einfach zum Gericht gebracht und durfte mir dort die Geschichte [die Verfahrensdetails] anhören, die die FSB-Ermittler aufgeschrieben hatten. Seite für Seite. Und dann wurde die Sitzung vertagt, weil die Ermittler nämlich sehr viel geschrieben hatten. Fast ein ganzes Buch. Eine richtige Lesung war das.
Am Ende stand das Urteil [neun Jahre Straflager]. Nach der Urteilsverkündung wurde ich in die Oblast Saratow verlegt, wo ich die Haftstrafe verbüßen sollte. Als erstes kam ich in die Besserungsarbeitskolonie IK-10 und blieb dort ungefähr ein halbes Jahr.
Nach der Verlegung dorthin kamen wir in Quarantäne. Am ersten Abend wurden wir heftig geschlagen – sowohl von Mithäftlingen, den sogenannten Aktivisten, als auch von den Beamten.
Wie kamen Sie dann ins OTB-1?
Nach einem Lungenröntgen wurde mir gesagt, es gebe Auffälligkeiten, die abgeklärt werden müssten. Verdacht auf Tuberkulose. Dafür müsste ich in ein Spezialkrankenhaus, ins OTB-1 eben. So sind die Regeln – ob man will oder nicht, man muss hin. Unter dem Vorwand können sie jeden Häftling aus jeder beliebigen Haftanstalt verlegen. Man kann die Verlegung [ins Krankenhaus] nicht verweigern.
Über das OTB-1 wissen natürlich alle Bescheid. Jeder weiß, was für ein furchtbarer Ort das ist und dass man besser nicht krank werden sollte. Ich weiß von Fällen, bei denen sich Leute aus Protest aufgeschlitzt [die Pulsadern aufgeschnitten] haben: „Ich weiß, was die da drin mit mir machen, da fahre ich nicht hin.“
Jeder weiß, was für ein furchtbarer Ort das Gefängniskrankenhaus ist und dass man besser nicht krank werden sollte
Als mir gesagt wurde, dass ich ins OTB muss, fühlte ich Angst und Ausweglosigkeit. Allerdings wurde ich bei der Ankunft im OTB nicht geschlagen.
Ein paar Tage nachdem festgestellt wurde, dass ich gesund war, kam jemand von der Sicherheitsabteilung zu mir. Er sagte, sie hätten eine Stelle frei und suchten jemanden, der Grundkenntnisse im Umgang mit Computern hat. Word, Excel, Photoshop – solche Sachen. Das konnte ich. Also fing ich am dritten oder vierten Tag an, in der Sicherheitsabteilung vom Krankenhaus zu arbeiten. Und ein Posten in der Sicherheitsabteilung ist nicht irgendwas, so jemanden schlägt und foltert man nicht. Das ist keine schlechte Position.
Wann bekamen Sie zum ersten Mal Folterszenen zu Gesicht?
Die ersten zwei Jahre hatte ich keinen Zugang zu solchen Dingen. Man hat mich überprüft und genau beobachtet: Mit wem ich Umgang habe, was ich mache. Alle möglichen Leute haben mich getestet, ob ich Geheimnisse für mich behalten kann. Erst später, als ich mir ein gewisses Vertrauen verdient hatte …
Solche Aufnahmen entstehen nicht zufällig. Es wird alles vorbereitet. Das [die Folter] sind geplante Aktionen. [Die Videos] drehen nicht die Mitarbeiter. Erst gibt es einen Befehl von der Krankenhausleitung oder von der Leitung der Sicherheitsabteilung: „Heute kommt Häftling soundso zu dir, gib ihm eine aufgeladene Kamera mit leerem Speicher. Später zeigst du mir, was er gefilmt hat.“
Solche Aufnahmen entstehen nicht zufällig. Es wird alles vorbereitet
Der Häftling kommt, ich gebe ihm die Kamera. Er geht zum Spezialeinsatz [Folter], kommt zurück, gibt mir die Kamera wieder. Ich ziehe die Files auf den PC, überprüfe, ob sich alle öffnen lassen, und gebe sie der Verwaltung. Danach wird mir gesagt, was ich damit machen soll. Entweder: „Zieh sie mir auf nen Stick“ oder: „Lösch alles, damit nichts auf dem Computer bleibt“.
Gehörten die Geräte den Mitarbeitern?
Die Kameras waren alle erfasst, die gehören zum Bestand der Sicherheitsabteilung. Die Anzahl ist so ausgelegt, dass es genug für alle Mitarbeiter und noch ein paar in Reserve gibt. Ich musste also keinen Mitarbeitern hinterherrennen, um einem Aktivisten eine Kamera zu geben. Es war immer eine gewisse Zahl vorhanden, über die ich frei verfügen konnte.
Warum mussten die FSIN-Beamten überhaupt einen Häftling einstellen, der dann auch noch Zugang zu solchen sensiblen Daten hatte?
