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Fußnoten-Test
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palasthotel
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Zukunft von Belarus: Jonglieren mit Zeitbomben
Vor 30 Jahren wurde Alexander Lukaschenko bei der wohl offensten und fairsten Wahl in der Republik Belarus zum Präsidenten gewählt. Damals hatte das Land 10,2 Millionen Einwohner, heute sind es nur noch 9,2 Millionen. Wegen der scharfen politischen Verfolgung seit 2020 haben bis zu 500.000 Menschen ihre Heimat verlassen. Die Geburtenrate sinkt seit Jahren. Lew Lwowsi, Direktor der Organisation BEROC gibt düstere Prognosen: „Wenn wir die aktuelle Geburtenrate beibehalten, wird es am Ende des Jahrhunderts nur noch 3 bis 3,5 Millionen Einwohner geben.“ Der Mangel an Menschen, die entweder im Gefängnis sitzen oder das Land verlassen, stellt auch das System Lukaschenko vor enorme Herausforderungen. Vor allem im Hinblick auf die für 2025 angekündigten Präsidentschaftswahlen.
In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt der Wirtschaftsjournalist Ales Gudija, welche wirtschaftlichen und sozialen Minenfelder Lukaschenkos Zukunft bedrohen.
Der Wirtschaftsjournalist Ales Gudija sieht in den drängendsten wirtschaftlichen Problemen Belarus Parallelen zum Computerspiel Minesweeper / Foto © imago-images/Pond 5 Images Wie im Spiel Minesweeper
Der Vergleich der Zukunft mit einem Minenfeld entspricht vollkommen der militaristischen Rhetorik, die Einzug gehalten hat, seit Russland mit seiner vollumfänglichen Invasion in der Ukraine eine geopolitische Krise in Europa hervorgerufen hat. Ähnliche Vergleiche verwenden auch Wirtschaftsexperten, etwa Konstantin Ssonin, wenn er über Zeitbomben spricht, die Wladimir Putin der russischen Wirtschaft als Erbe hinterlässt. Auch die belarussische Wirtschaft wird vom aktuellen Regime ein komplexes und gefährliches Minenfeld erben.
Bei der Analyse der brennendsten Probleme kann man Parallelen zu dem alten Computerspiel Minesweeper ziehen: Bereits heute kann eine Reihe zukünftiger Probleme mit Fähnchen markiert werden. Ein großer Teil des Problemfeldes ist jedoch noch nicht aufgedeckt, es bleibt ein Rätsel, wo die Gefahren lauern. Dennoch wollen wir versuchen, die Schlüsselprobleme zu benennen, die der Wirtschaft in Belarus unausweichlich bevorstehen und deren Wurzeln in Fehlentscheidungen der Führungsebene im Verlauf der letzten 30 Jahre liegen – der Epoche Alexander Lukaschenkos.
Die Politik des Regimes hat das demografische Problem verschärft
Erstes und wirklich entscheidendes Problem, das das die belarussische Wirtschaft lösen muss, ist die Demografie. Obwohl ihr natürliche Ursachen zugrunde liegen, werden die negativen Folgen durch die repressive Politik des herrschenden Regimes um ein Vielfaches verstärkt. Hunderttausende Belarussen waren gezwungen, das Land zu verlassen. Der eklatante Mangel an qualifizierten Fachkräften, die einen Kurs der wirtschaftlichen Regeneration unterstützen könnten, wird zur dauerhaften Gefahr für die Zukunft.
Die demografischen Probleme sind eng mit sozialen Problemen verbunden. Wenn die Zeit der Reformen erst kommt, wird sich die Transformation des Wirtschaftssystems unweigerlich auf das Lebensniveau auswirken. Je länger Reformen aufgeschoben werden, desto schmerzlicher wird später die Anpassung an neue wirtschaftliche Realitäten. Es ist kein Geheimnis, dass die Entwicklung der Marktwirtschaft üblicherweise zu einer stärkeren Ungleichheit der Einkommen führt. Das aktuelle, scheinbar gute Niveau ökonomischer Gleichheit in Belarus stellt in Wirklichkeit eine Gleichheit der Armen dar, daher kann es nicht die Basis für eine sozialverträgliche Zukunft sein.
Geklärt werden müssen Sanktionen, Schulden und die Anbindung an Russland
Ein offensichtliches Problem, das wir von der aktuellen politischen Führung erben werden, sind die vielfältigen Sanktionen, die gegen die belarussische Wirtschaft verhängt wurden. Setzt eine neue Generation von Führungskräften eine Politik fort, die den internationalen Standards widerspricht, so wird der Sanktionsdruck bestehen bleiben oder sich gar verstärken. Dies wirkt sich wiederum negativ auf den Außenhandel und den Zugang zu internationalen Märkten aus. Nur eine Aufhebung der Sanktionen ermöglicht eine Entwicklung der belarussischen Wirtschaft. Aber dafür braucht es politischen Willen.
Ein weiteres hausgemachtes Problem, für das die jetzige Führung Verantwortung trägt, ist die feste Anbindung der Wirtschaft an die Russische Föderation. Belarus hängt enorm von der wirtschaftlichen Unterstützung aus Moskau ab, unter anderem von Energielieferungen zu günstigeren Preisen, von Haushaltszuschüssen und dem Zugang zum russischen Markt. Russland ist der Hauptabnehmer für belarussische Exportwaren und stellt den einzigen großen Handelsweg dar, der Zugang zu Drittstaaten ermöglicht.
Ein Wechsel des wirtschaftlichen Paradigmas in Belarus würde unweigerlich zu einer Änderung im Verhältnis zu Russland, zu einer Reduzierung der Unterstützung und der Begünstigungen führen. Das Beispiel anderer osteuropäischer Staaten zeigt allerdings, dass selbst eine starke Abhängigkeit vom „Energieimperium“ überwunden werden kann, wodurch schließlich eine normale Entwicklung nach Marktprinzipien möglich wird.
Auch die hohe Schuldenbelastung wird an die zukünftige Generation der belarussischen Führungskräfte vererbt. Seit das Land Ende der 2000er Jahre seinen Zugang zu billigen russischen Energieträgern verlor – die Vergünstigungen blieben zwar bestehen, aber in geringerem Umfang –, ist die Auslandsverschuldung beträchtlich gestiegen. Dass sie in den letzten Jahren leicht zurückging, ist eher ein negatives Zeichen, da es davon zeugt, dass sich die belarussische Wirtschaft am Rande der Welt befindet und für Investoren uninteressant ist. Auch wenn die aktuelle Auslandsverschuldung kein kritisches Ausmaß hat, muss der Staat für die Bedienung der Kredite unbedingt am globalen Kapitalmarkt teilnehmen. Hier steht Belarus offensichtlich vor Schwierigkeiten, da die Zusammenarbeit mit den führenden internationalen Wirtschaftsstrukturen gekappt ist. Folglich wird die Belastbarkeit der wirtschaftlichen Ausrichtung zukünftiger belarussischer Regierungen in großem Maße davon abhängen, ob sie die Auslandsverschuldung beherrschen und Beziehungen zu potenziellen Kreditoren aufbauen können.
Eine weitere Bedrohung: Der Schlag auf sozialem Gebiet
Ein weniger offensichtliches, aber wichtiges Problem, das aus den vorab genannten resultiert, ist die potenzielle Verschlechterung der sozialen Infrastruktur. Früher wurde sie mithilfe ausländischer Geldgeber modernisiert. Da diese nun fehlen, geht die Finanzierung vollkommen zulasten des Haushaltes, dessen Möglichkeiten höchst begrenzt sind. Die Unterhaltung eines ausreichenden Maßes an Infrastruktur und ihre Qualität wird zur deutlichen Herausforderung für die nächste Generation belarussischer Führungskräfte.
In einer Transformationskrise, die durch einen (früher oder später einfach notwendigen) Umbau des Wirtschaftssystems entsteht, können sich die Staatsausgaben für Gesundheitsversorgung, Bildung und Soziales verringern. Das wiederum wird zu einer Absenkung des Lebensniveaus führen, den sozialen Druck verstärken und so potenziell die Situation im Land destabilisieren. Insofern gewinnt die Unterstützung von Seiten internationaler Wirtschaftsinstitute an Bedeutung. Doch mit ihnen muss man zunächst eine gemeinsame Sprache finden.
Die Rezepte sind bekannt
Wir haben hier nur die aktuellsten Probleme der belarussischen Wirtschaft aufgezählt. Eigentlich müsste man sich bereits jetzt sorgfältig auf Reformen vorbereiten, um negative Folgen in der Zukunft zu minimieren, müsste detaillierte Pläne für einen Übergang zu einer wirklichen Marktwirtschaft ausarbeiten, die alle möglichen Risiken und Gegenstrategien berücksichtigt.
Wichtig dabei ist, die soziale Absicherung der Bevölkerung zu gewährleisten, Unterstützungsprogramme für Arbeitslose, Rentner und andere sozial vulnerable Gruppen zu entwickeln. Das aktuelle System der sozialen Unterstützung wird in der Zukunft nicht mehr wirksam funktionieren. Um die Wirtschaft zu fördern, muss unbedingt das Wachstum der Privatwirtschaft stimuliert werden, indem günstige Entwicklungsbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen geschaffen werden. Darüber hinaus muss die unmäßige Abhängigkeit von dem einen ausländischen Markt beseitigt werden. Es braucht eine Diversifizierung der Wirtschaft, eine Reduzierung der Abhängigkeit von Rohstoffexporten, die Entwicklung anderer Wirtschaftszweige und neue Absatzmärkte. Dabei müssen unbedingt die Fehler vermieden werden, die zu Beginn der 1990er Jahre begangen wurden. Dafür ist ein transparentes und rechenschaftspflichtiges System der staatlichen Verwaltung notwendig.
Eigentlich ist alles recht klar. Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Viele postkommunistische Staaten sind einen ähnlichen Weg gegangen. Nur wäre es naiv, auf eine Erleuchtung der aktuellen belarussischen Staatsführung zu hoffen. Um ihre Macht im Hier und Jetzt zu sichern, legt sie weiter Minen unter die Zukunft.
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„Wie kann es sein, dass man die Sprache seiner Heimat nicht beherrscht?“
Kultur • Media_IQ
Original by Larysa Masenko, Redaktion MediaIQ, Winzuk Wjatschorka
Translation by Tina Wünschmann (shortened)„Wie kann es sein, dass man die Sprache seiner Heimat nicht beherrscht?“ Mit diesem unter Belarussen und Ukrainern immer wieder heiß diskutierten Thema beschäftigt sich eine Ausgabe der Artikelserie Baljutschyja pytanni (dt. Schmerzhafte Fragen) von Media_IQ, in der Experten auf drängende Fragen der Zeit antworten und diese diskutieren. Dazu hat sich das belarussische Online-Portal zwei Koryphäen auf diesem Gebiet eingeladen: den belarussischen Sprachwissenschaftler und ehemaligen Oppositionspolitiker Winzuk Wjatschorka und die ukrainische Linguistin Larysa Masenko, die in der Ukraine als eine der führenden Forscherinnen zur ukrainischen Sprache gilt. Beide diskutieren in ihren jeweiligen Muttersprachen, Belarussisch und Ukrainisch, über die Dominanz des Russischen in ihren Ländern und über die Unterschiede in der Verwendung von Sprachen in der Ukraine und Belarus. Wir bringen einen Auszug des Gesprächs.
Media_IQ: Sind russischsprachige Belarussen Belarussen? Und russischsprachige Ukrainer Ukrainer?
Larysa Masenko: Die zentrale Frage an dieser Stelle ist aus meiner Sicht: Welche Antwort gibt die Person auf die Frage nach der Muttersprache (ukr. ridna mowa)? Wenn ein russischsprachiger Ukrainer oder ein russischsprachiger Belarusse antworten, dass ihre Muttersprache Ukrainisch respektive Belarussisch ist, dann kann man sie als Ukrainer beziehungsweise Belarussen betrachten.
