Auch zwei Jahre nach Beginn der historischen Proteste in Belarus gehen die Machthaber um Alexander Lukaschenko nach wie vor mit Repressionen gegen die eigene Bevölkerung, gegen Aktivisten, Journalisten oder Organisationen vor. Kürzlich wurde die Journalistin Katerina Bachwalowa (Pseudonym: Andrejewa) zu acht Jahren Haft verurteilt. Sie hatte am 15. November 2020 die Demonstration am Platz des Wandels in Minsk für den TV-Sender Belsatlive gestreamt. Außerdem wurden auch die fünf letzten verbliebenen unabhängigen Gewerkschaften per Gerichtsbeschluss verboten. Aktuell führt die Menschenrechtsorganisation Wjasnaoffiziell fast 1300 politische Gefangene auf ihren Listen.
„Die Belarussen leben in einer Atmosphäre der Angst und Willkür“, sagt Anaïs Marin, UN-Sonderberichterstatterin zur Lage der Menschenrechte in Belarus. Über diese alltägliche Angst schreibt der Traurige Kolenka (russ. Grustny Kolenka). Dabei handelt es sich um eine Kunstfigur, die sich auf Twitter seit vielen Jahren zu belarussischen Belangen und Themen äußert, mittlerweile mehr als 350.000 Follower hat und seit kurzem eine regelmäßige Kolumne für das belarussische Online-Medium KYKY schreibt. Der Name Kolenka bezieht sich auf Kolja (Nikolaj) Lukaschenko, jüngster Sohn des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko. Seit seiner Kindheit begleitet der 2004 geborene Kolja seinen Vater bei Dienstreisen und zu Treffen mit anderen Staatsvertretern.
Wir bringen die jüngste Ausgabe in deutscher Übersetzung. Darin träumt sich Kolenka unter anderem in den Palast der Unabhängigkeit, wo er auf seinen Vater trifft, batka, den Landesvater der Belarussen, wie sich Alexander Lukaschenko gerne auf volkstümliche Art und Weise bezeichnet.
Ein Reigentanz, Socken, der Karton eines Fernsehapparats, eine Kanada-Flagge, ein Kack-Emoji — diese Liste ließe sich leider fast endlos fortsetzen, und nur ein Belarusse wird sagen können, was all diese Dinge gemeinsam haben. Für den Fall, dass Sie kein Belarusse sind oder ein sehr dummer, sage ich es Ihnen: Das sind lauter Dinge, für die ganz reale Haftstrafen verhängt wurden. In Belarus kann man für alles Mögliche ins Gefängnis kommen, für jede erdenkliche Handlung. Auch wenn man rein gar nichts gemacht hat, kommt so ein Kai aus der Kiste, der alles für einen erledigt: die „richtigen“ Telegram-Kanäle werden abonniert und eine Fahne hinausgehängt. Egal ob man Arzt ist oder Student, Professor, Sportler, Musiker, Blogger oder mehrfache Mutter. Niemand ist in Belarus derzeit vor Repressionen geschützt (nur schnauzbärtige Ex-Präsidenten sperren sie leider nicht ein … noch nicht). In meiner letzten Kolumne habe ich geschrieben, dass es die größte Angst des Belarussen sei, ein Russe zu werden. Aber, wie ein Typ mit Bart [in Reaktion darauf auf Twitter – dek] ganz richtig angemerkt hat: „Es gibt auch noch die Angst davor, durch ein penetrantes Klopfen an der Tür aufzuwachen.“
Wisst ihr, ich gebe ihm absolut recht. Dieses Klopfen fürchten alle: die, die gegen meinen Papa sind, und die, die „dafür“ sind. Und vor allem die, die irgendwann mal dagegen waren, aber jetzt so tun, als wären sie „dafür“. Stellt euch vor, sogar ich habe Angst vor diesem Klopfen. Ich habe sogar immer wieder denselben Traum.
Ich träume, dass Papa mein Twitter liest und dann zu mir ins Zimmer kommt und sagt: „SO, KOLJA, GENUG GESCHWÄTZT.“ Sofort stürmt die GUBOPiK herein und haut mich mit einem Kinnhaken um – hasserfüllt, aber gezielt, sogar die mit ihren mickrigen Hirnen haben kapiert, wer ich bin. Sie reißen schlechte Witze und fluchen viel. Ihre reine Anwesenheit ist mir zuwider. Ehrlich gesagt, bin ich mir gar nicht sicher, ob das Menschen sind – oder doch Orks aus Herr der Ringe. Vielleicht waren sie mal Menschen, aber die Finsternis und der Kontakt zu Balaba hat sie zu Monstern gemacht. Dann fangen sie an, mein Zimmer zu zertrümmern … Und dann ist alles nur mehr Nebel … Der Nebel lichtet sich, und ich sitze in einem Kabinett, hinter mir grüner Stoff. Wie sie wohl den Szenenhintergrund für mich gestalten? Eine Tür, so wie immer, oder reicht die Fantasie für etwas Kreativeres – Mordor oder Zion? Oder lassen sie die Sau raus und stellen Smeschariki an?
Wieder Nebel. Ich bin schon vor Gericht. Vor dem belarussischen Gericht — dem nach Meinung von niemandem gerechtesten der Welt. Zeuge Iwanow Iwan Iwanowitsch, in Sturmhaube, sagt mit verfremdeter Stimme per Skype, er habe selbst gesehen, wie ich die öffentliche Ordnung gestört, geflucht und gefuchtelt habe (also, alles, was auch Papa tut, wenn er von einem neuerlichen Sanktionspaket erfährt). Zum Beweis seiner Worte sagt er: „Darauf geb ich einen Zahn.“ Die Richterin mit meterdickem Filz [gemeint ist wohl eine Turmfrisur auf dem Kopf – dek] verhängt ein maximal gerechtes Urteil: lebenslängliche Haft, und fügt noch hinzu: „Sag danke, dass es nicht Erschießung ist.“ Ich sage „danke“, und wieder Nebel. Ich bin in einem ein Mal ein Meter großen Glas. Werde irgendwo hingebracht. Wohin, weiß ich nicht, aber sicher nicht ins Dreamland. Vielleicht Schodino oder Baranowitschi, vielleicht auch Orscha … Wenn es in Belarus etwas zur Genüge gibt, dann Strafkolonien. Im Glas ist es eng und stickig.
Gut, dass ich keine Platzangst habe … Oder doch … Nebel.
Der Nebel lichtet sich, ich werde in eine Zelle geführt. In einer Zelle für zwei sitzen siebzehn Personen. Es riecht nach Chlor und nach Ungerechtigkeit. Keine Matratzen, kein Warmwasser, dafür siebzehn unschuldige Menschen in einer Zweierzelle. Nur sind die Menschen in dieser Zelle interessanter und klüger als alle, die ich je im Palast getroffen habe. Hier sind Programmierer, Universitätsdozenten, Blogger, Unternehmer, Studenten und wieder IT-Fachleute. In dieser Zelle kriegt man allein durch die Gespräche mit diesen Leuten eine Hochschulbildung. Wir reden viel, lernen Englisch, erzählen einander von Filmen, spielen „Krokodil“ und freuen uns sehr, wenn jemand einen Brief bekommt. Die Mithäftlinge haben Humor, wir lachen viel. Das macht die Orks jenseits des Gitters rasend. Sie wollen nicht, dass wir lachen. Sie wollen, dass wir leiden. Sie drehen ständig scheußliche Propagandalieder auf und lassen nachts das Licht brennen. Wenn es ihr Ziel ist, dass wir dieses Regime noch mehr hassen, dann sind sie auf dem besten Weg. Wieder Nebel. Ich wache auf. Im Palast. Es war nur ein Traum. Nur, für zigtausende Belarussen war das alles andere als ein Traum. Und es ist auch die Realität, die Tausende Belarussen gerade jetzt erleben müssen. (Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes gibt es im Land über 1500 offiziell anerkannte politische Gefangene – Anm. KYKY)
Jetzt haben es alle schwer – die, die in Belarus geblieben sind, genauso wie die, die ins Ausland gegangen sind, aber das ist kein Vergleich damit, wie schwer es ist, in diesem Regime ein Gefangener zu sein. Wenn ich nur wüsste, wie ich ihnen helfen, wie ich sie retten kann (Vatermord lässt sich nicht anbieten) … Das Einzige, was mir einfällt – ihre Familien unterstützen und Briefe schreiben. Wenigstens ein paar Zeilen, wenigstens eine Postkarte. Wir müssen alles tun, um sie spüren zu lassen, dass wir an sie denken. Jedes Mal, wenn ich nachts aus diesem Alptraum erwache, nehme ich ganz ruhig meinen Laptop, schalte VPN ein, gehe auf politzek.me oder pismo.bel oder vkletochku.org und schreibe einen Brief. Ich schreibe alles, was mir einfällt: über das Wetter, darüber, dass die belarussischen Fußballer überall verloren haben, dass die neue Staffel von The Boys genauso geil ist wie die vorige, dass wir nichts vergessen haben. Ich klicke auf Senden. Und schlafe wieder ein.
Angst haben ist normal. Vor einem morgendlichen Klopfen an der Tür, vor dem blauen Bus oder davor, dass Papa endgültig überschnappt und dich in den Krieg schickt. Aber alle diese Ängste muss man durch Kommunikation und Solidarität überwinden. Ich glaube, das Wichtigste ist jetzt, nicht über Kleinigkeiten zu streiten: wer welche Sprache spricht, wer weg und wer geblieben ist. Es ist höchste Zeit, sich an 2020 zu erinnern. Und daran zu denken: Belarus ist dem Belarussen Belarus.
Tania Arcimovich, 1984 geboren, gehört im belarussischen Kulturraum zu den bekanntesten Intellektuellen ihrer Generation. Die Autorin und Theaterregisseurin hat zahlreiche Bildungsprojekte und Ausstellungen kuratiert, sie ist Herausgeberin der Kunst- und Kulturzeitschrift pARTisan/pARTisanka. In ihren Arbeiten ist sie immer wieder bestrebt, belarussische Kulturphänomene und gesellschaftspolitische Ereignisse in ihrer Heimat außerhalb der üblichen Grenzen und Fixpunkte zu deuten und zu interpretieren. So auch in diesem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft. In diesem Text fragt sich Tania Arcimovich, was in Belarus im Zuge der historischen Proteste im Jahr 2020 eigentlich passiert ist und was diese politische Mobilisierung für eine mögliche Zukunft ihres Landes bedeuten könnte. Dabei setzt sie nicht auf eine kollektivistische Erfahrung, sondern auf die Entwicklung der individuellen Eigenverantwortung.
Ich möchte von denGeschmeidigen reden. So heißt ein Buch von Nora Bossong, das ich vor einigen Monaten im Buchladen sah, in dem ich blätterte, den Klappentext las und wusste: Das ist mein Buch. Meines, nicht weil es von mir handelt, denn das ist schon wenigstens deshalb unmöglich, weil die Autorin und ich unterschiedliche geografische und kulturelle Ausgangspunkte haben. Doch wir gehören derselben Generation an, sind Kinder des Zerfalls der sozialistischen Systeme – nur der jeweils anderen Seite der Mauer. Rückblickend und analysierend, was in den letzten Jahren geschehen ist, sitzen wir beide scheinbar auf den Ruinen unserer Träume und sortieren Steine. Bossong beginnt mit dem Ende einer Ära, und das ist genau das, was auch ich empfinde, wenngleich unsere „Ären“ und ihre „Enden“ sicher verschiedene sind. Oder nicht? Das war meine heimliche Absicht – ich wollte beim Lesen des Buches in mich hineinhören, was um mich herum und mit mir geschehen war, ihr Fragen stellen, widersprechen oder zustimmen. Natürlich geht es nicht um die Ereignisse an sich, sondern um deren Wahrnehmung – basierend auf persönlichen Erfahrungen, Ängsten, Traumata, meinem sozialen und kulturellen Körper, der die für ihn vorherbestimmte Biografie ausführen sollte. Oder kann diese Vorherbestimmung durchbrochen werden? Unabdingbar ist es jedenfalls, die Gründe für die bestehende Asymmetrie der Geografien zu verstehen, die meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft bestimmt. Denn wenngleich ich eine Vergangenheit habe und in einer Gegenwart – wie auch immer sie aussehen mag – stehe, so wird mir doch, wenn ich den westlichen Politikern zuhöre, eine Zukunft verwehrt. Auf der Landkarte gibt es mich nicht mehr. „Bei euch ist es doch still“, sagte eine Frau auf der Straße zu mir. „Genau,“ antworte ich, „wie auf dem Friedhof.“ Und dachte bei mir, wie soll man erklären, dass still nicht nur bedeutet, dass nichts passiert, es bedeutet auch den Wunsch, etwas zu hören. Daraus folgt, dass meine einzige Chance auf eine Zukunft wohl ist, in eine andere Haut zu schlüpfen – in eine weißere, in einen anderen Körper, aufgeben, mich anpassen – eine Europäerin werden? „Sie müssen wohl über einen anderen Beruf nachdenken, Philologen werden hier nicht gebraucht.“ Beim nächsten Mal, denke ich, muss ich mich vorbereiten und mir eine fundierte Antwort auf die Frage überlegen, was ich beruflich mache. Vielleicht Gärtnerin?
Cyanobacteria
Ich möchte einen Garten anlegen, in dem sechshundertsiebenundvierzig Pflanzen wachsen. Das habe ich nie getan, ich meine, Pflanzen pflanzen, also eigentlich habe ich welche gepflanzt, aber sie sind immer auf meinem Fensterbrett gestorben. Als mir eines Tages auffiel, dass eine Pflanze zu vertrocknen beginnt, habe ich ihr nur beim Sterben zugesehen. Doch die Pandemie hat meine Einstellung grundlegend verändert. Als der März-Lockdown in den EU-Ländern 2020 meine Pläne komplett umgeworfen hatte, wusste ich nicht, was ich machen sollte. Ich saß in Selbstisolation im Dorf fest und begann zu pflanzen – Sträucher, Gemüse, Zierpflanzen, Blumen. In dieser Zeit entdeckte ich auch Lynn Margulis und ihre Theorie der Symbiogenese, mit der sie jahrzehntelang die Neodarwinisten herausgefordert hatte, doch erst in den letzten Jahren war ihre Stimme in breiteren Kreisen wahrgenommen worden. Der Theorie der Symbiogenese zufolge findet Evolution nicht aufgrund von Konkurrenz oder Genmutation statt, sondern als Ergebnis physischer Zusammenarbeit und Interaktion zwischen unterschiedlichen Arten von Organismen. Somit hat die Evolution nicht beim Menschen geendet, er ist nur eine ihrer Etappen. Wenn sich der Mensch also der Natur entgegenstellen möchte – als höchstes, herrschendes Lebewesen – dann ist das naiv. Bakterien leiten das Ökosystem, sie sind die höchsten Lebewesen, sagt Margulis, denn der Abfall der einen ist die Energiequelle der anderen. Ein geschlossener Kreislauf. Davon kann der Mensch nur träumen. Aber gerade weil es zwischen Mensch und Bakterien viel mehr Gemeinsamkeiten gibt, als wir uns vorstellen – auch wir sind ein Ökosystem – haben wir eine Chance. Das Gefühl der Veränderung verstärkte sich nicht nur durch meine persönlichen Erfahrungen. Letztlich war die Pandemie für die belarussische Gesellschaft, wie auch für andere periphere Gesellschaften, kein Schock – denn die Menschen hatten sich noch nie in Sicherheit gefühlt. Wie viele andere stellt auch Nora Bossong fest – und zitiert hier die Wissenschaftlerin Hana Gründler – dass die Pandemie insbesondere „die Unverletzlichkeit der westlichen Welt“ in Frage gestellt habe. Es sei die erste „kollektive Krise“ für ihre Generation gewesen, schreibt Bossong, begleitet vom Verlust des Kontrollgefühls. Doch während in den EU-Staaten die Nachrichten aus anderen Breitengraden ihre Bedeutung verloren – „die Grenzen im Kopf wurden so hoch gezogen wie die der Nationalstaaten“ – las ich sogar in meinem Garten in der tiefsten Provinz sorgsam die Nachrichten aus aller Welt. Die Welt muss sich grundlegend verändern, dachte ich, war allerdings unsicher, ob dies schnell und unter Berücksichtigung der jeweiligen Geografien geschehen würde. Deshalb müssen die, die am Rande sind, wissen, was in der großen Welt vor sich geht. Es gibt die Hoffnung einer echten Wende – dass diese Zwangspause zum Trigger für eine wirklich radikale Revision der bestehenden sozialen und politischen Systeme und ethischen Normen wird. Daran glaubte ich wirklich, denn die Entledigung von gewohnten Existenzmustern, das Pausieren von allem, – ist das nicht ein Momentum, in dem man sich der wirklichen Bedürfnisse bewusst wird? Das hätte das Ende für Neoliberalismus und Kapitalismus bedeuten müssen, die zwar nicht Teil meiner Erfahrungswelt waren, von denen ich aber wünschte, sie blieben nicht der einzige Ausweg aus dem Autoritarismus, in dem ich lebe. In Belarus begann derweil die Wahlkampagne.
