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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wie belarussische Staatsmedien ukrainische Kinder ausnutzen

    Wie belarussische Staatsmedien ukrainische Kinder ausnutzen

    Belarus spielt eine undurchsichtige Rolle bei der Verschleppung ukrainischer Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten. Belarussische NGOs wie Nasch dom verfolgen schon länger, wie schon hunderte Kinder aus der Ukraine über Belarus letztlich nach Russland gebracht wurden. 

    Gleichzeitig holt Belarus immer wieder auch für kurze Zeit ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten zu sich ins Land: angeblich, um ihnen eine Auszeit vom Krieg zu ermöglichen. Diese ferienlagerartigen Projekte nutzen häufig die belarussischen Staatsmedien für ihre Propagandasendungen: Dann lassen sie die Kinder russische Propaganda nacherzählen und ideologische Phrasen aufsagen. Oft stellen die Moderatoren so lange Fragen zu Angriffen, Verletzungen und Todesfällen, bis die Kinder in Tränen ausbrechen.  

    Die ukrainische Menschenrechtsplattform Zmina hat diese Sendungen analysiert und fasst zusammen, wie die belarussischen Medien die ukrainischen Kinder dazu benutzen, russische Propaganda zu verbreiten. 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Tränen, TV und Traumata 

    In belarussischen Medien gibt es immer wieder Berichte, in denen Kinder aus den (von Russland – dek) besetzten ukrainischen Gebieten ihre Erlebnisse aus dem Krieg erzählen und dabei weinen. Es kümmert die Propagandisten nicht, dass solche Aufnahmen Traumatisierung und Retraumatisierung auslösen können. Dabei erwähnen sie oft, dass die Kinder den Angriff, die Verletzungen oder den Tod der Angehörigen eigentlich vergessen wollen. 

    Ein Beispiel dafür ist der Bericht des staatlichen Senders ONT über „Kinder mit besonderem Schicksal, die zur Rehabilitation in Belarus sind“. In dem Video erzählt eine 11- bis 12-jährige Weronika aus Horliwka von ihrer Freundin, die beim Brotkaufen getötet wurde. Während der Aufnahme wird das Kind buchstäblich zum Weinen gebracht. 

    Der gesamte Bericht basiert auf Retraumatisierung. 

    Das Gleiche passiert in einem Video auf dem YouTube-Kanal der Belteleradiokompanija. Bereits in den ersten Sekunden sagt dort ein Mädchen, dass dies ein „schmerzhaftes Thema“ sei, während ein anderes Kind weint. Die Autorin der Reportage, Daria Ratschko, setzt die Kinder jedoch weiter unter Druck und stellt ihnen unangenehme Fragen: Sie fragt nach den Angriffen, ob sie Angst hatten und ob es normal sei, dass dabei alle Fenster zerbrechen. Ratschkos gesamter Bericht basiert auf der Retraumatisierung der Kinder aus den besetzten Gebieten. 

    Genauso macht es ihre Kollegin Anastassija Benedisjuk in der Popagandadoku „Donbas. Belarus ist da“, zum Beispiel im Interview mit einem 11-jährigen David aus Mariupol. Zu Beginn des Films sieht man außerdem Mädchen vor der Kamera weinen, deren Namen nicht genannt werden. 

    „Russische Kinder mit russischen Pässen“  

    Ein anderes Propagandanarrativ in Belarus dreht sich um die Behauptung „ukrainische Nazis töten russische Kinder“. Russland würde sie dann retten und Belarus sei dabei ein märchenhaft ruhiges Land. Die Organisatoren der „Transporte“ seien Zauberer, die heilen und dabei helfen, die Schrecken der sogenannten Spezialoperation zu vergessen. 

    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    In einem Telegram-Video zeigen Kinder aus dem besetzten Teil der Region Cherson, die im März 2024 in Belarus waren, ihre russischen Pässe. Der Paralympiker und glühende Lukaschenko-Anhänger Alexej Talaj, eine Schlüsselfigur bei der Deportation von Kindern aus den besetzten Gebieten nach Belarus, kommentiert dazu im Video: „Das sind russische Kinder mit russischen Pässen.“ 

    Eine andere Propagandareportage des belarussischen Fernsehsenders CTV fokussiert sich indes auf Berichte über Minenverletzungen und andere Verwundungen von Kindern, wie etwa von Swjatoslaw Rytschkow. Swjatoslaw erzählt, er habe eine Schrapnellverletzung an der Lunge erlitten, als ein ukrainischer Panzer auf den Zaun seines Hauses zielte. Danach behauptet er, die Soldaten hätten keinen Krankenwagen zu ihm durchgelassen, stattdessen gemeint: „Lasst ihn sterben.“ 

    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Tatsächlich war es jedoch das ukrainische Militär, das Swjatoslaw Rytschkow nach seiner Verletzung, welche die Journalistin auf dramatische Weise schildert, in ein Militärkrankenhaus in Bachmut brachte. Anschließend wurde er im Intensivwaggon eines Sanitätszuges ins St.-Nikolaus-Krankenhaus von Lwiw gebracht. 

    „Wenn man die Geschichten hört, drängt sich der Eindruck auf, dass die Kinder einen vorbereiteten Text vor der Kamera ablesen.“ 

    In einem anderen Fall brachte man 11 Kinder in die von Ksenija Lebedijewa moderierte Sendung „Das ist etwas anderes“ des Senders „Belarus“ und kündigte sie als Kinder aus „Orten der DNR“ an. Die Jugendlichen mussten berichten, wie sie die [russische – dek]  Besetzung ihrer Städte erlebten und was sich jetzt dort abspielt.  

    Wenn man die Geschichten hört, drängt sich der Eindruck auf, dass die Kinder einen vorbereiteten Text vor der Kamera ablesen, denn sie reproduzieren nur russische Narrative. So sprechen sie von der „militärische Spezialoperation“, sagen, dass „ukrainische Kämpfer die Stadt planlos beschießen“, dass „Russland sie rettet“ und dass „Mariupol sich zu erholen beginnt“. Auf Nachfrage der Moderatorin antworten die Kinder, dass sie „russische Kinder“ seien. 

    Einer der Jungen antwortet auf eine bewusst provokante Frage der Moderatorin: Wäre er älter, würde er in den Krieg ziehen, weil die Ukraine in sein Land gekommen sei und Leute wie ihn umbringe.  

    „Walerija hält ein Sturmgewehr.“ 

    Das Thema der anti-ukrainischen Militarisierung von Kindern und ihrer Bereitschaft, gegen die Ukraine zu kämpfen, wird von der belarussischen Propaganda häufig bespielt. Wie etwa in einem Bericht über den Aufenthalt von Kindern aus Donezk und Mariupol im Sanatorium Wolma im Juni 2022: 

    „Walerija Ljachowa hält ein Sturmgewehr. Sie sagt, sie habe keine Angst vor Waffen und sei bereit, noch heute für ihr Heimatland in den Krieg zu ziehen, doch sie sei noch nicht alt genug. Lera ist dreizehn…“ 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Besonders charakteristisch ist der in der Propaganda konstruierte Kontrast zwischen von „der EU, den USA und den Nazis“ ins Unheil gestürzten Kindern in den [russisch – dek] besetzten Gebieten der Ukraine und den glücklichen Kindern in Belarus, denen Batka eine glückliche und unbeschwerte Kindheit beschere. In verschiedenen Sendungen wird die Verbringung von Kindern aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Belarus als Abenteuer beschrieben, von Zauberern organisiert, die sie mit einem schönen Zug ins Märchenland bringen. Hier ist es ruhig, es gibt leckeres Essen und es wird gefeiert.  