Mit der Unterstützung internationaler Organisationen haben wir 2006 eine große Befragung in der Ukraine durchgeführt. Wenn man die Ergebnisse betrachtet, so nannten 15 Prozent der Ukrainer Russisch als ihre Muttersprache, sie lebten mehrheitlich im Osten und Süden des Landes. Bei den Bewohnern von Kyjiw, dessen Großteil leider auch russischsprachig ist, gibt jedoch die Mehrheit als Muttersprache Ukrainisch an. Anhand dieses Kriteriums kann man also tatsächlich erkennen, ob eine Person ukrainisch ist und eine ukrainische Identität hat, obwohl sie Russisch spricht.
Winzuk Wjatschorka: Bei uns ist die Situation komplizierter. Unter anderem, weil wir keine konkrete, sichere Antwort auf die Frage haben, wie viele Belarussen das Belarussische als Muttersprache betrachten und was sie unter diesem Begriff überhaupt verstehen – Muttersprache. Die Sache ist, dass in der internationalen Soziolinguistik eine ganze Bandbreite an Bezeichnungen für die sprachliche Identität und das Sprachverhalten des Menschen existieren. Da gibt es mother tongue, die Muttersprache oder Erstsprache. Es gibt die Hauptsprache, die der Mensch am besten beherrscht, die Sprache, die er üblicherweise im Alltag verwendet. Und es gibt die sprachliche Identität – mit welcher Sprache verbindet der Mensch seine Herkunft, seine Familie, seine Zukunft und letztlich auch seine Nationalität.
Belarussisch als Muttersprache, auch wenn die Mutter gar nicht Belarussisch sprach – das waren die Opfer der sowjetischen Russifizierung der 1960er und 1970er Jahre
Bei uns wurde früher in den Volksbefragungen die Frage nach der Muttersprache ohne Erläuterung gestellt, wodurch die Befragten ihre eigene Interpretation zugrunde legen konnten, so auch das Konzept der Sprachidentität. Wenn jemand also nicht täglich Belarussisch sprach, oder nicht die belarussische Literatursprache, konnte er die belarussische Sprache dennoch als seine rodnaja mowa betrachten, also die Sprache seiner Familie und Herkunft, oder sie gar als Muttersprache bezeichnen, auch wenn seine Mutter gar nicht Belarussisch mit ihm sprach (das waren die Opfer der sowjetischen Russifizierung der 1960er und 1970er Jahre), aber die Mutter seiner Mutter, also die Großmutter, noch Belarussisch gesprochen hatte. So ergibt sich eine Perspektive, dass seine Kinder und Enkel wieder Belarussisch sprechen werden, und das hat bei uns ja tatsächlich stattgefunden – die Rückkehr zur belarussischen Sprache nach ein oder zwei Generationen.
Was bedeutet eigentlich Belarussisch sprechen?
Sehr wichtig ist aber auch, dass die Menschen, die selbst zurückgefunden haben oder ihre Kinder an die belarussische Sprache heranführen, sich dessen bewusst sind, dass dies die Sprache ihrer Herkunft, ihrer Familie ist. In den späteren Volkszählungen, die schon unter Lukaschenka stattfanden, wurde auf einmal erläutert, was unter rodnaja mowa zu verstehen sei: Nämlich jene Sprache, die der Mensch zuerst in seiner Kindheit gelernt hat. Damit wurde den Menschen praktisch das Recht entzogen, die Sprache ihrer Identität anzugeben. Dadurch ergab sich zwischen den Umfragen 1999 und 2009 ein absolut katastrophaler Einbruch bei den Zahlen zur sprachlichen Identität – 22 Prozent weniger gaben Belarussisch als Muttersprache an.
Es ist wirklich beispiellos, dass sich innerhalb von zehn Jahren die sprachliche Identität einer kompletten Bevölkerung so verändert! Einerseits liegt das an der antibelarussischen Politik des Lukaschenka-Regimes, andererseits an der Veränderung der Fragestellung, durch die man Belarussisch nicht mehr als rodnaja mowa angeben konnte.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Was bedeutet eigentlich Belarussisch sprechen? Wie ich schon sagte, umfasst das nicht nur die Verwendung der Standardsprache. Jede Person, die einen Dialekt spricht, spricht ohne Frage Belarussisch. Die Person selbst versteht das vielleicht als Mischsprache: „Sie wissen schon, wie wir sprechen – ein belarussisches Wort, ein polnisches Wort, ein russisches Wort, ein belarussisches Wort, ein ukrainisches Wort …“ Es ist abhängig von der Geografie. Tatsächlich sind das aber belarussische Dialekte. Nur war es den Menschen nicht möglich zuzugeben, dass sie Belarussisch sprechen – es galt als unfein.
In der Sowjetzeit galt das als peinlich. Und auch jetzt ist es wieder unangenehm. Dabei ist doch eine Person, die das Belarussische passiv beherrscht, es versteht und gut beherrscht, letztlich auch belarussischsprachig. Worauf ich hinaus will: Eine Person, die im Alltag Russisch spricht, aber das Belarussische versteht und beherrscht, einige Wörter einbaut, kann potenziell jederzeit zu dieser Sprache zurückkehren. Die Person ist potenziell belarussischsprachig. Und wenn irgendwelche emsigen Soziologen sagen, dass bei uns nur drei Prozent oder fünf Prozent Belarussisch sprechen, dann verstehen sie diese Hintergründe einfach nicht.
Insofern ist ohne Frage jeder, der Russisch spricht, aber diesen Hintergrund, diese Vorgeschichte hat, ein Belarusse, und besitzt mithin die Option, zur belarussischen Sprache zurückzukehren.
In der Ukraine ist es wichtig, die ridna mowa als Sprache meines Volkes, meines Landes zu behandeln
L.M.: Hier wurde eine wichtige Frage aufgeworfen: Was ist die Muttersprache, wenn die Eltern russischsprachig sind. Bei uns sind die Großstädte am stärksten russifiziert, in den Städten leben viele Menschen, dort fand die Industrialisierung statt, es gab viel Zuzug, und so entstand der Schmelztiegel der Russifizierung. Die Kleinstädte und Dörfer verloren ukrainischsprachige Einwohner. Für die Kinder dieser Generation, die in die Städte zogen und zum Russischen übergingen, war das Ukrainische oft die Sprache von Oma und Opa, es war die Sprache ihrer Ahnen, die Sprache aller vorangegangenen Generationen. In diesem Sinne ist das Ukrainische also zweifellos ihre Muttersprache, ridna mowa. Ich möchte außerdem sagen, dass wir für unsere Situation folgende Definition gefunden haben: ridna mowa ist die Sprache meines Landes. Ich verstehe, dass ridna mowa in anderen Ländern anders definiert wird, wie Sie bereits gut beschrieben haben, am weitesten verbreitet ist das Konzept der Muttersprache. Ja, ridna mowa ist die Sprache der Mutter, von ihr lernt das Kind diese Sprache. Aber in Anbetracht unserer Situation ist es, denke ich, ebenfalls wichtig, ridna mowa als Sprache meines Volkes, meines Landes zu behandeln.
Ist es im 21. Jahrhundert korrekt, die Identität eines Menschen über die Sprache zu definieren?
L.M.: Die sprachliche, ethnische und nationale Identität sind doch sehr eng miteinander verbunden. In allen Ländern, hauptsächlich in den europäischen Ländern, gibt es nur eine Amtssprache; es gibt nur sehr wenige zweisprachige Staaten. Diese kann man separat besprechen, dort gibt es fast immer einen Konflikt, da jedes Volk, jede Nation ihre Identität unstrittig hauptsächlich über die Sprache definiert. Jedoch nicht nur über die Sprache, sondern auch über die Kultur, die in dieser Sprache geschaffen wird, denn in der Kultur kommt die Identität sehr klar zum Ausdruck.
Deshalb ist es unbedingt notwendig, das Ukrainische bei uns zu verbreiten. Im Moment gibt es einen großen Umbruch, einen großen Bruch im Verhältnis zu Moskau …
Und es hat ein starker Wechsel vieler russischsprachiger Ukrainer zum Ukrainischen begonnen. Tatsächlich hat dieser Prozess bereits nach der Revolution der Würde aktiv an Fahrt aufgenommen, nachdem im Jahr 2019 endlich das Gesetz Über die Staatssprache eingeführt wurde, das klar definierte, in welchen Bereichen das Ukrainische als Amtssprache verpflichtend zu verwenden ist. Putin und sein Umfeld dachten, nur weil es zu Sowjetzeiten gelungen war, einige Städte zu russischsprachigen zu machen, besonders die Großstädte im Osten und Süden, würden die Menschen dort die russische Armee mit Brot und Salz empfangen. Aber das Gegenteil war der Fall, die Ukrainer sehen Russland nun bewusst als Feind, sie sehen den genozidalen Krieg, der zum Zweck der Vernichtung der Ukrainer geführt wird. Ihr Widerstand ist sehr stark geworden und viele Menschen wechseln nun zur ukrainischen Sprache.
Am schlimmsten ist, dass der Status des Belarussischen als alleinige Staatssprache nicht erhalten werden konnte
W.W.: Die ukrainische Situation ist natürlich eine epochale Kraftprobe. Einerseits hat sich der ukrainische Staat stark für die ukrainische Sprache eingesetzt, worauf wir Belarussen in unserer aktuellen Situation nur mit Neid blicken können. Denn der aktuelle Staat, der sich Belarus nennt, verdrängt die belarussische Sprache funktional und zielgerichtet, letztlich muss man schon sagen, er vernichtet sie. Andererseits ist die Ukraine Ziel eines verbrecherischen Angriffs geworden, der unter anderem gerade mit einer sprachlichen Argumentation begründet wird. Das brachte alle an Russland angrenzenden Völker dazu aufzuwachen und zu verstehen, dass dieses Russland und die aufgezwungene Russischsprachigkeit, die von einigen als Reichtum betrachtet wird, da die russische Sprache zu den Weltsprachen gehöre und eine Brücke zu kulturellen, wissenschaftlichen und allerlei anderen Reichtümern darstelle, in Wirklichkeit die Brücke zum Einmarsch des Aggressors ist …
Um auf die Frage zurückzukommen, ob die sprachliche Identität identisch ist mit der nationalen – ja, ich denke, dass die aktuelle sprachliche Situation in Belarus instabil und entropiehaft ist. Wenn wir in der kurzen Periode der realen Unabhängigkeit und der relativen Demokratie in der ersten Hälfte der 1990er Jahre innerhalb von sechs Jahren der belarussischen Sprache ihren Status zurückgeben konnten, ein bis zwei Millionen Schüler durch das belarussischsprachige Bildungssystem lotsen konnten, dann trat eine sprachliche Wirkung ein, die dann mit Gewalt wieder aus der Gesellschaft herausgepresst wurde, nachdem gerade sprachliches Selbstbewusstsein und funktionale sprachliche Normalität zurückgekehrt waren.
L.M.: Am schlimmsten ist, dass der Status des Belarussischen als alleinige Staatssprache nicht erhalten werden konnte, so wie es in der Ukraine gelungen ist. Als Lukaschenka an die Macht kam, wurde das belarussische Sprachengesetz geändert, und Russisch wurde neben Belarussisch zur Staatssprache erklärt. Natürlich öffnete das den Russifizierern und Kolonisatoren Tür und Tor. Es ist sehr bedauerlich, dass durch verschiedene Manipulationen, faktisch durch Betrug der Bevölkerung, eine Person wie Lukaschenka an die Macht gekommen ist. Denn Lukaschenka verachtet die belarussische Sprache, er hat geäußert, dass es nur zwei große Sprachen gäbe – Russisch und Englisch, Belarussisch hingegen sei sehr arm, man könne damit keine technischen Sachverhalte beschreiben, da es keine Fachtermini gäbe, und so weiter. Wie soll eine Sprachenpolitik mit einem solchen Präsidenten aussehen?
Auch bei uns ist die sowjetische Politik noch spürbar, dass damals die hervorragendste Elite, die das Ukrainische verteidigte, ins Lager geschickt wurde, und die Russifizierung stark vorankam. Besonders unter Schtscherbyzky in den 1970er Jahren, der die ukrainische Sprache aus dem offiziellen Gebrauch nahm, auch in der Partei.
