Informationen spielen eine Schlüsselrolle im Krieg. Doch je länger Russlands Krieg gegen die Ukraine dauert, umso mehr kämpfen auch die Medien ums Überleben.
Noch gibt es in der Ukraine eine vielfältige Medienlandschaft: Neben dem vielfach beschriebenen TV-Marathon der Einheit gibt es reichweitenenstarke allgemeine Online-Medien wie die Ukrajinska Prawda, thematisch spezialisierte Portale wie Graty (Gerichtsberichterstattung), Frontliner (Kriegsreportage), Zmina (Menschenrechte) oder Texty (Daten, Recherche, Visualisierung), Radiosender wie Hromadske Radio sowie zahlreiche, auch jüngere Regional- und Lokalmedien. Für die Berichterstattung ins Ausland sind The Kyiv Independent und Kyiv Post mittlerweile unersetzlich.
Mag Russlands Invasion 2022 den ukrainischen Medien noch einen Publikumszuwachs beschert haben, werden nach über drei Jahren Krieg die langfristigen Kriegsfolgen für die ukrainische Medienwelt spür- und sichtbar.
Das ukrainische Institut für Masseninformationen (IMI) hat nach dem Wegbrechen der USaid-Programme Anfang 2025 eine Umfrage unter Medienschaffenden durchgeführt und daraus Empfehlungen für den Staat, Förderer und Spender abgeleitet. Demnach seien finanzielle Stabilität und das grundsätzliche Überleben der Medien das Kernproblem, besonders für reichweitenschwächere und lokale Medien. The Kyiv Independent startete im Frühjahr ein Förderprogramm für betroffene ukrainische Regionalmedien.
Die Wissenschaftler Andreas Umland und Diana Dutsyk vom Stockholmer Zentrum für Ostereuropa-Studien betonen indes in ihrem aktuellen Bericht Between Freedom and Censorship: „Trotz finanzieller Schwierigkeiten, Zentralisierungstendenzen und kriegsbedingten strukturellen Veränderungen ist der öffentliche Diskurs in der Ukraine relativ pluralistisch geblieben, wenn auch mit einigen Einschränkungen in Bezug auf das Fernsehen.“
„Wir kämpfen um jedes Wort“: Was die Kriegsfolgen konkret für lokale und regionale Medien bedeuten, hat Wadym Pelech, Chefredakteur der Lokalzeitung Bukowyna in Tscherniwzi, in seinem Leitartikel zum ukrainischen Tag der Journalist:innen am 6. Juni kompakt und pointiert zusammengefasst.
Der LOKALJOURNALISMUS war schon immer am Puls der Gesellschaft und eine Art Barometer für die Stimmung und Entwicklungen in den Gemeinden. Zu Friedenszeiten kann man seine Bedeutung kaum überschätzen: Er prägt die lokale Identität, kontrolliert Politik und Verwaltung und informiert die Bevölkerung über relevante Prozesse. Doch nun im vollumfänglichen Krieg, der das gesamte Land auf Überleben und Kampf gegen die russischen Angreifer ausrichtet, geraten die Regionalmedien in eine beispiellos existenzielle Lage. Tscherniwzi erlebt diese Herausforderungen wie jede andere Regionalhauptstadt in voller Härte.
Das „Journalisten-Corps“ aus Tscherniwzi kämpft in verschiedenen Einheiten der Ukrainischen Armee.
Die ERSTE und wohl schmerzhafteste Herausforderung ist der Verlust von Mitarbeitern. Wie Millionen andere Ukrainer melden sich auch Journalisten zum Schutz ihres Vaterlandes. Das „Journalisten-Corps“ aus Tscherniwzi kämpft in verschiedenen Einheiten der Ukrainischen Armee. Leider gibt es auch hier Verluste. Allein seit letztem Jahr gelten zwei unserer Kollegen, Medienschaffende aus Tscherniwzi, als vermisst.