    „Wir sind ein Volk“ 

    Belarussische Medien berichten außerdem häufig über Veranstaltungen, bei denen Kinder aus der Besatzung die russische Ideologie der „Dreieinigkeit der Völker“, der „russischen Welt“ und des „Unionsstaates“ verbreiten. 

    So sangen beispielsweise Kinder aus Horliwka nach der Neujahrsshow im Palast der Republik in Minsk, wahrscheinlich auf Anregung des Organisators Pawlo Tschulochin: „Wir sind eine Familie. Zusammen sind wir eine Rus‘ – Horliwka und Belarus!“ Oft werden ukrainische Kinder auch in Propagandaveranstaltungen gezeigt, in denen sie als „russisch“ und die besetzten Gebiete als „neue Regionen Russlands“ bezeichnet werden. Auch Alexej Talaj nennt in einem Video diese Gebiete einen Teil der Russischen Föderation und ein Mädchen aus der besetzten Region Donezk ein „russisches Mädchen“. 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Im Video von einer Aufführung im belarussischen Kinderferienlager „Dubrawa“ verkündet gar der Kulturberater des russischen Botschafters, Sergej Afonin, ukrainischen Kindern aus den besetzten Gebieten seine ideologische Agenda: „Wenn die russischen Jungs erst das heilige Land im Donbas befreien, haben die Kinder schönste Aussichten auf ein Leben in den gelobten Ländern Russland und Belarus.“ 

    Für die Kinder werden außerdem Ausflüge zu „Orten des Ruhmes“ organisiert und diese Veranstaltungen aktiv in den Medien verbreitet. So wurden Kinder mit Behinderungen aus Donezk Teil einer Propagandakampagne der Alexej-Talaj-Stiftung zum Großen Vaterländischen Krieg und machten einen Ausflug zum „Museum des Großen Vaterländischen Krieges“. Das Programm für Kinder aus Dokutschajewsk und Mariupol umfasste einen Besuch der Festung Brest

    Screenshot aus der Propaganda-Doku-Serie „Kinder des Krieges“ des belarussischen Staatssenders ONT über ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot aus der Propaganda-Doku-Serie „Kinder des Krieges“ des belarussischen Staatssenders ONT über ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten. / Video © Youtube-Kanal news.by

    „Niemanden kümmern die Interessen der Kinder“ 

    Onysija Synjuk, Rechtsanalystin am ZMINA-Menschenrechtszentrum, betont, dass sich niemand um die Interessen der Kinder kümmert, wenn ukrainische Kinder in Belarus so zu Propagandazwecken benutzt werden: „Niemand kümmert sich darum, dass solche Beiträge sowohl Sicherheits- als auch Datenschutzaspekte ignorieren, indem sie persönliche Informationen über die Kinder preisgeben. Außerdem werden die Kinder durch gewisse Fragen retraumatisiert.“ Die Expertin nimmt weiter an, dass die militarisierten und indoktrinierten Kinder aus den besetzten Gebieten später dazu benutzt werden, ihre Altersgenossen zu beeinflussen. 

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    Extra-Strafen auf der Krym

  • Extra-Strafen auf der Krym

    Extra-Strafen auf der Krym

    Die russischen Besatzungsbehörden auf der Krym haben seit 2022 schon mehr als 900 Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen angeblicher Diskreditierung der russischen Armee und fast 600 wegen „Verwendung extremistischer Symbole“ eröffnet. Wer sich gegen die russische Aggression ausspricht, Informationen über russische Kriegsverbrechen veröffentlicht oder einfach nur ukrainische Lieder hört, blau-gelbe Kleidung trägt oder Bilder in diesen Farben teilt, wird schnell juristisch und öffentlich verfolgt. Die Bevölkerung auf der Krym wird von Besatzungsbehörden und loyalen Medien aufgefordert, solche Personen zu denunzieren. Z-Blogger verbreiten Videos von Festnahmen und erzwungenen Entschuldigungen, die ihnen die russischen Sicherheitsbehörden zuspielen. 

    Laut Angaben der Vertretung des Präsidenten der Ukraine in der Autonomen Republik Krym – ein Organ, das sich mit Vorgängen auf der annektierten Halbinsel beschäftigt – nimmt die Zahl der Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen „Diskreditierung“ zwar russlandweit ab – aber auf der besetzten Krym steigt sie. Im Mai 2023 hatte die NGO Krymski Prozes noch 350 Fälle vermeldet. Insgesamt dürfte die Dunkelziffer noch höher liegen. 

    Das ukrainische Onlinemedium Graty erläutert anhand zahlreicher Fallbeispiele allein im Juli 2024, wie die russischen Besatzer auf der annektierten Halbinsel mit Anzeigen und Denunziationen die Bevölkerung einschüchtern.  

    Prorussische Blogger und Besatzer-Polizei gegen „Tscherwona Kalyna“ 

    Am 6. Juli veröffentlichte der russischsprachige Telegram-Kanal Krymski Smersch (dt: Krym-Todesschwadron) Screenshots einer privaten Instagram-Seite: Die Bilder dort zeigten die ukrainische Nationalflagge und Menschen in blauer und gelber Kleidung, das ukrainische Wappen mit Dreizack und eine Armtätowierung mit der Aufschrift „Slawa Ukrajini“ sowie Männer, die Wladimir Putin und Dmitri Medwedew ähneln, in T-Shirts mit Dreizack und der Aufschrift „Putin, fick dich“. Zwei Stunden später teilte derselbe Kanal ein Video, in dem Spezialkräfte mit Sturmgewehren in ein Haus eindringen und einen jungen Mann festnehmen, ihn beschimpfen und zu Boden werfen. Außerdem wurde berichtet, dass ein 24-jähriger Einwohner von Bilohirsk (Kleinstadt im Südosten der Krym – dek), Kemal S. (aus ethischen und Sicherheitsgründen nennen wir nicht die vollständigen Namen der Beschuldigten – Graty), festgenommen und gegen ihn ein Ordnungswidrigkeitsverfahren nach zwei Artikeln eingeleitet worden sei –  wegen „geringfügigem Rowdytum“ und „Darstellung von Nazi-Symbolen oder Symbolen extremistischer Organisationen oder anderer Symbole, deren Propaganda oder öffentliche Zurschaustellung in der Russischen Föderation verboten ist“ (Artikel 20.1, Absatz 3 und Artikel 20.3, Absatz 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten der Russischen Föderation (GORF)). Am nächsten Tag folgte ein Video, das höchstwahrscheinlich von Sicherheitskräften zugespielt worden war und in welchem sich der Inhaftierte für die „Beleidigung des Präsidenten der Russischen Föderation“ entschuldigte. 

    Telegram-Video zeigt brutale Festnahme eines 63-Jährigen, der „der Ukraine zujubelt, Terroristen zitiert und die territoriale Integrität Russlands leugnet“. 

    Am 11. Juli zeigte ein Video auf Krymski Smersch die brutale Festnahme des 63-jährigen Refat I. verbunden mit dem Kommentar, dass dieser „der Ukraine zujubelt, Terroristen zitiert und die territoriale Integrität Russlands leugnet“. Es wird zwar nicht angegeben, wo die Ereignisse stattfanden und was genau man dem Festgenommenen vorwirft, jedoch wird gemeldet, dass der Mann sieben Tage in Haft genommen worden sei. Am 13. Juli folgt ein Video, in dem sich I. für die „Veröffentlichung verbotener Symbole“ entschuldigt.  