Wahrscheinlich wollten sie das selbst nicht anschauen, und irgendwer musste es tun. Wenigstens überprüfen, ob sich die Files öffnen lassen. Überhaupt wird ein Großteil der Arbeit an Häftlinge übertragen, das ist nichts Besonderes. Aus Faulheit, Unprofessionalität, Selbstgefälligkeit.
Ein Teil der Videos wurde auf USB-Sticks weitergegeben. Welche Videos gingen an die Leute „oben“?
Ich muss dazusagen, dass nichts auf den PCs bleiben durfte. Diese Dinge waren grundsätzlich nicht dazu gedacht, dass man sie in den Behörden aufbewahrt.
Überhaupt wird ein Großteil der Arbeit an Häftlinge übertragen, das ist nichts Besonderes. Aus Faulheit, Unprofessionalität, Selbstgefälligkeit
Was nach oben weitergegeben wurde, kam auf einen Stick und wurde weggebracht – als Bestätigung, dass die Spezialmaßnahmen durchgeführt worden waren. Als Material für spätere Erpressung. Als Garantie, dass ein Mensch tut, was man von ihm verlangt.
Wie genau haben Sie das Archiv herausgeschmuggelt? Auf einem Datenträger?
Ja. Ich habe in den letzten Jahren [die gesamten Informationen] kopiert, vervielfältigt, gesammelt und versteckt. Dort [im Straflager] gab es kein Internet oder andere Möglichkeiten, Daten zu übermitteln. Dafür gab es nur einen einzigen Weg [auf Datenträgern]. Und davon gab es genug, die kamen überall zum Einsatz. Bei meiner Freilassung war die größte Herausforderung, sie rauszuschmuggeln.
In dem Archiv sind auch Videos aus anderen Regionen. Da ist die Rede von den Oblasten Wladimir, Saratow, Irkutsk. Wo kommen diese Videos her?
Die FSIN-Behörden müssen zusammenarbeiten und Informationen austauschen, zumindest bei den Akten. Dafür braucht es ein lokales Netzwerk. Wenn man an einer Stelle Zugang zum Netzwerk der Behörde hat, kommt man auch in die anderen rein.
Wie funktioniert das Netzwerk, aus dem Sie die Videos der anderen Regionen hatten? Das hieße ja, dass andere Mitarbeiter der Sicherheitsabteilung die Videos nicht gelöscht haben?
Sieht so aus. Ich möchte die technischen Abläufe ungern offenlegen. Denn gerade machen ja viele Leute in den Straflagern genau das, was ich gemacht habe. Wenn ich jetzt alles erzähle, könnten die Geheimdienste ihnen den Weg versperren. Ich muss die Prozesse und Algorithmen für die Leute offenhalten, die sich dafür entschieden haben, mir auf diesem Weg zu folgen.
Glauben Sie nicht, dass die Wege längst bekannt sind?
Soweit ich weiß, ist der FSIN eine sehr schwerfällige Maschine. Vor allem was die technische Entwicklung betrifft. Deswegen werden sie einige Zeit brauchen, um die Abläufe zu verstehen und zu unterbinden. Ich schätze, wir haben noch ein bisschen Zeit.
Sie sprachen von Misshandlungen im Untersuchungsgefängnis, im Straflager und im Krankenhaus. Wurden diese Einrichtungen nicht wenigstens einmal von einer Kommission zur Überwachung der Rechte von Gefangenen aufgesucht?
Doch, natürlich, mehrfach. Die kommen ständig – Überwachungskommissionen, die Staatsanwaltschaft.
Aber das ist alles Show. Sie werden von Mitarbeitern der Haftanstalt herumgeführt, von irgendwem von oben. Die Lagermitarbeiter zeigen ihnen, was sie ihnen zeigen wollen. „Schauen Sie, unsere renovierte Banja!“ – „Ja, toll! Es sind großartige Verhältnisse!“, sagen dann angeheuerte Häftlinge, denen man später Fragen stellt, um ein Häkchen im Bericht zu machen: „15 Personen wurden befragt. Keine Beschwerden über die Verhältnisse. Alles toll und super.“
Hat sich nie jemand bei der Kommission über Folter beschwert?
Soweit ich weiß, nicht. Es gab nie eine Untersuchung oder irgendein Verfahren. Nicht dass ich wüsste.
Hatten Sie Zweifel, ob Sie die Videos aus dem Archiv veröffentlichen sollen?
Nein, hatte ich nicht. Ich habe im Februar 2021 Kontakt zu Wladimir Ossetschkin [dem Gründer von Gulagu.net] aufgenommen. Wir haben uns geschrieben. Zu dem Zeitpunkt wusste ich schon, dass er einer der führenden Menschenrechtler ist, die keine Angst haben, die Wahrheit zu sagen, und nicht von Politikern oder Silowiki abhängen. Er hatte über Folter und Machtmissbrauch berichtet, und das schonungslos und effektiv.