Wir-Sätze
Als Jugendliche las ich weder Marx noch Engels, wir sprachen nicht über Politik und gingen nicht zu Demonstrationen. Die Welt endete mit der Grenze des Stadtteils, das Schulwissen war abstrakter Natur. Auch wenn die Berliner Mauer fiel und die Sowjetunion zerbrach, real war das, was vor dem Fenster geschah. Warst du in einer Arbeiterfamilie an der Peripherie geboren, war deine Biografie schon geschrieben. Du musstest sie nur noch still und leise leben. Tschernobyl „gab es nicht“, Umweltkatastrophen „gab es nicht“. Von Konsum wussten wir auch nichts, denn es gab nichts, das in kapitalistischem Sinne hätte konsumiert werden können. Die Generation der Schlüsselkinder und der Tüten in einer Tüte – so nennen uns die Soziologen manchmal. Damit die kleinen Kinder den Schlüssel für die Wohnung nicht verloren, in die sie nach der Schule allein zurückkehrten und bis zum Abend auf die Eltern warteten, hing der Schlüssel an einer Schnur um den Hals. Und Plastiktüten waren immer Mangelware, deshalb wusch und trocknete man sie, um sie sorgfältig zusammengefaltet in einer Plastiktüte aufzubewahren. Die Frage der Freiheit stellte sich uns, doch sie war eher universell, es ging um eine innere Freiheit, die geeignet war, die eigene Biografie zu durchbrechen. Teil der großen Welt zu werden, deren Bild sich aus Büchern und Fernsehsendungen speiste, davon träumten wir. Die Ereignisse dieser Zeit – Krieg in Jugoslawien, Putsch in Moskau, Krieg in Tschetschenien, Referendum in Minsk 1996 – all das war unwirklich, jenseits unseres Einflusses, es existierte einfach für sich. Freiheit und Politik gingen getrennt, liefen einzeln nebeneinander her. Ich schreibe über mich als Wir, weil auch ich eine Generation wahrnehme – keine der Geschmeidigen, sondern eine der von der Geschichte Isolierten. Damals gab es noch keine Wir-Sätze, eher eine Wir-Masse. Die Sätze kamen erst später auf, verschafften sich während der Pandemie laut Gehör. Denn während für die Bewohner der westlichen Länder eine Atomisierung stattfand, wurden in Belarus, wo die Mehrheit endlich der Gewaltfunktion des Staates gewahr wurde, gerade wir zum Trigger für die Geburt des politischen Willens. Das Alte begann endlich zu sterben, markierte den Beginn einer riesigen Krise, deren Ausgang etwas Neues sein musste. Etwas Neues? Wie auch Bossong schreibe ich hier „wir“ und bin mir dabei der Bedingtheit dieser Wir-Sätze bewusst. Wer ist wir? Diejenigen, die nach langer Zeit der Isolation ihr Recht auf die eigene Geschichte realisierten, gleichzeitig aber begannen, sich in ihrer Heimat wie Fremdkörper zu fühlen, da sie schon nach anderen Maßstäben lebten? Oder diejenigen, die bis zur Pandemie vollkommen entspannt in die bestehende autokratische Normalität integriert waren und dabei bewusst von politischen Freiheiten und Rechten absahen? Oder diejenigen, für die erst die Gewalt im Akreszina-Gefängnis, wo die Mächtigen nach den Wahlen 2020 tausende Menschen folterten, das Fass zum Überlaufen brachte? Oder diejenigen, die auch heute noch verbrecherische Befehle ausführen, die Propaganda mittragen, foltern und Verrat begehen? „Nicht alle wollten Teil dieses Wir sein – eines Wir, das sie selbst nicht bestimmt haben“, schreibt Bossong. Umso mehr, da für Politiker – egal ob Nationalsozialisten oder Linke – der Kampf um dieses Wir, um das Recht, in seinem Namen zu sprechen (das wohlbekannte „Wir sind das Volk“), entscheidend bleibt. Und so geschieht es im Moment der politischen Revolution, dass der Wunsch, dieses Wir zu meiden, als Verrat an der Revolution verstanden werden kann. Aber ist das nicht auch eine Art Manipulation? Wenn die Idee im Raum steht, eine neue soziale und politische Struktur (zum Beispiel ohne Parteien und Anführer) zu schaffen, ist es dann nicht auch an der Zeit für neue Strategien? Ich möchte schon jetzt komplex denken und empfehle das allen um mich herum. Doch darauf erhalte ich nur ablehnende Reaktionen, da es in der aktuellen Abwesenheit einer politischen Landschaft – in dieser Wüste, in die sich Belarus verwandelt hat – nicht möglich zu sein scheint, in solchen Kategorien zu denken: „Erst siegen wir, dann kommt die Zeit für politische Programme.“ Ich will aber nicht warten.
Wenn das Alte stirbt
Im Verlauf ihres Buches bezieht sich Nora Bossong immer wieder auf Antonio Gramscis Idee von der Krise, die demnach darin besteht, dass das Alte gestorben, das Neue aber noch nicht geboren ist und dieser Zwischenraum von bestimmten Krankheitserscheinungen geprägt ist. Darüber hinaus werden gerade in dieser Periode unterschiedliche Wege des Übergangs zum Neuen gefunden. Die zentrale Frage ist dabei die Zeit, denn eine Krise kann dauern, sich hinziehen, der Übergang aber muss stattfinden, denn das Alte ist tot. Nora Bossong stellt die Frage nach der Krise der Demokratie, die nicht mehr als die einzige, beste Option wahrgenommen wird, oder, wie die Autorin feststellt, im steten Prozess der Selbstfindung steckt. Was wie eine Niederlage erscheint, ist nur der nächste Entwicklungsschritt. Es braucht Mut, um diesen Krisen zu begegnen und einen Schritt nach vorn zu machen. Nora wendet sich an ihre Generation als diejenige, die gerade an die Macht kommt – langsam, gegen Widerstände, da die grauhaarigen Herren in blauen Anzügen sie noch immer als „Kinder an der Macht“ bezeichnen. Dennoch geschieht es, und damit geht das einher, was die Autorin als Geschmeidigkeit bezeichnet. Ungeachtet ihrer Jugendträume von radikalen Veränderungen, vor allem in Bezug auf die ökologische Verantwortung, geht die Generation der Geschmeidigen Kompromisse ein (Ökologie aber mit Ökonomie). Weil sie als die Erste Veränderungen doch zu Gunsten von Machtbestrebungen opfert? Haben sie sich angepasst? Sind sie nicht bereit, die Privilegien ihres kleinen bürgerlichen Lebens zu verlieren? Ja, antwortet Bossong, auch wir sind bürgerlich geworden, „vielleicht nicht im klassischen Sinne“, aber doch. Zugleich, führt sie fort, kann eine solche Geschmeidigkeit – ein schnelles und kreatives Reagieren – zuträglich bei der Lösung der Probleme sein, die die Gegenwart aufwirft. In Belarus nennen wir das „Wie Wasser sein“. Doch Wasser füllt nicht einfach bestehende Leere und fügt sich dort ein. Wasser ist eine Naturgewalt, die Raum für das Lebendige erobert und dabei alles zerstören kann, was sich ihr in den Weg stellt. „Wir waren freier. Aber Freiheit bedeutet auch die Möglichkeit des freien Falls“, schreibt Nora. Auch wir haben von der Freiheit gekostet und begannen zu fallen. Und ich bin bereit, diese Erfahrung zu machen – auch das Fallen will gelernt sein. Ich frage mich allerdings, wie ich das Gleichgewicht zwischen meinem eigenen Erwachsenwerden und der Brutalität der politischen Wirklichkeit finden kann, deren Zeugin ich bin. Wie kann man darüber nachdenken, dass das Alte gestorben ist, wenn die Gewalt wie ein Gespenst weiterhin in Wellen verschiedene Geografien erfasst? Wie mache ich meinen Frieden mit der Idee, dass die Freiheit ihren Preis hat? Warum muss man für das Recht auf Eintritt in eine andere Zukunft mit Menschenleben bezahlen? Hier meine ich nicht den Eintritt in eine komfortable bürgerliche Welt, sondern in eine radikal andere Zukunft – jene, die der Epoche der Herrschaft, der sozialen Ungleichheit und Ausbeutung ein Ende setzt. Und damit meine ich auch die Ausbeutung anderer Lebewesen und Ressourcen durch den Menschen.
Das Ende einer Ära?
Eine der schmerzhaften Begleiterscheinungen der Pandemie war für die Bewohner der westlichen Welt die Selbstisolation – die Körper verloren aufgrund der Gefahr, die sie füreinander darstellten, die Möglichkeit einander zu berühren, einander zu spüren und sich zu versammeln. Übrigens ist es strittig, ob das Konzept der Versammlung von Körpern als Äußerung des politischen Willens noch immer ein Merkmal der Demokratisierung ist. Gerade die Anzahl der Körper auf den Straßen der belarussischen Städte 2020 wurde zum Indikator (für wen?) des radikalen Wunsches der belarussischen Gesellschaft nach Veränderung. Diese Gebundenheit an Zahlen war mir schon immer unverständlich. Warum braucht es eine Mehrheit, wenn gleichzeitig in zahlreichen internationalen Organisationen eine einzige Stimme ausreicht, um ein Veto einzulegen? Darin sehen viele heute eine Schwäche der repräsentativen Demokratie. Das Gegenteil geschah, als im Verlauf des letzten Jahres immer mehr politische Körper der Belarussen von den Straßen verschwanden. Ein Raum wird von Körpern gesäubert – zeugt das von Zustimmung und Unterordnung? Rückkehr zur „Normalität“? Oder doch von Okkupation durch eine illegitime Regierung? Und hier beginnt der freie Fall der westlichen politischen Theorien, denn es geht ja nicht nur darum, dass sie in autoritären, totalitären Staaten nicht funktionieren. Selbst in demokratischen Staaten verlieren sie ihre Funktion, und die Körper auf der Straße, selbst wenn sie ihren politischen Willen kundtun können, haben keinen realen Einfluss. Das ist das Ende der Agora als schöner Idee. Doch Bossongs Generation kann im Unterschied zu uns wenigstens sagen, dass sie es versucht hat. Und wir? Die Kinder des Zerfalls der sozialistischen Systeme auf der anderen Seite der Mauer? Wir sind nicht weiß genug, nicht schwarz genug, wir haben keinen imperialen Mythos im Rücken, und der koloniale interessiert niemanden. In Lynn Margulis’ Schilderung, wie es ihr als junger Forscherin gelang, eine wissenschaftliche Entdeckung zu machen, beschreibt sie die Frau als „periphere Visionärin“. Gerade also die Tatsache, dass sie sich „am Rande“ der von Männern dominierten Wissenschaft befand, erlaubte ihr einen anderen Blick auf das Gewöhnliche. In diesem Sinne haben alle, die „zwischen“ verschiedenen Systemen groß geworden sind und isoliert von der großen Geschichte waren, ebenfalls einen Vorteil. Auf Krisen vorbereitet, sehen wir diese Unzulänglichkeiten. Glaubt ihr wirklich, dass eine grüne Wirtschaft durch Verlagerung von Fabriken und Müll in ärmere Länder erreicht werden kann? Oder dass neu errichtete Mauern die Migration stoppen? Ich schaue ein Video, von polnischen Grenzsoldaten durch Stacheldraht hindurch gefilmt, wie belarussische Soldaten auf der belarussischen Seite Migranten misshandeln. Die Polen filmen es als Beweis für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einer von ihnen sagt auf Russisch zu den belarussischen Grenzern: „Helft den Menschen.“ Ich schreie: „Hilf du ihnen doch!“ Ist nicht die Zeit gekommen, die Niederlage der bestehenden politischen Modelle und die Notwendigkeit wirklicher Reformen einzugestehen? Dafür braucht es Mut. Und zwar nicht den, der durch Armeeuniformen demonstriert wird oder sich hinter Reden über Diplomatie versteckt. Man kann nicht in der einen Situation menschlich handeln und in der nächsten die Augen vor dem verschließen, was beispielsweise noch immer an der belarussisch-polnisch-litauischen Grenze geschieht. Denn wie dick die Mauern auch immer gebaut sind, die Pandemie hat uns gezeigt, dass sie nur eine weitere naive „Erfindung“ des Menschen sind. Wenn Margulis also sagt: „Wir leben in einer symbiotischen Welt“, dann heißt das, dass wir auf unterschiedlichsten Ebenen miteinander verbunden sind. „Irgendwo dort“ gibt es nicht, dieses „dort“ wird immer auch Einfluss auf mein „hier“ haben. Als einen weiteren Schritt in Richtung Zukunft sehe ich die Abkehr von diesem Wir; das ist kompliziert, aber unerlässlich. Einerseits wird dieses Wir immer mehr zur Abstraktion, hinter der man ganz praktisch die eigene Verantwortung verbergen kann. Zudem ist dieses Wir immer häufiger defragmentiert, weil es eben gerade nicht erlaubt, komplex zu denken. Andererseits ist dieses Wir, wie auch die schönen Ideen von Gemeinschaft und Kollektivismus, von politischen und konsumfreudigen Losungen korrumpiert. Daher muss nicht das Wir mobilisiert werden, sondern das Ich, um die Verantwortung für den Garten zu tragen, den ich pflege. Denn ich glaube an den Willen und die Kraft gerade dieses Ich, das die heutigen Politiker ignorieren. Und gerade deshalb stehen sie vor der Niederlage.
tell them we don’t know of the politics or the science but tell them we see what is in our own backyard Kathy Jetn̄il-Kijiner, ‘Tell them’, 2011
Nahezu 75 Prozent der Bevölkerung in Russland unterstützt die sogenannte „Spezialoperation“ – den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada hat diese Zahlen ermittelt. Warum sind so viele Russen für den Krieg? Und kann man diesen Zahlen überhaupt trauen? Mit Verweis auf mutige Akte des Protests ziehen manche Soziologen wie der Moskauer Grigori Judin die Aussagekraft von Umfragen in autoritären Systemen generell in Zweifel, und während eines Krieges erst recht. Die Lewada-Soziologen dagegen betonen, dass Umfragen durchaus eine Tendenz anzeigen.
Als Gründe für die Zustimmung oder den ausbleibenden Massenprotest nennen Soziologen neben der Wirkung der Propaganda vor allem eine über Jahre im autoritären System erlernte apolitische Haltung und Atomisierung.
Lew Gudkow, Vize-Direktor des Lewada-Zentrums, sieht im Interview mit Meduza „eine sehr bequeme Form der demonstrativen Identifikation mit dem Staat, bei gleichzeitiger völliger Zurückweisung der eigenen Verantwortung für die Mittäterschaft an dessen Verbrechen“. Weil der Staat, und nicht ein bürgerschaftliches Selbstverständnis die kollektive Identität stifte, hätten viele Russen ein Problem damit, sich gegen ihn zu stellen.
Die „Spezialoperation in der Ukraine“ darf von Gesetzes wegen nicht als „Krieg“ bezeichnet werden. Noch dazu werden unterschiedliche Erklärungen von seiten des Staates geliefert, weshalb es überhaupt dazu gekommen sei: wegen der Aggression des Westens, der notwendigen „Entnazifizierung“ der Ukraine und/oder des Donbass. Diese unterschiedlichen Deutungen stifteten aber auch Verwirrung – und die wiederum mache viele für weitere Propaganda nur noch zugänglicher, so Gudkow.
Warum sind so viele Russen für den Krieg? Das fragt auch der Lyriker und Übersetzer Sergej Samoilenko – und zwar im Hinblick auf seinen eigenen Freundeskreis. Und beschreibt eine Entwicklung, für die er selbst keine Erklärung finden kann.
Sein sehr persönlicher Text ist noch vor der „Teilmobilmachung“ und den weiteren Annexionen ukrainischen Territoriums im Projekt Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder entstanden.
Der 24. Februar 2022 hat mein Leben in Stücke gerissen. In lauter kleine Splitter. Trümmer. Die Raketenangriffe auf die Ukraine haben die Welt, in der wir lebten, zerstört. Entsetzen, Scham, Angst, Hass, das Gefühl, in einem schlechten Traum zu sein, aus dem man aufwachen will und nicht kann. Seit Monaten ein unaufhörliches Dröhnen im Kopf, das man abstellen will und nicht kann. Das Bewusstsein ist zerborsten, du versuchst, die Einzelteile einzusammeln, hältst ein Bruchstück an das andere, versuchst sie wie ein Puzzle zusammenzufügen. Es geht nicht.
Ich fürchte, es lässt sich nicht mehr kitten
Ein paar Tage vor dem Krieg bat mich meine Schwiegermutter, ein Familienerbstück zu reparieren – von der Porzellanfrau im Folklorekleid war der Krug abgebrochen. Es war übrigens ukrainische Tracht. Ich klebte es mit Sekundenkleber an, aber die Bruchstelle blieb sichtbar. Vor kurzem ist der Krug wieder abgebrochen. Ich fürchte, es lässt sich nicht mehr kitten.
Makejewka
Geboren wurde ich in Makejewka, nicht weit von Donezk, meine Familie lebte dort, bis ich acht war. Danach zogen wir nach Sibirien, tauschten den Donbass gegen den Kusbass ein, mein Vater war Bergmann. Unser Nachname ist ukrainisch, aber gebürtig stammte mein Vater aus der Gegend bei Woronesh – das ist nicht weit von der ukrainischen Grenze, quasi nebenan, man spricht dort Surshyk. In der Schule wurde ich als Chochol gehänselt, aber nur zum Spaß: Im Schmelztiegel Sibirien kommen alle möglichen Nationalitäten zusammen. Und mit der Zeit ist auch mein frikatives „g“ verschwunden.
In Makejewka wohnten wir im Bezirk Chanshenkowo, das war damals eine eigenständige Siedlung – gleich hinter der vierstöckigen Chruschtschowka lagen das Maisfeld und die Müllhalde. Ich war nie wieder dort, außer in meinen Träumen.
Ich habe nur die erste Klasse in Makejewka beendet, ab der zweiten hätten wir Ukrainisch gelernt. Ich hatte schon mein Lehrbuch, es kam mit mir nach Kemerowo, irgendwann ging es bei einem Umzug verloren. Jetzt lese ich mithilfe des Übersetzungstools auf dem E-Reader Zhadan und Andruchowytsch, vielleicht wage ich mich irgendwann daran, ein paar ihrer Gedichte zu übersetzen.