Sind die ukrainische und belarussische Sprache durch ihre Nähe zum Russischen bedroht?
L.M.: Bei uns wird häufig nicht berücksichtigt, dass es einen Unterschied zwischen der individuellen Zweisprachigkeit und der staatlichen Zweisprachigkeit gibt. Wenn ein Mensch zwei Sprachen beherrscht, oder heutzutage oft auch drei, denn unsere Schüler und Studenten lernen ja auch intensiv Englisch, dann ist daran überhaupt nichts Schlimmes, im Gegenteil.
Die staatliche Zweisprachigkeit ist jedoch ein ausgesprochen negatives Phänomen, besonders, wenn sie so ausgeprägt ist wie bei uns, in einem postimperialen Raum, wo die gesamte Bevölkerung der Ukraine und Belarus‘ in der sowjetischen Zeit Russisch lernen musste, da andernfalls keine berufliche Karriere möglich war.
Diese Sprache verdrängte die lokalen Sprachen, so dass dieser Bilinguismus, wie sogar Wissenschaftler aus anderen Ländern bestätigen, ein Zustand des Ungleichgewichtes war, in dem ein ständiger Konflikt zwischen zwei Sprachen herrschte, da eine Sprache die andere Sprache aus deren heimischem Territorium verdrängen wollte. Ein solcher Konflikt wird nur durch den Sieg einer der beiden Sprachen gelöst, oder durch den Zerfall des Staates in zwei Teile, wie es beispielsweise in Belgien der Fall ist.
W.W.: Ich würde die regionale Betrachtung etwas eingrenzen. Wir sind in Mittelosteuropa, und für Mittelosteuropa ist staatliche Zweisprachigkeit etwas sehr Exotisches. Die einzige Ausnahme ist zum großen Leidwesen Lukaschenkas Belarus. Auch wenn Lukaschenka hundertmal sagt „Wir haben kein Sprachproblem, es wird uns untergeschoben“, so war er es doch selbst, der nach seinem durch populistische Losungen errungenen Wahlsieg 1994 die unausweichlichen Probleme beim wirtschaftlichen und politischen Aufbau eines jungen Staates gleichsetzte mit dem Sprachenproblem, als er nämlich sagte: All diese bewussten Menschen mit ihrer Sprache seien schuld an all diesen Problemen. Das Referendum begann er ausgerechnet mit der Sprachenfrage. Er verwirrte die Menschen und stellte eine die Identität betreffende Frage, was der damaligen Gesetzeslage nach bei einem Referendum eigentlich nicht zulässig war. Die Ergebnisse sollten nur beratenden Charakter haben, aber Lukaschenka entwickelte schon damals seine eigene Haltung zu Gesetz und Verfassung. Er betrachtete das Ergebnis als verbindlich und so wurden wir das einzige postsowjetische Land, und darüber hinaus auch das einzige mittelosteuropäische Land, mit zwei Staatssprachen – und die Folgen ließen nicht lange auf sich warten.
In komplizierten Situationen, wie der belarussischen, kann es eine Übergangszeit geben
Bereits 2007 nahm die UNESCO die belarussische Sprache in ihren unheilvollen Atlas der gefährdeten Sprachen auf, da der Prozentsatz der Menschen, die in den Folgegenerationen die Sprache von ihren Eltern oder in der Schule lernen würden, auf ein gefährliches Niveau gesunken war. Noch stehen wir auf der ersten Stufe der Bedrohung, aber vielleicht hat sich das seit 2007 auch schon geändert und wir sind in diesem bedrohlichen UNESCO-Atlas eine Stufe höher geklettert.
Der Status der Staatssprache bedeutet, dass ein Staatsbeamter verpflichtet ist, diese Sprache zu verwenden, dass der Staat verpflichtet ist, die Rechte dieser Sprache zu schützen, dass ich, als Belarussischsprachiger, das Recht habe, mich auf Belarussisch an jede beliebige staatliche Institution zu wenden, und auf Belarussisch eine Antwort erhalte. Nicht mehr und nicht weniger.
In komplizierten Situationen, wie der belarussischen, kann es eine Übergangszeit geben. In Kasachstan, wo der demokratische Charakter des politischen Systems zwar infrage steht, wird das Kasachische als Staatssprache beispielsweise für einige Zeit begleitet von Russisch als zweiter Amtssprache, das aber nicht Staatssprache ist. Allmählich, langsam, aber sicher, nähert man sich so einem Zustand, in dem die kasachische Sprache vollwertig und allgegenwärtig gebraucht wird.
Wenn Menschen, die sich für das Belarussische als einzige Staatssprache aussprechen, ein Hang zu Gewalt und Zwang nachgesagt wird, verfälscht das schlicht die Realität. Im Jahr 1990, als die Entscheidung getroffen wurde, Belarussisch zur alleinigen Staatssprache zu machen, beschloss man eine sehr sanfte Zeitschiene: fünf bis sechs Jahre, für das juristische Feld sogar zehn Jahre Zeit, um vollständig zur belarussischen Sprache überzugehen, unter Berücksichtigung der Ausbildung von Fachkräften, Entwicklung der Terminologie, Buchdruck, Übersetzung der Gesetzgebung. Hätte es 1994 nicht diesen populistischen Umsturz gegeben, hätten wir heute eine Situation ähnlich wie in der Ukraine. Diese Lehre sollten wir verinnerlichen und Fehler nicht wiederholen.
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Kultur und Krieg für Kinder
Als der Begriff „Putinjugend“ 2001 in russischen Medien aufkam, klang es nach einer maßlosen Übertreibung. Gemeint war die Organisation Iduschtschije Wmeste, aus der 2005 die Naschi(„sten“) hervorgingen. Es folgten weitere regierungsfinanzierte Jugendorganisationen – die „patriotische Erziehung“ zielte dabei zunächst vor allem auf die Bejahung des russischen Staats und der Regierungspolitik.
Das Feindbild eines arroganten und aggressiven Westens wurde mit den Jahren zunehmend zur wichtigsten Legitimationsgrundlage für das System Putin. Auch für die „patriotische Erziehung“ wurde das Feindbild Westen zentral. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine nimmt die Indoktrination noch mehr an Fahrt auf: Schulkinder im ganzen Land hissen montags die russische Flagge zu den Klängen der Nationalhymne und führen „Gespräche über wichtige Dinge“ – verpflichtende Unterrichtseinheiten, bei denen es um die „militärische Spezialoperation“ oder den „kollektiven Westen“ geht. In manchen russischen Kindergärten malen die Kleinen Schmetterlingsminen aus, in Kindermuseen gelten Soldatenfiguren als wichtigstes Spielzeug, auch in Kinderbuchverlagen landen gelegentlich Geschichten zum Thema Krieg auf dem Tisch.
Die Journalistin Lola Romanowa von The New Tab erklärt, wie bei russischen Kindern ein positives Bild des Krieges kultiviert wird und wie Verlage, Theater und Bildungseinrichtungen die Indoktrination vorantreiben.
„Ich werde glücklich sein, was auch immer kommen mag. Auch mit nur einem Bein! Ich werde jeden Tag glücklich sein, und nichts wird mich daran hindern können!“ Schauspieler Konstantin Selenski liest die Worte des Helden im Stück Radio-Pascha, eines Soldaten, der im Krieg ein Bein verloren hat. Die Premiere war am 13. November 2023 auf der kleinen Bühne des Jugend-Theaters TJuS in Sankt Petersburg. Es war eine Inszenierung des Theaters Kowtscheg (dt. Arche), ein „Theater für die ganze Familie“.
Das Stück Radio Pascha handelt davon, wie Pawel Lasarew aus Taganrog im Krieg in der Ukraine am Bein verletzt wird und es amputiert werden muss. In einem Sankt Petersburger Krankenhaus lernt er die Masseurin Ira kennen und erzählt ihr seine ganze Lebensgeschichte. Ira hat begonnen, mit Kriegsversehrten zu arbeiten, nachdem ihr Freund an die Front ging und sie vor der Kathedrale gebetet hat, dass er heil wieder zurückkommt – und sie dafür in der Zwischenzeit Soldaten hilft. „Gott segnet dich, und ich segne dich.“ Die Schauspielerin Ljudmila Manonina-Petrowitsch verhaspelt sich bei der Replik mit der Antwort des Priesters auf Iras Bitte um Segen. Dann tritt sie den Dienst im Krankenhaus an.
Die Farbwahl Rot hat damit zu tun, dass die Figuren „mit Blut arbeiten“
Das Stück beruht auf einer gleichnamigen autobiografischen Erzählung der Journalistin Irina Bugryschewa, die ehrenamtlich in Militärkrankenhäusern tätig war und dort Verletzte massiert hat.
Der Saal ist restlos ausverkauft: In den ersten Reihen sitzen die Teenager aus der Junarmija, und wer keinen Sessel mehr ergattert, hockt auf einer Decke direkt vor der Bühne. Bugryschewa, eine nette Frau mit Kurzhaarschnitt, sitzt in ihrem langen roten Kleid ebenfalls in der ersten Reihe.Drei Schauspielerinnen betreten die Bühne: Eine trägt rote Schuhe und Lippenstift im selben Farbton, eine andere einen roten Gürtel. Im Gespräch mit The New Tab erklärt Irina Bugryschewa diese Farbwahl damit, dass die Figuren „mit Blut arbeiten“.
Der Oberstufenschüler, der die jüngeren Junarmisten beaufsichtigt, schielt auf seine Digitaluhr und dreht langsam sein rotes Barett in den Händen. Er horcht auf, als die Hauptfigur auf der Bühne über die Weihnachtsspiele im Krankenhaus witzelt: „Väterchen Frost war schon da. Ein feiner Kerl! Aber lieber wäre mir Schneeflöckchen im kurzen Rock gewesen!“ Der Junarmist lächelt verständnisvoll.Bei der Inszenierung haben Irina Bugryschewas Kinder geholfen. Sie sind, wie sie sagt, seelisch darauf vorbereitet: Ihre 15-jährige Tochter besucht Verletzte im Krankenhaus, spielt für sie Gitarre und sorgt für „emotionale Entlastung“. Der jüngere Sohn geht in einen militär-patriotischen Club, in dem die Kinder Schützengraben-Lichter basteln, Tarnnetze knüpfen und Briefe an die Front schreiben. Er darf Pawel Lasarew als Kind spielen. Der Junge hat, wie Irina Bugryschewa erzählt, engen Kontakt zu den Kämpfern, denen sie Massagen gibt, weil sie sie nach der Entlassung aus dem Krankenhaus bei ihr zu Hause weiterbehandelt: „Danach trinkt er mit ihnen Tee. Goscha weiß, wie Männer ohne Beine aussehen, und er kennt die Prothesen, die bei uns im Flur stehen.“
Eine Frau bedauert, dass sie ihre Tochter nicht mitgenommen hat
Nach der Vorstellung hinkt der echte Pawel Lasarew auf die Bühne. Ihm folgt, mit Krücken, Dimitri Tereschenkow – der die Vorlage für die zweite Hauptperson in Bugryschewas Erzählung lieferte. Auch er lag, nachdem er im Krieg in der Ukraine ein Bein verloren hatte, in Sankt Petersburg im Krankenhaus. Mitte Oktober wurde er auf der Straße angegriffen, hörte: „Hey, Spezialmilitärler, komm her, ich brech dir das zweite Bein auch noch!“ Tereschenkow bedankt sich für das Stück und versichert, es mache ihm nichts aus, dass er ein Bein verloren habe. „Wir werden siegen“, sagt er zum Schluss. Der Saal applaudiert.
„Ein Held“, kommentiert ein Junarmist kurz bezüglich Pawel Lasarew, als ihn die Journalistin von The New Tab nach seiner Meinung zur Theateraufführung fragt. Eine Frau bedauert beim Hinausgehen, dass sie ihre Tochter nicht mitgenommen hat. Irina Bugryschewa findet, auf solche Veranstaltungen solle man Kinder im Vorhinein unbedingt vorbereiten. „Es genügt schon, wenn sie Samstagabend mit den Eltern in der Küche sitzen und Postkarten an einen lieben Frontsoldaten schreiben“, sagt sie zu Möglichkeiten der patriotischen Erziehung jener, die nicht so nah dran sind am Thema Krieg wie Junarmisten oder ihre beiden Kinder.