Haben Sie sofort beschlossen, Russland zu verlassen?
Nach meiner Freilassung bin ich einfach nach Hause [nach Belarus] gefahren. Das ging problemlos, ich bin erstmal bei Verwandten untergekommen, habe allen Papierkram erledigt und mir einen Job gesucht. Ich habe ein ganz normales Leben geführt, und eben auch mit Gulagu.net zusammengearbeitet. Wenn ich mich nicht irre, kamen im März die ersten Veröffentlichungen, die auf meinen Materialien basierten.
Was passierte danach? Soweit ich weiß, hatten Sie am Flughafen in Sankt Petersburg eine Begegnung mit gewissen „Mitarbeitern“.
Ich bin am 24. September 2021 von Minsk nach Nowosibirsk geflogen, um Freunde zu besuchen. Es gab einen Zwischenstopp in Pulkowo. Dort wurde ich am Schalter von Polizisten und einigen Leuten in zivil aufgehalten. Sie haben mich in ein Büro gebracht und mehrere Stunden verhört.
Haben sie sich vorgestellt?
Natürlich nicht. Sie haben sofort gesagt, sie wüssten über alles Bescheid: dass ich Material an Gulagu.net liefere. Sie meinten, das wäre mindestens Verrat von Staatsgeheimnissen. „Du wanderst in den Knast und ein Jahr später erhängst du dich da drin, weil du den FSIN in Verruf gebracht hast“.
Gab es das Angebot, zu kooperieren?
Ja, es hieß, wenn ich kooperieren würde, könnten die Dinge anders laufen. Zwei Möglichkeiten. Die erste: Ich kooperiere, gebe ihnen das gesamte Archiv, arbeite mit ihnen zusammen gegen Ossetschkin und gehe für vier Jahre wegen Verrat von Staatsgeheimnissen in den Knast. Oder: Ich versuche unterzutauchen, Beschwerde einzureichen und werde wegen Spionage verurteilt – da liegen die Haftstrafen dann schon bei zehn bis 20 Jahren.
Sie haben ein Protokoll erstellt, in dem ich quasi gegen Ossetschkin aussage. Sie wollten sein Projekt [Gulagu.net] unbedingt diskreditieren und seine Arbeit in Verruf bringen. Ich musste unterschreiben. Sie sollten ja glauben, dass ich kooperiere.
Der FSIN wollte auch das ganze Archiv von Ihnen. Wann war das?
Das war auch da, in Pulkowo. Das interessierte sie am meisten. Es interessierte sie überhaupt nicht, was in dem Archiv enthalten war, welche furchtbaren Aufnahmen, wie viele Menschen brutal gefoltert wurden, wer die Befehle erteilt, wer gefoltert hat. Das Einzige, was die wollten, war den Datenfluss zu unterbinden. Und mir das Maul zu stopfen.
Haben Sie ihnen irgendwelche Daten überlassen?
Ich wurde sehr gründlich durchsucht, sie wollten meinen Laptop, USB-Sticks, Festplatten. Aber ich hatte das Archiv nicht bei mir.
Russia Today berichtete mit Verweis auf eine Quelle beim Geheimdienst, Sie hätten das Archiv für 2000 Dollar an Menschenrechtler verkauft, das Geld sei über Yandex.Money geflossen. Stimmt das?
Ehrlich gesagt, hätte das passieren können, hätte ich Yandex.Money. Ich weiß nicht, wie die auf Yandex.Money kommen. Selbstverständlich habe ich die Daten nicht verkauft. Aber materielle Hilfe [von Menschenrechtlern] gab es. Ich habe viele Jahre im Gefängnis verbracht und eine kolossale Datenmenge gesammelt, das alles musste systematisiert und archiviert werden. Als ich das Land verlassen musste, gab es Überweisungen, um die Ausreise zu organisieren.
Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie in Frankreich angekommen sind?
Als ich in Frankreich war und mich an die Behörden gewandt hatte, konnte ich endlich aufatmen und mich beruhigen, mich ein bisschen regenerieren. Die Flucht war natürlich schwer für mich.
Seit heute [das Interview fand am 23. Oktober 2021 statt] ist bekannt, dass Sie zur Fahndung ausgeschrieben wurden.
Das ist keine große Überraschung, vielmehr … ist es traurig. Es ist traurig, dass sie immer noch versuchen, mich zum Schweigen zu bringen, anstatt grobe Menschenrechtsverstöße aufzuklären, die Täter zur Verantwortung zu ziehen und die Energie in Untersuchungen und Ermittlungen zu stecken. Aber egal welche Anklage sie gegen mich erfinden – die russische Gesellschaft und die Weltöffentlichkeit wissen, worum es in Wirklichkeit geht.