Nowosibirsk
Ein paar Tage vor Kriegsbeginn hatte ich eine Übersetzung von Molières Tartuffe für das Projekt Theatre HD abgeschlossen. Am 14. Januar lief das Stück in der Comedie francaise, inszeniert von Ivo van Hove. Die Produktionsfirma CoolConnections, die das Projekt Theatre HD in Russland betreibt, verwendet oft alte Theater-Übersetzungen, die zum Teil vor hundert Jahren entstanden sind, deshalb wirken moderne Klassik-Inszenierungen, gelinde gesagt, archaisch. Und die Tartuffe-Übersetzung hatte ich schon vorliegen … Jedenfalls freute sich das Theater über meinen Vorschlag, und ich tüftelte etwa sechs Wochen an der Überarbeitung, kürzte, schrieb um … Es ist gut geworden.
Die Premiere in Nowosibirsk fand am 9. März statt, da war natürlich niemandem mehr nach Tartuffe … Ich erzählte vor fünfzig Zuschauern nervös irgendwas von Molière, von meiner Arbeit an der Übersetzung, vom Widerstand gegen die Barbarei, versuchte, das Wort „Krieg“ zu vermeiden
Nach der Vorstellung stießen wir im Café des Kinos im kleinen Kreis mit einem Glas Wein an. Ich fing an, mit der Prorektorin des Theaterinstituts (ich nenne sie mal Jana), mit der ich gut befreundet war, darüber zu sprechen, wie schrecklich alles ist, wie unangebracht diese Premiere jetzt wirkt – und hörte plötzlich von ihr, dass wir keine Wahl gehabt hätten, dass sie acht Jahre lang die Menschen im Donbass umgebracht hätten, dass Russland den Donbass beschützen müsse … Ich sprach von zerbombten Städten und zivilen Opfern – und musste zu meinem Erschüttern hören, dass „diese Nazis sich selbst beschießen“ würden … Und von den amerikanischen bakteriologischen Laboren hörte ich auch …
Ich versuchte sie erst zu überzeugen, dann schrie ich, dann schwieg ich und trank Whisky, ich schlotterte am ganzen Körper, mir war schlecht, es tat mir körperlich weh.
Es ist nicht nur so, dass ich nicht erwartet hätte, so etwas ausgerechnet von ihr zu hören, ich konnte vielmehr nicht glauben, dass ich das überhaupt höre.
Ich versuchte sie erst zu überzeugen, dann schrie ich, dann schwieg ich und trank Whisky, ich schlotterte am ganzen Körper
Wir kennen uns schon eine Ewigkeit, seit Ende der 1980er, als Jana Studentin der Philologischen Fakultät war, intelligent, lustig, sie hatte etwas von der jungen Tatjana Drubitsch, der Filmschauspielerin, sie liebte Poesie … Sie schrieb ihre Dissertation über Brodsky, holte mich Ende der 1990er aus Arzamas, wo es mich mit meiner Familie hin verschlagen hatte (ich mochte den poetischen Namen der Stadt) und wo ich mich als Packer, Hausmeister und Nachtwächter verdingen musste, weil ich in dieser Kleinstadt, in der jeder jeden kennt, weder am Institut noch in der Regionalzeitung, ja nicht einmal bei der Betriebszeitung einen Job bekam … Ich schrieb Gedichte und verdiente schmales Geld, indem ich Möbel schleppte, in einem Kindergarten Nachtwache hielt und das Laub der Kirsch- und Apfelbäume wegfegte, bis Jana meinen ehemaligen Universitätsprofessor überredete, mich als Doktorand aufzunehmen – und ich kehrte nach Kemerowo zurück.
Ich war bis über beide Ohren in sie verliebt, zog wegen ihr nach Nowosibirsk, quälte sie und mich zwei Jahre lang mit meiner Eifersucht, machte ihr Szenen, aber wir schafften es irgendwie, unsere Freundschaft und sogar Zuneigung zueinander zu bewahren. Wenn ich irgendwem ein Gedicht zeigen wollte, dann war es immer sie … Sie lebt seit zehn Jahren in Scheidung, ich bin seit acht Jahren verheiratet; sie machte Karriere, ich blieb ein brotloser Künstler, aber das hinderte uns nicht daran, befreundet zu sein und einander zu verstehen …
Wie kann ein intelligenter, feinsinniger, gebildeter Mensch den Krieg rechtfertigen?
Was ist passiert? Wie kann ein intelligenter, feinsinniger, gebildeter Mensch, der mehrere Sprachen spricht, das Ausland bereist hat, die Literatur liebt und selbst schreibt, den Krieg rechtfertigen, einen Überfall auf einen anderen Staat, Mord und Zerstörung? Wie kann er ihn damit rechtfertigen, dass „wir unsere Leute“ nicht im Stich lassen konnten … Jana besitzt doch nicht einmal einen Fernseher! Woher hat sie diese Phrasen?! Über die Biolaboratorien und die virustragenden Fledermäuse … Als ich einem gemeinsamen Freund am Telefon von unserem Gespräch erzählte, riet er mir spöttisch, ich soll in solchen Fällen antworten, dass sich ein Russe, wenn er von einer solchen Fledermaus gebissen wird, in Batman verwandelt …
Das war für mich wohl die traumatischste Trennungserfahrung. Die persönlichste, intimste; sie verlief nicht entlang einer Sollbruchstelle, sondern wurde mit dem Fleisch herausgerissen. Danach, mit anderen, tat es nicht mehr so weh.
Unter den Unterzeichnern dieses monströsen Briefs zur Unterstützung des Kriegs mit Verweisen auf Alexander Newski und Dimitri Donskoi, waren auch Bekannte von mir – ich wage nicht mehr sie als „Freunde“ zu bezeichnen.
Du kannst zwar deine Kontakte auf Facebook entfrеunden, aber doch brennt etwas in deinem Inneren – mein Gott, wo kommen die alle her?
Einen älteren von ihnen kannte ich aus einem Literaturverein in Kemerowo, dem ich mich in meinem früheren Leben nach der Armee angeschlossen hatte – diese Zeit hatte ich bis zuletzt sehr positiv in Erinnerung. Ein anderer, jünger als ich, hat mir gewissermaßen seinen Erfolg als Lyriker zu verdanken. Wir hatten viel und freundschaftlichen Kontakt, er fing gerade an zu schreiben, ich zeigte ihm Gedichte von Jeremenko, Shdanow und Gandlewski – am Ende studierte er sogar Literatur, veröffentlichte ein paar Bändchen mit gar nicht so schlechten Versen und wurde in der Regionalabteilung des Schriftstellerverbands zum Herausgeber des literarischen Almanachs. In den letzten zwanzig Jahren habe ich sie nur noch selten gesehen, nur, wenn ich meine alte Heimat besuchte, unsere Wege haben sich längst getrennt. Ich verstehe ja: ein provinzielles Umfeld, hinterwäldlerisch-rechtsextreme Anschauungen (mir war in meiner Jugend einmal wegen Judenfreundlichkeit mit dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband gedroht worden, weil ich ein paar bissige Rezensionen zu regional verehrten Klassikern geschrieben hatte …). Trotzdem unerfreulich. Du kannst zwar deine Kontakte auf Facebook entfrеunden, aber doch brennt etwas in deinem Inneren – mein Gott, wo kommen die alle her? Warum hat diese Bekannte, die deine Lyrik so schätzt, einen dermaßen blutrünstigen Hass auf die Ukraine?
Das Kriegsgetöse hallt im Schädel wider
In meinem Kopf klirrt es die ganze Zeit. Natürlich hat das mit dem Alter und dem Blutdruck zu tun, aber da ist noch etwas, das Kriegsgetöse hallt im Schädel wider. Ununterbrochen diskutiere ich in Gedanken, argumentiere, versuche zu überzeugen, im Traum wie im Wachzustand, meine Gedanken ergeben kein klares Muster. So kann ich an nichts anderes denken, mich nicht konzentrieren. Ich kann keine Gedichte schreiben, es schnürt mir die Kehle zu und lässt nicht locker. Das Einzige, was mir hilft, sind meine Übersetzungen, in die ich mich vertiefe und mir einrede, dass sie noch gebraucht werden, zwar nicht jetzt, aber nach dem Krieg, nichts ist umsonst, das wird alles noch gebraucht werden. Wobei man natürlich nicht umhinkommt sich zu fragen, wann das denn sein wird, diese Zeit nach dem Krieg.
Meinen Zustand erklärte mir ein technisch bewanderter Bekannter: Es ist genau das, was man unter dem Begriff „Kontaktprellen“ versteht – ein kurzer Effekt in elektromechanischen Apparaten beim Ein- oder Ausschalten. Da passiert ein mehrfaches, unkontrolliertes Öffnen und Schließen der Kontakte.
Dieses „Kontaktprellen“ erschöpft, verblödet, zehrt an den Kräften.
Reale Begegnungen kosten ebenfalls eine enorme Überwindung. Zudem hast du einfach Angst, auch noch so gute Bekannte zu treffen – womöglich hörst du, dass „alles nicht so eindeutig“ sei – und das noch im besten Fall. Im schlimmsten Fall gratuliert dir ein guter Kumpel zum Geburtstag, Fotograf an der Oper, der fast alle Arbeiten der sibirischen Künstergruppe Die blauen Nasen mitgestaltet hat, mit dem du selbst Ausstellungen gemacht hast, noch dazu so radikale wie die Vereinigten Staaten von Sibirien. Mittlerweile ist er in einem Video mit dem halben Hakenkreuz-Symbol Z im Hintergrund aufgetreten …
Doch auch Kino, Theater, Ausstellungen, Cafés fügen dir solche Schmerzen zu, als hätte man dir die Haut abgezogen. Wie kann man sich Filme ansehen, Musik hören, Wein trinken, Fliederduft atmen, die Pfingstrosenblüte bewundern? Der Flieder war dieses Jahr betörend wie nie zuvor, richtig widerlich, und die Pfingstrosen zum Kotzen schön …
Jetzt verstehe ich, was ein Huhn fühlt, dem der Kopf abgeschlagen wurde und das noch über den Hof rennt
Ich habe keine Erklärung, wie man zum Zombie wird und woran es liegt: am Fernsehen, an der Nähe zur Regierung, am sozialen Umfeld, an der Mehrheitsmeinung? Natürlich ist immer alles individuell, aber für mich ist offensichtlich, dass weder Bildung noch Vernunft, weder Geschmack noch Wahrheitsliebe noch geistig-seelische Qualitäten eine Impfung dagegen sind. Was kann die Abwehrkräfte stärken? Kritisches Denken? Misstrauen? Intellekt? Empathie? Ich weiß keine Antwort.
Während ich kürzlich noch verstand, „was die Maus fühlt, wenn sie die Luft aus dem Glaskasten saugen“ – wie es in Sergej Tschudakows Gedicht heißt –, verstehe ich jetzt, was ein Huhn fühlt, dem der Kopf abgeschlagen wurde und das noch über den Hof rennt. Ich bin mir nicht sicher, was mir dieses Wissen bringt.
In der Technik gibt es mehrere Möglichkeiten, das Prellen zu unterbinden. Eine ist es, die Kontakte zu unterbrechen, bis eine stabile Verbindung (oder eine stabile Entkopplung) hergestellt ist. Eigentlich ist es dieses Szenario, das ich intuitiv umzusetzen versuche. Ich suche den Kontakt zu jenen, bei denen ich mir hundertprozentig sicher bin, denen ich vertraue, von denen ich nicht höre „ist alles nicht so eindeutig“. Ich verkleinere meinen Bekanntenkreis, werde zum Einsiedler, verschanze mich im Sommer auf der Datscha, im Winter in der Küche, übersetze Molière und Marivaux, schreibe für die Schublade …
Was das Kontaktprellen betrifft … Jana und ich sind immer noch Freunde. Wir treffen uns manchmal, trinken Kaffee, weichen dem wichtigsten Thema aus. Ich weiß, dass sie nicht so gemein ist, mich zu denunzieren, dass sie nicht für eine offenkundige Abscheulichkeit stimmen würde. Als meine Frau wegen ihrer Unterschrift auf einem offenen Brief gegen den Krieg und wegen mehrerer Antikriegspostings auf Facebook von ihrem Posten als Theaterdirektorin gekündigt wurde, bot Jana ihr (und auch mir) an, ab nächstem Schuljahr am Institut zu unterrichten. Ich weiß, dass sie alles tut, was sie kann, um uns zu helfen und uns zu unterstützen. Allerdings bin ich mir nicht so sicher, dass das auch nur vorübergehend eine Lösung ist: Julia steht garantiert auf der schwarzen Liste, und ich erscheine, nachdem ich den Preis der Zeitschrift Sibirskije ogni abgelehnt habe, die auf ihre Titelseite ein Z gepappt hat, sicher auch nicht im besten Licht. Ich fürchte, da ist nichts zu retten.
Leben muss ich trotzdem in einem offen faschistischen Staat, mit Blutsaugern und Hyänen oder zahnlosen Spießern, ich muss dieselbe Luft atmen wie sie, dieselben Straßen benutzen. Und das wird immer unerträglicher. Und auch gefährlicher.
Wenn alles aussieht wie immer, aber nichts mehr so ist wie zuvor: Dieses Tagebuch führte die Medienwissenschaftlerin Xenia Lutschenko im März 2022, bevor sie die Grenze zwischen Russland und Estland überquerte. Im Text sind alle Zeitangaben aus dem Gedächtnis rekonstruiert: Sämtliche Chats und Nachrichten mit den genauen Daten der Einträge aus dem Frühling hatte sie vor dem Überqueren der russisch-estnischen Grenze bei Iwan-Gorod/Narwa am 7. April 2022 gelöscht.
Der Text erscheint im Rahmen des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder. Für diese Reihe wurden Autorinnen und Autoren sowie Film- und Medienschaffende in Russland und im Exil eingeladen, den neuen Alltag seit dem 24.2.2022 zu dokumentieren und zu reflektieren.
4. März – Schnee
Der Schnee war bereits festgetreten, sodass man darauf laufen konnte, ohne einzusinken. Er war noch winterlich weiß, ohne schwarze Spuren. Die Schatten der Bäume waren lang wie im Februar, das grelle Sonnenlicht zog scharfe blaue Linien in den Schnee. Ljussjas fuchsrotes Fell flackerte auf, als sie darüber lief, meine weiße Hündin Ingrid lief ihr entgegen. Ljussjas Besitzerin Mascha kam auf mich zu. Wir schauten uns an und weinten beide los.
„Aber du hast doch die israelische Staatsbürgerschaft“, sagte Mascha ermutigend. „Wie kommst du darauf?“ „Nein? Ich war mir sicher … Du siehst aus wie jemand, der die israelische Staatsbürgerschaft hat.“
Am nächsten Tag landete Mascha mit ihrer Familie in Jerewan. Der Flug war mehrmals verschoben worden, manche Maschinen hatten umdrehen und nach Moskau zurückfliegen müssen. Am selben Tag reiste mit denselben Verschiebungen und Nervenzusammenbrüchen meine andere gute Freundin Mascha ab, sie brachte ihren 19-jährigen Sohn aus dem Land.
Ich wurde nur 34 Jahre nach dem 8. Mai 1945 geboren. Ich lebe schon acht Jahre länger als die Anzahl an Jahren, die zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und meiner Geburt liegen. Ich wurde also etwa in die Mitte des friedlichen Stücks Geschichte hineingeboren.
Trotzdem haben wir viele Kriege gesehen – Tschetschenien, Serbien, Afghanistan, Syrien, Armenien und Aserbaidshan, Georgien und eben den im Donbass 2014. Aber ich sehe zum ersten Mal auf Fotos und Videos, wie man Menschen unter Trümmern hervorholt, wie Kinder, die in ihren eigenen Hinterhöfen getötet wurden, in Leichenhallen liegen, wie Kolonnen von Flüchtenden Richtung Grenze ziehen, und ich spüre fast körperlich, dass das bald mit uns, mit mir, mit meinen Nachbarn passieren könnte. Nicht nur könnte, sondern muss – nach dem Prinzip der Gerechtigkeit. Und das macht es umso schlimmer.
Wir haben viele Kriege gesehen – Tschetschenien, Serbien, Afghanistan, Syrien, Armenien und Aserbaidschan, Georgien, und eben den im Donbass 2014. Aber ich sehe zum ersten Mal auf Fotos und Videos, wie man Menschen unter Trümmern hervorholt, wie Kinder, die in ihren eigenen Hinterhöfen getötet wurden, in Leichenhallen liegen
6. März – Wegfliegen
Gleich am 25. Februar schrieb mir meine Freundin, die Journalistin K., dass sie sofort wegfliegen würde, mit den Kindern und dem Kater. Später schrieb ihr Mann, fragte mich, ob ich Geld für sie mitnehmen könnte.
Dann schrieb meine Freundin S. – Journalistin, „ausländische Agentin“. Sie hatte Angst vor der Passkontrolle. Sie musste dringend weg, wie auch K. Es gab eine deutliche Warnung, dass man sie sehr bald verhaften würde. S. ging zur Passkontrolle, alle Apps auf ihrem Telefon hatte sie gelöscht. Sie hatte Angst. Ich saß mit meinem Telefon in der Hand da und betete, dass man sie rauslässt.
Ein paar Tage später trafen sich K. und S. in Istanbul. Sie begegneten sich zum ersten Mal. Beide steckten wegen des Schneesturms in Istanbul fest. Zwei meiner engsten Freundinnen, beide haben zwei Töchter, waren tagelang in Istanbul eingeschneit. Sie warteten auf besseres Wetter, ihre Bankkarten funktionierten [wegen des SWIFT-Ausschlusses – dek] nicht mehr, sie mussten Geld für Essen auftreiben. Und ich konnte ihnen nicht mehr helfen.