Im Laufe des Stücks wird mehrmals wiederholt, dass die Kämpfer zu Hause freudig erwartet werden, auch ohne Arme und Beine: „Nichts ist umsonst, man kann auch ohne Beine leben und glücklich sein. Es ist ein anderes Leben, aber genauso glücklich, weil es echt ist. Ich wünsche mir, dass alle das Gefühl haben, eine große Familie zu sein, ganz Russland. Wir schaffen das“, spricht auf der Bühne die Schauspielerin Manonina Petrowitsch voller Überzeugung.
Allerdings hat sogar die Autorin der zugrundeliegenden Erzählung einige Zweifel an der Einigkeit des Landes:
„Vonseiten Russlands, des Großen Russlands, war auf der anderen großen Bühne des Jugendtheaters TJuS Gouverneur Alexander Beglow anwesend und überreichte den Sankt Petersburger Theaterpreis Solotoi sofit. Für uns ist das paradox, denn während wir von Helden der Gegenwart erzählen, von Helden der militärischen Spezialoperation, bekommen andere, viel oberflächlichere, Stücke die Preise“, sagt Bugryschewa enttäuscht. „Bei uns weinen Helden der Spezialoperation im Publikum, da sitzen die Kinder aus den militär-patriotischen Clubs mit ihren Lehrern, die Tag und Nacht Tarnnetze für die Front knüpfen. Es ist das erste Stück über die Spezialoperation in der Oblast Leningrad, und dann geht es so unter. Keinen interessiert’s.“
Hefte über „Helden der militärischen Spezialoperation Russlands in der Ukraine“
Vom Heldenmut der Krieger in der militärischen Spezialoperation handelt auch Kinderliteratur, die in anderen Regionen Russlands geschrieben wird. Denis Kowalenko, Lehrer für Kunst und Literatur aus Lipezk, hat bereits vier Geschichten über den Krieg in der Ukraine veröffentlicht, in Kooperation mit einer Zeitschrift der Rosgwardija mit dem Titel Na bojewom postu (dt. Auf dem Posten). Zuvor, im Juni 2022, publizierte die Rosgwardija auf ihrer Website drei Comics über die Verteidigung der fiktiven Megapolis Dubrawa. Den Schutz der Bevölkerung gegen die Angreifer übernimmt darin die Lesgwardija – ein Kampftrupp vermenschlichter Tiere.
Interessant ist, dass diese Zeitschrift der Rosgwardija seit 2020 gemeinsam mit dem orthodoxen Verlag Duchownoje preobrashenije (dt. Geistige Verwandlung) unter dem Titel Bessmertny polk (dt. Unsterbliches Regiment) eine Reihe patriotischer Erzählungen für Kinder herausgibt. Das sind schmale Heftchen über Helden des Ersten und Zweiten Weltkriegs, des Afghanistan-Kriegs und des Syrien-Konflikts – und 2023 kamen vier Hefte über „Helden der militärischen Spezialoperation Russlands in der Ukraine“ dazu.
Eines der Exemplare heißt Alexander Potapow – Heldentot für Russland: Hauptsache, ihr lebt. Russlands militärische Spezialoperation in der Ukraine. Es spielt in der ukrainischen Stadt Isjum, die sich unter Kontrolle der russischen Streitkräfte befindet, und handelt von einer namenlosen 13-Jährigen und ihrem Vater. Er ist überzeugter Anhänger der ukrainischen Seite des Konflikts, während seine Tochter eine prorussische Position einnimmt und ihm zum Vorwurf macht, dass er nicht in den Krieg ziehe, sondern nur auf die Russen schimpft. „Sie versorgen uns kostenlos mit Brot, Nudeln und Konserven, sie meinen es gut mit uns“, beteuert das Mädchen. Als sie zum Einkaufen auf dem Markt unterwegs ist, beginnt ein Bombenangriff. Der Soldat Alexander Potapow wirft sich schützend auf sie, wird verletzt und stirbt im Lazarett. Der weitere Verlauf des Stücks erinnert an die sowjetische Geschichte von Pawel Morosow: Das Mädchen gesteht einem russischen Offizier, dass ihr Vater den Ukrainern am Telefon Tipps gibt und dass sie beobachtet hat, wie danach Raketen abgeschossen werden. Sie bringt den Offizier zu sich nach Hause.
Das Epigraph aus dem Evangelium erinnert daran, dass an der Publikation der Erzählung ein orthodoxer Verlag mitgewirkt hat: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.“
Politische Tiermärchen: Bär, Wolf, Schakal und Hyäne
Die Comics der Rosgwardija sind nicht die einzigen Beispiele, in denen Kindern das Thema Krieg anhand von Tieren erklärt wird. 2022 wurde in Tscherkessk mit Unterstützung des Präsidentenfonds für Kulturinitiativen das Puppentheaterstück Wie der Bär den Wald vor den Wölfen beschützte aufgeführt. Vorlage war ein Märchen von Assja Bairamukowa aus Karatschai-Tscherkessien.
Die Handlung spielt auf den Krieg in der Ukraine an: Ein Schakal und eine Hyäne „aus Übersee“ reden den Wölfen ein, dass sie – die Wölfe – die Chefs im Wald seien. Daraufhin kündigen diese dem Bären die Freundschaft und überlegen, wie sie den Wald angreifen könnten. Der Bär spricht sie darauf an und erklärt den „Ehrlosen“, dass man sich so nicht verhalten dürfe. Die Wölfe sehen ihren Fehler ein und gehen nach Hause.
„Die Schakale sind in unserem Fall die Länder des Westens. Der Bär ist Russland, ein gutmütiges, starkes Land, das versucht, dem Westen Paroli zu bieten und für Benachteiligte einzustehen. Die Wölfe symbolisieren nicht nur die Ukraine, sondern im Licht der jüngsten Ereignisse auch jene Länder, die uns früher freundlich gesinnt waren, aber jetzt zweifeln und sich nicht festlegen können, ob sie zum Westen oder zu uns halten wollen“, erklärt ein Mitwirkender des Theaters, der nicht namentlich genannt werden will. Auf die Frage nach der Auswahl der Charaktere fügt er hinzu: „Putin ist Russland.“
Kinderbuchverlage stehen nicht im politischen Fokus – sie sind relativ frei von Ideologie
Laut Alexej Oleinikow, Schriftsteller und Chefredakteur der Zeitschrift Perepljot für Kinder- und Jugendliteratur, gibt es bisher nicht viele mit Kriegsideologie aufgeladene Texte für Kinder. Er meint, das könne daran liegen, dass sich der Staatsapparat selbst gegen das Geschehen wehre. Oleinikow findet, dass die Beamten zu wenig Position beziehen. Einerseits müsse man ihnen die Kriegsideologie aufzwingen, andererseits habe darauf kaum jemand Lust: „Vom Zustand des Friedens zur Vorstellung einer belagerten Festung übergehen – das wollen die Menschen nicht“, ist er überzeugt. „Alle wollen Stabilität und Ruhe.“ Alexej Oleinikow meint, wegen des „passiven Widerstands des Apparats“ und weil sie nicht im politischen Fokus stehe, sei die Kinderliteratur noch frei von Ideologie.
Er hält es für möglich, dass es in ein paar Jahren massenhaft Kinderliteratur zum Krieg in der Ukraine geben werde, wenn sich ein „typischer Held mit Wiedererkennungswert“ herausgebildet habe, der kampferprobt von der Front zurückkehre.
Dass solche Werke patriotische Gefühle auslösen können, bezweifelt Oleinikow. Mit Büchern allein kann man seiner Meinung nach das Weltbild eines Kindes nicht verändern, immerhin leben wir im Informationszeitalter, es gebe sehr viele und sehr unterschiedliche Quellen.
Dem Schriftsteller zufolge kommen immer wieder Erzählungen für Kinder in die Verlage, die in der Kampfzone spielen. Sie werden allerdings selten veröffentlicht. In der Regel, räumt Oleinikow ein, fürchten die Verlage um ihren guten Ruf und lehnen deshalb solche Texte ab.
Soldatenfiguren als wichtigstes Spielzeug
An den Schulen wird das Thema Spezialoperation seit 2022 aktiv vorangetrieben. Im September 2023 wurde begonnen, das ABC über das Wichtige an die Schüler der Regionen zu verteilen, eine Broschüre des Fonds zur Entwicklung sozialer Initiativen. Jeder Buchstabe des Alphabets steht für ein „patriotisches Wort“. B wie Bruderschaft, zum Beispiel, dazu die Losung: Wir lassen die Unseren nicht im Stich!
Seit Beginn des Ukrainekriegs gibt es die Soldaten der Spezialoperation auch als Spielzeugsoldaten. Irina Metjolkina, die das Museum der Kindheit in Wologda gegründet hat, träumt davon, dass solche Spielsachen in den Schulen Verwendung finden.
Am Tag der nationalen Einheit im November 2023 wurde in ihrem Museum unter dem Titel Was ist das wichtigste Spielzeug eine Ausstellung mit sowjetischem Kriegsspielzeug eröffnet, die vom Präsidentenfonds für Kulturinitiativen mit zwei Millionen Rubel gefördert wurde. Zu der Ausstellung kamen Sammler und Hersteller von Soldatenfiguren, auch denen der Spezialoperation.
Irina Metjolkina findet, das wichtigste Spielzeug seien eben Soldatenfiguren, das sei schon zu Sowjetzeiten bewiesen worden: „Die Jungen eigneten sich damit wichtige männliche Qualitäten wie Mut und Tapferkeit an. Sie eiferten ihren kleinen Verteidigern nach. Nicht umsonst gibt es die Ansicht, dass die Generation der 1930er Jahre unser Vaterland 1941 deswegen so gut verteidigen konnte, weil sie mit einer Menge Kriegsspielzeug aufgewachsen ist.“ Zwischen sowjetischem und heutigem Kriegsspielzeug bestehe trotzdem ein Unterschied, räumt sie ein: In der Sowjetunion gab es keine Gegnerfiguren, „um keinen Hass gegen andere Nationen zu schüren“.
„Knirpse aller Länder, entwaffnet euch!“
Einer der Hersteller von „Spezialoperations-Soldaten“, die in der Ausstellung zu sehen sind, ist das russische Studio WyZOV , das sich als „Front der Mobilisierungsminiatur“ präsentiert. Noch umfasst ihre Kollektion nur Mariupoler Marineinfanteristen und Hostomeler Fallschirmspringer. Der Journalistin von The New Tab gelang es, sich mit dem Studio in Verbindung zu setzen, eine Projektpräsentation zu bekommen und ein Telefongespräch zu vereinbaren, doch dann machte der Mitarbeiter namens Nikolaj mit der Begründung, er habe das erste Interview dem staatlichen Fernsehen versprochen, einen Rückzieher.
In der Projektpräsentation wird die Frage aufgeworfen, ob die „Propaganda der Abrüstung“ Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre „Dummheit oder Verrat“ gewesen sei. Und es wird das Cover einer Ausgabe der Zeitschrift Ogonjok aus dem Jahr 1990 angeführt, auf dem das Foto eines Kindes auf dem Roten Platz in Moskau vor einem Tisch mit Flaggen verschiedener Länder zu sehen ist. Mit fetter roter Schrift steht darüber: „Knirpse aller Länder, entwaffnet euch!“ Der Schriftsteller Grigori Oster rief in diesem Ogonjok die sowjetischen Kinder dazu auf, ihr Kriegsspielzeug loszuwerden und einen „Vertrag über die kindliche Abrüstung“ zu unterzeichnen. Unter Osters Führung wurde das Zentrum „Abrüstung der Kinder“ ins Leben gerufen: Kinder schrieben Briefe und motivierten einander dazu, militärische Spielsachen wegzuwerfen. „Kanonen gibt es schon zu viele, wir wollen lieber schöne Spiele“, zitierte Ogonjok aus dem Brief eines Achtjährigen.