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Heiliger Bimbam
Ein Mädchen kniet vor einem Mann, er blickt in die Kamera, sie kehrt dem Betrachter den Rücken zu, gut sichtbar auf ihrer Jacke die Aufschrift „Polizija“. Das Bild soll Oralsex imitieren. Nachdem es im Internet veröffentlicht worden war, wurden beide festgenommen: Der Blogger Ruslan Bobijew und seine Freundin Anastasia Tschistowa. Gegen beide wurde schließlich ein Strafverfahren wegen „Verletzung religiöser Gefühle“ eingeleitet. Denn links im Hintergrund des Bildes gut sichtbar ist die Kathedrale auf dem Moskauer Roten Platz (die inzwischen übrigens hauptsächlich als Museum dient, nur ab und zu finden Gottesdienste statt). Ein Moskauer Bezirksgericht verurteilte den Blogger Ruslan Bobijew und seine Freundin Anastasia Tschistowa schließlich zu 10 Monaten Haft. Zudem, so berichtet die NGO OWD-Info, soll Bobijew nach Verbüßung der Haftstrafe nach Tadshikistan abgeschoben werden.
Nur kurz darauf musste das Instagram-Model Irina Wolkowa in Sankt Petersburg in einer Anhörung vor Gericht aussagen – sie hatte auf einem inzwischen gelöschten Post im Stringtanga vor der Petersburger Isaakskathedrale posiert, sie kniete am Boden, rechts neben ihr blickte ein Mann in die Kamera, der der Kirche den Rücken zukehrte. Wolkowa wurde ebenfalls wegen „Verletzung religiöser Gefühle“ angeklagt, ihr droht eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr.
Nun kann man darüber streiten, wie geschmackvoll solche Fotos sind, meint Kirill Martynow in der Novaya Gazeta – aber inwiefern verletzen sie tatsächlich religiöse Gefühle? Und was steckt eigentlich hinter einer solchen Anklage?
Mit dem Fall Bobijew-Tschistowa wird ein Exempel statuiert. Er steht für die Tendenz der willkürlichen Sakralisierung des öffentlichen Raums – und zwar da, wo dies der Staatsmacht nützt.
Im städtischen Alltag entstehen so etwas wie „Zonen“ und „Radien“ des Göttlichen, die in keinem Gesetz erfasst sind, aber nach den unausgesprochenen Regeln der Russischen Föderation ihre Rechte einfordern.
Religiöse Gefühle überlagern sich mit dem „Stolz der Uniform“, sakrale Bauten mit der Präsenz eines polizeilichen Geistes, der Schlagstock mit dem Kreuz. Sie unterstützen einander bei der Urteilsfindung und schaffen Präzedenzfälle für die Sakralisierung der Macht.Zeitgleich posiert TV-Moderatorin Olga Busowa auf dem Balkon ihres Hotels in Wolgograd im Badeanzug. Im Bildhintergrund zu sehen ist die Alexander-Newski-Kathedrale, doch Anklage gegen Busowa wurde bisher Gott sei Dank keine erhoben. In diesem Fall gilt die Regel, dass die Kirche einfach nur eine städtische Kulisse ist, dass das Heiligtum nicht in das Foto eingedrungen ist und keiner der Gläubigen Schaden genommen hat, zumindest nicht von strafrechtlicher Relevanz.
Wer diese Gläubigen eigentlich genau sind, bleibt ein Rätsel. Ohne Bastrykin Tipps geben zu wollen, wie er die Aufklärungsquote systematisch verbessern und zugleich auch die Bravheit der Bevölkerung erhöhen kann – aber: Fotos von halbnackten Menschen vor Russlands historischen Sehenswürdigkeiten, einschließlich Kathedralen, gibt es im Internet zu Tausenden.
Das Hauptproblem an der Sache ist, dass es keine klare Auflistung gibt, was jetzt neben Kirchen beziehungsweise mit Kirchen im Hintergrund verboten ist. Genauso wie es keine Antwort auf die Frage gibt, was für Formen der Verletzung religiöser Gefühle den Strafverfolgungsbehörden noch einfallen werden. Soll der öffentliche Verzehr eines Schaschliks während der Fastenzeit strafbar sein? Intuitiv würde man sagen, das wäre absurd, aber kann uns ein Experte erklären, worin sich ein Schaschlik in der Fastenzeit von einem Stringtanga vor einer Kathedrale unterscheidet? Und ob sich etwas ändert, wenn man vor einer Kathedrale während der Fastenzeit einen Schaschlik isst und sich dabei fotografieren lässt? Schreckliche, verdammte Fragen.
Die offizielle Haltung der Russisch-Orthodoxen Kirche scheint in diesem Kontext zu sein, dass das alles sehr notwendige, richtige und aktuelle Themen sind, die die Position der Kirche als geistliches Machtorgan stärken. Die biblische Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin hat keine Gültigkeit: Die anonymen Gläubigen haben genug Steine, und schmeißen sie auf jedes Ziel entlang der schwankenden Linie des Ermittlungskomitees.