Da es kaum Freistellungskontingente gibt und oft die Besten ihres Fachs mobilisiert werden, müssen nun alle Übrigen bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten arbeiten: nicht nur über Ereignisse berichten, sondern auch die patriotische Message verbreiten, die Mobilisierungsgesetze und andere wichtige militärisch-patriotische Informationen erläutern, die von entscheidender Bedeutung für den Zusammenhalt und die Stabilität unserer Gesellschaft sind.
Das Kriegsrecht wird zu einem bequemen Instrument, um sich öffentlicher Verantwortung zu entziehen.
Die ZWEITE Herausforderung ist der erschwerte Zugang zu Informationen und, dass das Kriegsrecht teils als Vorwand genutzt wird, um zweifelhaftes Handeln zu verschleiern. Kommunale Behörden verweisen nicht selten auf „sensible“ Angaben und „Sicherheitsinteressen“ und schränken damit den Zugang zu eigentlich öffentlichen Informationen ein, die in Friedenszeiten frei zugänglich wären. Das Kriegsrecht wird zu einem bequemen Instrument, um sich öffentlicher Verantwortung zu entziehen. Und Journalisten, die versuchen ihre Arbeit zu machen, werden beschuldigt, „die Lage zu destabilisieren“ oder im Interesse bestimmter „Clans zu arbeiten“. Diese Umstände erzeugen Druck und sind eine Gefahr für den objektiven Journalismus.
Der DRITTE destruktive Faktor ist der Verlust von Werbeeinnahmen. Die Wirtschaft in der Ukraine befindet sich im Kriegszustand und zuallererst leiden darunter diejenigen Sektoren, die von der allgemeinen Wirtschaftslage abhängig sind. Der Anzeigenmarkt ist praktisch zusammengebrochen. Regionalen Medien entgeht der Löwenanteil ihrer Einnahmen. Doch ohne finanzielle Unterstützung, ohne die Möglichkeit, Personal zu halten und in Innovationen zu investieren, stehen Medien am Rande ihrer Existenz. Die Folge sind Personalkürzungen, Projektstopps und letztendlich die Gefahr des vollständigen Verschwindens.
Medienschaffende beginnen aus Angst ihr Material zu filtern.
Die VIERTE Herausforderung ist die Monopolisierung des Nachrichtenmarktes. In Kriegszeiten benötigt die Gesellschaft schnell und zentralisiert Informationen, deshalb wächst die Rolle der überregionalen Medien. Sie verfügen über Ressourcen, um unter Kriegsbedingungen zu arbeiten und ihre Nachrichten schnell zu verbreiten. Dies geschieht jedoch oft auf Kosten der regionalen Medien, die mit solchen Giganten nicht konkurrieren können. Lokale Nachrichten, lokale Konflikte, lokale Protagonisten, all das geht im Strom der landesweiten Informationen und Nachrichten schnell unter.
All diese Faktoren, ergänzt durch das weit verbreitete Narrativ „Journalisten sind an allem schuld” (oft durch jene verbreitet, die ein Interesse daran haben, Informationen zu verbergen), führen zu dem gefährlichen Phänomen der inneren Selbstzensur. Medienschaffende beginnen aus Angst vor Anschuldigungen, Druck oder Jobverlust, ihr Material zu filtern, heikle Themen zu vermeiden und „Ecken und Kanten zu schleifen“. Dies zerstört jedoch nicht nur das Vertrauen in die Medien, sondern beraubt die Gesellschaft auch wichtiger, wahrheitsgemäßer Informationen.
Zuletzt sollte außerdem auf die Sabotage der Zeitungsabos durch Ukrposchta hingewiesen werden [In der Ukraine abonniert man regelmäßig erscheinende Zeitungen und Zeitschriften direkt über die Ukrainische Post – dek]. Da Werbeeinnahmen fast vollständig ausfallen, könnten Abonnements von Printmedien ein Rettungsring sein. In der Praxis bekommt der Leser seine Lieblingszeitung jedoch nicht dank, sondern trotz des Handelns von Ukrposchta: Verzögerungen, Probleme bei der Zustellung, mangelnde Motivation der Postboten. Das trifft die wenigen Leser hart, die noch Printmedien im Abo unterstützen.