Meine lieben, wagemutigen Mädels in Istanbul. In der Stadt, in der ich für eine sehr kurze Romanze glücklich gewesen war. Das war noch vor der Pandemie, vor dem Krieg, in jener Vergangenheit, in der irgendwas falsch gelaufen ist. In Istanbul bekommst du auf der Straße aus dem Samowar kleine Gläser mit Tee, den du auf niedrigen Holzscheiten trinkst, im Café nebenan dampft in einem großen Kessel nach Gewürzen duftende Suppe, der Morgenhimmel über dem Bosporus ist golden wie auf Ikonen, der Wind zerzaust deine Haare, auf den Prinzeninseln blühen riesige purpurne Blumen, die Hagia Sophia ist noch keine Moschee, die Fresken auf den Emporen noch nicht verdeckt, im asiatischen Teil der Stadt streunen große gutmütige Hunde, und an der Schießbude im Park kann man auf Luftballons zielen. Die Hunde, die Blumen, die Samowars und die Luftballons sind ziemlich sicher noch da. Nicht mehr da ist das Leben. Und der Schnee. Bald wird er ganz aufhören, und alle werden in verschiedene Richtungen davonfliegen.
S. ging zur Passkontrolle, alle Apps auf ihrem Telefon hatte sie gelöscht. Ich saß mit meinem Telefon in der Hand da und betete, dass man sie rauslässt
13. März – Timofej
Seit dem 24. Februar gibt es in Russland keinen Gott mehr, und alles ist erlaubt. Es gibt keine Gesetze, keine Moralvorstellungen, keine Verfassung, höchstens die Verkehrsregeln werden aus praktischen Gründen noch beachtet. Wenn du keine Nachricht überprüfen kannst, es nur Gerüchte, Leaks und Propaganda gibt, glaubst du für alle Fälle alles, selbst das, was noch eine Woche zuvor vollkommen unvorstellbar war.
Am 2. März kamen Gerüchte auf, dass Putin am 4. März vor der Föderationsversammlung das allgemeine Kriegsrecht verkünden würde. Das hätte die Schließung der Grenzen bedeutet, zumindest für Männer im wehrpflichtigen Alter. Also für Studenten, Söhne.
Also begann ein Massenexodus. Die Flugpreise gingen durch die Decke (am 3. und 4. März kostete ein Ticket nach Dubai bis zu 500.000 Rubel [etwa 4200 Euro – dek] ), die Tickets waren im Nu ausverkauft. Ich geriet in Panik. Dann bat ich einen Freund, der sich mit Flugtickets auskennt und immer die unkonventionellsten Lösungen findet, nach einem Flug für uns zu suchen. Ich hatte Freunde, die seit einem Jahr in Montenegro lebten und ihre Hilfe angeboten hatten. Überhaupt sind die Worte „Freunde“, „Freundin“, „Freund“ die Schlüsselworte dieser Tage. Das ist die wichtigste Errungenschaft meines Lebens – geliebte, nahestehende Menschen. Und wahrscheinlich das Einzige, was uns diese Katastrophe überstehen und vielleicht sogar bei Verstand bleiben lässt.
Ich brachte meinen Ältesten, Timofej, in der Nacht vom 3. auf den 4. März zum Flieger nach Belgrad, mit einem langen Aufenthalt in Dubai. Der Flug kostete 70.000 Rubel [etwa 600 Euro – dek]. Er war fast 24 Stunden unterwegs. In dieser Nacht verstand ich, dass Mir zerreißt es das Herz keine Metapher ist. Irgendetwas innen drin zerreißt. Der Schmerz ergießt sich aus diesem Riss in deinen Körper, gluckert, bricht als Schluchzen hervor und verebbt kurz, um dann wieder anzuschwellen. Er gleicht einem heißen Ozean, endlos rollt er in Wellen ans Ufer und wieder weg, spült Erinnerungen an Land, Gesprächsfetzen, Kinderschuhe.
Wir erledigten alles sehr schnell. Ich verlor nur einmal die Orientierung, als wir auf dem Weg zum Notar waren. Ich wusste plötzlich nicht mehr, in welche Richtung wir mussten und wo ich überhaupt war. Wir waren zwei Straßenblocks von unserem Haus entfernt. Timofej machte yandex.maps auf und nahm mich an die Hand.
Mir war bewusst, dass ich innerhalb eines Tages über sein Schicksal entschied. Er studierte gerne an der Wyschka, hatte viele Freunde, klare Pläne für sein Leben, eine Zukunftsvision, Träume. Ich weiß nicht, ob er irgendwann wieder ein Zuhause haben wird. So viel Angst wie in diesen 24 Stunden hatte ich noch nie in meinem Leben. Noch nie hatte ich derart endgültige und mich erschlagende Entscheidungen getroffen.
Selbst wenn der Aufschub für Studenten bei der Wehrpflicht nicht aufgehoben wird, sind junge Männer hier Zielscheibe für Polizei und die Sicherheitsdienste. Ich war mir selbst zuwider, als ich hinter ihm herlief und sagte: „Lösch diese Story. Hör auf, diese Demo-Aufrufe zu teilen. Warum hast du wieder was über Putin bei Insta geschrieben? Willst du dein Schicksal herausfordern? Ist deine Meinung etwa so wichtig?“ Er hat immer geantwortet: „Warum dürfen du und deine Freunde das und ich nicht? Was ist das für eine Doppelmoral?“ Ja, ich war mit ihm auf der Demo, als Nawalny verhaftet wurde. Ja, er war mit einem Freund noch einmal ohne mich da, „nur mal schauen“. Aber die meisten seiner Freunde waren bereits auf dem Revier, einen von ihnen mussten wir aus einer Haftanstalt in Jegorjewsk holen.
Selbst wenn Timofej in Russland geblieben und es ihm gelungen wäre, nicht in die Armee oder ins Gefängnis zu kommen – nach dem 24. Februar hätte es hier für ihn keine Zukunft mehr gegeben. Ich sagte zu ihm: „Es wird wie in der Sowjetunion. Aus Perspektivlosigkeit werden die Menschen zur schlimmsten Version ihrer selbst: der ständige Druck, das ständige Umschauen – nicht, dass noch was passiert –, die Selbstzensur, die Unmöglichkeit, sich selbst zu verwirklichen, all das führt zu Komplexen, Kränkungen und Aggressionen, die an den Nächsten ausgelassen werden. Ich will nicht, dass das mit dir passiert.“
Im Taxi auf dem Weg zum Flughafen Wnukowo löschten wir alle Apps von seinem Telefon. Der Flughafen ist fast menschenleer, aber nicht so leer, wie er es während der Pandemie war. Die Leute stehen ruhig in der Schlange an der Gepäckannahme, als würden sie in den Urlaub fliegen. Ich lächele und mache Scherze, berühre Timofej bei jeder Gelegenheit – mal an der Schulter, mal an der frischrasierten Wange. Wir umarmen uns, er geht zur Passkontrolle, ich schaue ihm hinterher: Er trägt seine Lederjacke (er wollte sie nicht dalassen, sie piept bei jedem Metallrahmen), einen schweren Rucksack, er reckt seinen Hals – mein Kleiner, mein kleiner großer Junge. In jenen Minuten, die er vor der Kabine auf seinen Pass wartete, wusste ich nicht, was ich mehr wollte: dass man ihn durchlässt, oder dass man ihn mir zurückgibt. Wir würden es schon irgendwie schaffen. Ich würde ihn einfach auf der Datscha verstecken …
Sie gaben ihn mir nicht zurück. Ich saß alleine im leeren Flughafencafé, trank Bier und bewegte mich zwei Stunden lang nicht vom Fleck. Ich bestellte das Taxi erst, als er im Flugzeug saß.
Eine Woche später, als er sich in Montenegro eingerichtet hatte, antwortete Timofej auf die Frage, wie es ihm geht: „Ganz ok, außer dass ich aus meinem Leben gerissen wurde.“ Ich sagte: „Du wurdest nicht herausgerissen, sondern dieses Leben existiert nicht mehr.“
Aus Gewohnheit nehme ich im Supermarkt zwei Brötchen für meine zwei Jungs mit. Dann erinnere ich mich wieder und lege eins zurück. Meine Freundin hat sich einen Alarm eingerichtet, um mich jeden Tag auf Telegram zu erinnern: „Du hast alles richtig gemacht.“
Ich brachte meinen Ältesten, Timofej, in der Nacht vom 3. auf den 4. März zum Flieger nach Belgrad, mit einem langen Aufenthalt in Dubai. In dieser Nacht verstand ich, dass ‚Mir zerreißt es das Herz‘ keine Metapher ist
18. März – Scham
Meine lustige Haushaltshilfe Natascha kommt. Alle meine Freunde und Freundesfreunde kennen die absurden Natascha-Geschichten und den Spruch „und dann kam Natascha“. Sie putzt sehr schnell und ordentlich, plappert pausenlos, kommt niemals pünktlich, und man könnte eine endlose Slapstick-Komödie über sie drehen.
Natascha kommt aus der Ukraine, aus Iwano-Frankiwsk. Vom ersten Tag an schrieb sie mir auf WhatsApp. Fragte, was jetzt wird. Was wir jetzt tun sollen. Das kann doch nicht sein? Echte Truppen? Und was ist mit der Grenze? Wie komme ich nach Hause? Und wenn ich hier bleibe? Was soll ich tun, Xenia? Was mache ich jetzt? Da sind doch meine … Was, was, was wird jetzt sein? Sie fragte mich nach einem Vorschuss, damit sie ihrer Mutter so viel wie möglich überweisen konnte, ich gab ihr das Geld natürlich.
Jetzt fragt mich Natascha jedes Mal, wenn sie kommt: „Weinen Sie wieder, Xenia? Lassen Sie uns nicht weinen.“ Und wischt sich selbst die Tränen ab, wenn sie gerade telefoniert hat. Sie hat verstanden, dass sie nirgendwohin kann, dass sie hier festhängt, aber wenigstens fallen hier keine Bomben … Wir nehmen uns jetzt in den Arm, obwohl ich vor dem Krieg Distanz gewahrt habe. Ihre Mutter hört die Bomben. Natascha hört sie auch, wenn sie sie anruft.
Bekannte, Freunde oder Verwandte in der Ukraine hat in Russland fast jeder. Man schämt sich zu sehr, um zu fragen, wie es ihnen geht. Aber nicht zu fragen, schämt man sich noch mehr. Jedes Mal muss ich mich überwinden, um die Frage bei WhatsApp oder Facebook zu stellen. Die Antworten lauten in etwa: „Ich bin wieder in Kyjiw, in Sicherheit, wobei das relativ ist: Luftangriffe, Raketenbeschüsse, russische Untergrundkämpfer und all die anderen Herrlichkeiten, die der Krieg so mit sich bringt“, „Wir sind okay, heute Nacht nur drei Stunden im Bunker“ (Lwiw, eine junge Frau mit vierjähriger Tochter), „Ich war im besetzten Gebiet, jetzt bin ich in Kyjiw“. Nicht ein böses Wort, obwohl ich darauf gefasst war. Nur Großherzigkeit. Ich möchte da einfach nur heulen – also heule ich.
Einer von „meinen“ Ukrainern ist Geistlicher. Er erzählt mir auf Facebook, wie ein gemeinsamer Bekannter am Tag zuvor über einen humanitären Korridor aus besetztem Gebiet nach Hause zurückkehrte und wie er davor zwei Wochen ohne Strom, Wasser und Kontakt zur Außenwelt verbracht hatte. Ich sage: „Passen Sie bitte auf sich auf, wir müssen uns unbedingt wiedersehen.“ Und er: „Wir sehen uns ganz sicher wieder, wir werden die ganze Ewigkeit haben, um miteinander zu sprechen“ – „Ich würde es aber im Diesseits bevorzugen“ – „Ich auch. Christus ist unter uns.“ Und ich denke: Glaube ich daran gerade?
Und so liege ich hier auf meinem Bett in Moskau, neben mir schnurrt mein warmer Kater, den ich in zwei Wochen verlassen werde, um mich herum mein Zuhause, von dem ich mich in jeder Sekunde verabschiede. Und er sitzt in seinem Zuhause in Kyjiw, jederzeit gefasst darauf, einen Luftalarm zu hören und ins Versteck zu rennen. Zwischen uns ist das Facebook-Fenster, ich sehe seine Antworten grau und er meine. Kann Christus wirklich unter uns sein? Das ist unbegreiflich, aber andererseits – wo sollte Er sonst sein?
Wir kommunizieren über Telegram und Signal. Wir besprechen Luftangriffe, Gefangene, besetzte Gebiete, Einkesselungen, Flüchtlinge. Die Digitalisierung kollidiert auf merkwürdige Weise mit der Archaik. Wie kann es in der digitalisierten Welt Kriege geben? Krieg – das ist doch etwas Mittelalterliches, Chthonisches. Im Krieg gibt es dreieckige Frontbriefe, Funker, Telegramme, schwarze Lautsprecher mit Juri Lewitans Stimme, im besten Fall einen Fernseher. Aber nun wird auf Facebook von Bombenschutzbunkern und Splitterverletzungen berichtet.
Bekannte, Freunde oder Verwandte in der Ukraine hat in Russland fast jeder. Man schämt sich zu sehr, um zu fragen, wie es ihnen geht. Aber nicht zu fragen, schämt man sich noch mehr
20. März – Alles ist jetzt strafbar
Am 4. März, da war Timofej noch auf Zwischenstopp in Dubai, trat ein Gesetz gegen Fake News in Kraft. Dazu schreibt mein Freund Ilja Ber später: „Ich habe mir im Vorhinein überlegt, wann es mir zu viel wird. Jetzt.“
Mir wurde auch ganz leicht, leer und haltlos zumute. Als wäre ich ein Luftballon, bei dem man die Schnur durchschneidet. Jetzt war die Klarheit da. Ich kann ganz objektiv hier nicht mehr leben, ich habe keine Wahl mehr.
Journalismus, journalistische Ausbildung, Medienkompetenz – das alles ist jetzt strafbar.
An den zwei Universitäten, an denen ich arbeite – an der Schaninka und an der RANCHiGS – begannen Diskussionen, ob das Gesetz gegen Fake News denn anwendbar sei auf das, was die Lehrenden in den Hörsälen sagen. In der Schaninka trafen wir uns und besprachen die Risiken. Ich sagte, dass erstens mehr als die Hälfte der Lehrenden, alles Journalisten, weggegangen seien, und dass es zweitens keine Redaktionen mehr gebe, in denen die Studenten ein Praktikum machen könnten – alle waren entweder geschlossen oder von Roskomnadsorgesperrt oder zumindest als „ausländischer Agent“ deklariert oder überhaupt eine schillernde Kombi aus allen drei Versionen. Und der Inhalt des Studiums selbst ist strafbar geworden: Jeder zweite Lehrende fällt unter einen Paragrafen des Strafgesetzbuchs, sobald er den Mund aufmacht, und durch die Bank weg jeder von ihnen bringt den Studenten etwas bei, das sie bei gewissenhafter Erfüllung auf die Liste der „ausländischen Agenten“, in die Haftanstalt oder gar in die Strafkolonie bringt.
Die Urgesteine an unseren Unis rieten uns, „auf die Theorie auszuweichen“, den Großteil der Fächer theoretisch zu lehren, ohne irgendeinen „Aktualitätsbezug“. Aber das geht nicht. Der Lehrplan ist ein rechtsbindendes Dokument, in das man nicht nachträglich Änderungen einbauen kann. Und vor allem: Strafbar ist nicht nur der Inhalt, das wäre wirklich halb so wild, sondern sind die Methoden selbst! Informationen verifizieren, Quellen prüfen, alle Konfliktparteien abbilden, Beweise suchen, alles in Zweifel ziehen – das ist das Wesen, die Grundlage unseres Berufs. Und genau das ist jetzt unmöglich geworden – in der Praxis wie in der Lehre. „Ziehen Sie wenigstens noch dieses eine Semester durch“, bittet mich die Leitung der RANCHiGS, als ich ihr meine Argumente vorlege. Immer dieses Ziehen und Zerren.
Sieben Jahre habe ich diese Lehrpläne entwickelt und alles aufgebaut, wir hatten mit einer Gruppe von zehn Studenten begonnen, und jetzt sind es mehr als 500. Und dutzende Lehrende, darunter die besten Journalisten Russlands. Ich habe ein großes, lustiges Team – ich liebe es, Menschen zusammenzubringen, die ich gut finde, damit wir gemeinsam etwas Tolles machen. Wir hatten so viele Ideen und konnten das eine oder andere sogar umsetzen.
Der Niedergang begann schon im Herbst [2021], als unser Rektor Sergej Sujew aufgrund einer fingierten Anklage wegen Betrugs eingesperrt wurde. Schon damals erstarrten wir, duckten uns und hielten uns die Ohren zu. Ich ging zu den Gerichtsverhandlungen, las die Akten, schrieb interne Texte, nahm an strategischen Diskussionen teil, versuchte zu verstehen und zu helfen. Wir hielten uns alle aneinander fest und bemühten uns, einander im Auge zu behalten. Wir wurden mit Ermittlungen und staatsanwaltlichen Überprüfungen überschüttet. Sogar die Diplomarbeiten der letzten Jahre und die wissenschaftlichen Publikationen unserer Mitarbeiter wollten sie sehen.
Aber das Schlimmste ist, einem Menschen, der in U-Haft langsam, aber sicher umgebracht wird, über das Briefsystem der Strafvollzugsbehörde eine Nachricht zu schreiben. Und er schreibt zurück, versucht sogar zu scherzen, und du liest den handgeschriebenen Brief, den der Zensor fotografiert und als JPG geschickt hat, und du weißt, dass die Hand gezittert hat, dass die Kraft zu schreiben schwindet.
Schon damals war klar, dass wir nicht lange durchhalten werden. Aber wir wollten noch kämpfen, noch irgendwas retten, uns Umgehungsmanöver ausdenken. Zumal Sergej Sujew uns bei unserem letzten Treffen gebeten hatte, „an der Routine festzuhalten“.