    Am 25. Juli veröffentlichte Krymski Smersch ein Video von einem Haus, in dem das ukrainische Kult-Volkslied „Oj, u lusi tscherwona kalyna“ spielt, inklusive der Adresse im besetzten Sewastopol. Wenige Stunden später wurde auf demselben Kanal die mutmaßliche Festnahme eines 42-jährigen Bewohners vermeldet, beschuldigt der „Propaganda und öffentlichen Demonstration von Nazi-Symbolen “ (Art. 20.3 Abs 1 GORF). Russische Medien verbreiteten die Information, dass der Mann laut Beschluss des russisch kontrollierten Leninski-Bezirksgerichts von Sewastopol 15 Tage in Haft verbleiben müsse. Die Pressestelle des Gerichts meldete, das Verfahren sei am 26. Juli geprüft worden und der Beschluss ergangen, obwohl der Beschuldigte seine Schuld bestritt: „Das Gericht stellt fest, dass die männliche Person am 25. Juli 2024 in seiner Wohnung auf dem Balkon laut und deutlich Parolen ukrainischer nationalistischer Organisationen rief und die Hymne ukrainischer nationalistischer Organisationen hörte. Hierzu wurde ein Ordnungswidrigkeitsverfahren gemäß Art. 20.3, Abs. 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten der Russischen Föderation eröffnet,“ heißt es auf der Website des Gerichts. 

    In mindestens einem Fall, der im Juli im selben Telegram-Kanal veröffentlicht wurde, ging es nicht nur um Ordnungswidrigkeiten, sondern um strafrechtliche Verfolgung. Am 10. Juli schrieb Krymski Smersch, dass der FSB ein Verfahren wegen „öffentlicher Aufrufe zu extremistischen Aktivitäten“ (Art. 280, Abs. 2 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation (StGBRF)) gegen Tetjana B. aus Jalta eingeleitet habe, die Monate zuvor auf Telegram die russische Besatzungspolitik kritisiert hatte. Auch sie wurde damals gezwungen, sich per Video zu entschuldigen, das Krymski Smersch bereits im April dieses Jahres veröffentlichte. Darin wird behauptet: „Sie veröffentlichte Kommentare, in denen zu Gewaltaktionen gegen eine Gruppe von Menschen mit ausgewiesen russischer Nationalität aufgerufen wird.“ 

    Besatzer-Polizei von Sewastopol verbreitet Video mit „Entschuldigung“  
    eines 19-Jährigen, der sich „beleidigend über Soldaten der russischen Streitkräfte  
    und Teilnehmer der Spezialoperation mit patriotischen Symbolen“  
    geäußert haben soll. 

    Allein im Juli gab es mehr als ein Dutzend solcher Fälle. Manchmal berichten die Besatzungsbehörden auf der Krym über solche Ermittlungen aber auch selbst, ohne die Unterstützung ihrer loyalen Blogger. So veröffentlichte der Telegram-Kanal Polizija Sewastopol am 20. Juli ein Video mit der „Entschuldigung“ eines 31-jährigen Mannes, der am Strand „Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden!“ gerufen hatte. Aufnahmen des Vorfalls sind der „Entschuldigung“ im Video vorangestellt. Es wird darauf hingewiesen, dass der Mann außerdem der „Darstellung von Nazi-Symbolen“ beschuldigt wird und das von Russland kontrollierte Leninski-Bezirksgericht von Sewastopol ihn für 12 Tage in Haft genommen hat.  

    Vier Tage zuvor, am 16. Juli, hatte ebenfalls die Besatzer-Polizei von Sewastopol ein Video mit der „Entschuldigung“ eines 19-Jährigen, der sich in Kommentaren in sozialen Netzwerken „beleidigend über Soldaten der russischen Streitkräfte und Teilnehmer der Spezialoperation mit patriotischen Symbolen“ geäußert haben soll. Gegen ihn sei ein Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen „Diskreditierung der Streitkräfte der Russischen Föderation“ (Art. 20.3.3, Abs. 1 GORF) am Nachimowski-Bezirksgericht Sewastopol eingeleitet worden.  

    Am 17. Juli folgte ein weiterer Beitrag über die Fahndung nach einem 41-jährigen Einwohner Sewastopols wegen desselben Artikels der „Diskreditierung“. Dieses Mal aber ohne Entschuldigungsvideo, sondern lediglich mit der Ergänzung, dass der Beschuldigte „gestanden habe“. 

    Mehr Verfahren auf der Krym, in Russland weniger 

    Nach Angaben der Vertretung des Präsidenten der Ukraine in der Autonomen Republik Krym bearbeiteten die Besatzungsgerichte auf der Halbinsel bis 23. Juli dieses Jahres schon 913 Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ (Art 20.3.3 GORF). In 811 Fällen erließen die Gerichte eine Anordnung zur Verhängung einer Strafe oder fügten sie zu einem anderen Ermittlungsfall nach weiteren Artikeln hinzu und erließen einen gemeinsamen Beschluss. 18 Verfahren wurden bei Erscheinen dieses Artikels noch geprüft, der Rest wurde aus verfahrenstechnischen Gründen ausgesetzt oder zur Überarbeitung zurücküberwiesen. 

    Ein FSB-Offizier eskortiert einen Gefangenen, der Informationen über militärische Einrichtungen und die Krym-Brücke an den ukrainischen Geheimdienst weitergegeben haben soll. 27. September 2024 © Russian Federal Security Service, TASS Publication / IMAGO

    Die Gesamtzahl solcher Verfahren nehme, so die ukrainische Krym-Vertretung gegenüber Graty, in Russland seit der vollumfänglichen Invasion tendenziell ab, da es weniger Antikriegsbekundungen gäbe, während sie auf der besetzten Krym zunähmen: „2022 machten Fälle auf der Krym in der allgemeinen Gerichtsstatistik 4,4 Prozent aus, 2023 bereits 13,3 Prozent. Zur gleichen Zeit tauchten in der allgemeinen russischen Gerichtsstatistik im Jahr 2023 44 Prozent weniger Fälle auf als 2022, während auf der Krym für 2023 70,6 Prozent mehr Fälle registriert wurden als im Jahr 2022. Noch deutlicher zeigt es die Statistik über verhängte Bußgelder für die Krym: 2022 machten die nach Artikel 20.3.3 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten der Russischen Föderation verfolgten Personen auf der Krym 4,6 Prozent der gesamtrussischen Statistik aus, im Jahr 2023 stieg ihr Anteil auf 15,5 Prozent.“ 

    2022 stellten Personen auf der Krym 4,6 Prozent der gesamtrussischen Statistik,  
    im Jahr 2023 stieg ihr Anteil auf 15,5 Prozent. 

    Diesen Daten zufolge werden in der Regel Bußgelder als Strafe verhängt, wobei die Praxis von Gericht zu Gericht unterschiedlich ist. So betrage die Geldbuße am städtischen Gericht von Armjansk in der Regel etwa 30.000 Rubel (ca. 300 Euro – dek), während Geldbußen an anderen Gerichten bis zu 40 oder 50.000 Rubel betragen können. Laut Vertretung des Präsdenten in der Autonomen Republik Krym verhängte jenes Gericht von Armjansk zum Beispiel im März dieses Jahres eine Geldstrafe von 30.000 Rubel gegen einen Mann, der „einen Post mit einer Straßenbahn und der Aufschrift ‘Russen, geht (vulgäre Sprache) ’ veröffentlichte“. Im April wurde eine Frau zu einer Geldstrafe in gleicher Höhe verurteilt, weil sie in Telegram „öffentliche Handlungen begangen hat, die darauf abzielen, den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation zu diskreditieren“. Konkret: Likes für Fotos mit den Aufschriften „Ruhm den Streitkräften der Ukraine“, „Cherson ist Ukraine“, „Kostohrysowe ist Ukraine“, „Nowa Kachowka ist Ukraine“ sowie ein zustimmender Kommentar. 