Wie überleben? Die Antwort ist komplex.
All dies stellt den Lokaljournalismus in Tscherniwzi und der gesamten Ukraine vor die existenzielle Frage: Wie überleben? Die Antwort ist komplex. Es braucht nicht nur Engagement der Journalisten selbst, sondern auch ein echtes Bewusstsein der Gesellschaft und der Politik für die entscheidende Rolle des unabhängigen Journalismus. Ohne ihn riskieren wir nicht nur den Verlust eines wichtigen Kontrollinstruments, sondern auch die Möglichkeit, eine informierte und kritisch denkende Gesellschaft zu sein, die selbst in Kriegszeiten ein Garant für die Demokratie ist.
Morgen ist der 6. Juni, der Tag des Journalisten, und wir werden erneut über unseren Platz in diesem Krieg nachdenken. Trotz aller Herausforderungen – Verlust von Kollegen, Ignoranz der Behörden, finanzielle Schwierigkeiten, Monopolisierung des Informationsraums und Störungen bei Abonnements – kämpfen wir weiter.
Wir arbeiten weiter: suchen nach der Wahrheit, decken Missstände auf, unterstützen unsere Soldaten und informieren die Gesellschaft darüber, was geschieht. Das ist nicht nur Arbeit – es ist, so pathetisch es klingen mag, unsere Mission. Eine Mission, die wir mit Verantwortungsbewusstsein und dem Verständnis erfüllen, dass ohne uns die unabhängigen Regionalmedien, in Tscherniwzi und anderen ukrainischen Städten, Gefahr laufen, in einem Informationsnebel und Fake News zu versinken, generiert von anonymen Bots in Sozialen Netzwerken.
WIR KÄMPFEN UM JEDES WORT, um jede wahre Nachricht, um jedes Abonnement. Und wir glauben daran, dass es dieser Kampf wert ist: Denn es geht um die Zukunft des ukrainischen Journalismus und um eine starke, tatsächlich informierte Gesellschaft.
Als Russland am 24. Februar 2022 vollumfänglich die Ukraine überfiel, befanden sich rund 3300 ukrainische Staatsbürger im Strafvollzug oder in Untersuchungshaft in jenen Gebieten, die Russland in den folgenden Wochen besetzt hat. Die russischen Besatzungsbehörden verlegen diese Gefangenen dann oft innerhalb der okkupierten Regionen oder verschleppen sie in Gefängnisse nach Russland.
Wenn die Gefängnisinsassen ihre Haftstrafe verbüßt haben, kommen sie nicht einfach frei, können nicht in die Ukraine zurückkehren. Denn schnell werden sie wieder von russischen Sicherheitskräften festgenommen: Wegen angeblicher Verstöße gegen Aufenthaltsgesetze oder fehlender Dokumente landen sie in temporären Abschiebeeinrichtungen, von wo aus sie theoretisch in die Ukraine abgeschoben werden müssten. Doch wegen des Kriegs ist eine direkte Abschiebung unmöglich. So müssen die Betroffenen oft Monate lang mit ungeklärtem Status in erneuter Haft warten, bis sie über Drittländer ausreisen können. In für lange Aufenthalte nicht ausgelegten Transitzonen sitzen sie fest und können nur auf die Hilfe von Freiwilligen hoffen.
Im großen Gefangenenaustausch „1000 für 1000“, dem einzigen sichtbaren Erfolg der ukrainisch-russischen Verhandlungen in Istanbul, hat Russland Ende Mai auch 120 ukrainische Zivilisten freigelassen. Unter ihnen sollen neben verschleppten politischen Gefangenen auch ehemalige Insassen von russisch besetzten ukrainischen Gefängnissen sein.