Jetzt ist das endgültige Ende gekommen. Das Huhn ist schon geköpft, aber es rennt noch herum und verspritzt sein Blut.
Eine Predigt des Priestermönchs Giovanni Guaita, die seine Zuhörer auf YouTube gestellt haben, dauert 30 Sekunden: „Heute gedenken wir der Enthauptung des Heiligen Johannes. Johannes der Täufer war ein Prophet, der mit dem Leben dafür bezahlte, dass er die Wahrheit sagte. Es ist sehr tragisch, wenn wir eine solche Angst davor haben, die Wahrheit zu sagen, dass wir bereit sind, alles zu verlieren, um nur ja nichts zu riskieren. Amen.“
Jetzt ist das endgültige Ende gekommen. Das Huhn ist schon geköpft, aber es rennt noch herum und verspritzt sein Blut
23. März – Anschwärzen
Am 16. März erhielt der Rektor der RANCHiGS eine „Darlegung“ der Staatsanwaltschaft, in der es hieß, dass die Studienpläne unserer Fakultät Liberal Arts der Verfassung und „den Strategieprinzipien der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation“ widersprächen und „auf eine Zerstörung der traditionellen Werte der russischen Gesellschaft und auf eine Verfälschung der Geschichte“ abzielten. In der Schaninka traf genau dasselbe Dokument der Staatsanwaltschaft ein.
An den Universitäten finden Versammlungen mit Studierenden statt, bei denen Lehrende und Beamte „in Zivil“ erklären, worauf jetzt zu achten sei. Auch bei uns gab es für die Studierendenvertreter Vorträge zum Thema „geopolitische Aufklärung der studentischen Jugend und Orientierung bei aktuellen Herausforderungen und Gefahren im Bereich der Informationssicherheit“. Sofort spülte es jene Mitarbeiter nach oben und an die Macht, die schon früher versucht hatten, die Studierenden unter Druck zu setzen und zu manipulieren, die aber in der Minderheit gewesen waren. Natürlich ließen die Studierenden dem Medium DoxaZitate aus dieser Versammlung zukommen, die besagten, dass die Leitung der RANCHiGS den russischen Präsidenten rückhaltlos unterstütze und man wachsam sein solle vor dem Hintergrund des Cyberkriegs und der Verbreitung von Russophobie. Was so viel heißt wie: Man soll die Lehrenden anschwärzen.
Schon am nächsten Tag kamen E-Mails von Studenten. Das sind natürlich historische Dokumente. Ich speichere Screenshots davon.
„Ich schreibe Ihnen, weil ich Sie warnen möchte: Eine Studentin am Institut für Soziologie will Beschwerde einreichen (Denunziation) über Ihre Haltung und darüber, was Sie in den Vorlesungen vermitteln. Ich weiß nicht, ob sie es durchzieht, aber ich möchte Sie auf jeden Fall wissen lassen, dass es unter den Studierenden schon welche gibt, die zu solchen Denunziationen bereit sind.“
Sofort spült es jene Mitarbeiter nach oben und an die Macht, die schon früher versucht hatten, die Studierenden unter Druck zu setzen und zu manipulieren, aber in der Minderheit gewesen waren
27. März – Gehen oder Bleiben
Als ich mir einen Hund anschaffte, war mir absolut bewusst, was das für eine Verantwortung ist.
Ich holte Ingrid zu mir, als ich ein stabiles Leben und Pläne hatte: Datscha, Auto, verlässliche Arbeit – und das jahrein, jahraus. Wir gingen täglich zwei Stunden spazieren – eine Stunde morgens, eine Stunde abends. Ich konnte meinem Hund ein schönes, glückliches Leben bieten. Jetzt kann ich das nicht mehr. Wahrscheinlich muss ich in den nächsten Monaten (Wochen?) doch noch das Land verlassen. Natürlich nur, wenn die Grenzen offen bleiben und sofern kein Wunder geschieht.
Das bedeutet nicht nur, dass ich Ingrid wahrscheinlich im Gepäckraum eines Flugzeugs unterbringen werde müssen, sondern ich werde sie auch in meinem Vagabundenleben hinter mir herschleifen müssen. Arbeit und Wohnung werden wir nicht mehr haben.
Ich beantrage die Dokumente, bespreche mich mit allen. Bloß zuhause ist alles wie immer. Mein jüngerer Sohn und ich wohnen zu zweit in der Wohnung, in der sich nichts verändert hat, nur viel leiser ist es jetzt. Meine fünfzig Zimmerpflanzen stehen an ihren Plätzen, im Frühling steht das große Umtopfen auf dem Plan. Kescha, der Gecko, raschelt wie immer nachts in seinem Terrarium. Wieso noch mal wegfahren? Und wohin?
Wiener Juden in den 1930ern. Acht-Zimmer-Wohnungen, Klaviere, Schulkinder, Spaziergänge in den Parks. Auch sie sagten: Wo sollen wir denn hin? Unser gewohntes Leben passiert hier. Wie sollen wir das alles zurücklassen? Dann war es zu spät. Im Versuch zu bleiben, wollen wir die Vergangenheit festhalten, denn die Gegenwart ist zu schrecklich, und eine Zukunft gibt es nicht.
Wir bleiben nicht lange. Nur ein paar Monate. Wir warten ab und kommen zurück. Die nächste Falle.
Die Russen flohen nach der Revolution ebenfalls, nach Harbin, Konstantinopel, Prag, Belgrad, Paris, Berlin – um abzuwarten. Sie lebten jahrzehntelang ein temporäres Leben und starben als Fremde. Wieso sollte es diesmal anders sein?
Andererseits, wie können wir erkennen, dass das auch mit uns passiert? So richtig echt? Wenediktow hat kürzlich irgendwo auf YouTube gesagt: „Im Geschichtsbuch zu leben ist eine Katastrophe.“ Es passiert was, etwas Unsichtbares, Unhörbares, Ungreifbares. Du klappst den Laptop zu – und weg ist es. Aber davon, dass ich meinen Laptop zuklappe, hören die Menschen in Mariupol nicht auf zu sterben, das Gericht in Twer erstarrt nicht wie ein Meereswesen und erklärt Facebook so oder so für „extremistisch“.
Kürzlich war ich im Einkaufszentrum Afimall. Manche Geschäfte sind wirklich geschlossen. Aber generell ist die Stimmung nicht gedrückt. Wäre ich da aus meinem normalen friedlichen Leben hineingestellt und gefragt worden: „Was stimmt hier nicht?“ – ich hätte es nicht sofort bemerkt. Die Leute flanieren, shoppen, lachen, essen Eis. Musik spielt. Alles wie immer. Mir wurde ganz anders: Bin ich verrückt? Wieso habe ich mein Kind weggeschafft und ihm Wohnung, Studium und Freunde weggenommen? Was soll das, meinen zweiten Sohn mitten im Schuljahr zu verschleppen? Sieh mal, ist doch alles in bester Ordnung, nichts anders als sonst? Ich bin die einzige, die herumschleicht wie ein Geist und den Leuten ins Gesicht schreien will: „Versteht ihr nicht?! Wisst ihr nicht, was da läuft?!“
Am Morgen war ich mit dem Hund draußen und traf einen Jungen aus dem Nachbarhaus, den Sohn eines berühmten Rockmusikers, mit seinem Mops. „Oh“, sage ich, „ihr seid noch da?“ (Er hatte mal seine israelische Staatsbürgerschaft erwähnt.) „Wissen Sie, ich bin Banker, da ist in Israel die Konkurrenz sehr hoch, das ist mir zu riskant. Ich stecke mir lieber ein Z ans Revers, wenn’s sein muss, aber sonst treib ich keinen Aufwand.“ Noch hat ihn niemand dazu aufgefordert, und vielleicht wird das auch niemand tun, aber mental hat er seine Entscheidung schon getroffen! Kürzlich hat eine Bekannte zu meiner Freundin gesagt: „Ist mir scheißegal. Was ich denke, geht keinen was an, und wenn ich ein Z malen soll, mach ich das eben.“ Sie werden Zs malen. Und sich Zs ans Revers stecken.
Alles wie immer. Mir wurde ganz anders: Bin ich verrückt? Ich bin die einzige, die herumschleicht wie ein Geist und den Leuten ins Gesicht schreien will: ‚Versteht ihr nicht?! Wisst ihr nicht, was da läuft?!‘
28. März – Camouflage
Ich wohne neben der Frunse-Militärakademie und gehe jeden Tag mit meinem Hund daran vorbei. Im Februar/März ist dreimal wöchentlich morgens die Durchfahrt über das Dewitschje-Feld gesperrt: Marschkolonnen proben für die Parade zum 9. Mai. Mit Blasorchester, Trommeln, roten Flaggen. Das massive Gebäude der Akademie ziert ein Turmsockel, auf dem ein Schützenpanzer steht und in dem mit monumentaler Schrift ein Stalin-Zitat eingemeißelt ist – ohne Namenszeichen, als wäre es eine Volksweisheit: „Kein Fußbreit fremder Erde wollen wir, aber auch kein Handbreit unseres Bodens geben wir her.“
Da marschieren sie also mit roten Flaggen unter diesem Schriftzug. In den Pausen sitzen sie im Park verstreut auf den Bänken und tippen in ihre Handys, kaufen sich was im Supermarkt Pjatjorotschka, schlendern durch die Alleen. Das ganze Viertel ist in Camouflage. Und ich gehe immer wieder an ihnen vorbei. Manchmal versuche ich, in ihren Gesichtern zu lesen, ob sie Angst davor haben, in die Ukraine zu müssen? Denken sie sich überhaupt irgendwas? Wollen sie töten? Kann ein Mensch töten wollen? Auf Telegram lese ich: das Theater in Mariupol, das zerstörte Charkow, Irpen, Sumy, Nikolajew, Cherson. Kein Fußbreit fremder Erde wollen wir.
Manchmal versuche ich, in ihren Gesichtern zu lesen, ob sie Angst davor haben, in die Ukraine zu müssen? Denken sie sich überhaupt irgendwas? Wollen sie töten? Kann ein Mensch töten wollen?
30. März – Goliaths Sieg
Letzten Herbst habe ich meinen Journalismus-Studenten zum ersten Mal eine Vorlesung über Dissidenten gehalten. Am 24. Februar 2022 musste ich natürlich sofort an den 21. August 1968 denken, daran, was meine ältere Freundin Lena Dorman, die Tochter der Dissidenten Veronika Turkina und Juri Schtein, erzählt hat. Wie sie und ihre Mutter da gerade in der Tschechoslowakei waren, wie sie weinten vor Scham und wie schlimm es war, nach Hause zu fahren, wie die Tschechen sie trösteten: „Wir wissen ja, dass das nicht ihr seid.“ Und weiter Panzer, Panzer, Panzer.
Das war für mich eine sagenhafte, fast mythische Geschichte. Die ich immer als Sieg Davids über Goliath verstand, die davon erzählt, wie es nach der finstersten Finsternis wieder Licht wird, wenn man sich nur nicht von seinem Weg abbringen lässt: Die Gefängnistore öffnen sich, die Eisernen Vorhänge und Berliner Mauern fallen, und nur Brodsky will nicht zurück nach Hause.
All diese Jahre habe ich in der festen Überzeugung gelebt, dass das eine Geschichte mit Happy End ist und wir in der Zeit danach leben. Ein langweiliges Leben, ohne Heldentaten. Auf ihren Schultern.
Und plötzlich finde ich mich in einer Umarmung mit Lena Dormans Tochter Anja in Lenas Küche wieder. Wir zittern. Wir wischen uns nicht mal mehr die Tränen ab, lassen sie einfach laufen, und niemand achtet mehr darauf. Anja fliegt übermorgen mit ihren Kindern weg. Wir fragen einander immer wieder: „Wie nur? Wie konnte das passieren? Uns?! Und was ist es eigentlich, was da passiert ist? Hat es überhaupt einen Namen?“
Und da wird mir klar, dass wir es noch übler erwischt haben als die Titanen. Mariupol, Wolnowacha, Irpen, Millionen Menschen ohne Dach über dem Kopf, Millionen Familien ohne Väter. Das ist das Fegefeuer, bei uns ist die Hölle.
Und sollte ich irgendwann einmal wieder irgendwelchen Studenten von Dissidenten erzählen, dann wird das ungefähr so klingen: „Für die damalige Generation war der Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei, die russischen Panzer in Prag so wie für euch die Bombardierung von Charkow. Nur dass damals etwas mehr als hundert Menschen ums Leben kamen und nichts zerstört wurde.“
Am Ende hat also doch Goliath gesiegt.
Wir wischen uns nicht mal mehr die Tränen ab, lassen sie einfach laufen, und niemand achtet mehr darauf. ‚Wie nur? Wie konnte das passieren? Uns?! Und was ist es eigentlich, was da passiert ist? Hat es überhaupt einen Namen?‘
1. April – Steh auf und geh! Ertrag es nicht!
„Lass alles hier und folge mir.“ „Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe nachgraben und stehlen.“ „Ich bin ein Gast auf Erden; verbirg Deine Gebote nicht vor mir …“
Nicht, dass ich früher nicht gewusst hätte, dass einem letztlich nur die Hoffnung auf Gott bleibt und nicht „auf die Fürsten, auf die Söhne der Menschen“. Oder gar keine Hoffnung – auch eine Option. Nackt kommt ihr auf diese Welt und nackt geht ihr. Doch nie zuvor habe ich mich so als Jüdin empfunden wie jetzt. Ich höre die Stimmen meiner Großmütter und meiner Urgroßväter, die Rabbiner waren und mich jetzt anfeuern: Auf und los! Ertrag es nicht! Sieh nicht zurück! Weine, heule, beiß die Zähne zusammen und renn! Und mein schweigsamer griechischer Großvater nickt zustimmend: Fremdling wurdest du getauft – geh und erfüll deine Vorsehung, ein Engel behüte deinen Weg.
Ich stehe auf und gehe. Ich gehe durch mein Zuhause, in dem ich 15 Jahre gewohnt habe, und streiche über die Wände. Ich lege mich auf meinen schönen Holzfußboden und liege da, als wäre er die Erde, die mir Kraft gibt. Ich sortiere meine Tischtücher und Geschirrtücher im Schrank, stelle Tassen und Teller um – die haben wir aus Korfu mitgebracht, und das ist polnisches Porzellan, und das meine zwei liebsten Weingläser aus der Glasbläserei im spanischen Biota. Ich lege mich auf mein Bett, mal der Länge nach, mal quer, rolle mich bis zur Nasenspitze in meine Decke ein – wie viel Kummer habe ich da hineingeweint, wie oft eine Bronchitis und Ohrenschmerzen, wie viele Migränen und Kater darin auskuriert. Nein, nein, ihr sollt nicht Schätze sammeln auf Erden, bindet euch nicht, denn das ist kein Anker, sondern ein Wackerstein um den Hals, ein Betonklotz am Bein – den man sprengen, absäbeln, zerhacken, zerreißen muss.
Meine Heimat – das ist der Sommer im Dorf auf der Datscha. Das heiße Flimmern über den Wiesen, die würzige, von Kräuterduft gesättigte Luft, der staubige Wegerich entlang der Feldwege und die Kletten an den kurzen Hosen. Letzten Sommer fuhr ich nach dem Lockdown in mein Dorf und lag jeden Tag im Gras am Teich.
Keine Spuren der Zeit – keine Stromleitungen, kein Straßenlärm, kein Müll. Ich lag da und dachte darüber nach, dass sich hier absolut nichts verändert hatte seit … seit wem eigentlich? Welche Stämme lebten früher auf dem Gebiet des heutigen Zentralrussland, sagen wir mal zwischen Oka und Dnjepr?
Seit ich 13, 16, 25 bin, war hier der Juli immer gleich – eine schon trockene Wiese voll fliederfarbener Blümchen, ein Birkenhain, eine staubige Straße den Feldrain entlang, weiter hinten Kiefern, dicke und dünne Libellen.
Jetzt werde ich nicht mehr hier sein. Der Teich, die Wiese, die Walderdbeeren, die Kornblumen und die Rufe der Vögel hoch am Himmel werden wiederkommen. Auf meiner Terrasse wird meine alte Mama abends die orange Lampe anzünden, und die Nachtfalter werden an die Fenster klopfen.
Am 7. April hat Xenia Lutschenko Russland über die Grenze Iwan-Gorod/Narwa nach Estland verlassen.
Seit Wochen befürchtet die ukrainische Führung, Alexander Lukaschenko könnte eigene Truppen in den Krieg entsenden und zusammen mit Russland eine zweite Front eröffnen. Am 3. Juli, dem Tag der Unabhängigkeit, erklärte der belarussische Machthaber in einer Rede zum Feiertag in deutlich aggressiver Rhetorik: „Wir sind das einzige Land, das die Russen in diesem Kampf unterstützt. Diejenigen, die uns Vorwürfe machen: Wussten Sie nicht, dass wir ein enges Bündnis mit der Russischen Föderation haben? Dass wir praktisch schon eine gemeinsame Armee haben …? Wir waren und werden mit dem brüderlichen Russland zusammen sein. Unsere Teilnahme an der Spezialoperation wurde von mir vor langer Zeit beschlossen.“
Belarussische Medien berichten aktuell von Einberufungsbescheiden, die verstärkt in Belarus verschickt würden. Am vergangenen Wochenende begann das ukrainische Militär, die Grenzregion zur Ukraine zu verminen. Entsprechend hitzig wird in Medien und sozialen Medien über die Rolle von Lukaschenko und der belarussischen Gesellschaft im Angriffskrieg des Kreml gegen die Ukraine debattiert. Das ukrainische Online-Portal Ewropeiskaja Prawda kritisiert in einem Leitartikel die zweideutige Politik der ukrainischen Führung, die bis heute nicht die Beziehungen zu Lukaschenko abgebrochen, lange auf den intensiven Handel zwischen beiden Ländern gesetzt habe und immer noch zögerlich sei, einen intensiveren Dialog mit der belarussischen Opposition zu führen. So heißt es in dem Text: „Ja, Tichanowskaja ist nach wie vor eine unerfahrene Politikerin, aber sie ist für den Rest der Welt zu einem Symbol der belarussischen Opposition geworden, und Kiew ignoriert sie demonstrativ.“ Abseits der offiziellen politischen Beziehungen organisieren Belarussen in vielen Ländern Hilfs- und Solidaritätsaktionen für die Ukraine, Freiwillige kämpfen auf Seiten der Ukraine im Krieg, schon die Maidan-Proteste wurden von vielen Belarussen vor Ort unterstützt, sie zogen damals auch in den Krieg in der Ostukraine.