Es bleibt aber nicht bei den Kathedralen. Vor einem Monat wurde in der Oblast Tscheljabinsk ein Obdachloser festgenommen, weil er am Ewigen Feuer seine Kleidung trocknen wollte. Allem Anschein nach befindet er sich nach wie vor in U-Haft – offenbar das einzige Dach über dem Kopf, das der Staat ihm anzubieten hat.
Oder auch das Beispiel des RGGU-Studenten Gleb Marjassow. Er hatte bei einer Protestaktion am 23. Januar im Alleingang „die Fahrbahn blockiert“ und dafür die berühmten zehn Monate Straflager aufgebrummt bekommen.Es zeichnet sich grundsätzlich eine Tendenz ab, Angeklagte in minderschweren, pseudopolitischen Fällen zu Freiheitsstrafen zu verurteilen. Auch wenige Monate Straflager sind besser als nichts – das ist die Devise der Gerichte.
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Corona: „Die Leute sind desorientiert“
Corona hat Russland derzeit fest im Griff: Nahezu täglich werden neue Negativrekorde bei Neuinfektionen und Sterbezahlen gemeldet, am gestrigen Donnerstag erst verzeichneten die Behörden mit 1159 Toten einen neuen Höchstwert, landesweit gab es mehr als 40.000 Neuinfektionen. Ab dem 30. Oktober soll es russlandweit arbeitsfreie Tage geben, einzelne Regionen führten sie schon ab dem 25. Oktober ein. Seit gestern ist auch Moskau bereits weitestgehend im Lockdown: Schulen und Geschäfte sind zu, Restaurants und Cafés dürfen Speisen und Getränke nur zum Mitnehmen anbieten.
Behörden und Regierung versuchen so, die vierte Welle in den Griff zu bekommen. Denn die offizielle Impfquote in Russland ist mit rund 35 Prozent (Stand 22.10.2021) nach wie vor niedrig – und das, obwohl mit Sputnik V im August 2020 der weltweit erste Impfstoff gegen das Coronavirus registriert wurde.
Denis Wolkow, Direktor des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada, spricht im Interview mit RFE/RL zu den möglichen Gründen für die hohe Skepsis, mit der die russische Gesellschaft auf die Impfung reagiert. Lewada veröffentlichte den Text auch auf der eigenen Seite und ergänzte ihn um aktuelle Informationen.
RFE/RL: Als das Lewada-Zentrum im April 2021 eine Studie über die Einstellung der Russen zur Impfung veröffentlichte, waren weniger als zehn, eher nur fünf Prozent der Bevölkerung Russlands vollständig geimpft. Jetzt sind es etwas mehr als 30 Prozent [offiziell etwa 35 Prozent am 22.10.2021 – dek], doch die tägliche Zahl der Toten, die damals irgendwo um die 100 lag, ist inzwischen sogar den offiziellen Daten zufolge zehnmal so hoch. Warum führt die katastrophale Situation mit Ansteckungen und der hohen Sterblichkeit durch Corona bei den Russen nicht zum massenhaften Wunsch, sich impfen zu lassen?
Denis Wolkow, Lewada: Solche Studien haben wir später wiederholt, zum Beispiel im Juli, aber die Einstellung zur Impfung ist in Russland sehr stabil. Generell will sich die Mehrheit – rund 50 Prozent – eben nicht impfen lassen. Nur Anfang Sommer, nach einer großen Kampagne, kam ein klein wenig Bewegung rein, ein bisschen mehr Leute erklärten sich bereit zur Impfung.
Aber auch wenn die Leute durchaus beunruhigt sind, auch wenn sie erzählen, dass rundherum Bekannte und Verwandte sterben, wollen sich viele trotzdem nicht impfen lassen, weil sie den Worten der Staatsmacht nicht glauben – erstens, dass diese Krankheit gefährlich sei, und zweitens, dass die Impfung schütze.Warum das passiert? Ich glaube, dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens das bei bestimmten Themen fehlende Vertrauen in die Staatsmacht – es sind bis zu 40 Prozent, die der Regierung stillschweigend misstrauen und ihre Entscheidungen nicht mittragen. Das heißt automatisch, dass sie alles, was von der Regierung kommt, jede ihrer Initiativen ablehnen. Jene, die der Staatsmacht misstrauen, trauen weder der Impfung, noch dem elektronischen Wahlsystem, noch der Installation von Kameras [in Wahllokalen – dek]. Jede Initiative stößt auf Widerstand.