    Ein bedeutender Teil solcher Verfahren wird, so beobachten es die Analysten, während der sogenannten Filtration an den Kontrollpunkten zwischen dem von Russland besetzten Teil der südlichen Regionen der Ukraine und der Krym eingeleitet. Hier werden die Handys und sozialen Netzwerke der Menschen durchforstet. Hiernach eingeleitete Verfahren werden dann in der Regel vor den Gerichten von Armjansk oder Dschankoj verhandelt.  

    Die Vertretung des Präsidenten der Ukraine auf der Krym weiß auch von mindestens acht Strafverfahren, die an den Besatzungsgerichten auf der Halbinsel verhandelt wurden: zwei nach dem Artikel über die „Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation sowie befugtes Handeln der Behörden“ (Art. 207.3 StGBRF) und sechs wegen „öffentlicher Handlungen, die darauf abzielen, den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation zu diskreditieren“ (Art. 280.3 StGBRF), auch bekannt als „wiederholte Diskreditierung“. 

    Doppelte Verfahren 

    Ein Beispiel ist die strafrechtliche Verfolgung von Andrij Biloserow, einem ehemaligen Lehrer der Technischen Schule in Bilohirsk: Im Dezember 2022 stellte ihn ein von Russland kontrolliertes Gericht in Simferopol für einen Post auf VKontakte über den russischen Beschuss von Zivilisten in Donezk und anderen ukrainischen Städten für zwei Monate unter Hausarrest. Da Biloserow aber schonmal von Besatzungsgerichten wegen „Diskreditierung“ mit Ordnungswidrigkeiten dafür belangt worden war, dass er seinen Schülern das Lied „Bayraktar“ vorgespielt habe, wurde der Post als Wiederholungstat eingestuft und ein Strafverfahren eingeleitet. 

    In einigen Fällen erstellten die russischen Sicherheitskräfte auch gleich zwei Ordnungswidrigkeitsverfahren gleichzeitig: sowohl wegen „Diskreditierung“ als auch wegen „Darstellung von Nazi- oder extremistischen Symbolen“ (Artikel 20.3 GORF). Laut der Krym-Vertretung wurden seit der russischen Besetzung der Krym insgesamt 681 solcher Fälle dokumentiert, Tendenz steigend: vier im Jahr 2014, sechs im Jahr 2015, 19 im Jahr 2016, 25 im Jahr 2017, 23 im Jahr 2018, 47 im Jahr 2019, 32 im Jahr 2020, 46 im Jahr 2021, 103 im Jahr 2022, 167 im Jahr 2023 und 138 bislang im Jahr 2024. 

    Moskau bestimmt, was verboten ist 

    Auch die Menschenrechtsorganisation Krymski Prozes verzeichnete einen Anstieg von Ordnungswidrigkeitsstrafen wegen sogenannter „Nazi-Symbole“ und „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ gegen Menschen auf der besetzten Krym. Am 18. Januar hatte das russische Justizministerium eine Liste veröffentlicht, die Organisationen sowie ihre Symbole und Attribute verbietet, die angeblich gegen Artikel 6 Absatz 6 des russischen Gesetzes „Über die Aufrechterhaltung des Sieges des sowjetischen Volkes im Großen Vaterländischen Krieg von 1941-1945“ verstoßen. Als solche „Nazi-Organisationen“ stufte das Justizministerium unter anderem die Organisation der ukrainischen Nationalisten (OUN), die Ukrainische Aufständische Armee (UPA), die Ukrainische Revolutionäre Volksarmee (UNRA) sowie die Ukrainische Volksselbstverteidigung (UNS) ein. Verboten wurden außerdem der Gruß „Slawa Ukrajini“, mehrere Versionen des Dreizacks, das OUN-Emblem und die schwarz-rote Flagge. 

    Zeichnung hatte nur eines mit Bataillons-Emblem gemeinsam — das Tamga , das in Russland nicht verboten ist. 

    Laut den Analysten wird von den Besatzungsgerichten auf der Krym besonders häufig der Wortlaut „Symbole extremistischer Organisationen“ sowie „andere verbotene Symbole“ verwendet, welche jedoch nirgends konkretisiert sind. „Ein offensichtlicher Fall ist hier das Verfahren gegen den unabhängigen Anwalt Olexii Ladin, dem vorgeworfen wurde, ‘andere verbotene Symbole’ gezeigt zu haben, nämlich das Wappen des nach Noman Tschelebidshikhan benannten Freiwilligenbataillons der Krymtataren, das 2022 als terroristische Organisation eingestuft wurde. In seiner Entscheidung bezieht sich das Gericht auf die Schlussfolgerungen eines namentlich nicht genannten Spezialisten, der feststellte, dass die Symbolik in Form des kleinen Wappens der Ukraine mit der Überlagerung des Bildes des Krymtatarischen Emblems von den ‘Kämpfern’ dieser Gruppe während der Anti-Terror-Operation in der Südostukraine, bei der Blockade der Krym und der speziellen Militäroperation auf dem Territorium der Ukraine verwendet wurde“, heißt es in der Studie von Krymski Prozes über die Verfolgung pro-ukrainischer Einstellungen unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Extremismus und Nationalsozialismus vom 24. Juni 2024. 

    Tatsächlich hatte Ladin auf Facebook eine Zeichnung eines Schülers veröffentlich, die nur eines mit dem Bataillons-Emblem gemeinsam hat — das Tamga (Wappensymbol der Krymtataren – dek), das in Russland nicht verboten ist. 

    Härtere Strafen in veröffentlichten Fällen 

    In der erwähnten Studie stellen Analysten von Krymski Prozes fest, dass in Fällen, wo die Festnahme in propagandistischen Medien verbreitet wurde, das Gericht später häufig härtere Strafen nach mehreren Artikeln verhängt. „Dies führt als zusätzliches Argument zu der Schlussfolgerung, dass das Gericht nur ein abhängiges Instrument ist, das die repressive Politik gegen pro-ukrainische Bürger in den besetzten Gebieten der Krym legitimiert“, heißt es in dem Bericht.  

    Nach Angaben von Krymski Prozes erschienen die ersten „Entschuldigungsvideos“ wegen pro-ukrainischer Einstellungen bereits im August 2022. Aktivisten der Organisation bezeichnen diese außergerichtliche Praxis als zusätzliche Strafmaßnahme zur eigentlichen Ordnungswidrigkeit. Diese Praxis ziele besonders auf der annektierten Krym auf die Einschüchterung der Bevölkerung unter der Besatzung ab und zwinge sie dazu, ihre pro-ukrainischen Einstellungen zu verbergen.  

    „Strafmaßnahmen können Haft, Schläge und Durchsuchungen während der Haft, Verlust der Arbeit, Hasskampagnen im Internet und am Wohnort umfassen“ 

    „Ein häufig festgestellter Trend ist eine ganze Reihe zusätzlicher Strafmaßnahmen. Diese können Haft, Schläge und Durchsuchungen während der Haft, Verlust der Arbeit, Hasskampagnen im Internet und am Wohnort sowie die Verbreitung von Videos in sozialen Netzwerken und kontrollierten Medien umfassen, bei denen die Festgenommenen zu Handlungen gezwungen werden, die die Menschenwürde verletzen“, erklärt die Organisation gegenüber Graty. „Oft werden die Bewohner der besetzten Gebiete zu einer Entschuldigung für ihre Überzeugungen vor laufender Kamera gezwungen, manchmal gehen die Sicherheitskräfte in der Demütigung noch viel weiter: Sie ziehen den Gefangenen russische Militäruniformen an, verlangen, die russische Hymne zu singen und ihre Unterstützung für die russische Militäraggression, Putins Politik oder anderes zu verkünden.“  

    Nach Angaben von Aktivisten wurden diese Veröffentlichungen meist durch den prorussischen Blogger Alexander Talipow initiiert, der mit dem bereits erwähnten Telegram-Kanal Krymski Smersch in Verbindung steht. Dessen Infos werden oft von anderen Kanälen und unter der Besatzung tätigen prorussischen Medien aufgegriffen.  