„Das ist prowestliche Abrüstung“, sagt Irina Metjolkina. Sie hofft, dass Kriegsspielzeug bei Kindern wieder mehr Beliebtheit erlangt, sonst „wollen die Jungs nicht mehr zur Armee und ihr Vaterland verteidigen“.
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„Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung“
Die Cyberpartisanen haben die offizielle Webseite des belarussischen KGB gehackt und konnten dabei Datenbanken erobern, darunter auch rund 40.000 Nachrichten, die von 2014 bis 2023 über die Website an den Geheimdienst gesendet wurden. Belarussische Medien haben diese Nachrichten durchforstet und dabei Denunziationen ausfindig gemacht, in denen Menschen andere beim KGB anschwärzen. Es sind nicht nur Belarussen, die ihre Landsleute denunzieren, sondern auch Russen oder sogar EU-Bürger, die sich mit Vorwürfen, Verdächtigungen und Handlungsaufforderungen an die Geheimdienstler wenden.
Der Historiker Aljaxandr Paschkewitsch meint, dass „das Ganze zunächst systematisiert“ werden müsse, um allgemeine Schlussfolgerungen aus den Funden ziehen zu können. Es sei jedoch klar, dass es sich bei der Mehrheit nicht um eindeutige Denunziationen handeln würde, sagt Paschkewitsch. Die Redaktion der Online-Plattform Nasha Niva hat recherchiert, dass es sich beim weitaus großen Teil der Nachrichten um Spam handelt, dazu kommen Meldungen von Menschen, die offensichtlich psychisch krank sind, und zahlreiche Anfragen von Menschen zu Verwandten und Bekannten, die in der Zeit des Großen Terrors verschwunden sind, oder zu Menschen, die nach den Protesten von 2020 festgenommen wurden. „Es ist schwierig, eine konkrete Zahl der tatsächlichen Denunziationen von Belarussen zu nennen, eine manuelle Zählung wäre erforderlich.“ Höchstwahrscheinlich übersteige ihre Zahl, schätzt Nasha Niva, nicht 1000 bis 2000 Nachrichten.Igor Lenkewitsch vom Online-Medium Reform hat sich eine Auswahl an Denunziationen genauer angeschaut. Darunter viele Hinweise auf Menschen, die während und nach den Ereignissen von 2020 die weiß-rot-weiße Protestsymbolik verwendeten, die mittlerweile verboten ist, aber vor allem auch Nachrichten von Leuten, die Kollegen oder Nachbarn offensichtlich eins auswischen wollten, und sogar ein Angebot von einer Initiative, die sich mit einem absurden Plan dem KGB andienen wollte.
Nachbarn, Kollegen, Mitbewohner
„Ich möchte der Organisation zur Terrorismusbekämpfung mitteilen, dass *** im staatsnahen Einkaufszentrum Korona im Restaurant Amsterdam arbeitet, die die weiß-rot-weiße Bewegung vorbehaltlos unterstützt, ihr Profil auf Facebook heißt ***, solche Menschen sollten nicht in Unternehmen der Republik Belarus arbeiten.“
Diese Anzeige wurde eindeutig von einem oder einer Bekannten erstattet. Oder einem Kollegen, einer Kollegin. Vielleicht sind sie aneinandergeraten, waren sich uneinig über das Speisenangebot oder darüber, wie die Kunden zu bedienen seien? Wir können nur raten. Aber hier ist sie, die Anzeige, und zwar nicht irgendeine, sondern bei der Organisation zur Terrorismusbekämpfung. Wenn schon, denn schon.
Hier das Schreiben einer Dame aus Baranowitschi: „In unserem Büro arbeiten unter anderem *** und ***, die seit Juli/August 2020 bis heute während der Arbeitszeit Nachrichten aus extremistischen, staatsfeindlichen Quellen besprechen, sich aggressiv gegen den Präsidenten und die Regierung äußern, auf widerliche und zynische Weise die Staatssymbolik beleidigen und gehässig und boshaft die staatlichen Sicherheitsstrukturen und Strafverfolgungsbehörden durch den Dreck ziehen. Im Herbst letzten Jahres brüsteten sie sich unverhohlen mit ihrer Teilnahme an nicht genehmigten Weiß-Rot-Weiß-Demonstrationen.“
Und hier noch die Denunziation einer Staatsbürgerin, die sich nicht als „Petze“ empfindet: „Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich einen Mann kenne, der die Situation in Lida destabilisieren will. Er ist weiß-rot-weiß gesinnt und vor ein paar Tagen, soweit mir bekannt, aus dem Ausland eingereist. Was er dort macht, weiß ich nicht, aber er hat eine Summe von über 15.000 Euro mitgebracht. Ich weiß, er hat Geldkarten von europäischen Banken. Ich bin mir sicher, so provokativ wie er eingestellt ist, dass dieses Geld den smahary zugute kommen wird. Ich bitte Sie sehr, diesen Mann zu überprüfen, weil das zu Unruhe führt. Ich weiß, dass er zu Demonstrationen geht, in seinem Mobiltelefon werden Sie genügend Informationen finden. Ich habe mich nie für eine, entschuldigen Sie die Wortwahl, Petze gehalten, aber ich mache mir große Sorgen um die Zukunft meines Landes und der Kinder.“ Es folgen die Daten der Person, gegen die sich die Anzeige richtet. Natürlich ausschließlich aus Sorge „um die Zukunft“.
Weiter geht’s. Der Direktor der *** GmbH namens – vollständiger Name – „beschäftigt Anhänger der weiß-rot-weißen Bewegung, die aus dem Belarussischen Metallurgiewerk BMS entlassen wurden. Normale Leute nimmt er nicht. Wir bitten, Maßnahmen zu ergreifen und das zu klären.“ Man kann davon ausgehen, dass diese Anzeige von so einem „Normalen“ stammt, der sich beworben hatte und der, aus welchen Gründen auch immer, abgeblitzt ist. Woraufhin er das einfach so hingeschmiert hat.
Sie führt ein Doppelleben, und ich halte das für Verrat
Auch Nachbarn lassen sich zu Denunziationen hinreißen. Zum Beispiel ein Minsker aus der Prityzki-Straße: „Guten Abend. An der Adresse *** wird eine Wohnung an verdächtige Leute vermietet. Immer wieder hängen sie weiß-rot-weiße Fahnen auf und laden Gäste ein, die laut sind. Ich bitte, diese Wohnung und ihre Mieter zu überwachen. Und den Vermieter zur Rede zu stellen.“ So sind die Methoden im Kampf gegen lärmende Nachbarn.
Und auch das kommt aus Minsk, von wachsamen Nachbarn in der Rafijew-Straße: „Wir melden Ihnen, dass die beiden in der Wohnung Nr. *** wohnenden Frauen, von der die eine *** heißt und die jüngere ihre Tochter *** ist, Verachtung für die vom Präsidenten der RB [Republik Belarus – dek] durchgeführte Politik äußern, andere dazu anstiften, Unzufriedenheit kundzutun und abends zu Protestaktionen im Hof einladen.“
Nein, wir haben natürlich nicht das Jahr 1937. Die Nachbarn denunzieren nicht, um das Zimmer in der Kommunalka zu bekommen, das nach der Verhaftung der Beschuldigten frei wird. Die Wohnung Nr. *** wird ihnen keiner zusprechen, und das wissen sie. Ist ihr Motiv also der gute alte Klassenhass?
Hier geht es um beinah verwandtschaftliche Beziehungen: „Guten Tag! Meine Aufgabe ist, Folgendes mitzuteilen, was Sie mit der Info machen, ist Ihre Sache. Die Schwester meines Mitbewohners *** ist Staatsbürgerin der RB und arbeitet seit zehn Jahren in Belgien. Sie ist Programmiererin. Sie lebt jetzt mit ihrem Chef zusammen. Meinem Mitbewohner zufolge ist es ihr gemeinsamer Job, Informationen zu sammeln und zu verkaufen. Sie kommen immer einmal im Jahr hierher, dieses Jahr zweimal. Wir unterhielten uns, und offenbar ist sie eine glühende Russophobin, Anhängerin der weiß-rot-weißen Sekte und aller faschistischen Führungsmethoden, die in der Ukraine zur Anwendung kommen. Das letzte Mal waren sie ungefähr vom 7. bis 11. Dezember da.“ Diese Bürgerin verdächtigt also die Schwester ihres Mitbewohners, Spionage zu betreiben. Was sie eilig den Behörden meldet.
Und hier eine sehr traurige Geschichte: eine Denunzierung der Ex-Freundin. Die Anzeige ist lang, daher fasse ich sie zusammen und füge Zitate ein. „Guten Tag. Ich halte es für meine Pflicht, Sie über eine gewisse Person zu informieren“, eröffnet der Verfasser sein Opus. Er erzählt von einer Journalistin der staatlichen Medien, die „seit dem 18. August 2020, wie auch ihre Verwandten, an Demonstrationen teilnahm. Aus Gründen lebten wir zusammen, und nach den Wahlen am 9. August, als alles begann, verbat ich ihr, etwas auf die Straße zu gehen. Aber sie hat nicht auf mich gehört.“
„Bald sprach sie nach der Arbeit immer öfter davon, dass alles schlecht sei und man etwas unternehmen müsse. Am 12. Dezember 2020 fing sie sehr schnell und nervös davon an, dass wir dringend nach Piter müssen, weil alles ganz schlimm sei und keiner wisse, wie das weitergehe. Ich beschloss, mit ihr auszureisen. Immerhin war sie meine Freundin. Wir holten ihre Tochter, und am 26. Dezember brachte ich uns alle auf illegalem Weg nach Piter. Im Nachhinein ist mir klar, dass das ein riesiger Fehler war. So lebten wir bis April. Der Umzug nach Piter kostete mich enorm viel Geld, das ich mir geliehen habe und immer noch schulde. Doch im April fingen wir an zu streiten, sie ging zurück nach Belarus, und Ende Juni sah ich sie wieder im Fernsehen. Das fand ich sehr unangebracht, weil sie ja für die Opposition eintritt. Und mir wurde natürlich klar, dass sie mich einfach vorübergehend für ihre Zwecke benutzt hat. Sie führt ein Doppelleben und ich halte das für Verrat.“
Dann fügt der Verfasser hinzu, dass er bereit sei, „als Zeuge auszusagen, wenn nötig, unter Anwendung eines Lügendetektors.“ Er mache das nicht „aus Rache, weil wir getrennt sind, sondern weil ein Mensch für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden und dafür einstehen muss“. „Außerdem habe ich ihretwegen gesundheitlichen und finanziellen Schaden erlitten (hohe Schulden) und meine psychische Stabilität eingebüßt. Ich bitte, in dieser Angelegenheit für Gerechtigkeit zu sorgen. Danke.“
Die Leute, die diese Anzeigen schrieben, gingen wahrscheinlich davon aus, dass die Schriftstücke geheim bleiben würden. Aber dann kam es anders. Die Lustrationen von Seiten der Hacker begannen unerwartet früh. Das ist aber alles nur die Spitze des Eisbergs: Obige Denunziationen wurden allein anhand des Suchbegriffs „weiß-rot-weiß“ in der Datenbank gefunden. Mit anderen Suchbegriffen kann man bestimmt noch viel Aufschlussreiches ausheben. Aber das Grundmotiv ist klar. In diesen konkreten Fällen braucht man nicht anzufangen, über den Grad der ideologischen Spaltung der Gesellschaft nachzudenken – in meinen Augen ist das ganz banale Rache.
Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen
In anderen Fällen darf man ideologische Motive jedoch nicht ausschließen. Manchmal wenden sich idealistische Bürger sogar mit konkreten Anregungen und Empfehlungen an den KGB. So schlägt hier ein Genosse noch härtere Maßnahmen vor: „Wenn im Gefängnis kein Platz mehr ist, bringt sie doch in Militärkasernen und lasst sie die Drecksarbeit machen, Minderjährige eingeschlossen.“
„Die Verletzten sollten am besten einzeln weggesperrt werden, denn gerade für Fotos mit Zusammengeschlagenen gibt es gutes Geld. Außerdem braucht es Höchststrafen für bezahlte Demonstranten und finanzielle Anreize für Leute, die aktiv jede Aktivität der Weiß-Rot-Weiß-Bewegung unterwandern“, raten andere. Wieder andere bieten schlicht ihre Dienste als Spitzel an: „Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen, mit ihrer weiß-rot-weißen Fascho-Symbolik. Deshalb bin ich bereit, bei Bedarf Informationen weiterzugeben, die Ihnen, den Wächtern des Vaterlands, dabei helfen, das Land vor dem Verfall zu retten, damit es nicht wird wie … in der Ukraine zum Beispiel … Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung. Bitte geben Sie meine Adresse nicht weiter. Ich befürchte Konspiration. Danke Ihnen für alles! Allein schon dafür, dass ich mich mitteilen konnte.“
Mit Kuhmist gegen Proteste
Eine Bürgerinitiative hat dem KGB sogar einen detaillierten Plan „zur endgültigen Unterbindung bezahlter Demonstrationen“ vorgelegt. Sie nennen das Projekt Operation Pastuschok (dt. kleiner Hirte) und behaupten, es sei „bestens auf die Mentalität unserer Landsleute zugeschnitten, überaus einfach und rentabel“. Diese Initiative verdient eine eingehendere Betrachtung. Für die Umsetzung ihres Vorhabens benötigen die Verfasser 50 Kühe, eine zwanzigköpfige Menschengruppe und Tierfutter. Die Menschen sollen „die Zunge im Zaum halten können und dabei freundlich sein, insbesondere gegenüber Journalisten. So sollen dann eines schönen Morgens in der Nähe des Unabhängigkeitsplatzes 50 Kühe unter Aufsicht von fünf bis acht Menschen auftauchen, „die die Rolle der Landwirte übernehmen". Sobald sich die bezahlten Demonstranten auf dem Platz versammeln, soll sich die Herde in deren Richtung bewegen.
Ein Wort an die Planer: „Die Bauern sollen mit polnischen weiß-rot-weißen Flaggen laufen und höhere Löhne, den Bau eines großen landwirtschaftlichen Betriebs sowie einer Molkerei fordern. In regelmäßigen Abständen sollen vier bis fünf Personen Futter für die Kühe bringen. Die wütenden Bauern sollen die Demonstranten so weit wie möglich einbeziehen, um beim Verteilen von Heu und Füttern der Kühe zu helfen. Danach ist es an der Zeit, die Kühe zu melken, woran sich die Demonstranten ebenfalls beteiligen sollen. Für ihre Mitarbeit bekommen sie kostenlos leckere, noch warme Milch. Nach einer Weile werden die Kühe anfangen, auf den Platz zu scheißen. Wenn die Demonstranten sich nicht daran stören, bleibt der Kuhmist einfach liegen und wenn doch, dann sollen die Bauern den Demonstranten Schneeschaufeln geben und sie der Reihe nach die Fäkalien auf einen Haufen schaufeln lassen. Die Polizei soll davon KEINE Notiz nehmen.
Die wütenden Bauern sollen darauf hinweisen, dass sie keine Zeit zum Putzen haben. Eine der Kühe könnte man im Laufe der Aktion zusammen mit den Demonstranten weiß-rot anmalen und die Demonstranten dazu ermuntern, sich mit ihr fotografieren zu lassen. Diese Kuh wird so für ein paar Tage zum Symbol der Demonstranten.
Der Überraschungseffekt: Die gemeinsame Arbeit bewirkt einen Schulterschluss der wütenden Bauern mit den Passanten. Zunächst werden die Demonstranten das Geschehen mit Interesse verfolgen, bis sie irgendwann durch Kuhmist laufen müssen in typisch würziger Landluft. Dann ist der Moment gekommen, den Demonstranten seitens der Stadtverwaltung vorzuwerfen, dass sie sich nicht nur wie Schafe benehmen, sondern wie eine ganze Viehherde. Man kann sie zum Beispiel beschuldigen, dass sie die Hauptstadt zuscheißen oder spontan andere Vorwürfe gegenüber den Demonstranten und ihren Organisatoren erfinden. Das Ergebnis: Die bezahlten Demonstranten werden sich weigern, weiterhin für 30 Dollar Honorar durch Scheiße zu laufen und sich die Kleidung dreckig zu machen. Entweder werden sie Geld von den Organisatoren fordern oder weggehen. Oder man könnte mit Hilfe der Kühe ganz aus Versehen die aktivsten Demonstranten von den Plätzen wegdrängen.
Denkbar ist, dass die Organisatoren den Demonstranten dann ein höheres Honorar zahlen oder sie an einen anderen Ort schicken. Die ‚wütenden Bauern‘ sollen dann ebenfalls den Ort wechseln und den bezahlten Demonstranten folgen – und hier kommen nun die anderen Leute aus der Gruppe ins Spiel, die diskret als Informanten fungieren und vorgeben, wohin sie die Herde treiben sollen. Die Kundgebung der Opposition wird mit dem Geruch von Scheiße assoziiert in Erinnerung bleiben. Fazit: Mit Ihrer Erlaubnis wird die Pastuschok-Methode zum ersten Mal in der Geschichte der Farbrevolutionen dazu beitragen, die Pläne der Übeltäter und Landesverräter endgültig unschädlich zu machen.“
Weiterhin bekunden die Autoren des Konzepts ihre Bereitschaft, „zum Wohle unseres Staatsoberhaupts und unseres Belarus persönlich und unentgeltlich an dieser Aktion teilzunehmen.“
Kaum auszudenken, was aus Minsk geworden wäre. Was soll man von diesem Vorschlag halten? Ist das eine ernstgemeinte Initiative „von unten“ oder ein erstklassiger Fake? Mit solchen Verbündeten braucht man jedenfalls keine Feinde. Man muss ihnen nur die Initiative überlassen. Und nein, ich weiß nicht, warum so viele Denunzianten nicht ordentlich schreiben können. Wobei das viel aussagt.
Das Ganze wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Dabei ist es nicht einmal so wichtig, ob die Denunziationen aus Liebe zum Regime oder aus persönlichen Rachegelüsten heraus erfolgen. Fest steht, dass sie unter den Bedingungen der anhaltenden Repressionen immer zahlreicher werden. Wahrscheinlich haben die Optimisten recht, und wir befinden uns noch nicht im Jahr 1937. Aber wo dann? Anfang der 1930er?
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Debattenschau № 91: Jelzin, die Oligarchen und die Sünden der 1990er
Mit einer Serie einstündiger Videos haben Mitstreiter Alexej Nawalnys vom Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) eine heftige Debatte über das Erbe der 1990er Jahre in Russland ausgelöst. Im Kern geht es um die Frage, wann die Weichen für den Weg in Richtung Korruption, Manipulation und Autoritarismus gestellt wurden und wer die Schuld dafür trägt, dass sich Russland nach dem Ende der Sowjetunion nicht zu einem demokratischen Rechtsstaat entwickelte. In seinem letzten programmatischen Aufsatz aus dem Straflager hatte Nawalny im August 2023 voller Wut Boris Jelzin, seine Familie und die Oligarchen der frühen Jahre dafür verantwortlich gemacht, dass Selbstbereicherung und Machterhalt über demokratische Prinzipien triumphierten. In den Videos sitzt nun Maria Pewtschich – die Direktorin von Nawalnys Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) – in einer Wohnung, die mit Möbeln und Accessoires der 1990er eingerichtet ist – und kommentiert Filmausschnitte und Dokumente.
Die Debatte um die Fehler der 1990er Jahre ist nicht neu. Aber sie wird vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse immer wieder neu geführt. Diesmal mit großer Heftigkeit. Denn es geht auch um die Verwicklung heutiger Regimegegner, die damals zu Jelzins Netzwerk aus Macht und Geld gehörten und im Gefängnis landeten oder ins Exil gingen, wie etwa Michail Chodorkowski. Während die einen sagen, es sei wichtig, die Fehler der Vergangenheit zu benennen, um sie nicht zu wiederholen, bemängeln andere, angesichts des Krieges gegen die Ukraine sei jetzt nicht die Zeit für Streit. Stattdessen müsse die Opposition geeint auf ein Ende des Krieges und des Regimes hinarbeiten.
Was bedeutete Demokratie im postsowjetischen Russland?
Der Politikwissenschaftler Wladimir Gelman vertritt die Ansicht, dass nie der Weg zu einer echten Demokratisierung eingeschlagen wurde:
[bilingbox]Die Debatte über die 1990er Jahre in Russland läuft […] letztlich auf die Frage nach den Anfängen des derzeitigen politischen Regimes hinaus: War das Land in den 1990er Jahren auf dem Weg zur Demokratie, und dann kam Putin und ruinierte alles? Oder war nach dem Zusammenbruch der Kommunistischen Partei nie von einer Demokratisierung auch nur die Rede?
In meinem Buch Awtoritarnaja Rossija (dt. Das autoritäre Russland) wird die zweite Sichtweise ausführlich dargestellt. Demzufolge lässt sich der politische Prozess im postkommunistischen Russland zusammenfassen mit einem Satz von Anatoli Sobtschak: „Jetzt sind wir an der Macht – und das ist Demokratie“.~~~Спор о 1990-х годах в России, […] в конечном итоге сводится к вопросу об истоках нынешнего политического режима. Действительно ли (1) в 1990-е страна двигалась к демократии, а потом пришел Путин и все испортил или же (2) изначально после краха КПСС ни о какой демократизации не было и речи. В моей книге «Авторитарная Россия» довольно подробно представлена вторая точка зрения. Предельно огрубляя, политический процесс в посткоммунистической России, согласно этой точке зрения, можно суммировать фразой Собчака на с.7 книги – «мы теперь у власти – это и есть демократия».[/bilingbox]erschienen am 17.04.2024, Original
Jelzins Regierungszeit war bestimmt vom Kampf gegen die Geister der Vergangenheit
Der Journalist Sergej Parchomenko vermisst in Pewtschichs Videos die sozialen und gesellschaftlichen Hintergründe, vor denen sich die Ereignisse abspielten:
[bilingbox]Die ganze Geschichte mit Jelzin und seiner Regierungszeit begann nicht im luftleeren Raum, sondern knüpfte unmittelbar an eine jahrzehntelange Odyssee: Sowjetmacht, kommunistische Diktatur, eine durch diese Diktatur verunstaltete und gequälte sowjetische Gesellschaft, eine absurde politische Maschinerie ohne funktionierende staatliche Institutionen und eine von sozialistischer Idiotie erdrückte Wirtschaft, die in keinem Bereich funktionsfähig war. Das Ganze hat sich bis zur letzten Minute im Kampf genau dagegen entwickelt und war der Logik dieses Kampfes untergeordnet. Nein, nicht bis zur letzten Minute: Fairerweise müssen wir festhalten, dass es eine späte Periode der Schande gab, als Jelzin die Macht bereits völlig aus den Händen geglitten war und er sie einer Gruppe übergeben hatte, die nur getrieben war von Angst um ihre eigene Zukunft, von dem alleinigen Wunsch, wohlhabend aus der Herrschaft hervorzugehen und ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten.
All diese Grundlagen sind in dem Film Verräter zu sehen. Nicht als Begleitumstände, sondern eben als tragende Grundlage. Doch die Autoren und die Erzählerin schauen das an und merken irgendwie nichts. Ringsum verschwommene Gesichter und Menschen unklarer Herkunft.
Wer sind die alle?
Das sind die, denen die russische (5 Minuten zuvor noch sowjetische) Wirtschaft in dem Moment gehörte, als Abramowitsch und Beresowski und Jelzins ganze Mannschaft auf der Bildfläche erschienen. Sie sind die Verkörperung des sowjetischen Systems, ja, die personifizierte sowjetische Macht. Sie verschwanden nicht, sie lösten sich nicht auf, sondern sie wehrten sich vehement gegen jede Veränderung, forderten ihren Löwenanteil und gaben ihre Positionen nur in einem erbitterten Kampf auf.
Heutzutage wären solche Verweise auf das „sowjetische Erbe“ und die „verfluchten 90er Jahre“ die reinste Lüge und zynische Heuchelei: Denn von der UdSSR trennen uns 35 und von der „Phase der ursprünglichen Akkumulation“ der 1990er immerhin 30 Jahre.