Für das belarussische Online-Medium Reform.by beschäftigt sich auch der Journalist Igor Lenkewitsch mit den ukrainisch-belarussischen Beziehungen. Er plädiert dafür, mit kühlem Kopf auf die gegenwärtigen Herausforderungen zu reagieren und den Schwerpunkt der Beziehungen auf eine untere Ebene, nämlich auf die der Gesellschaften beider Länder, zu verlegen.
Die Beziehungen zwischen den Staatsführungen von Belarus und der Ukraine sind verworren. Kiew erkennt Alexander Lukaschenko offiziell nicht als rechtmäßig gewählten Präsidenten an; und von Swetlana Tichanowskaja wurde in der Ukraine eine Vertretung eröffnet. Zugleich hat sich der ukrainische Regierungschef Wolodymyr Selensky mit Tichanowskaja noch nicht getroffen, während der Kontakt zu Lukaschenko anscheinend weiterhin besteht – wenn auch „sehr begrenzt“. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba berichtet, die Kommunikation zwischen Kiew und Minsk sei „amtlich-nüchtern“, der Kontakt bleibe aber eingeschränkt. Doch immerhin bestehen diese Kontakte. Und ungeachtet des Vorwurfs, dass Belarus sich an der russischen Aggression beteiligt, halten Belarus und die Ukraine ihre diplomatischen Beziehungen aufrecht.
Wolodymyr Selensky zufolge hat Lukaschenko mit gewissen Signalen zu verstehen gegeben, dass er keine Kontrolle über die Aktionen der russischen Truppen habe. Lukaschenko selbst aber gab zur feierlichen Zusammenkunft am Vorabend des Tags der Unabhängigkeit bekannt, dass ukrainisches Getreide künftig über Belarus transportiert werden soll. Die Belarussische Eisenbahn hat für diesen Gütertransport bereits eine Vorauszahlung erhalten, was ohne Kontakte auf höchster Ebene unmöglich gewesen wäre. Parallel dazu besteht ein Kontakt zu den belarussischen demokratischen Kräften. Tichanowskajas Vertretung in Kiew ist aktiv, sie soll Beziehungen zur ukrainischen Regierung aufbauen und die Interessen der Belarussen in der Ukraine schützen. Noch vor dem Krieg, im Sommer 2021, hatte Swetlana Tichanowskaja gesagt, sie und ihre Mitarbeiter seien „mit den Vertretern der ukrainischen Regierung im Gespräch“. „Mit Herrn Kuleba habe ich ein Mal online gesprochen, und vorgestern sind Herr Selensky und ich uns bei einer Veranstaltung in Litauen begegnet [gemeint war die Internationale Konferenz zu Reformen in der Ukraine, die am 7. Juli 2021 in Vilnius stattfand – Anm. von Reform.by]. „Offizielle Treffen gab es noch nicht“, erklärte Swetlana Tichanowskaja damals. Bis heute fand allerdings noch kein offizielles Treffen zwischen Swetlana Tichanowskaja und Wolodymyr Selensky statt. Man könnte meinen, die ukrainische Regierung bemüht sich, die demokratisch gewählte Regierungschefin von Belarus zu ignorieren.
Lukaschenko hat wahrscheinlich keinerlei Kontrolle über die russischen Streitkräfte auf seinem Territorium
Die ukrainische Führung kann man da verstehen. Vertritt man in der Ukraine gegenwärtig auch die Ansicht, die belarussische Armee sei ineffizient und im Falle einer Einmischung bloß Kanonenfutter, so gibt es dennoch wenig Interesse an einer zusätzlichen Frontlinie an der belarussischen Grenze. Denn das würde einen schweren Schlag für die Ukraine bedeuten, die gezwungen ist, den konzentrierten Vorstoß russischer Truppen im Osten abzuwehren.
Bislang sieht es so aus, als könne auch Lukaschenko keine zweite Front gebrauchen. Er hat genug eigene Probleme mit seiner Legitimität, hat wahrscheinlich keinerlei Kontrolle über die russischen Streitkräfte auf seinem Territorium. Außerdem ist die Mehrheit der Belarussen jüngsten Umfragen zufolge gegen eine direkte Beteiligung unseres Landes am russisch-ukrainischen Krieg.
Aber das heißt nicht, dass die Ukraine vom Norden her in vollkommener Sicherheit ist. Lukaschenko könnte der belarussischen Armee gut und gerne den Angriffsbefehl erteilen, sollte sich beispielsweise eine Niederlage der Ukraine abzeichnen. Dessen ist man sich auch in Kiew bewusst und hält sich in Bezug auf die belarussische Armee an eine vorsichtige Formulierung: „stellt derzeit keine Bedrohung dar“. In dieser Form sind die belarussisch-ukrainischen Beziehungen seit Kriegsbeginn erstarrt. Das offizielle Minsk gibt weiterhin „Signale“, und Selensky erkennt Tichanowskaja weiterhin nicht an. Denn bei einer Anerkennung wäre Kiew nolens-volens gezwungen, den zustande gekommenen Status quo dieser Beziehungen zu ändern.
Es ist nicht auszuschließen, dass zwischen Kiew und dem Minsker Regime geheime Absprachen bestehen. Allein schon, um unnötige Provokationen zu vermeiden. Aber auch wirtschaftliche Interessen sollte man nicht außer Acht lassen. Vor dem Krieg war Belarus ein wichtiger Handelspartner für die Ukraine. Zudem sind einige hochrangige Vertreter des ukrainischen Establishments eng mit mit unserem Land verbunden gewesen: Ukrainische Medien berichteten, David Arachamija, der Fraktionschef von Sluha Narodu und spätere Vertreter der ukrainischen Delegation bei den Verhandlungen mit der Russischen Föderation, stünde mit einigen Unternehmen in Verbindung, welche wiederum in Stromlieferungen aus Belarus in die Ukraine involviert seien. Davon ist nichts bestätigt, aber in Zeiten von Krieg und Sanktionen tauchen nicht wenige bequeme und lukrative „Grauzonen“ für alle Beteiligten auf.
Im Netz schlagen indes immer wieder Hasswellen hoch. Nur um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Der ukrainische Journalist Wachtang Kipiani fordert von Belarus Gebietsabtretungen und Reparationszahlungen für die Beteiligung am Krieg. Ein anderer verlangt von den Belarussen eine öffentliche Verurteilung des Krieges, Massenproteste und Sabotageakte im Landesinneren (angeblich gebe es diese bislang nicht, behauptet diese Person). Es geht sogar so weit, dass einige Kommentatoren von den Belarussen erwarten, die Panzer mit bloßen Händen aufzuhalten und sich an deren Ketten zu Hackfleisch verarbeiten zu lassen. Die himmelschreiende Dummheit dieser Forderungen irritiert die Verfasser dabei nicht – aber die objektive Wirklichkeit war in der „schwarzen“ PR noch nie gefragt. Die Initiatoren solcher Endlosvorwürfe kaprizieren sich darauf, mit allen Mitteln zu beweisen, es gäbe keinen Unterschied zwischen Lukaschenko und dem Rest der Belarussen. Systematisch ziehen sie in Zweifel, dass sich Belarussen und ihre Vertreterin Swetlana Tichanowskaja gegen den Krieg aussprechen. Auch anonyme Kommentatoren versuchen mit beneidenswerter Beharrlichkeit nachzuweisen, dass es diesen Unterschied zwischen Lukaschenko und den Belarussen nicht gebe.
Dem Hass muss man ruhig begegnen. Und rational
All diese Hasswellen erinnern an gut geplante PR-Aktionen. Vielleicht lädt die gegenwärtige Situation in den politischen Beziehungen manche Leute dazu ein, einen Keil zwischen die Ukrainer und die Belarussen zu treiben. Aber eigentlich ist es nicht wichtig, wer dahintersteckt – Moskau oder bestimmte Kräfte in Kiew oder Minsk. Wichtig ist nur unsere Reaktion. Dem Hass muss man ruhig begegnen. Und rational. Es ist besser, die heutigen belarussisch-ukrainischen Beziehungen, mindestens mal an der Basis, ohne einen Überschuss an Emotion zu betrachten – und ohne gegenseitige Vorwürfe, man sei nicht radikal oder empathisch genug in Anbetracht der Tragödie des jeweils anderen. Jeder, der der Ukraine irgendwie helfen kann, sollte es tun, ohne Dankbarkeit oder Anerkennung zu erwarten.
Was Tichanowskajas Vertretung angeht, so sollten sich sie und ihr Team der Koalition gegen Putin anschließen und mit allen Mitteln zum Sieg der Ukraine beitragen. Die belarussisch-ukrainischen Beziehung wird man sowieso von neuem aufbauen müssen. Aber erst nach dem Sieg.
Zum sechsten Mal seit Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine haben sich Alexander Lukaschenko und Kremlchef Wladimir Putin am vergangenen Wochenende getroffen. Im Gegenzug für seine Loyalität – Lukaschenko beschwor mit lodernden Worten die angebliche Gefahr, die von der NATO ausgehe – soll der belarussische Machthaber in den nächsten Jahren ein enormes Rüstungspaket erhalten, unter anderem das Raketensystem Iskander-M, das mit Atomwaffen bestückt werden kann. Der politische Analyst Alexander Klaskowskikommentierte das Treffen wie folgt: „Lukaschenko, der dem Kreml jahrelang versprochen hat, dass sich die Belarussen den Panzern der NATO entgegenwerfen würden, ist sicherlich nicht begeistert von der Aussicht auf eine echte Auseinandersetzung mit den Ukrainern oder dem nordatlantischen Bündnis. Doch die Schlinge der katastrophalen Abhängigkeit von Moskau sitzt ihm im Nacken.“
Weil es immer wieder Befürchtungen und Hinweise dafür gibt, dass Lukaschenko sich doch noch mit eigenen Truppen an dem Krieg beteiligen könnte, wandte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky in einer Ansprache direkt an die belarussische Bevölkerung. Er warnte die Belarussen davor, sich in den Krieg hineinziehen zu lassen.
Die Abhängigkeit von Russland, die Lukaschenko im Zuge der Proteste in seinem Land auf fatale Art und Weise ausgebaut hat, hat Belarus jetzt schon eine unheilvolle Rolle in dem Krieg beschert. Auch vergangenes Wochenende wurden russische Raketen von belarussischem Staatsgebiet und aus dem belarussischen Luftraum in Richtung Ukraine abgeschossen.
Was aber bedeuten der Krieg und die Rolle Russlands dabei für die belarussische Gesellschaft, die im Sommer 2020 so eindrucksvoll begonnen hatte, sich von ihren autoritären Strukturen emanzipieren zu wollen? Wie wirkt sich die aktuelle Situation möglicherweise auf die belarussische Identität aus, die in vielfacher Hinsicht mit russischen Implikationen verwoben ist? In einer Analyse für das Medium Nasha Niva geht der Politologe Pjotr Rudkowski, akademischer Direktor des Belarusian Institute for Strategic Studies, diesen Fragen auf den Grund.
Sehen wir uns die Bedeutung des Ausdrucks „nach Russland“ [gemeint hier im Sinne von post Russland – dek] näher an. Sogar im für Russland schlimmsten Szenario (Niederlage im Krieg gegen die Ukraine und Verlust der Krim) wird Russland als Staat weiterbestehen. Mit welchem Staatssystem und in welcher politischen Machtkonstellation – das steht auf einem anderen Blatt.
Doch auch wenn der Krieg für Russland denkbar gut ausgeht – es behält die Krim und entreißt der Ukraine drei, vier Oblaste – wird es aus diesem Krieg extrem geschwächt und ohne Aussicht auf baldige Genesung hervorgehen. Das Land wird sich in einer Wirtschaftskrise befinden, von der internationalen Arena isoliert, ohne verlässliche Bündnispartner – nicht einmal in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) oder in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) – und mit angeschlagenem militärischen Image.
Dazu kommt der innere Faktor. Man sollte Berichten über 70 bis 75 Prozent Unterstützung der „Spezialoperation“ und über 80 Prozent Vertrauen in Putin unter der Bevölkerung Russlands nicht zu viel Bedeutung beimessen. Diese Zahlen sind zwar teilweise überzeugend, aber nur, was die Gegenwart betrifft. Der Krim-Effekt hielt drei Jahre lang an, dann ließ er nach. Und das, obwohl die damalige Spezialoperation a) unblutig, b) schnell erledigt und c) effektiv war. Die heutige Spezialoperation ist jedoch a) ein blutiger Krieg, zieht sich b) schrecklich in die Länge und ist c) ineffektiv. Hier wird der „patriotische“ Aufschwung viel schneller wieder verpuffen. Multipliziert mit der Wirtschaftskrise wird das mit hoher Wahrscheinlichkeit zur sozialen Instabilität führen.
Insofern wird Russland nach diesem Krieg „nicht mehr es selbst“ sein. Es wird ein Land sein, das die nächsten Jahre vor allem damit zu tun haben wird, zu überleben und nicht auseinanderzufallen. Es wird nicht mehr das Russland sein, das wir die letzten zwei Jahrzehnte kannten.
Der kanadische Politologe Seva Gunitskiy veröffentlichte vor ein paar Jahren eine Studie, in der er Faktoren analysierte, die in den letzten zwei Jahrhunderten bei Systemtransformationen eine Rolle spielten. Der Autor zeigte, dass die größten Transformationen stattfinden, wenn sich auch die globale Hegemonie strukturell verändert. Am eindrucksvollsten sah man das nach den zwei Weltkriegen sowie beim Zerfall der Sowjetunion.
Es gibt noch einen anderen Kontext von Transformationen – nämlich regionale Umbrüche, die sich viral verbreiten. Ein Beispiel hierfür ist der Arabische Frühling 2010 bis 2012, als durch rund 20 Länder einer Region eine Welle von Protesten mit unterschiedlichen Folgen rollte.
In der Zeit der Proteste in Belarus 2020 gab es weder Veränderungen in der globalen Hegemonie noch eine virale Welle in der Region. Diese Art von Prozessen nennt Gunitskiy „emulativ-horizontale“ Transformationen. Sie verlaufen langsam und dauern lange, dafür ist das Ergebnis – wenn es denn erreicht wird – ziemlich beständig. Ein Beispiel dafür ist die Demokratisierung in Portugal, Spanien oder Griechenland in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts.
Es kann passieren, dass ein Prozess in einem Kontext beginnt und in einem anderen fortdauert. In Polen fanden die Proteste 1980/81 genauso wie in Belarus 2020 in einer Situation statt, in der die globale Hegemonie stabil war und die Region nicht von einer viralen Welle ergriffen wurde. Doch ihre Fortsetzung – in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre – erfolgte bereits vor dem Hintergrund eines geschwächten Hegemons: der Sowjetunion. Diesmal führten die Proteste zu Veränderungen des Systems: Im Juni 1989 gab es freie Wahlen [in Polen – dek], die kommunistische Autokratie wurde von einer repräsentativen Demokratie abgelöst.
Vieles weist darauf hin, dass die nächste Folge der belarussischen Proteste vor dem Hintergrund eines geschwächten lokalen Hegemons – Russlands – beginnen wird. Das garantiert noch keinen Erfolg, erhöht jedoch die Chance darauf um ein Vielfaches.
Bruch mit dem autoritären Status quo
Wenn die Menschen in alten Zeiten schnell ein Haus bauen mussten, dann verwendeten sie das Material, das gerade am besten verfügbar war. Das konnte eine Höhle sein, ein Baum, Steine oder sogar Tierhäute.
Identität wird meistens auf ähnliche Weise geformt. Eine aktive und langfristige „Suche nach Identität“ passiert nie in der Masse, das ist etwas für sehr motivierte Menschen, die sich die Zeit dafür nehmen können. Die Antwort auf Fragen wie „Wer bin ich? Wer sind wir?“ wird in der Regel aus schnell greifbaren Materialien modelliert: aus der dominanten Sprache im jeweiligen Umfeld und Vorstellungen über ihren Status, aus bestehenden religiösen Traditionen, aus Schulbüchern entnommenen Meinungen über die historische Rolle bestimmter Länder, aus medialen Einflüssen etc.
In Belarus gibt es einen wichtigen Teil der Gesellschaft, auch wenn er in der Minderheit ist: Menschen, die sich aktiv für Geschichte und Sprache interessieren und ihre Zeit in den Aufbau einer starken nationalen Identität investieren. Bei allem Respekt für diese Minderheit ist es aber auch nicht verwunderlich oder gar befremdlich, dass die Mehrheit entweder nicht so motiviert ist oder einfach nicht genug Zeit und Energie dafür hat. Die Mehrheit legt ihrer Identität Elemente zugrunde, die am leichtesten verfügbar sind.