    Wer sind Alexander Talipow und sein „Genosse Major“? 

    Alexander Talipow ist ein ehemaliger Grenzsoldat aus Sudak, prorussischer Aktivist und Blogger auf der besetzten Krym. Er war Gründer der Telegram-Kanäle TalipoV, Online Z und Krymski Smersch (benannt nach dem sowjetischen Geheimdienstnetzwerk „Tod den Spionen“, das während des Zweiten Weltkriegs tätig war – Graty). Auf diesen Kanälen veröffentlicht er persönliche Daten und Kontakte von Menschen, die die Ukraine unterstützen, eine Antikriegsposition einnehmen oder die Besatzungsmacht kritisieren, verbunden mit Aufrufen an die Abonnenten, jene online zu belästigen oder mit Kontaktaufnahme durch den „Genossen Major“ zu drohen.  

    Talipow verbreitet Propagandabotschaften und anti-ukrainische Memes und postet in Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften Videos mit erzwungenen „Entschuldigungen“. Er war auch ein wichtiger Zeuge im Prozess gegen Bohdan Sisa, einen Künstler und Performer von der Krym, der im Juni letzten Jahres zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er bei einer Aktion gegen die russische Aggression ein Gebäude der Besatzungsverwaltung mit blauer und gelber Farbe begossen und dann in Brand gesteckt hatte. 

    „Krymski Smersch in Russland als zivilgesellschaftliche Organisation registriert“ 

    Für seine Tätigkeit erhielt Talipow verschiedene Auszeichnungen und Dankesurkunden von den russischen Besatzungsbehörden auf der Krym. Er sammelt auch Geld, um die russische Besatzungsarmee im Krieg gegen die Ukraine zu unterstützen. Am 11. Juli 2024 wurde Krymski Smersch als zivilgesellschaftliche Organisation in Russland registriert. 

    Aufgrund all dieser Aktivitäten eröffnete die ukrainische Staatsanwaltschaft der Autonomen Republik Krym im Jahr 2022 ein Verfahren wegen Anstiftung zu ethnischer Feindseligkeit und Hass in Verbindung mit Bedrohungen (Art. 161, Abs. 2 StGBUKR) sowie ein weiteres im Jahr 2023 aufgrund des Verdachts der Unterstützung des Aggressorstaates (Art. 111.2, Abs. 1 StGBUKR). Talipow behauptet, die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden hätten bereits mindestens vier Verfahren gegen ihn eingeleitet. 

    Am 12. Juli 2023 meldete Talipow einen Anschlagsversuch auf ihn: Jemand habe im Hof seines Hauses in Feodossija ein Moped in die Luft gesprengt. Am 15. Juli 2024 wurde bekannt, dass die Besatzungsbehörden auf der Krym ein Verfahren gegen zwei Personen wegen der Organisation eines Attentats auf Talipow, mutmaßlich im Auftrag der ukrainischen Geheimdienste, eingeleitet haben. 

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  • Die vergiftete Desna

    Die Umweltzerstörung ist eine der weniger beachteten Folgen von Russlands Krieg gegen die Ukraine, so sehr sich ukrainische Vertreter und internationale Unterstützer auch bemühen, Hinweise und Belege für einen Ökozid zusammenzutragen.  

    Fehlgeleitete oder von der Flugabwehr abgeschossene Raketen verursachen Waldbrände. Schützengräben durchziehen ganze Landstriche, je näher man der über 1.200 Kilometer langen Front kommt. Die Sprengung des Kachowka-Staudamms im Juni 2023 trocknete Stauseen aus und veränderte Flussläufe. Explodierende Minen führen zu Feld- und Steppenbränden. Alle Kämpfe verunreinigen Luft, Boden und Grundwasser, besonders wenn der Beschuss Industrieanlagen trifft. Die Kriegsfolgen für die Umwelt sind vielfältig, die Zuordnung von Verantwortlichen oder gar juristischer Schuld schwierig.  

    Jüngstes Beispiel ist die Verschmutzung zweier Flüsse im Grenzgebiet der Ukraine und Russlands. Diese Gegend hat die Kursk-Offensive der ukrainischen Armee seit Sommer 2024 zu einem neuen, intensiv umkämpften Kriegsschauplatz gemacht. Gerade dort entdeckten Anwohner und Behörden im August tonnenweise tote Fische und Chemikalien im Flusswasser – zunächst im Seim, dann in der Desna. Da Letztere im Norden von Kyjiw in den Dnipro fließt, galt im September gar die Trinkwasserversorgung der Hauptstadt als gefährdet. Spekulationen über den Auslöser reichen von absichtlicher Vergiftung durch Russland bis zu Austritt von Giftstoffen durch Beschuss einer Fabrik in Flussnähe. 

    Reporter des Onlinemediums Frontliner sind darum die Desna von Kowtschyn im Norden der Region Tschernihiw gen Süden abgefahren und haben sich ein Bild vom Ausmaß der Verschmutzung und den örtlichen Auswirkungen gemacht.  

    Eine Anwohnerin im Dorf Ladynka, Oblast Tschernihiw, schaut auf den verschmutzten Fluss Desna, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Eine Anwohnerin im Dorf Ladynka, Oblast Tschernihiw, schaut auf den verschmutzten Fluss Desna, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Die Wasserqualität der Desna verbessert sich, der Fluss wird sauberer. Das berichtet im September die Dorfverwaltung in Kulykiwka (Region Tschernihiw). Wie das nationale Umweltministerium bestätigt, verlangsamt sich die Verschmutzung. Belüftungsanlagen sind (zur Wasserreinigung – dek) in Betrieb genommen. Das Schwimmen und Angeln in der Desna ist dennoch weiterhin verboten.  

    Am 28. August 2024 ereignete sich infolge der Verschmutzung des Flusses Seim eine Umweltkatastrophe. Ausgangspunkt war die Oblast Kursk in der Russischen Föderation, die Quelle der Verschmutzung eine Zuckerraffinerie in Tjotkino, aus der mehr als 5.000 Tonnen Erzeugnisse der Rohstoffverarbeitung ins Wasser gelangt sind, sagt der Direktor des Instituts für Hydrobiologie der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, Serhij Afanasjew. Nach Angaben der staatlichen Umweltinspektion erstreckte sich die Verschmutzung der Desna über eine Strecke von 242 Kilometern.   