Das ukrainische Online-Portal Graty hat für seine Reportage mit Betroffenen und Menschenrechtlern gesprochen.
Die Insassen der Nördlichen Vollzugsanstalt Nummer 90 in Cherson behalten den russischen Einmarsch im Februar 2022 in lebhafter Erinnerung. „Es gibt da einen Garten vor dem Gefängnis. Einige Jungs gingen raus, und als sie zurückkamen, sagten sie: Seht mal, Jungs, da rollen Panzer“, erinnert sich Olexii (Nachname auf Wunsch des Gesprächspartners nicht genannt). „Dann rauschten Hubschrauber über uns hinweg. Wir gingen raus, kletterten aufs Dach und sahen, wie die Panzer vorbeifuhren. Sie kamen aus Richtung Beryslaw und fuhren über den Staudamm des Kachowka-Wasserwerks. Wir hatten keine Angst, haben erstmal nichts gemacht und einfach nur zugesehen.“
Olexii berichtet weiter: Einige Tage später kamen dann russische Soldaten in das Gefängnis, ließen alle Insassen in einer Reihe antreten und teilten ihnen mit, dass sie, die Russen, von nun an das Sagen hätten und „kurzen Prozess“ mit jedem machen würden, der etwas dagegen habe.
Eine Zeit lang schien sich sonst nichts zu ändern, doch im Frühsommer brachten die Besatzer dann Gefangene aus anderen Gefängnissen der Region zu ihnen. „Erst waren wir 600-700, vielleicht 800 Männer im Lager, doch dann wurden wir mehr als 2000. Wir schliefen auf Dreier-Etagenbetten“, berichtet Olexii. „Am 23. Oktober wurden wir nach Hola Prystan gebracht, wo es einen Tuberkulosetrakt gab. Die Brücke [über den Dnipro – dek] war bereits zerstört, also brachten sie uns per Fähre zur ‚Sieben‘ [Nummer des Gefängnisses]. Es war ein Alptraum: Da waren nur noch Ruinen, aber sie hielten uns dort für etwa zwei Wochen fest.“
Das Tuberkulose-Gefängnis von Hola Prystan in der Region Cherson, seit 2022 unter russischer Besatzung
Dann kam das russische Militär mit gepanzerten „Tigr“-Fahrzeugen, mit Maschinengewehren auf dem Dach, zum Gefängnis und teilte die Gefangenen in Gruppen zum Abtransport ein.
„Es fuhren sieben oder acht ‚Schwarze Raben‘ vor. In jedes Fahrzeug steckten sie 30-40 Personen. Wir waren 35 Personen im Laderaum“, erinnert sich Olexii. „Unsere erste Ladung mit etwa 250 Personen wurde nach Armjansk gebracht, wo wir zwei Stunden lang ausharrten, bis man uns nach Simferopol brachte. Dort befindet sich die U-Haftanstalt Nr. 2 des FSB.“
Das FSB-Untersuchungsgefängnis Nr. 2 in Simferopol auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krym / Foto von der Webseite von Sergej Axjonow, dem Oberhaupt der russischen Verwaltungsbehörde für die Krym
„Wenn du nicht arbeitest, stecken sie dich in die Grube“
In Simferopol bereitete man den Gefangenen einen „gebührlichen Empfang“, wie Olexii es beschreibt: Jeder, der aus dem Fahrzeug stieg, wurde von den Wärtern geschlagen. Olexii habe Schläge auf die Beine und den unteren Rücken bekommen. Witalii, ein weiterer ehemaliger Gefangener und ebenfalls Gesprächspartner für diesen Artikel, berichtet, dass einige Mithäftlinge durch die Schläge das Bewusstsein verloren.