Jelzins Periode folgte unmittelbar auf die sowjetische, ohne Pause, dauerte weniger als ein Jahrzehnt und wurde zu einer einzigen Preiskatastrophe mit einem Ölpreis von acht bis zehn Dollar pro Barrel und einem Bezwingen der volkswirtschaftliche Katastrophe.
Die Gesellschaft forderte eine Befreiung, eine Überwindung der sowjetischen Vergangenheit. Sie forderte kein Verbot der KPdSU, keine Lustration. Die Menschen forderten Reformen, die ihnen Hoffnung auf mehr Konsum gaben: Sie wollten Lebensmittel, Kleidung, Wohnungen, Autos, Geschirrspülmaschinen, Urlaubsreisen, Bücher und Filme, Waschmittel, ohne dafür anstehen zu müssen, sauberes Wasser in Flaschen und frisches Bier aus dem Zapfhahn. Und sie waren bereit, für diesen Konsum – oder zumindest die vage Hoffnung auf diesen Konsum – auf Vieles zu verzichten. Darunter auch auf ihre Wertpapiere, was die Aufgabe des Traums bedeutet, Gazprom-Aktionär zu werden.
Unter diesen Umständen – in dieser sozialen und gesellschaftlichen Atmosphäre – geschah all das, was in dem Film des Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) beschrieben ist, plus enorm viel mehr, was dort nicht beschrieben ist. Dem keine Beachtung zu schenken, wäre dumm. So zu tun, als sei das „nicht wichtig“, wäre unlauter.
Ich glaube, dass jetzt gerade der falsche Zeitpunkt für solche Debatten ist, und ausgerechnet heute hilft wütendes Streiten darüber, wer schuld daran war, was vor 35 und 25 Jahren geschah, nicht dabei, das Böse, mit dem wir es aktuell zu tun haben, zu bezwingen: Mit Putins Aggression gegen die zivilisierte Welt und der Bereitschaft dieses Diktators, Millionen Leben zu opfern, um selbst an der Macht zu bleiben.~~~Вся история Ельцина и его правления началась не на пустом месте, а отталкивалась от многодесятилетней эпопеи советской власти, коммунистической диктатуры, изуродованного и измученного этой диктатурой советского общества, нелепой политической машины, лишенной нормально действующих институтов государства, и раздавленной социалистическим идиотизмом экономики, не способной действовать ни на одном своем участке. И вся – до последне минуты – в борьбе с этим и развивалась, и логике этой борьбы была подчинена. Впрочем, нет, не до последней: справедливости ради, надо все время оговариваться, чтоб был там поздний, позорный период, когда Ельцин уже совсем упустил власть из своих рук, и отдал ее группе людей, которыми двигал только страх за свое будущее, только желание благополучно “выскочить” из власти и обеспечить лично себе безопасность.
Вся эта основа – именно не фон, не антураж, а основа, содержательная и решающая, – в фильме ФБК присутствует. Но авторы и рассказчица смотрят на них и как бы не замечают. Какие-то люди с мутными лицами и непроясненным происхождением толпятся вокруг
Кто они все?
А это те, кто владели российской (еще пять минут назад советской) экономикой в тот момент, когда на сцене появились и Абрамович, и Березовский, и вся команда Ельцина. Это просто олицетворения, персонализованные воплощения советской власти и советского строя, которые никуда сами не делись, не рассосались, а ожесточенно противостояли любым изменениям, требовали своей львиной доли и первоочередного учета своих интересов, и уступали свои позиции только в свирепой борьбе.
Это сейчас ссылки на “советское наследие” и на “проклятые девяностые” представляют собой чистейшую ложь и циничное лицемерие: потому что от СССР нас отделяет 35 лет, а от “периода первоначального накопления” 90-х – 30.
Ельцинский же период следовал за советским вплотную, без паузы, продолжался меньше десятилетия, и весь пришелся на одну сплошную ценовую катастрофу с нефтью по 8-10 долларов за бочку, и на преодоление хозяйственной разрухи.
Общество требовало освобождения от этого, преодоления советского прошлого. Не было никакого общественного запроса на запрет КПСС, например, не было запроса на люстрацию… люди требовали таких реформ, которые обещали им надежду на рост потребления: люди хотели еды, одежды, жилья, автомобилей, посудомоечных машин, поездок в отпуск, книг и фильмов, стирального порошка без очереди, чистой воды в бутылках и непрокисшего пива в разлив. И готовы были за это потребление – или хотя бы за смутную надежду на потребление – многое отдать. В том числе отдать свой ваучер, а с ним и мечту стать акционером Газпрома.
В этих обстоятельствах – в этой общественной и политической среде – происходило все, что описано в фильме ФБК, а также и колоссальное количество того, что в нем не описано. Не обращать на это внимания – глупо. Делать вид, что это “не важно”, – нечестно.
Я думаю, что сейчас плохое, неправильное время для этих дебатов, и именно сегодня яростные споры о том, кто виноват в случившемся 35 и 25 лет назад, нам не помогут справиться с главным злом сегодняшнего дня: путинской агрессией против цивилизованного мира и готовностью диктатора пожертвовать миллионами жизней ради того, чтоб остаться у власти.[/bilingbox]
erschienen am 17.04.2024, Original
Wie sich echte Politiker von Höflingen unterscheiden
Die Psychologin Ljudmila Petranowskaja streicht die Unterschiede zwischen den Akteuren in Jelzins Umfeld und Alexej Nawalny heraus:
[bilingbox]Folgendes dachte ich bei der kurzweiligen Lektüre der hitzigen Debatte über die 1990er Jahre: Einer der Gründe des gegenseitigen Missverständnisses besteht darin, dass die Akteure der 1990er Jahre und Nawalny (wie wahrscheinlich auch seine Mitstreiter) grundlegend verschieden sind.
Erstere waren, wie man es dreht und wendet, Höflinge – Menschikows unter einem schillernden Reformzaren. Sie standen in der Gunst und erhielten Aufträge, fielen in Ungnade, waren in der Verbannung und auf der Flucht – je nachdem, wie das Leben so spielt. Aber im Fokus ihrer Aufmerksamkeit stand immer der Zar (der eine, dann der nächste). Ihr Schicksal hing immer vom Zaren ab, mit seinen Entscheidungen waren ihre Ängste und Hoffnungen verbunden – darunter nicht nur die rein egoistischen, sondern auch die erhabenen, „das Schicksal des Vaterlandes betreffenden“. Politik war in ihren Augen das, was einer mit dem anderen über irgendetwas vereinbart – ob in den Fluren der Macht, in der Banja, in den Büros. Im nächsten Schritt wird das dann als rein polittechnologische Aufgabe umgesetzt: Wie genau soll man die Ergebnisse der Vereinbarungen dem „Volk“ nahebringen? Aber der Gedanke, dass dieses „Volk“ selbst Subjekt des politischen Lebens sein könnte, wird nicht zugelassen – das Volk liebt doch bekanntermaßen die harte Hand und Almosen, ist atomisiert und beeinflussbar. Gott bewahre, dass es etwas entscheiden darf!
Nawalny dagegen ist ein true politician. Ganz im Ernst. Eine in unseren Breiten noch nie dagewesene Spezies. Der hat sich direkt an die Menschen gewandt – hat hat ihnen nichts vorgespielt, keine von anderen verfassten Reden abgelesen, sondern den direkten Kontakt gesucht, sogar über die Köpfe der Gefängnisaufseher hinweg. Er glaubte wirklich, dass am Ende sie – die Menschen – entscheiden sollen.
Man kann mit ihm einer Meinung sein oder nicht, ihn lieben oder hassen, aber dass er ein talentierter Politiker war (wie sehr es einem widerstrebt, hier dieses „war“ einzusetzen) – das ist schlicht Fakt.
Dieser FBK-Film ist keine Recherche im eigentlichen Sinne, kein „Versuch, zu verstehen“, sondern ein direkt an die Menschen gerichtetes politisches Statement. Ob es wirkungsvoll ist oder nicht, wird die Zeit zeigen. Doch das Genre ist klar.
Was sind die Ziele dieses Statements?
Sich von diesen kompromittierten Personen und Entscheidungen abzugrenzen und zu sagen: „So sind wir nicht.“
Putins Lieblingsargument „Ich habe euch aus den 1990er Jahren gerettet“ und die Schlussfolgerung „Demokratie ist Lüge und Raub“ auszuhebeln.
Eine Bewegung nach links zu markieren, denn die linke Flanke ist offen und die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit enorm.~~~Первые – это как ни крути, придворные, этакие Меньшиковы при ярком и "с загогулинами" царе-реформаторе. Бывали в фаворе и получали подряды, бывали в опале, в ссылке и в бегах – жизнь разная. Но в фокусе их внимания всегда был собственно царь (один, потом второй). От отношений с царем зависела их участь, с его решениями связывались надежды и страхи – в том числе не чисто эгоистические, а возвышенные, "про судьбы Родины". Политика в их представлении – это кто с кем о чем договорится где-то там, в коридорах, банях, кабинетах. Потом уже решается чисто политтехнологическая задача – как именно результаты договоренностей донести "народу". Но мысли о том, что сам этот "народ" может быть субъектом политической жизни не допускается – народ, как известно, любит твердую руку и подачки, атомизирован и внушаем, боже упаси пустить его решать.
А Навальный – он тру политик. Прям вот всерьез . Невиданный в наших краях зверь. Реально обращался к людям – не изображал, не читал написанное спичрайтерами, а прям обращался, даже через головы конвойных. Реально верил, что в конечном итоге им – людям – решать.
Можно с ним соглашаться или нет, любить или ненавидеть, но то, что он был (как не хочется вставлять это "был") профпригодным публичным политиком – это просто факт.
И фильм ФБК – это не расследование, не "попытка разобраться", а политическое высказывание, обращённое напрямую к людям. Эффективное или нет – время покажет, но жанр очевиден.
Какие цели высказывания?
Отстроиться от скомпрометированных персон и решений, сообщить "мы не такие".
Выбить любимый аргумент Путина "я вас спасаю от 90х" и сцепку "демократия – это ложь и грабеж".
Обозначить движение влево, потому что левый фланг пуст, а запрос на социальную справедливость огромный. [/bilingbox]erschienen am 25.04.2024, Original
„Dieser Film weckt Wut und Hass“
Lew Schlosberg, Publizist und Jabloko-Politiker kritisiert die Serie scharf:
[bilingbox]Jelzin hatte nicht vor, ein Russland Putins aufzubauen, doch er hat es mit seinen vielen Fehlern herangezüchtet, hat einen historischen Raum geschaffen für eine politische Revanche des imperialen und sowjetischen Systems.
Aber eine Aufarbeitung der Chancen, Risiken, Fehler und Verbrechen der 1990er darf nicht zu politischen Repressionen, zur Verunglimpfung politischer Gegner und Feinde führen und nicht zum Entzünden von Rache und Bürgerkrieg anstiften.
Der Film Verräter beantwortet die Frage „Wer ist schuld?“ auf eine Art und Weise, die nicht Gerechtigkeit durch den Rechtsstaat, sondern durch außergerichtliche Vergeltung nahelegt, wobei die Lenker der Vergeltung sich im Namen der Gesellschaft das Recht auf Gewalt herausnehmen und die Gesellschaft manipulieren, unter anderem durch ihren Schmerz und ihr Leid. Die ist eine unlautere und gefährlich provokative Technik.
Der Film Verräter fördert keine Gerechtigkeit, sondern Revolution und Umverteilung von Eigentum und Macht durch Gewalt. Dieser Film weckt bei Erniedrigten und Beleidigten Wut und Hass. Er fördert im Land die Atmosphäre von Bürgerkrieg.
Ich bin sicher, dass das den Autoren des Films sehr wohl bewusst ist.~~~Политически эпоха Владимира Путина выросла из эпохи Бориса Ельцина. Ельцин не планировал построить Россию Путина, но вырастил её своими многочисленными ошибками, создал историческое пространство для политического реванша имперской и советской системы. Политическая ответственность за эти последствия в значительной части лежит на Борисе Ельцине. Идеализировать Ельцина и его эпоху нельзя, хотя это была эпоха невиданного ранее исторического шанса на свободу.