    Durch Chemikalien im Fluss getötete Fische in der Desna im Dorf Awdijiwka, Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Durch Chemikalien im Fluss getötete Fische in der Desna im Dorf Awdijiwka, Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Die Einwohner der Regionen Sumy und Tschernihiw waren besonders von der Freisetzung giftiger Substanzen betroffen. Die Gemeinderatsvorsitzende Julija Posternak aus Kulykiwka berichtet:  

    „Es war furchtbar. Die Desna fließt durch unsere Gemeinde und bestimmt das Leben der Menschen hier. Wir haben sofort alle über die Gefahr informiert, und das Schwimmen sowie das Trinken von Wasser aus dem Fluss verboten. Fünf Tage nach der Verschmutzung begann das Fischsterben. Am schlimmsten war es zehn Tage nach der Verschmutzung: Der Gestank war so stark, dass man keine zehn Meter an den Fluss herantreten konnte. Jetzt ist die Situation besser und das Wasser sauberer.“ 

    Auch Iwan Mychailowytsch, ein Angler aus dem Dorf Kowtschyn, berichtet, was er so noch nie erlebt habe: 

    „Der Gestank war unerträglich. Es roch wie in der Kanalisation. Das ist nicht normal“, erzählt der Anwohner. 

    Iwan Mychailowytsch kommt vom Fischen in einem der Seen bei Kowtschyn in der Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Iwan Mychailowytsch kommt vom Fischen in einem der Seen bei Kowtschyn in der Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Seitdem regeneriert sich die Desna schrittweise, wie Olena Kramarenko, stellvertretende Ministerin für Umweltschutz und natürliche Ressourcen der Ukraine, einschätzt: 

    „Am Übergang des Seim in die Ukraine, dort wo die Verschmutzung zuerst festgestellt wurde, hat der Gehalt an gelöstem Sauerstoff im Wasser die Norm von vier Milligramm pro Kubikdezimeter erreicht. Ein Fischsterben wird nicht mehr beobachtet. In der Desna ist die Verschmutzung zurückgegangen. Sie wird punktuell erfasst und ist unterschiedlich stark. In der Oblast Tschernihiw gibt es drei Belüftungsanlagen. In der Oblast Kyjiw werden zusätzliche Belüftungssysteme installiert“, sagt Olena Kramarenko. 

    Durch Chemikalien im Fluss getötete Fische in der Desna bei Ladynka in der Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Durch Chemikalien im Fluss getötete Fische in der Desna bei Ladynka in der Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Allerdings sei es noch zu früh, das Wasser sicher für den Haushaltsbedarf zu nutzen. Schwimmen und Angeln in der Desna bleiben komplett verboten. Laut Serhij Afanasjew vom Hydrobiologie-Institut werden die Ökosysteme der Flüsse Seim und Desna zwei bis drei Jahre brauchen, um sich zu erholen.  

    Die durch Russlands Krieg verursachte Umweltkatastrophe betrifft womöglich auch nicht nur die Bewohner der Regionen Sumy und Tschernihiw, sondern kann auch die Qualität des Trinkwassers in der Hauptstadt beeinträchtigen. Die Stadtverwaltung Kyjiw bereitet sich auf das Worst-Case-Szenario vor und legt Vorräte an sauberem Trinkwasser an.

    „Achtung! Aufgrund von nachgewiesenen Giftstoffen ist das Baden, Angeln und die Wasserentnahme für Nutztiere aus dem Fluss Desna verboten“, Aushang im Dorf Awdijiwka in der Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    „Achtung! Aufgrund von nachgewiesenen Giftstoffen ist das Baden, Angeln und die Wasserentnahme für Nutztiere aus dem Fluss Desna verboten“, Aushang im Dorf Awdijiwka in der Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Auch langfristige Vorhersagen darüber, wie sich die Verschmutzung des Flusses Seim auf das Ökosystem der Ukraine auswirken wird, sind noch kaum möglich. Nach Angaben des amtierenden Leiters der staatlichen Umweltinspektion, Ihor Subowytsch, wurden infolge der Verschmutzung aus Russland bereits 31.000 tote Fische geborgen. Die Desna könne sich zwar selbst regenerieren, doch bislang entsprächen die physikalischen und chemischen Parameter des Wassers nicht der Norm. Die ukrainische Agentur für Wasserressourcen und die Umweltinspektion setzen ihre verstärkte Krisenüberwachung des Wasserzustands fort. 

    Anfang Oktober erklärt das Umweltschutz-Ministerium, dass schon an neun Orten Belüftungsanlagen in Betrieb seien, um weitere Vergiftung der Desna zu verhindern: sechs in der Oblast Tschernihiw und drei in der Oblast Kyjiw. Das Wasser wird dabei künstlich mit Sauerstoff gesättigt, was den Prozess der Selbstreinigung des Flusses unterstützt. Bislang sei für Kyjiw und Umgebung keine Verschlechterung der Wasserqualität für die Verbraucher festzustellen.  

    Die Desna bei Ladynka in der Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Die Desna bei Ladynka in der Oblast Tschernihiw, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    In der Oblast Tschernihiw ist das Fischen an der Desna nach wie vor verboten, auch wenn das Massensterben der Fische aufgehört hat. Umweltschützer nehmen weiterhin Wasserproben und untersuchen diese auf mögliche giftige Substanzen, um die Bevölkerung im Falle einer erneuten Kontamination rechtzeitig über die Gefahren der Trinkwasserentnahme aus der Desna zu informieren. 

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  • Die Hexen von Butscha

    Die Hexen von Butscha

    In der Kyjiwer Vorstadt Butscha hat sich die erste Freiwilligen-Flugabwehreinheit der Ukraine gegründet, in der nur Frauen dienen: Einerseits, weil es mit dem anhaltenden Krieg immer mehr an Männern mangelt. Andererseits, weil eigene Erfahrungen und Verluste durch den russischen Aggressor seit dem brutalen Massaker an der Zivilbevölkerung im Frühjahr 2022 diese Frauen zur Landesverteidigung motiviert. 

    Wenn der Arbeitstag als Ärztin oder Lehrerin endet, Kinder und Familie versorgt sind, dann kommen diese Frauen zum Militärtraining und schieben Bereitschaftsdienste bei der lokalen Flugabwehr: Nähern sich russische Drohnen oder Raketen vom Nordwesten der Hauptstadt, stehen die „Hexen von Butscha“ bereit, um die todbringenden Geschosse unschädlich zu machen. Ihre Vorgesetzten im Verteidigungsstab sind weiterhin Männer. Einer von denen sagt: „In Uniform bist du nicht mehr Frau oder Mann, da bist du Kämpfer.“ 

    Ein Reporter-Team des ukrainischen Onlinemediums Frontliner hat die erste Flugabwehr-Frauentruppe bei Militärübungen besucht und stellt einige der Kämpferinnen vor. 

    Die ukrainische Flugabwehr-Schützin „Mala“ trainiert an der Zwillingskanone eines Maxim-Maschinengewehrs, wie man russische Drohnen abschießt. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    Die ukrainische Flugabwehr-Schützin „Mala“ trainiert an der Zwillingskanone eines Maxim-Maschinengewehrs, wie man russische Drohnen abschießt. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Eine zierliche Frau reinigt ein Maschinengewehr und gießt Wasser hinein. Sie erzählt: „Meine Aufgabe ist es, das Maschinengewehr mit Wasser zu füllen, es zu zerlegen und zusammenzubauen, das Wasser abzugießen und die Waffe in Kampfstellung zu bringen.“ Wie ein Maschinengewehr funktioniert, hat sie gelernt, als sie sich der Einheit „Hexen von Butscha“ anschloss, die den Himmel über der Region Kyjiw vor russischen Drohnen und Raketen schützt. 

    Die Gemeinde von Butscha beschloss aufgrund der demografischen Situation in der Stadt, die ersten mobilen Flugabwehrtrupps in der Ukraine zu bilden, die ausschließlich aus Frauen bestehen. Während der Besatzung von Butscha wurden fast alle Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren, die die Stadt nicht verlassen konnten, umgebracht. Insgesamt wurden in der Stadt mehr als 600 Menschen getötet und zu Tode gefoltert. Die Russen erschossen in Butscha ganze Familien. Nach der Befreiung gingen viele Männer der Stadt an die Front. Der lokale Freiwilligenverband brauchte dann eine Fraueneinheit. 