„Wir wurden ganz schön verprügelt und ordentlich zugerichtet. Mir schlugen sie einen Zahn aus. Andere schlugen sie so heftig, dass sie ‚ausgeknipst‘ wurden und erst später wieder zu sich kamen. Ich weiß nicht, warum sie das taten. Vielleicht nur, um uns klarzumachen, mit wem wir es zu tun haben“, meint Witalii.
Später wiederholte sich dieses Ritual in Russland, wohin die Gefangenen von der Krym verlegt wurden. Erst bei der Ankunft dort erfuhr Witalii, dass er nun im Gefängnis Nr. 14 in der Region Krasnodar sei.
Olexii indes kam ins Gefängnis Nr. 2 in Dwubratskoje, ebenfalls in der Region Krasnodar. Dort nähten die Häftlinge Arbeitskleidung für Tankwarte, Bauarbeiter oder auch Tarnuniformen – angeblich für Jäger. Bezahlt wurden sie für ihre Arbeit nicht.
„Wenn du nicht arbeiten gehst, stecken sie dich in die Grube und behandeln dich wie einen Hund“, berichtet Olexii.
„Wir sind der Abschaum unseres Landes, aber keine Verräter“
Beide Gesprächspartner in beiden Gefängnissen wurden, so berichten sie, unter Drohungen gedrängt, russische Pässe anzunehmen. Manche lockte man auch zur russischen Armee, um da gegen die Ukraine zu kämpfen.
„Viele Männer nahmen die Pässe an und blieben. Viele aber weigerten sich auch. Mein Land ist mein Land. Ja, wir sind der Abschaum unseres Landes und haben schlimme Dinge gemacht, aber wir sind keine Verräter“, betont Olexii. „Sie [die Russen – dek] wollten, dass wir für sie Stellungen [des ukrainischen Militärs – Graty] auskundschaften. Dabei haben die mir mein Haus zerschossen, meine Kinder mussten im Keller Schutz suchen und ich soll jetzt für sie arbeiten? Das sind doch elende Hunde!“
„Sie unterstellten mir, dass ich die Grenze zur Russischen Föderation illegal überschritten hätte“
Auch Witalii lehnte solche Angebote der russischen Gefängnisverwaltung ab und hoffte, bald nach Hause zurückkehren zu können. Ihm blieben noch dreieinhalb Monate seiner Haftstrafe. Und als es so weit war, wurde er tatsächlich aus dem Gefängnis entlassen.
Doch noch am selben Tag nahm die russische Polizei Witalii wieder fest und mit auf die Wache: „Sie unterstellten mir, dass ich die Grenze zur Russischen Föderation illegal überschritten hätte. Dann brachten sie mich zum Gericht. Das Gericht verurteilte mich zu einer Geldstrafe von zweitausend Rubel und ordnete meine Abschiebung an. Ich kam in ein Abschiebehaftzentrum. Acht Monate lang musste ich dort bleiben. Diese acht Monate waren wie eine neue Haftstrafe für mich“, sagt Witalii.
Einen Monat später wurde Witalii in einer Gruppe von Inhaftierten aus dem Abschiebezentrum nach Werchny Lars an die russisch-georgische Grenze gebracht. Doch es kam nicht zur Abschiebung: Weil Witalii zwar seinen ukrainischen Inlandspass dabeihatte, der jedoch kein aktuelles Foto enthielt, entschieden die russischen Grenzbeamten, dass das Dokument ungültig sei.