Sie glauben den Worten der Staatsmacht nicht – erstens, dass diese Krankheit gefährlich sei, und zweitens, dass die Impfung schütze
Zweitens sind in Russland zu wenige Beamte, einschließlich Präsident und Gouverneure, mit gutem Beispiel vorangegangen. Sie haben es versäumt, sich vor laufender Kamera impfen zu lassen, um zu zeigen, dass das wichtig ist, dass sie es auch selber machen, dass es ungefährlich und notwendig ist. In Fokusgruppen haben wir oft gehört: „Na, wenn sie sich nicht mal selbst impfen lassen, warum verlangen sie es dann von uns.“
Ein dritter wichtiger Grund ist, dass zu Beginn der Impfkampagne über einen langen Zeitraum sehr widersprüchliche Informationen verbreitet wurden. Es wurden komplett unterschiedliche Signale gegeben, auch im Fernsehen. Obwohl das mittlerweile nachgelassen hat, gibt es das immer noch, dass zum Beispiel jemand sagt, die Impfung sei unnötig, die natürliche Immunität reiche aus, und die müsse man daher mit Atemübungen und dergleichen stärken. All diese Botschaften wiederholen die Leute in den Fokusgruppen. Es gab von Anfang an kein eindeutiges Signal, dass die Impfung unbedingt notwendig ist, dass nur sie wenigstens irgendwie die Gefahr entschärfen kann. Die Leute waren desorientiert, viele sind immer noch desorientiert.
Zu Beginn der Impfkampagne wurden über einen langen Zeitraum sehr widersprüchliche Informationen verbreitet. Es wurden komplett unterschiedliche Signale gegeben
Daher glaube ich, dass nur eine allgemeine Impfpflicht funktionieren kann – aber die Regierung kann sich noch nicht dazu entschließen, weil sie fürchtet, an Popularität zu verlieren. Und das kann tatsächlich passieren, weil der Wunsch, sich nicht impfen zu lassen ja in einem stabilen Ausmaß fortbesteht.
Corona-Impfung in Moskau. „Die meisten Leute, die sich nicht impfen lassen wollen, sind keine „Impfgegner“ im herkömmlichen Sinn.“ / Foto © mos.ru CC BY 4.0
Hier muss man wissen, dass die meisten Leute, die sich nicht impfen lassen wollen, keine „Impfgegner“ im herkömmlichen Sinn sind, sondern Leute, die sich nicht festlegen können, die sich in dieser widersprüchlichen Informationsflut nicht mehr zurechtfinden und sagen: „Nein, warten wir lieber ab, das dauert noch ein wenig, das braucht noch ein paar Studien.“ So geht das schon seit einem Jahr, und im Grunde ändert sich nichts.
Sie erwähnen Misstrauen gegenüber der Staatsmacht. Mein Umfeld ist natürlich soziologisch nicht relevant, aber wenn wir uns Leute ansehen, die in Opposition zur Regierung stehen, die sogenannten Liberalen, dann sind von denen fast alle geimpft. Wie passt das mit dem zusammen, was Sie erzählen?
Stimmt, das gibt es. Ich betone noch einmal, ich spreche von der Masse, von der Bevölkerung als ganzer. Und ja, es gibt unter jenen, die der Regierung misstrauen, Geimpfte, und es gibt Ungeimpfte unter jenen, die der Regierung sehr wohl vertrauen.
Die Mehrheit jener, die sich nicht impfen lassen wollen, sind keine „Impfgegner“ im herkömmlichen Sinn, sondern Leute, die sich nicht festlegen können, die sich in dieser widersprüchlichen Informationsflut nicht mehr zurechtfinden
Das, was Sie beschreiben, ist eine ziemlich dünne Gesellschaftsschicht, für die medizinische und wissenschaftliche Autorität einen hohen Stellenwert hat. Das sind Leute, die die Impfung und ihre Gefährlichkeit selbst einschätzen können. In der Masse können die Leute diese Entscheidung aber nicht selbständig treffen: Sie brauchen Rat, sie brauchen ein Signal von oben, dass es unbedingt erforderlich ist, ungefährlich etc. Ohne solche eindeutigen Signale ist der Mensch in der Masse nicht impfbereit, weil er sich selbst kein Urteil bilden kann und die Entscheidung immer weiter aufschiebt.
Woher nehmen die Impfgegner die Informationen, die sie ihre Entscheidung gegen die Impfung treffen lassen? Sieht man sich Publics und Gruppen von „Hardcore-Impfgegnern“ an, dann findet man dort massenhaft Links auf ausländische Versionen von Russia Today, wo zum Beispiel die Notwendigkeit der Impfung ständig in Zweifel gezogen wird und Fälle breitgetreten werden, in denen Menschen nach der Impfung starben oder mit Komplikationen zu kämpfen hatten. Außerdem wissen wir von dem Skandal, dass eine regierungsnahe russische Werbeagentur versucht hat, westeuropäische Blogger für Kritik am Impfstoff von Pfizer zu bezahlen. Dass Russland sozusagen ein doppeltes Spiel spielt und einerseits die Impfung im Westen zu torpedieren versucht, andererseits die eigene Bevölkerung zu einer Impfung mit Sputnik bewegen will, trägt das dazu bei, dass Russland jetzt bei der Durchimpfungsrate hinterherhinkt?