    Die Frauen-Einheit bei Kraftübungen, von Plank zu einarmigem Unterarmstütz. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Die Frauen-Einheit bei Kraftübungen, von Plank zu einarmigem Unterarmstütz. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Zu den „Hexen von Butscha” gehören Frauen unterschiedlichen Alters, mit unterschiedlicher Bildung, aus verschiedenen Berufen und mit unterschiedlicher Lebenserfahrung. Doch jede hier sei eine Kämpferin, sagt der Stabschef mit Kampfnamen „Weles“ vom Freiwilligenverband Butscha: 

    „Männer sind stärker und eher bereit zu vehementem, aggressivem Handeln. Frauen dagegen sind reflektierter, organisierter und verantwortungsbewusster. Unsere ukrainischen Frauen sind Kosakinnen, sie sind vielen Orks überlegen. In Uniform bist du nicht mehr Frau oder Mann, da bist du Kämpfer“, so „Weles“. „Ein Kämpfer zu sein, bedeutet, mehr als Mann oder Frau zu sein. Dann ist man ein Mensch, der Verantwortung für sich selbst, für das Land und für die Menschen übernimmt, die er verteidigt.“ 

    Während ihrer mehrtägigen Einsätze wohnen die Frauen in Zeltlagern im Wald. „Mala“ flechtet ihrer Kameradin „Forsash“ die Haare, um sie unterm Helm zu verstecken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    Während ihrer mehrtägigen Einsätze wohnen die Frauen in Zeltlagern im Wald. „Mala“ flechtet ihrer Kameradin „Forsash“ die Haare, um sie unterm Helm zu verstecken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Die Frauen gehen alle drei Tage in den Kampfeinsatz, dadurch können sie den Dienst mit ihrem zivilen Leben verbinden. Manche der „Hexen von Butscha” erziehen neben ihren Einsätzen zum Schutz des Luftraums noch zwei oder drei Kinder und arbeiten Vollzeit. Die Einwohner von Butscha statten den Freiwilligenverband mit Ausrüstung und Waffen aus. Geld bekommen die Kämpferinnen jedoch nicht, denn sie tun ihren Dienst bei der Flugabwehr als Freiwillige. 

    Die zwei unzertrennlichen Freundinnen „Mala” und „Forsash” sind gemeinsam der mobilen Flugabwehrtruppe beigetreten. Gemeinsam trainieren sie nun, Sturm- und Maschinengewehre zu reinigen, zu laden, damit zu schießen und in Abschnitten zu patrouillieren. Neben ihrem Dienst bei den „Hexen von Butscha” arbeiten sie in einem Krankenhaus. 

    Die Tierärztin mit Kampfnamen „Walküre“ (Alter „über 50“) meint, „die Männer gehen an die Front, deshalb ersetzen wir sie hier“. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Die Tierärztin mit Kampfnamen „Walküre“ (Alter „über 50“) meint, „die Männer gehen an die Front, deshalb ersetzen wir sie hier“. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    „Mala“, 26 Jahre  

    „Mala“ [ukr. die Kleine] ist Maschinengewehrschützin und lernt schnell den Umgang mit der Waffe. Es ist ein Maschinengewehr aus dem Jahr 1944, noch aus Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Sie nennt es liebevoll „Maximka“. Obwohl es aus dem letzten Jahrhundert stamme und ein vormodernes Wasserkühlsystem habe, schieße es gut, wenn es richtig gewartet werde, meint sie. 

     „Mala“ (im zivilen Leben Allgemeinärztin) zerlegt und reinigt ein Maxim-Maschinengewehr aus dem Jahr 1944. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Mala“ (im zivilen Leben Allgemeinärztin) zerlegt und reinigt ein Maxim-Maschinengewehr aus dem Jahr 1944. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    „Mala“ trainiert seit einem Monat bei den „Hexen von Butscha”. Als der Freiwilligenverband die Rekrutierung von Frauen zur Flugabwehr ankündigte, schloss sie sich ihm sofort an. „Ich wollte schon länger dienen, denn in meiner Familie sind viele bei der Armee, aber ich kann nicht zu den Streitkräften gehen, weil ich als Ärztin in einem Krankenhaus arbeite“, sagt sie. 

    Eine zusätzliche Motivation, sich der mobilen Flugabwehrgruppe anzuschließen, war die schwere Verletzung ihres Freundes, der im Serebrjanka-Wald durch eine Mine sein Bein verlor. Ihr Freund bestärkte ihre Entscheidung, sich freiwillig zu melden, und plant auch selbst, nach der Rehabilitation seinen Dienst bei „Asow” fortzusetzen. 

    „Mala“ hat ihre Ausrüstung abgelegt und ruht sich nach der Übung aus. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    „Mala“ hat ihre Ausrüstung abgelegt und ruht sich nach der Übung aus. Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    „Forsash”, 27 Jahre  

    Mit „Mala” im Team arbeitet „Forsash”. Sie dient als Ladeschützin und Fahrerin. Bei einem Luftangriff muss sie schnell das Maschinengewehr laden und in Gefechtsstellung bringen. Ihren Kampfnamen (ukrainischer Titel des Films „Fast & Furious” – dek) gab ihr der Waffenmeister, als er das erste Mal mit ihr als Fahrerin unterwegs war. 

    „Forsash“ meint, dass Schnelligkeit für die mobilen Flugabwehrtrupps essentiell sei, da die Shahed-Drohnen sehr schnell fliegen (etwa 200 Stundenkilometer – dek). Nur wenn man die Position rechtzeitig erreicht, kann man sie abschießen. 

    „Forsash“ erhält ein Sturmgewehr aus der Waffenkammer. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Forsash“ erhält ein Sturmgewehr aus der Waffenkammer. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    „Forsash“ kam vor einem Monat zu der Flugabwehreinheit, um ihre Angehörigen zu schützen. „Niemand möchte, dass seine Wohnung von einer Rakete getroffen wird. Ich habe hier meine Brüder, Schwestern, Freunde, Pateneltern und Patenkinder in Butscha“, sagt sie. Sie mag es, etwas Nützliches zu tun und freut sich, dass sie ihren Dienst im Freiwilligenverband mit ihrer Arbeit als Anästhesistin auf der Intensivstation im Krankenhaus von Irpin verbinden kann. 

    Die Munition, mit der die Einheit teure russische Drohnen oder Raketen abschießt, stammt noch aus der Sowjetzeit. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    Die Munition, mit der die Einheit teure russische Drohnen oder Raketen abschießt, stammt noch aus der Sowjetzeit. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Sowohl „Mala” als auch „Forsash” arbeiteten während der Kämpfe um Butscha und unter russischer Besatzung weiter in der medizinischen Einrichtung. Nun sind sie froh, dass sie ihren Militärdienst mit ihrem Beruf verbinden können. Es sei zwar anstrengend, im Krankenhaus und in der Territorialverteidigung Schichten zu absolvieren. Dennoch sagen die Frauen, dass sie sich daran gewöhnt hätten und mit diesen Schwierigkeiten fertig würden. 