„Russland ließ mich ausreisen, aber Lettland ließ mich nicht rein“
Sechs Monate später wurde Witalii nach Pskow gebracht, um über die Grenze zu Lettland abgeschoben zu werden. „Vier Tage lang waren wir unterwegs, hin und zurück. Währenddessen mussten wir Handschellen tragen, als wären wir Schwerverbrecher. Wir hatten Hunger und konnten nicht auf die Toilette gehen. Letztlich ließ mich nun zwar Russland ausreisen, doch Lettland ließ mich nicht rein. Ich sollte zurück, wo ich hergekommen war. Also haben sie mich zurückgebracht.“
Und dabei blieb es, bis Russland die Prozedur zur Bestätigung der Identität von Ausländern änderte. Seit Beginn der Vollinvasion erließ Putin mehrere Dekrete, die angeblich den Status ukrainischer Bürger regeln sollten. So sieht ein Erlass vom 29. September 2023 vor, dass ukrainische Staatsbürger, deren Dokumente abgelaufen waren, sowie Menschen ohne Papiere, Russland mit einer Kopie der Identitätsfeststellung des russischen Innenministeriums in einen Nachbarstaat verlassen könnten, wenn dieser zustimmte.
Erlass des russischen Präsidenten vom 29. September 2023, Absatz 4: „Bürger der Ukraine, die nicht im Besitz der in Absatz 1 dieses Erlasses genannten gültigen Dokumente sind, können ausnahmsweise die Russische Föderation über die Landgrenze in an die Russische Föderation angrenzende Staaten verlassen (vorausgesetzt, dass diese Staaten die betreffenden Personen akzeptieren), wenn sie eine Kopie des Beschlusses über die Feststellung der Identität des ausländischen Bürgers vorlegen, der von einem lokalen Organ des Innenministeriums der Russischen Föderation gemäß Artikel 101 Absatz 12 des Föderalen Gesetzes Nr. 115-FZ vom 25. Juli 2002 ‚Über die Rechte ausländischer Bürger in der Russischen Föderation‘ ausgestellt wurde.“
Damit kam auch Bewegung in Witaliis Fall, sodass er und seine Gruppe schließlich abgeschoben wurden. Zurück in Werchny Lars brauchten sie zwei Tage, um die Grenze zu überqueren. In Georgien empfingen sie freiwillige Helfer, die sie aufnahmen und ihnen halfen, Dokumente zu besorgen. Schließlich kehrte Witalii über Moldau in die Ukraine zurück.
Doch auch hier ist Witaliis Status unklar: „Ich habe hier mit der Polizei gesprochen. Meine Mutter hatte bereits Anzeige erstattet, als ich noch in Russland war. Zwar bin ich jetzt hier, doch weiß ich nicht, wie mein Status ist, ob ich als Opfer anerkannt werde. Deswegen weiß ich gar nicht, woran ich bin, aber ich will, dass das nicht ungestraft bleibt.“
Nach Angaben der ukrainischen NGO Sachist wjasniw Ukrajiny (deutsch: Gefangenenhilfe Ukraine) werden solche Fälle tatsächlich untersucht: Bis Ende 2024 bekamen 244 ehemalige Gefangenen und 143 ihrer Angehörigen den Status eines Betroffenen in Verfahren wegen „Verstößen gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges“ (Artikel 438 des ukrainischen Strafgesetzbuches) zuerkannt.
„Am Abend ins Transitgefängnis, am Morgen nach Kertsch“
Olexii musste indes noch zwei Jahre und drei Monate Haftstrafe im Gefängnis in der Region Krasnodar absitzen. Er berichtet, dass noch mehr Ukrainer aus Gefängnissen in den besetzten Gebieten dorthin gebracht wurden. In seiner Gruppe waren demnach etwa 150 Personen. Einige Tage später kam eine weitere Gruppe mit rund 100 Personen an. Im November 2024 wurde Olexii aus der Haft entlassen.