Но анализ шансов, рисков, ошибок и преступлений 1990-х не должен проводиться в технике политических репрессий, шельмования политических оппонентов и противников, не должен быть разжиганием настроений мести и гражданской войны.
Фильм «Предатели» даёт ответ на вопрос «Кто виноват?» в манере, предполагающей не восстановление справедливости через законность, а внесудебные кары, когда вершители возмездия присваивают себе право на насилие от имени общества и манипулируют обществом, в том числе его болью и страданиями. Это нечестная и очень опасная провокативная технология.
Фильм «Предатели» взывает не к правосудию, а к революции, переделу собственности и власти через насилие. Этот фильм будит в униженных и оскорблённых людях гнев и ненависть. Он формирует в стране атмосферу гражданской войны.
Уверен, что авторы фильма это хорошо понимают.[/bilingbox]erschienen am 22.04.2024, Original
Dieser Film ist eine Verschwörungserzählung
Die Medienwissenschaftlerin Xenia Lutschenko sieht in den FBK-Videos Elemente einer Verschwörungs-Erzählung:
[bilingbox]Maria Pewtschichs Film liefert die endgültige Ausformulierung der Verschwörungerzählung „Komplott der Korruptionäre gegen Russland“. Es gibt da diese Gruppe böswilliger Verschwörer, die mit dem Ziel der persönlichen Bereicherung und zum eigenen Wohl absichtlich das Leben von Millionen Menschen verschlechtert hat und das auch weiterhin tut und die „uns das Land gestohlen hat“.
Die Krieger des Lichts machen Jagd auf die Korruptionäre, doch die sind listig, wohlhabend und lenken im Verborgenen die ganze Welt und das Land entsprechend ihren Interessen. All dies geschieht nicht zufällig, alles ist miteinander verknüpft. Verschwörungsgläubige müssen nicht unbedingt Aluhüte tragen, typisch für sie ist eine bestimmte Art des Denkens. Es gibt Verschwörungserzählungen, die „uns“ gefallen. Also check your biases! ~~~В фильме Марии Певчих окончательно сформулирована конспирологическая теория «Заговор коррупционеров против России»: Существует некая группа злых заговорщиков, которая в целях личного обогащения и собственного блага намеренно ухудшила жизнь миллионов и продолжает это делать, «украла у нас страну». Воины света охотятся на коррупционеров, но те изобретательны, богаты и тайно управляют миром (страной) в своих интересах. Все события неслучайны, явления взаимосвязаны. Конспирология не обязательно в шапочках из фольги, это специфический тип мышления. Бывают теории заговора, которые «нам» нравится. Так что check your biases[/bilingbox]
erschienen am 21.04.2024, Original
Boris Jelzin stand am Beginn von billigem Populismus, Familien- und Klanwirtschaft und manipulativer Politik
Die Demokratie wurde früh verraten, ist der Ökonom und Publizist Wladislaw Inosemzew überzeugt:
[bilingbox]In den 1990er Jahren bildete und festigte sich ein System persönlicher Loyalitätsbeziehungen, die an die Stelle demokratischer Institutionen trat, die sich nie etablieren konnten. Die Reformen der ersten postsowjetischen Jahre legten die Grundlage für die Marktwirtschaft, wobei ehemaliges Staatseigentum an neue Eigentümer verteilt wurde. In dieser Situation hätte die Rückkehr der Kommunisten an die Macht im Jahr 1996 zu enormen Spannungen zwischen Regierung und Geschäftswelt geführt. Daraus hätte sowohl ein politischer Wettstreit entstehen können als auch eine Rechtsordnung. Doch diejenigen, die die demokratischen Reformen verrieten, zogen persönliche Garantien der Rechtsstaatlichkeit vor, was Russland in eine faschistische Diktatur führte.
Ich erinnere mich noch lebhaft an den Sommer 1989, als in der UdSSR Millionen von Menschen an den Radioempfängern hingen, um die Debatten auf der ersten Sitzung der Volksdeputierten zu hören. Sie erlebten zum ersten Mal, wie Gesetze diskutiert und verabschiedet wurden, und das einst allmächtige Politbüro war dagegen machtlos. Dann folgten Demonstrationen und Kundgebungen, die Wahlen für die Parlamente der Unionsstaaten 1990 – und die Bereitschaft Michail Gorbatschows, sich den neuen Machthabern und letztlich dem Willen des Volkes zu beugen.
Diese Bereitschaft hatte Boris Jelzin nie – er begründete in moderner Zeit die Tradition von billigem Populismus, von Familien- und Klanwirtschaft, von manipulativer Politik und übermächtiger Sorge um geklautes Geld. Der Verrat der Demokratie fand in der Tat Anfang und nicht Ende der 1990er Jahre statt – hier haben die Autoren des Films absolut recht.~~~Именно в 1990-е годы в российской власти стала возникать и укрепляться система отношений личной преданности, заменившая так и не состоявшиеся демократические институты. Реформы первых постсоветских лет создали основы рыночной экономики, во многом распределили бывшую государственную собственность среди новых хозяев — и в такой ситуации возврат коммунистов к власти в 1996 году создал бы необходимое напряжение между властью и бизнесом, из которого смогли бы вырасти и конкурентная политика, и правовой порядок. Но те, кто предал демократические реформы, предпочли личные гарантии власти закона, что и привело Россию к фашистской диктатуре.
Я прекрасно помню лето 1989 года, когда в СССР миллионы людей приникли к радиоприемникам, слушая дебаты на первом съезде народных депутатов. Они впервые увидели, как обсуждаются и принимаются законы и как всемогущее политбюро бессильно против них. Затем были демонстрации и митинги, выборы 1990 года в парламенты союзных республик — и готовность Михаила Горбачева уступить новым властям, в конечном счете — воле народа.
Этой готовности никогда не было у Бориса Ельцина, заложившего традиции современных дешевого популизма, семейственности и клановости, манипулятивной политики и непреодолимой заботы о награбленных деньгах. Предательство демократии действительно состоялось в начале, а не конце 1990-х — и тут авторы фильма совершенно правы.[/bilingbox]
erschienen am 23.04.2024, Original
Aussprache mit Chance auf Versöhnung
Der Galerist Marat Gelman war in den 1990er Jahren selbst Politikberater und räumt eine Mitschuld ein:
[bilingbox]Nach dem FBK-Film sollten andere Journalisten mit jenen sprechen, die noch leben, damit sie ihre Sicht der Dinge darlegen. Die Augenzeugen dieser Ereignisse sollten aus heutiger Perspektive ihre Einschätzung abgeben und nicht schweigen. Ich glaube übrigens nicht, dass dies zu Uneinigkeit in der Opposition führen wird. Im Gegenteil, nach einer Aussprache, kann es zu einer Einigung kommen. Ohne verborgenen Groll. ~~~Я думаю надо историю поднять. И потом, после фильма ФБК, другим журналистам поговорить с теми кто еще жив, и пусть они выскажут свой взгляд на происходящее. Я не знаю, может окажется что Путин не мог не прийти. Я так не считаю, но вдруг. И участники тех событий должны дать оценку из сегодняшнего дня, а не молчать.[/bilingbox]
erschienen am 17.04.2024, Original
Der Film ist ein einziges klassisches Ressentiment
Der Publizist Alexander Morosow lässt kein gutes Haar an der FBK-Produktion
[bilingbox]In gewisser Hinsicht ist das der beste Beweis, nicht eines „putinschen“, sondern eines „liberalen“ Ressentiments. Das gesamte Narrativ des Films ist ein einziges klassisches Ressentiment: eine Kombination aus Demütigung, dem Erleiden einer Niederlage durch die „Verschwörung der Feinde“, multipliziert mit Heldenpose und moralischer Überlegenheit.~~~В каком-то смысле это лучшее свидетельство не "путинского", а "либерального" ресентимента. Весь нарратив фильма – это просто классический ресентимент: совмещение униженности, переживания поражения из-за "заговора врагов", помноженные на чувство героического превосходства и моральной правоты.[/bilingbox]
erschienen am 20.04.2024, Original
Vor dem Hintergrund des autoritären Drifts erscheint die Rolle der 1990er in neuem Licht
Durch den Angriff auf andere Oppositionelle könnten Nawalnys Mitstreiter Verbündete verlieren, warnt Ilja Matwejew:
[bilingbox]Pewtschich hat eindeutig einen Nerv getroffen: Die Ereignisse der 1990er Jahre, die einerseits den Weg für den Putinismus ebneten und andererseits Akteure in den Vordergrund rückten, von denen viele später unter dem Putinismus litten – wie Michail Chodorkowski, der mehr als zehn Jahre im Gefängnis saß. Einerseits wird hier zum ersten Mal laut benannt, dass die Rolle der 1990er Jahre im Angesicht des darauf folgenden autoritären Drifts neu gedacht werden muss, andererseits bleibt bislang unklar, wie die ganze Sache endet.
Pewtschich hat es geschafft, sich mit den rechtsliberalen Oppositionellen anzulegen, die sie zum Teil de facto als „Verräter“ bezeichnet hat. Aber kann denn der Fonds für Korruptionsbekämpfung ein Alternativprogramm und einen Aktionsplan anbieten, die einen solch heftigen Bruch rechtfertigen würden? Mit anderen Worten: Der FBK verliert Verbündete – aber kann er weiterhin eine Führungsrolle übernehmen? Auf diese Fragen gibt es bislang keine eindeutigen Antworten, doch die Ideen-Krise sowohl in der Opposition allgemein als auch speziell im FBK dauert an, so dass das Ergebnis möglicherweise nicht erquicklich sein wird – Pewtschichs großtönende Serie wird dann zu einem Sturm im Wasserglas.~~~Певчих явно нажала на больной нерв — события 1990-х годов, которые, с одной стороны, подготовили почву для путинизма, а с другой, выдвинули на первый план действующих лиц, многие из которых впоследствии от путинизма пострадали, как Михаил Ходорковский, отсидевший в тюрьме более 10 лет. С одной стороны, впервые так громко прозвучала реплика, переосмысляющая роль 1990-х годов в последующем авторитарном дрейфе, с другой стороны, пока непонятно, чем закончится история с сериалом.
Певчих сумела рассориться с праволиберальными оппозиционерами, часть из которых она фактически назвала «предателями», но сможет ли ФБК предложить альтернативную программу и план действий, которые оправдали бы столь мощный разрыв? Другими словами, ФБК теряет союзников, но сможет ли он оставаться лидером? На эти вопросы пока нельзя дать однозначного ответа, но кризис идей в оппозиции в целом и в ФБК в частности продолжается, так что итог может оказаться неутешительным — громкий сериал Певчих станет бурей в стакане воды.[/bilingbox]
erschienen am 25.04.2024, Original
Die 1990er ohne romantischen Kitsch
Der Journalist Farid Bektemirow begrüßt, dass die Opposition die 1990er Jahre nicht länger verklärt:
[bilingbox]In meinen Augen ist der Film nichts Neues (in dem Sinne, dass die vorgestellten Fakten weitgehend bekannt und sehr grob nachgezeichnet sind). Aber als Ausgangspunkt der nicht enden wollende Debatte über das Russland der 1990er Jahre ist er durchaus geeignet. Immerhin beschreibt er das Verhältnis von Staatmacht und Volk in jenen Jahren ohne die sonst übliche romantische Verklärung der Liberalen. Und ohne diesen nostalgischen Kitsch wirkt die Realität höchst unattraktiv, verachtenswert und – in der Tat – verräterisch.~~~По мне, ролик, конечно, базовый (в смысле факты в нём по большей части общеизвестные и даны широкими мазками), но вполне работающий как точка входа в бесконечную тему российских 90-х с довольно точным описанием отношений власти и народа в те годы, просто лишённым привычного для либералов романтического флёра. А без этого флёра и ностальгии происходившее и правда выглядит крайне неприглядно, подло и – совершенно верно – предательски. [/bilingbox]
erschienen am 20.04.2024, Original
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