    „Tajana”, 41 Jahre  

    Während der Kämpfe um Butscha verlor „Tajana” ihren Mann, der seinen Beruf als Journalist aufgegeben und sich am ersten Tag der Invasion als Freiwilliger der Territorialverteidigung angeschlossen hatte. Ihre Mutter starb aufgrund der ständigen Stressbelastung durch die Kämpfe und auch ihr Schwager kam ums Leben. Während der Besatzung von Butscha wurde ihr Haus und auch das ihrer Eltern zerstört, sodass sie selbst ohne Dach über dem Kopf zurückblieb. Nach dem Tod ihrer Liebsten wollte „Tajana” sich den ukrainischen Streitkräften anschließen, was man ihr jedoch wegen ihrer Traumatisierung zunächst verwehrte.

    „Tajana” mit Waffen auf dem Schießstand, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Tajana” mit Waffen auf dem Schießstand, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Heute trainiert „Tajana” bei den „Hexen von Butscha” und arbeitet außerdem als Prüferin beim Wasserversorgungsunternehmen. Auch sie sagt, dass es schwierig sei, die Arbeit, ihren Dienst im Freiwilligenverband und die Erziehung ihrer 14-jährigen Tochter unter einen Hut zu bringen. Das Schwierigste sei jedoch nicht die körperliche Erschöpfung, sondern das Unverständnis vieler Menschen: „Nachdem ich mich hierzu entschied, sagten mir Leute: ,Hast du sie noch alle’, ‚Du hast Kinder‘, ‚Warum hast du das gemacht‘, ‚Dein Hauptberuf ist wichtiger, als den Staat zu schützen‘. In solchen Momenten wende ich mich ab und gehe, denn der Schutz unseres Staates ist für mich das Wichtigste, was wir haben.”  

    „Sie verstehen nicht, dass es ohne Sicherheit auch ihren Beruf nicht mehr gibt”,  sagt „Tajana” mit Tränen in den Augen. „Wenn es keine Ukraine mehr gibt, gibt es keine Arbeit, kein Leben, einfach nichts. Nur dank uns Freiwilligen, den Helfern und den Frauen und Männern an der Front, haben sie Arbeit, können schlafen und ihr Leben weiterleben.“ 

    Kampf-Utensilien auf dem Bett in der Unterkunft der Frauen, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Kampf-Utensilien auf dem Bett in der Unterkunft der Frauen, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

    Für „Tajana” war die Entscheidung, sich dem mobilen Flugabwehrtrupp anzuschließen, durch ihren persönlichen Schmerz bestimmt. Sie sagt, das Training bei den „Hexen von Butscha” habe ihr nach dem Tod ihres Mannes gutgetan. Nun habe sie das Gefühl, endlich wieder zu leben. 

    „Cherry”, 51 Jahre  

    „Cherry” ist durch Zufall bei den „Hexen von Butscha” gelandet. Eigentlich fuhr sie ihre Freundin zu einem Gespräch mit dem Kommandeur und beschloss dann kurzerhand, selbst dem Freiwilligenverband beizutreten. 

    Jetzt dient sie in der Einheit als operative Einsatzleiterin, fährt auf dem Territorium Patrouille und meldet Gefahren. Gleichzeitig arbeitet „Cherry” als Mathematik- und Informatiklehrerin und hat drei Kinder. Sie sagt, dass es schwierig werde, wenn im September die Schule beginne, doch sie möchte etwas zur Gemeinschaft beitragen. 

    „Cherry“ (sitzend) deckt ihre Freundin „Walküre“ bei einer Übung zum taktischen Verrücken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Cherry“ (sitzend) deckt ihre Freundin „Walküre“ bei einer Übung zum taktischen Verrücken. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Trotz der körperlichen Herausforderungen genießt „Cherry” ihre Zeit bei den „Hexen von Butscha”. Sie sagt: „Jede hier ist sie selbst, man unterstützt und hilft sich gegenseitig.“ Jeder Ukrainer sollte seinem Land größtmöglichen Nutzen bringen. „Wenn jeder das Land wirklich liebt und schätzt und nicht so tut, als gehe ihn all dies nichts an, wenn jeder ein echter Patriot ist, dann werden wir auf jeden Fall gewinnen. Man darf einander nicht hängen lassen, sondern muss sich nach eigenen Kräften so gut wie möglich unterstützen“, so „Cherry”.  

    Sie ist froh, dass ihre Familie und Freunde ihre Entscheidung für die Territorialverteidigung unterstützen, und glaubt, dass auch ihre Schüler stolz auf sie sein werden. 

    „Kalypso“, 31, Kommandeurin der „Hexen von Butscha” 

    „Kalypso” kam als erste Frau zum Freiwilligenverband in Butscha. Mit ihr begann die Gründung der Fraueneinheit. Deshalb wurde sie zur Kommandeurin ernannt. 

    „Kalypso“ legt vor dem Training ihre Kampfausrüstung und ihr Kopftuch an. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Kalypso“ legt vor dem Training ihre Kampfausrüstung und ihr Kopftuch an. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Als die vollumfängliche Invasion begann, brachte sie ihre Mutter an einen sicheren Ort und griff selbst zur Waffe. Zunächst arbeitete „Kalypso” in einer schnellen Eingreiftruppe, welche die Gegend patrouillierte und Bombenschutzkeller kontrollierte, um sicherzustellen, dass sie während der Luftalarme nicht verschlossen waren. Außerdem beteiligte sie sich an der Bekämpfung von Saboteuren. Jetzt bildet sie neue Freiwillige aus, um den Himmel über der Region Kyjiw zu schützen. 

    Vor dem Krieg leitete Kalypso die Serviceabteilung einer Ladenkette, die Türen verkauft und arbeitete als Restaurantmanagerin. „Jetzt habe ich keine Zeit mehr für das zivile Leben und widme mich ganz meiner Arbeit im Freiwilligenverband. Es wäre toll, wenn in der ganzen Ukraine Frauen ihre Familien schützen könnten. Wir arbeiten im Team. Jede einzelne ist für die anderen da“, erzählt sie. 

    „Kalypso“ (links) und ihre Einheit bei der Plank-Übung, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Kalypso“ (links) und ihre Einheit bei der Plank-Übung, Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    „Kalypso” ermutigt andere Frauen, sich den „Hexen von Butscha” anzuschließen. Sie sagt: „Wir haben zwar Waffen, aber nicht genügend Hände, um sie zu bedienen, also suchen wir ständig nach Freiwilligen. Viele Männer haben Angst, dass sie zur Armee eingezogen werden, wenn sie sich beim Freiwilligenverband melden, also rekrutieren wir Frauen.“ 

    „Kalypso“ zeigt „Tajana“, die sich mit dem Gewehrkolben die Lippen aufgeschlagen hat, den richtigen Positionswechsel mit der Waffe. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner
    „Kalypso“ zeigt „Tajana“, die sich mit dem Gewehrkolben die Lippen aufgeschlagen hat, den richtigen Positionswechsel mit der Waffe. Foto © Andrii Dubtschak/Frontliner

    Laut Stabschef „Weles“ machen Frauen bereits mehr als die Hälfte im gesamten Freiwilligenverband von Butscha aus. Ihre Zahl ist jedoch nicht ausreichend, weshalb die Rekrutierung fortgesetzt wird, um die „Hexen von Butscha” aufzustocken. 

    „Weles” ist stolz auf die Frauen, die sich dem mobilen Flugabwehrtrupp angeschlossen haben: „Dank ihnen können die meisten Menschen in Kyjiw und unsere Bewohner in Butscha friedlich in ihren Häusern schlafen und reagieren oft nicht einmal mehr auf Luftalarm.“ 

    Ein Flugabwehr-Trio der „Hexen von Butscha“ im Trainingseinsatz, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner
    Ein Flugabwehr-Trio der „Hexen von Butscha“ im Trainingseinsatz, Foto © Danylo Dubtschak/Frontliner

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