Für etliche Generationen von Belarussen waren diese „greifbaren“, am schnellsten verfügbaren Materialien die russische Sprache, die Geschichte Russlands und/oder der UdSSR, russisches Kino, Musik und Sport, sowie ihre Wahrnehmung vom großen Einfluss Russlands in der modernen Welt. Je mehr sie sich an das Leben im unabhängigen Belarus gewöhnten, desto mehr legte sich über die russische sprachlich-kulturelle Identität eine belarussisch-etatistische Identität, die mit einer staatsbürgerlichen Zugehörigkeit zur Republik Belarus einhergeht. Für eine Analyse der Faktoren und Merkmale dieses Umstandes ist hier kein Platz, daher beschränken wir uns darauf, die Gesetzmäßigkeiten zu benennen, kraft derer die Zugehörigkeit zum russischen Sprach- und Kulturraum für viele Belarussen teilweise identitätsstiftend war und immer noch ist. Nicht einmal die Proteste von 2020 haben das wesentlich verändert.
Der Krieg in der Ukraine führt wahrscheinlich zu einem Bruch in der Identität der Belarussen. Zum ersten Mal haben wir es mit einem internationalen Konflikt zu tun, in dem nur eine Minderheit von Belarussen Russland unterstützt und die Zahl seiner Kritiker höher ist als die Zahl der Befürworter. Im Georgienkrieg oder bei der Annexion der Krim war die absolute Mehrheit der Belarussen auf der Seite Russlands (der Identitäts-Faktor kam zum Tragen). Zusätzliche Bedeutung erhält diese Wendung dadurch, dass in früheren Phasen dieses Konflikts Lukaschenkos Medien keine Unterstützung für Russland signalisiert und sich manchmal sogar Kritik erlaubt haben. Jetzt agiert die offizielle Propaganda zwar im Interesse des Kreml, doch die Verteilung von Unterstützern und Kritikern der „Spezialoperation“ ist vergleichbar mit ihrer Verteilung innerhalb der bulgarischen Gesellschaft.
Der Faktor der russozentrischen Identität der Belarussen verliert seine Wirkung. Russlands international gefestigtes Image als Aggressor und das Durchsickern von Informationen über Kriegsverbrechen der Russen in die belarussische Gesellschaft werden den Bruch in der Identität noch vorantreiben. Zwar wird die Verwendung der russischen Sprache kaum abnehmen, doch Russlands Image wird sich im belarussischen Weltbild radikal verändern.
*** Für den Aufschwung 2020 haben Tausende Belarussen mit ihrem Leben, ihrer Gesundheit oder ihrer Freiheit bezahlt. 2022 haben für die Verteidigung ihres Landes gegen den Aggressor Zigtausende Ukrainer ihr Leben oder ihre Gesundheit verloren. Das ist der schmerzhafte Aspekt dieser Vorgänge. Neben dem Gedenken der gefallenen Helden und der Solidarität mit den Leidtragenden ist jedoch auch ein anderer Aspekt zu beachten:
Russland wird als Stabilisator des belarussischen Status quo immer schwächer. Sowohl als Hegemon, als auch als Teil der Identität der Belarussen. Wie Gunitskiys Forschungsarbeit gezeigt hat, erhöht eine solche Schwächung maßgeblich die Chance auf einen Bruch des autoritären Status quo.
Helena Lea Manhartsberger und Laila Sieber „Verschiedene Perspektiven erzählen“
Am Abend, an dem wir Oleksandra in Lwiw treffen, ist die Stadt voller Menschen. Lautes Grölen schallt durch die Gassen. Das Grau ist dem Grün der Bäume gewichen. Und die Wintermäntel den kurzen Kleidern. Seit unserem letzten Aufenthalt in der Ukraine sind zwei Monate vergangen. Die sonnigen Tage lassen den Krieg abseits der Front jetzt noch surrealer erscheinen. In Lwiw haben die Cafés geöffnet und Alkohol darf wieder ausgeschenkt werden – zumindest bis 21 Uhr. Drei Gruppen von Männern in Camouflage und gelben Armbinden patrouillieren durch die Straßen. Sie gehören der Territorialverteidigung an, die überall im Land eingesetzt wird, auch um die eigenen Bürger*innen zu kontrollieren. Die Stimmung ist ausgelassen, aber die ersten Bars machen schon zu. Um 23 Uhr fängt die Ausgangssperre an. Oleksandra sitzt lässig auf dem linken Bein ihres Kumpels Wolodymyr. „Wir sind kein Paar“, sagt er „sie ist lesbisch. Wenn meine Freundin uns so sehen würde, wäre sie trotzdem ganz schön eifersüchtig.“ Die junge Frau schaut auf ihren Kumpel herunter und zieht eine Augenbraue hoch. „Danke fürs Outing,“ sagt sie, und fängt an zu erzählen:
„Ich komme aus einer sehr konservativen Familie, mein Vater will nicht, dass meine Mutter arbeiten geht. Seit der Krieg angefangen hat, ist die Situation sehr angespannt. Mein Vater hat Angst, mobilisiert zu werden. Und wir alle haben Angst davor, wie viele Familien sind wir von seinem Einkommen abhängig. In der Ukraine sagt man: „Sprich nicht öffentlich über Probleme in der Familie.“ Und „Wenn er dich schlägt, liebt er dich.“ Auch von meiner Mutter höre ich diese Sprüche. Leider ist die Ukraine ein sehr konservatives Land. Die meisten Menschen sind religiös und die Rechte von Frauen und LGBT Personen sind eingeschränkt. Ich höre so oft – in meinem Job, in der Uni, im privaten Umfeld: „Du bist nur ein Mädchen, du bist nicht stark genug.“ Aber was ich momentan erlebe ist das Gegenteil. Die Frauen sind viel stärker als die Männer. Viele Frauen, die ich kenne, sagen, dass sie kämpfen würden, wenn es sein müsste. Ich würde es auch tun. Auch wenn die Gefahr für uns Frauen von überall ausgehen kann. Eine Soldatin, die an der Front gekämpft hat, wurde von ihren Kameraden vergewaltigt. Als sie darüber mit dem Kommandeur der Truppe geredet hat, sagte er zu ihr, sie müsse gehen. Wenn sie so über die Soldaten rede, würde sie die ukrainische Armee beschämen. Der Vorfall dürfe in der Kriegssituation nicht öffentlich gemacht werden. Sie sprach trotzdem darüber. Und wurde nach Hause geschickt. Der Mann, der sie vergewaltigte, ist weiterhin in der Truppe. Der schlimmste Satz derzeit ist: „Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.“ Ich höre ihn ständig, wenn ich mich über die Situation von Frauen und LGBT Personen aufrege. Vor dem Krieg war es schon schlimm genug, aber jetzt ist es noch schlimmer, weil gar keine Kritik mehr erlaubt ist. Wenn ich mich darüber aufrege, wie Frauen beim Militär behandelt werden, beschimpfen mich alle – Männer und Frauen. Sie sagen zu mir: „Was willst du mit diesem Feminismus, jetzt ist nicht die Zeit dafür. Du fällst deinen Leuten in den Rücken, du musst die Armee unterstützen! Warum machst du die Soldaten schlecht? Warum konzentrierst du dich so sehr auf EINE vergewaltigte Frau?“ Ich sage ihnen, das ist nicht die einzige Frau, die vergewaltigt wurde. Es ist nur die erste, die sich bis jetzt getraut hat an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich kenne viele Frauen in der Armee. Alle haben Angst vergewaltigt zu werden.“
Wir haben den ganzen März und drei Wochen im Juni gemeinsam in der Ukraine gearbeitet. Von Anfang an war es uns wichtig nicht nur Fotos zu zeigen, sondern auch den Geschichten der Menschen Raum zu geben, um die Situation in der Ukraine fernab des schnellen, tagesaktuellen Journalismus zu dokumentieren und dabei verschiedene Perspektiven zu erzählen. Auch, um die Vielschichtigkeit dieses Krieges aufzuzeigen, beschäftigen wir uns in unserer Arbeit vor allem mit Einzelschicksalen und persönlichen Geschichten. Dabei merken wir, dass viele Menschen über bestimmte Themen im Moment nicht sprechen wollen, weil sie Angst haben, dass ihre Kritik missverstanden werden könnte. Oleksandra ist eine der Wenigen, die sich traut, das offen anzusprechen.
Jedem Portrait geht ein langes Gespräch voraus. Dabei wechseln wir uns ab, wer aufschreibt und wer fotografiert. Mit vielen Protagonist*innen sind wir in ständigem Kontakt und bei unserem zweiten Besuch im Juni haben wir einige wieder getroffen, Freundschaften sind entstanden. Wir erleben, wie sich die Stimmung der Menschen verändert, und ergänzen so unseren Blick von außen mit einem Blick von innen.
HELENA LEA MANHARTSBERGER geboren 1987 in Innsbruck, lebt in Wien Studium Internationale Entwicklung an der Uni Wien, Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der HS Hannover und am DMJX in Aarhus, Fotografie am ISI Jogjakarta, Indonesien. Global Challenges and Sustainable Developments an der Angewandten in Wien und der Tongji University, Shanghai. Freie Foto- und Videojournalistin, Mitarbeiterin beim Verein ipsum und Teil des Selbstlaut Kollektivs.
AUSSTELLUNGEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL)
2022 – Fragmente des Krieges, Willy-Brandt Haus, Berlin 2021 – sex work – lock down, Einzelausstellung, Reich für die Insel, Innsbruck 2021 – VGH Fotopreis, Finalist, GAF Eisfabrik, Hannover 2021 – Portraits Hellerau, Technische Sammlung Dresden 2021 – Fotofestiwal Łódź, Polen 2020 – LUMIX Festival für jungen Bildjournalismus, Hannover 2020 – Athens Photo Festival, Benaki Museum, Griechenland 2020 – Kassel Dummy Award und exhibition tour, shortlist 2019 – Kassel Dummy Award und exhibition tour, shortlist
2022 – RLB Kunstpreis 2021 – Hellerau Portraits Award 2021 – VGH Fotopreis (finalist) 2020 – Digital Storytelling Award, LUMIX Festival für jungen Bildjournalismus 2020 – Bird in Flight Price (finalist)
PUBLIKATIONEN u.a. in Die Zeit, Der Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Stern Crime, Financial Times, Dummy, BBC
LAILA SIEBER geboren 1989 in Freiburg, Deutschland Studium der Audiovisuellen Medien an der Hochschule der Medien Stuttgart und Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover, sowie an der KASK School of Arts in Gent, Belgien. Freie Foto- und Videojournalistin, Mitbegründerin des Fotomagazins BLUME und visuelle Künstlerin.
AUSSTELLUNGEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL) 2022 – Fragmente des Krieges, Willy-Brandt-Haus, Berlin 2021 – Award of Excellence in CPOY 76 Spot News 2019 – On poetry and what remains, Jaleh Galerie, Teheran, Iran (Einzelausstellung) 2019 – Visa pour l’image, Perpignan, Frankreich 2018 – LUMIX Festival für jungen Bildjournalismus, Hannover
PUBLIKATIONEN u.a. in Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Der Spiegel, Al Jazeera, Süddeutsche Zeitung
„Die Strafverfolgungsbehörden schweigen bis heute und tun so, als wäre es unmöglich, die genauen Umstände von Romans Tod aufzuklären oder die Täter zu finden.” Das sagt Olga Kutscherenko im Interview mit dem belarussischen Online-Medium Salidarnasc/Gazeta.by, das wir in deutscher Übersetzung veröffentlichen.
Kutscherenko ist die Cousine von Roman Bondarenko, der am 11. November 2020 von einer Gruppe maskierter Männer in einem Minsker Hinterhof, dem sogenannten Platz des Wandels, zusammengeschlagen wurde und am folgenden Tag seinen Verletzungen erlag. Bondarenko wurde 31 Jahre alt und für die belarussische Protestbewegung des Jahres 2020 zum Symbol des unbändigen Freiheitswillens.
Der Totschlag ist bis heute nicht aufgeklärt. Im Februar 2021 wurde zwar ein Strafverfahren eingeleitet, aber im September desselben Jahres wieder eingestellt, weil man – die Behörden – keine Tatverdächtigen finden könne. Allerdings hatten belarussische Medien erdrückende Hinweise dafür zusammengetragen, dass der Chef des belarussischen Eishockey-Verbandes Dimitri Baskow am Tatort gewesen sein soll, als Bondarenko attackiert wurde. Außerdem der frühere Kickboxer Dmitri Schakuta. Beide unterliegen wegen mutmaßlicher Verwicklung in den Überfall verschiedener internationaler Sanktionen. Nach Bondarenkos Tod war die tut.by-Journalistin Katerina Borissewitsch festgenommen und in einem Strafverfahren zu sechs Monaten Haft verurteilt worden. Die Behörden hatten verbreiten lassen, dass Bondarenko betrunken gewesen sei. Borisewitsch interviewte den behandelnden Arzt, der die Unterstellung entkräftete.
Zu Bondarenkos Beerdigung in Minsk kamen Tausende, um ihre Anteilnahme und Trauer zu demonstrieren. In einem sehr persönlichen Interview mit Salidarnasc/Gazeta.by spricht seine Cousine Olga Kutscherenko, die mittlerweile in Polen lebt, über viele offene Fragen, über Erinnerungen an ihren Cousin, über seine Mutter, die Lage in der Heimat Belarus und den Krieg in der Ukraine.
Salidarnasc: Sie haben einmal gesagt, Roman Bondarenkos Sachen seien seiner Mutter Jelena Sergejewna auch nach einem Jahr noch nicht ausgehändigt worden.
Olga Kutscherenko: Jedenfalls nicht alle. Soweit ich weiß, nur der Ausweis, seine Uhr, fünf Rubel und ein Ladegerät, das ihm gar nicht gehörte – er hatte ein brandneues iPhone, aber da war einfach nur ein altes Kabel ohne Ladeblock. Seine Sachen wurden im Krankenhaus gestohlen, genau wie die Auflistung der persönlichen Gegenstände. Auch Romans Kleidung und seine Wohnungsschlüssel sind nicht aufgetaucht.
Wird Ihre Familie und seine Mutter von jemandem bedroht?
Nein, aber es gibt keine Garantie dafür, dass das so bleibt. Jeder kann sehen, was jetzt im Land passiert. Damals, direkt nach Romas Tod, als man uns seinen Leichnam lange nicht aushändigen wollte, kamen sie zu meiner Mutter, Romas Tante, auf die Arbeit und sagten zu ihr: Sie verstehen doch, wenn die Beerdigung an einem Wochentag stattfindet, ist das eine Sache, aber am Wochenende – das wäre was anderes. Dabei waren das Leute vom städtischen Gesundheitsamt, die weder mit Roma noch mit uns irgendetwas zu tun hatten.
Haben Sie damit gerechnet, dass so viele Menschen Anteil an Romans Tod nehmen würden, dass es geradezu eine Welle auslöst?
Nein, das haben wir nicht erwartet. Ich weiß noch, wie ich an dem Tag, an dem er starb, spät abends durch die Stadt fuhr und überall, entlang der Straße, an den Haltestellen, vor den Häusern, in allen Fenstern Kerzen brannten. Ich habe anfangs gar nicht verstanden, dass die Menschen auf diese Weise mit uns zusammen trauern. Erst danach habe ich auf Telegram von den Aktionen erfahren.
Den stärksten Eindruck haben bei mir die Ereignisse vom 15. November hinterlassen, als die Menschen Blumen in unserem Hof niederlegten und dafür brutal zusammengeschlagen wurden. Aber sie kamen trotzdem, auch später zur Beerdigung – obwohl man sie in Angst versetzt hatte. Das hat mich sehr stolz auf die Belarussen gemacht, auf ihren Mut.
Wie geht es Jelena Sergejewna, Romans Mutter?
Sie bekommt Unterstützung von sehr vielen wundervollen Belarussen. Natürlich auch von ihrer Familie. Wir versuchen, ihr zu helfen. Sie ist sehr tapfer, sucht weiterhin nach Interesse am Leben und lässt den Kopf nicht hängen.
Tante Lena ist oft auf dem Friedhof und erzählt, dass viele Menschen an Romans Grab kommen. Sie bringen Blumen und kleine Geschenke, zum Zeichen, dass sie an ihn denken. So sehr die Staatsmacht auch versucht, alle einzuschüchtern, sie kann nicht verhindern, dass die Menschen nachdenken und verstehen, was passiert.
Für unsere Familie ist es wichtig, dass Romas Name nicht in den Schmutz gezogen wird, dass er nicht als „Säufer und Unruhestifter“ verunglimpft wird. Uns ist wichtig, dass er als der Mensch in Erinnerung bleibt, der er wirklich war. Und natürlich wollen wir, dass die Täter bestraft werden.
Es ist schrecklich, was Russland da tut, und auch, dass die offizielle Führung in Belarus das unterstützt
Warum haben Sie Belarus verlassen?
Nicht, weil mir jemand gedroht hätte. Mein Mann lebt und arbeitet seit anderthalb Jahren in Polen. Meine Tochter und ich besuchten ihn gerade, als der Krieg ausbrach, und wir beschlossen eine Weile zu bleiben.
Hier konnte ich endlich wieder etwas an meine Arbeit denken. Ich bin Designerin, aber nach 2020 war ich in einer Zwangspause: Erst die Proteste, dann Romas Tod. Das hat mich alles aus der Bahn geworfen.
Und noch bevor wir richtig zu uns kommen konnten, begann dieser Krieg. So langsam sehe ich mir den Markt genauer an, sehe, dass ich hier eine Perspektive habe.
Was empfinden Sie angesichts der Ereignisse in der Ukraine?
Wie alle vernünftig denkenden Menschen machen wir uns Sorgen. Es ist schrecklich, was Russland da tut, und auch, dass die offizielle Führung in Belarus das unterstützt. Ich weiß nicht, ob sie begreifen, dass das auf jeden Fall Konsequenzen haben wird. Ob die belarussischen Offiziere und Soldaten das verstehen, von deren möglicher Beteiligung am Krieg ständig die Rede ist.
Natürlich wird die Ukraine siegen, daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Aber der Schock saß sehr tief. Ich habe Freunde in der Ukraine, Freunde in Belarus, die wegen der Ereignisse bei uns in die Ukraine geflohen waren und nun wieder fliehen mussten, als der Krieg begann. In den ersten Tagen hat eine Freundin bei uns gewohnt, die sich aus Irpen gerettet hat. Das ist alles so schrecklich.