Ich glaube, das spielt schon auch eine Rolle. Dazu muss man noch nicht einmal auf Russia Today gehen. Die Strategie, im Rahmen derer es hieß, nur unsere, nur die Impfung aus Russland sei gut und alle anderen schlecht, „also lasst euch mit dem russischen Impfstoff impfen“, ging nach hinten los. Wie reagieren die Menschen auf diesen unlauteren Wettbewerb, in Russland und bis zu einem gewissen Grad bestimmt auch im Westen?
Mit Sarkasmus: „Na klar, alles lauter Deppen rundherum, nur wir sind so schlau.“
„Die Strategie „die einzige gute Impfung ist unsere“ ging nach hinten los“
Die schmutzige Kampagne gegen ausländische Impfstoffe versetzte dem eigenen einen Schlag. Die Leute sagen, alles sei schlecht, alles sei unfertig, roh, man müsse das alles noch weiter testen, prüfen und erst dann könne man dem Impfstoff vertrauen, wahrscheinlich auch dem eigenen. Deswegen brauchen wir sowohl europäische als auch internationale Nachweise der Wirksamkeit jedes verfügbaren Impfstoffs. Das wird natürlich auch nicht alle sofort überzeugen, aber es wäre ein Argument: Seht, die Weltgemeinschaft hat den russischen Impfstoff anerkannt, und wir haben andere Impfstoffe anerkannt. Das würde den Leuten, die meinen, nichts sei fertig, nichts wirke, man müsse noch abwarten, einen Teil ihrer Ängste nehmen. Wichtig ist die Botschaft, dass wir nicht mehr warten dürfen, dass die Impfung jetzt vorgenommen werden muss.
Gibt es Leute, denen es wichtig ist, womit sie geimpft werden, mit Sputnik oder mit westlichen Impfstoffen, die offiziell in Russland bisher nicht oder nur in extrem begrenzten Mengen verfügbar sind?
Ja, die gibt es, aber diese Gruppe ist klein. Grundsätzlich ist es so, wenn das Vertrauen in die Impfung fehlt, dann betrifft das alle Impfstoffe. Aber es gibt ein paar Prozent, die bereit wären, sich mit ausländischen Impfstoffen impfen zu lassen, und wahrscheinlich würden diese paar Prozent auch einen gewissen Effekt erzielen. Es ist wichtig, mit allen Gruppen zu arbeiten, verschiedene Gruppen reagieren auf verschiedene Botschaften. Wir müssen jeden erreichen, für jede Gruppe die richtigen Argumente finden.
Wenn das Vertrauen in die Impfung fehlt, dann betrifft das alle Impfstoffe
Am Anfang der Impfkampagne waren die Signale, wie Sie sagen, wirklich widersprüchlich, aber seitdem ist viel Zeit vergangen. Putin gab offiziell bekannt, dass er sich mit Sputnik impfen ließ, und appelliert an alle, das auch zu tun. Viele Beamte haben sich wie ihre Kollegen im Westen vor laufender Kamera impfen lassen, aber trotzdem zeigt sich keine Wirkung. Von diesen 50 Prozent, die sich nicht impfen lassen wollen – wie viele von denen sind prinzipielle Impfgegner, und auf wie viele haben diese Signale aus anderen Gründen keinen Effekt?
Schwer zu sagen, aber anhand unserer Daten gehe ich davon aus, dass etwa 15 Prozent der Impfunwilligen überzeugte Impfgegner sind, die auch alle anderen Impfungen ablehnen und ihre Kinder nicht impfen lassen. Aber der Großteil sind Leute, die sich nicht festlegen können, die den aktuellen Aufrufen keinen Glauben schenken, weil gerade noch ganz andere Aufrufe galten.
Der Großteil sind Leute, die sich nicht festlegen können, die den aktuellen Aufrufen keinen Glauben schenken, weil gerade noch ganz andere Aufrufe galten
Noch etwas ist wichtig: Im Vergleich zu anderen Ländern wurden in Russland zum Beispiel die strengen Beschränkungen nur sehr kurz und nur ganz zu Beginn der Pandemie verhängt. Dann wurden sie aufgehoben, zum Teil, glaube ich, weil die Wirtschaft ziemlich schwach ist, und zum Teil, weil die Leute diese Beschränkungen sehr schlecht aufgenommen haben – die Umfrageergebnisse verschlechterten sich, angesichts dieser Beschränkungen gab es viele negative Bewertungen. Keine Beschränkungen sind auch eine Art Signal an die Leute. Die Leute sagen: „Na, und jetzt? Nichts passiert. Nichts ist verboten. Wieso sollen wir eigentlich etwas tun, wenn es sowieso keine Beschränkungen gibt, wenn das Leben ganz normal weitergeht, wenn es schon ein paarmal geheißen hat, wir hätten die Pandemie besiegt?“
Keine Beschränkungen sind auch eine Art Signal
Das Ausbleiben strenger Beschränkungen, die die Leute vor die Wahl stellen würden: entweder Impfung und Rückkehr in ein normales Leben oder weiter im Lockdown sitzen – auch das motiviert die Leute nicht zur Impfung.
Kann man den Schluss ziehen, dass die Menschen in Russland mehr oder weniger genauso gestrickt sind wie in anderen Ländern? Dass die Russen keine historischen Ressentiments gegen die Impfung haben, aber in Russland wurde eben von Anfang an alles falsch gemacht, und jetzt lässt sich das sehr schwer korrigieren?
Ja, irgendwie so scheint es zu sein.
Sie sagen, rund 35 Prozent der Menschen wollen sich Ihren Daten zufolge „noch“ nicht impfen lassen, weil sie sich noch nicht dazu entschieden haben. Das bedeutet, dass man zu den ca. 30 Prozent, die aktuell geimpft sind, gut und gern noch mindestens 20 Prozentpunkte dazurechnen kann, dann läge die Impfrate gegen das Coronavirus in Russland ungefähr bei 50 Prozent.
Ja, so kann man das sehen, nicht unbedingt „gut und gern“, aber in absehbarer Zukunft ist das schon eine Ressource, die wir haben. Immerhin sehen wir, dass sich im Sommer die Einstellung der Russen zur Impfung ein kleines bisschen verändert hat. Während die Zahl derer, die die Impfung kategorisch verweigern, fast ein Jahr lang 60 Prozent betrug, sank sie über den Sommer immerhin um 10 Prozentpunkte. Das heißt, man kann die Situation verändern, man braucht eben einfach viele Ressourcen, Überzeugungsarbeit, es braucht eine Informationskampagne, an der Beamte teilnehmen, der Präsident, Leute, denen die Russen vertrauen, Künstler zum Beispiel. Wobei es auch unter den Künstlern viele gibt, die sich nicht impfen lassen wollen, weil sie ja auch Menschen sind wie alle anderen.
Es braucht eine Informationskampagne, an der Beamte teilnehmen, der Präsident, Leute, denen die Russen vertrauen
Ohne eine solche Kampagne wird man die öffentliche Meinung natürlich nicht ändern können. Aber ändern kann man sie, es ist nur besonders schwierig, weil zu Beginn die erwähnten Fehler unterlaufen sind. Trotzdem, es ist möglich, man muss es nur mit mehr Entschlossenheit angehen.
Kann man zusammenfassend sagen, dass es ein Bündel an Maßnahmen gäbe – Lockdowns, die Erweiterung bestimmer Bevölkerungsgruppen, die der Impfpflicht unterliegen, eine weitere Überzeugungskampagne, dass sich alle impfen lassen sollen – die, wenn man sie sofort ergreifen würde, Russlands Durchimpfungsrate auf ein mit anderen europäischen Ländern vergleichbares Niveau anheben könnten, also auf etwas mehr als 50 Prozent?
Ja, diese Möglichkeit besteht, nur würde es viel länger dauern als in anderen Ländern, vor allem, wenn man Russlands Dimensionen bedenkt. Wir müssen daher mehr und bessere Überzeugungsarbeit leisten, mehr in Kampagnen investieren, vielleicht braucht es irgendwo Zwang, vielleicht irgendwo ein zusätzliches Angebot wie etwa Impfstoffe aus dem Ausland. Wenn das Ziel eine Durchimpfungsrate von 50 bis 60 Prozent ist, dann muss man das alles im Komplex anwenden, aber das wird nicht einfach sein.
Am 19. Oktober räumte auch Wladimir Putins Pressesprecher Dmitri Peskow die Verantwortung der russischen Regierung für das langsame Impftempo ein. In seinem Kommentar zur Aussage von Pjotr Tolstoj, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Staatsduma, dass „der Staat die Informationskampagne zur Covid-Impfung verspielt“ habe, erklärte Peskow, die Regierung „spüre und kenne ihren Teil der Verantwortung“ für diese „Misere“.
Gleichzeitig wurden einige Details zu den „arbeitsfreien Tagen“ in Russlands Hauptstadt bekannt. So müssen ungeimpfte und nicht Covid-genesene Moskauer über 60 Jahren sowie Menschen mit chronischen Krankheiten für einen präzedenzlos lang andauernden Zeitraum einen Modus der Selbstisolierung einhalten – bis 25. Februar 2022. Für denselben Zeitraum müssen alle Moskauer Arbeitgeber mindestens 30 Prozent ihrer Mitarbeiter (Geimpfte und Genesene wieder ausgenommen) auf Teleworking umstellen, und Dienstleistungsunternehmen müssen bis 1. Januar die Impfung von mindestens 80 Prozent ihrer Angestellten gewährleisten.
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