Auch dass die Menschen wegen ihrer Nationalität diskriminiert werden, bereitet mir Sorgen, die Stimmungen hier in Europa. Als die Belarussen in den ersten Tagen ihre Autos versteckt haben, damit man sie nicht beschädigt. Als russischsprachige Kinder in der Schule beleidigt wurden.
Nicht alle Ukrainer wissen, dass die Belarussen, die derzeit in Europa sind, die Ukraine von ganzem Herzen unterstützen. Ich wünsche mir sehr, dass sie das verstehen.
Doch ich treffe auch hier viele Menschen, die nicht nur über die Ereignisse in der Ukraine, sondern auch in Belarus Bescheid wissen. Erst gestern hatte ich ein erstaunliches Gespräch mit einem Taxifahrer, einem Usbeken. Als er erfuhr, dass ich aus Belarus komme, erzählte er mir vom Usurpator Lukaschenko, den Repressionen in Belarus und dass die Belarussen nicht in der Ukraine kämpfen wollen.
Verfolgen Sie die Ereignisse in Belarus?
Sicher. Ich betrachte das, was gerade passiert, als niederträchtige Rache einer kleinen Gruppe von Menschen am ganzen Volk. Ich glaube, das kommt daher, dass sie sich in eine vollkommen ausweglose Situation gebracht haben.
Diese Gesetze, die sie erlassen, die nicht enden wollenden Repressionen – das zermürbt natürlich einerseits die Menschen, aber gleichzeitig erschwert das auch die Position der Staatsmacht. Sie reiten sich immer tiefer rein.
Wie bewerten Sie heute die Ereignisse von 2020? Manche werfen uns vor, dass wir es nicht zu Ende gebracht hätten.
Ich glaube, jede Nation hat ihren Weg, ihre Mentalität. Für die Belarussen steht das Leben der Menschen an erster Stelle. Ja, wir leiden immer noch, wir sind immer noch Repressionen ausgesetzt, aber dafür haben wir nicht so viele Todesopfer davongetragen.
Ich denke, wenn wir zu den Waffen gegriffen hätten, hätte es viel mehr Tote gegeben. Womöglich wäre auch ein Bürgerkrieg ausgebrochen. Aber auf so etwas waren die Belarussen nicht aus, wir wollten zeigen, dass wir mit dem Wahlergebnis nicht einverstanden sind und dass wir die Mehrheit stellen
Ich glaube, es war richtig, dass wir nicht zu den Waffen gegriffen haben. Und es gibt auch generell keine Gebrauchsanweisung, wie man sich in so einer Situation zu verhalten hat.
Niemand außer uns selbst kann über die Zukunft von Belarus entscheiden
Jetzt, nach fast zwei Jahren, glauben Sie, dass wir uns von der lichten Zukunft, von der wir alle träumen, entfernen oder uns ihr – im Gegenteil – nähern?
Ich glaube, wir nähern ihr uns. Nur auf Umwegen. Im Moment sind die äußeren Umstände sehr bestimmend, also die Ereignisse in der Ukraine.
Ich weiß nicht, ob das Regime in Russland schneller fällt als das in Belarus, wie lange es durchhalten und dem belarussischen Regime dazu verhelfen wird, an der Macht zu bleiben. Aber es ist vollkommen offensichtlich, dass sie alle untergehen werden und wir uns in entgegengesetzter Richtung nach oben bewegen.
Anders kann es überhaupt nicht sein. Ich bin generell Optimistin und habe nie auch nur eine Minute lang daran gezweifelt, dass wir es schaffen werden. Ich glaube fest an das belarussische Volk und sein Potential.
Hängt die Zukunft von Belarus von den Ereignissen in der Ukraine ab?
Wir sind ja die unmittelbaren Nachbarn. Und entsprechend sind wir voneinander abhängig. Natürlich hängt vieles von dem Sieg der Ukraine ab, aber nicht alles. Ich glaube, niemand außer uns selbst kann über die Zukunft von Belarus entscheiden. Weder Europa noch die USA – niemand wird uns den Sieg auf dem Silbertablett präsentieren.
Aber ich glaube, dass uns das Beispiel der Ukraine sehr anspornt, und es ist durchaus denkbar, dass die Belarussen – falls sich die Dinge entsprechend entwickeln und sie zur Waffe greifen müssen – dass sie das in erster Linie tun würden, um sich und ihre Kinder zu verteidigen
Irpin, Butscha, Mariupol … Die beispiellose Gewalt, die die russische Armee auf dem Gebiet der Ukraine sät, so schreibt der Historiker Sergej Medwedew auf Holod, hat ihre Wurzeln in der russischen Gesellschaftsstruktur.
Nach hundert Tagen Krieg stumpft die Fähigkeit ab, entsetzt und schockiert zu sein. Doch dann tauchen neue Beweise für die Gräueltaten der russischen Armee auf, und man stürzt wieder in den Abgrund.
Anfang April holten russische Soldaten im Dorf Termachiwka bei Kyjiw fünf junge Männer von der Straße, fesselten sie, legten sie im Kreis auf ein Feld, ließen sie zwei Wochen lang so liegen, ein Gewehr auf sie gerichtet. Nachts fielen die Temperaturen auf -10 ° C, es schneite. Einem der Männer schossen sie ins Bein. Neun Tage lag er mit der offenen Wunde da. Dann schleppten die Soldaten die Leiche eines Dorfbewohners an und warfen sie in die Mitte des Kreises: „Damit ihr gut schlafen könnt.“
Diese Soldaten haben wohl kaum den Film Grus 200 von Alexej Balabanow gesehen – dem prophetischen Regisseur, der unter anderem das Phänomen des russischen Faschismus vorausgesagt hatte –, doch von ihren perversen Fantasien hätte selbst der verstorbene Filmemacher noch etwas lernen können.
Orgie epischer, entgrenzter Gewalt
Was seit drei Monaten in der Ukraine passiert, ist eine Orgie epischer, entgrenzter Gewalt. Mit Massenerschießungen und bestialischer Folter, der Ermordung von Zivilisten, einfach so, aus Langeweile, zum Spaß, mit Vergewaltigungen und Morden von Eltern vor den Augen ihrer Kinder und umgekehrt, mit Gewalt an Frauen und Mädchen im Alter von acht bis 80 Jahren. Diese Berichte zu lesen ist unerträglich, aber notwendig, aus einer Pflicht des Mitgefühls und der Empathie heraus, aber auch im Versuch zu verstehen, woher dieses archaische Böse kommt, das die russische Armee über das Land gebracht hat, aus welchen irdischen Abgründen, aus welchen Albträumen und Horrorfilmen? Hat in Russland eine genetische Mutation stattgefunden, die gleichgültige Sadisten hervorgebracht hat, die jetzt auf ukrainischem Boden angekommen sind? Die Überlebenden, die Zeugen dieser Gräueltaten wurden, erzählen davon gar nicht so sehr voller Angst als vielmehr maßlos erstaunt: „Wpersche take batschymo“, sowas sehen wir zum ersten Mal, „Wir hatten keine Vorstellung davon, dass so etwas möglich ist“.
Routinepraktiken der russischen Gewaltapparate
Man muss nicht Fjodor Dostojewski, Juri Mamlejew oder Vladimir Sorokin sein, um die dunkelsten Winkel der russischen Seele zu erkunden. Man braucht sich nur die Chronik der Polizeigewalt anzusehen, die Folter auf den Polizeirevieren und in den Strafkolonien, die Verbrechen der Armee, um zu verstehen, dass die Ereignisse in Butscha, Irpin und in den ganzen anderen von den Russen okkupierten Städten und Dörfern weder Exzess noch Pathologie sind. Sie sind vielmehr ein Teil der Norm, Routinepraktiken der russischen Gewaltapparate.
Die Journalisten von Projekt haben die Vorgeschichte der russischen Einheiten aufgedeckt, die in Butscha stationiert waren – der Name dieses Dorfes bei Kyjiw wird ab jetzt sprechend sein, wie Katyn oder Samaschki.
Und wie sich zeigt, handelt es sich um Einheiten, die auch in Friedenszeiten für ihre Brutalität bekannt waren. So ist zum Beispiel die 64. motorisierte Schützenbrigade der 35. Armee aus Chabarowsk daheim berühmt-berüchtigt. Ihren Rufnamen Mletschnik benutzt man sogar, um Kindern einen Schrecken einzujagen. Immer wieder kommt es dort zu Selbstmorden, Wehrdienstleistende und Vertragssoldaten fliehen aus der Einheit; allein im Februar 2014 gab es in der Truppeneinheit 51460, die in Knjas-Wolkonskoje stationiert ist, sieben Todesfälle innerhalb von drei Wochen. Es ist bezeichnend, dass Wladimir Putin gerade dieser Einheit nach dem Abzug aus dem Gebiet um Kyjiw den Ehrentitel einer Gardeeinheit verliehen hat – als würde er sie für die Kriegsverbrechen auszeichnen, die sie begangen hat.
Einheiten, die auch in Friedenszeiten für ihre Brutalität bekannt waren
Eine ähnliche Spur zieht die 127. motorisierte Schützendivision der 5. Armee hinter sich her, ebenfalls im Fernen Osten stationiert: Sie taucht regelmäßig in den Verbrechensberichten auf, und in ihrem Umkreis findet man Leichen von Soldaten ohne Kopf.
In Butscha waren nicht irgendwelche Fanatiker am Werk (es gab Gerüchte über Spezialeinheiten der Rosgwardija und von tschetschenischen Truppen – wobei offenbar auch die an den brutalen Massakern beteiligt waren), sondern reguläre Einheiten der russischen Armee, die allen Reformen von Anatoli Serdjukow und großangelegten Imagekampagnen zum Trotz nach wie vor auf Brutalität als einzigem Mittel der Führung setzt.
Kriegsverbrechen blieben ungestraft
Jeffrey Hawn von der London School of Economics and Political Science hat die gewalttätigen Praktiken der russischen Armee erforscht. Er kommt zu dem Schluss, dass die Kriegsverbrechen der russischen Armee im 21. Jahrhundert – von Tschetschenien und Georgien über Syrien und den Donbass bis hin zum Beginn der aktuellen Phase des Kriegs – ungestraft geblieben sind. Die russischen Streitkräfte haben im Unterschied zu den westlichen Armeen keine institutionelle Kultur entwickelt, die die Verluste unter der Zivilbevölkerung minimieren würde: In der russischen Armee existieren keinerlei Schutzmechanismen gegen ungerechtfertigte, willkürliche Gewalt.
„Die heutigen Gräueltaten der russischen Armee resultieren aus der latenten Unfähigkeit, das Erbe ihres sowjetischen Vorgängers zu überwinden“, sagt Hawn. „Letalität und Sieg um jeden Preis bleiben die obersten Prioritäten der russischen Armee.“
In der russischen Armee existieren keinerlei Schutzmechanismen gegen ungerechtfertigte, willkürliche Gewalt
Das Gleiche gilt auch für die anderen Institutionen des russischen Machtapparats: die Polizei, die OMON-Einheiten an die Front schickt, die Russische Garde, das Strafvollzugssystem. In den vergangenen Jahren sind dank der Verbreitung von mobilen Endgeräten in den Strafvollzugsanstalten und dem Zugang zu sozialen Netzwerken Terrabytes von schockierenden Beweisen für Folter, Missbrauch und Vergewaltigungen an die Öffentlichkeit gedrungen, die seit Jahrzehnten zur gängigen Praxis in den russischen Gefängnissen gehören und zur Norm im Umgang der Verwaltung mit den Häftlingen und der Häftlinge untereinander geworden sind.
Die russische Gefängniswillkür ist über die Grenzen des Landes gedrungen
In der Ukraine kämpfen heute Soldaten, die aus den depressivsten und kriminellsten russischen Regionen kommen, wo die Gefängnissubkultur die männliche Bevölkerung maßgeblich prägt: Die meisten Männer haben entweder selbst gesessen oder haben enge Freunde und Verwandte, die gesessen haben, die Jugendlichen dort sind in die Netzwerke der AUE involviert – und jetzt ist diese Ordnung mit ihren „Sitten“ und Praktiken der extremen physischen und sexualisierten Gewalt auf die okkupierten Gebiete der Ukraine übergeschwappt: Die russische Gefängniswillkür ist über die Mauern der Lager und über die Grenzen des Landes gedrungen.
Dabei beschränkt sich die Gewalt nicht auf staatliche Institutionen, sie herrscht auch in den Familien, in den Beziehungen zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, Jüngeren und Älteren, Vorgesetzten und Untergebenen. Sie dringt aus den abgefangenen Telefongesprächen zwischen russischen Soldaten und ihren Kommandeuren, in denen Mat, Drohungen und Demütigungen grassieren. Aus den Telefonaten und Chatnachrichten der Soldaten mit ihren Familien, in denen sich rührselige Sentimentalität mit Grausamkeit und Zynismus vermischt, in denen Ehefrauen ihren Männern sagen, was sie in den Häusern der Ukrainer essen und welche Schuhgröße sie mitnehmen sollen, und andere sie ermahnen: „Beim Vergewaltigen der ukrainischen Weiber nimm ein Kondom.“
Diese Gewalt ist der russischen Gesellschaft in Fleisch und Blut übergegangen, sie ist zum Erkennungscode für das Sozium geworden, das auf Hierarchie und Unterwerfung gründet, auf dem Wegnehmen und Aufteilen von Ressourcen, in dem die rohe Gewalt über der Moral steht und die Macht über dem Gesetz. Diese Ordnung wird abgesegnet durch das Verhalten der regierenden Schicht, die das einfache Volk mit ihren Blaulicht-Limousinen zu Tode fährt, die immer ungestraft davonkommt; sie wird abgesegnet durch die Reden von Präsident Putin, der lehrt, dass man „die Schwachen haut“ und man „als Erster zuschlagen muss“, und dafür tosenden Applaus erntet.
Staatlich sanktionierte und ideologisch begründete Gewalt
Normalerweise ist diese Gewalt, die die soziale und politische Ordnung im Land aufrechterhält und legitimiert, für den inneren Gebrauch reserviert, aber jetzt ist sie zum ersten Mal – mit einer zweihunderttausendköpfigen Invasionsarmee – massenhaft über die russischen Grenzen geschwappt, staatlich sanktioniert und ideologisch begründet. Putins Äußerungen zu den „Nazis und Drogenabhängigen“, die er aus den Propagandafakes aufgeschnappt hat (die ihm offensichtlich als Hauptinformationsquelle über die Lage in der Welt außerhalb seines Bunkers dienen), nehmen die Besatzer wörtlich und fragen die überraschten Ukrainer, in deren Häuser sie einbrechen: „Wo sind denn hier die Nazis?“.
Wenn wir versuchen zu verstehen, was hinter der Bestialität der russischen Besatzer in der Ukraine steckt, sehen wir, dass das Problem nicht einzelne Sadisten und Marodeure sind, sondern das russische System selbst.
Um bei der Militärmetapher zu bleiben: Russland ist genäht wie ein Soldatenmantel. Nicht wie der von Akaki Akakijewitsch, aus dem die ganze russische Literatur hervorgegangen ist, sondern wie die Uniform eines einfachen Soldaten, eines der grundlegenden Archetypen einer ewig kämpfenden Nation. Der Mantel hat eine Außen- und eine Innenseite. Auf der Außenseite – rau, grob und durchgescheuert von den Jahrhunderten – ist das Land, das Imperium, die Weite, der Krieg, die Panzer und Flugzeuge, die Atombombe, das All, die Kultur, Moskau und Petersburg, Kirchen und Schlösser. Auf der Innenseite, für die Außenwelt unsichtbar, aber eng am Körper anliegend, sind Sklaverei, Pöbel, Kriminalität, Lüge, Tyrannei und die unentrinnbare Grausamkeit des russischen Lebens.
Wir haben uns daran gewöhnt und tragen sie, uns ständig juckend und kratzend; vereinzelte Patrioten sind sogar der Ansicht, dass das der Preis für unsere Größe sei und sind heimlich stolz auf diese Ordnung des russischen Lebens: Unser Garten mag nicht gejätet sein, und unsere Notdurft verrichten wir im Freien, aber dafür haben wir das Ballett, die Literatur, eine rätselhafte Seele und ein riesiges Imperium.
Russland hat sich der Welt so präsentiert, wie es wirklich ist
Aber jetzt ist etwas durcheinandergeraten: Russland hat sich „entblößt“, den Soldatenmantel umgekrempelt und seine ganze innere Schäbigkeit in Form der „Invasionsarmee“ enthüllt. Es hat der ganzen Welt die sinnlose russische Wut, die finstere Barbarei, seine Verbrechermentalität, Grausamkeit, Gewalt und die Verachtung gegenüber der menschlichen Würde und dem menschlichen Leben präsentiert, sowohl dem der Ukrainer als auch dem der eigenen Soldaten.
All die nationalen Merkmale, mit denen wir gelernt haben zu leben, sind plötzlich sichtbar geworden: Die ungeflickten Löcher, die Schwachstellen, schiefen Nähte, der halbverrottete Stoff des russischen Soldatenmantels sind ans Tageslicht getreten, und das ist nicht mehr eine Katastrophe für die Reputation, sondern für die Zivilisation. Sie zerstört die Macht der Inszenierung, auf der Russland die letzten paar Jahrhunderte gegründet war: Die äußere Form des Landes, die sich in diesem obszönen Krieg offenbart hat, entspricht nun seinem Inhalt – Russland hat sich der Welt so präsentiert, wie es wirklich ist.
Man kann schockiert sein angesichts des abgrundtiefen Bösen, das sich in Butscha und Mariupol aufgetan hat, aber man sollte sich nicht darüber wundern: Ganz Russland ist unser Butscha.