„Am 11. November wurden wir nach Krasnodar gebracht, dort steckten sie uns am Abend in ein Transitgefängnis und brachten uns am Morgen weiter nach Kertsch. Ich verbrachte 45 Tage in Kertsch“, berichtet Olexii. „Als wir dort entlassen wurden, begleiteten uns sechs FSB-Agenten in einem Auto zur Polizeiwache, machten Fotos von uns und nahmen unsere Fingerabdrücke. Sie ließen uns ein Formular unterschreiben, dass wir nichts filmen, niemandem etwas erzählen und nichts in die Luft jagen würden. Warum sollte ich auch? Dann brachten sie uns zu einer Unterkunft.“
Die Übernachtung dort zahlten ihnen freiwillige Helfer. Von der besetzten Krym mussten die ehemaligen Häftlinge dann wieder aufs russische Festland und auf eigene Faust zur Grenze nach Georgien fahren. In Georgien gingen sie sofort zur ukrainischen Botschaft und beantragten Dokumente für ihre Rückkehr in die Ukraine.
„So kam ich zurück. Meine Frau wartete auf mich und nun bin ich wieder zu Hause“, sagt Olexii froh.
„Alle werden illegal in Abschiebezentrum festgehalten“
Neben den unter russischer Besatzung entführten Gefangenen haben auch die aus politischen Gründen in Russland verfolgten und verurteilten Gefangenen [mit ukrainischer Staatsbürgerschaft – dek] Probleme nach der Freilassung.
Einer von ihnen ist Andrii Kolomijez, ein Euromaidan-Aktivist, der 2015 in Russland festgenommen wurde, als er seine zukünftige Frau Halyna treffen wollte. Wegen eines angeblichen Angriffs auf Berkut-Offiziere damals in Kyjiw wurde er verurteilt. Im Januar 2025 kam Kolomijez nach zehn Jahren Haft frei, wurde aber sofort in Abschiebehaft gebracht.
Sein Fall hatte damals viel Aufmerksamkeit erregt. Die Anklage gegen ihn leitete die berüchtigte Staatsanwältin der Krym-Besatzer, Natalja Poklonskaja, erinnert sich Olha Skrypnyk, Leiterin der Krym-Menschenrechtsgruppe.
Skrypnyk zufolge befindet sich Kolomijez noch immer im Abschiebezentrum in der russischen Region Krasnodar, wo er von einem Gericht wegen Verletzung der Aufenthaltsgesetze schuldig gesprochen wurde. Gleichzeitig gilt Kolomijez bereits seit einigen Jahren für Russland (wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer in Russland als extremistisch eingestuften Organisation – dek) als unerwünschte Person, sodass er auch deswegen abgeschoben werden müsste, so die Leiterin der Krym-Menschenrechtsgruppe.
„Es gibt mehrere Dutzende ukrainische Staatsbürger, die ihre Strafe aufgrund verschiedener Urteile verbüßt haben. Nicht alle von ihnen wurden aus politischen Gründen verurteilt, aber alle werden illegal in sogenannten Abschiebezentrum festgehalten“, betont Skrypnyk. „Formal müsste Andrii Kolomijez abgeschoben werden, aber Russland weigert sich und beruft sich darauf, dass wegen der sogenannten ‚militärischen Spezialoperation‘ keine diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern bestehen.“
Die Inhaftierung in Abschiebezentren könne, so die Menschenrechtlerin, in Russland praktisch zeitlich unbegrenzt dauern – so lange, wie die Gerichte die Haft dort verlängern. Skrypnyk verweist darauf, dass dies nicht nur ein Rechtskonflikt sei, sondern eine gezielte Maßnahme, die von den russischen Strafverfolgungsbehörden eingesetzt werde, um Ukrainer unter Druck zu setzen.
Grenzübergang Werchny Lars Russland-Georgien
„Das Völkerrecht verbietet die Zwangsverbringung von Zivilisten“
Vor dem 24. Februar 2022 befanden sich auf dem Gebiet, das die russische Armee in den folgenden Wochen besetzte, insgesamt 2422 Verurteilte im Strafvollzug und 900 Personen in U-Haft. Diese Zahlen teilte das ukrainische Justizministerium Graty auf Anfrage mit.
Im November 2022 registrierten die Gefangenenhilfe Ukraine, das Menschenrechtszentrum Zmina sowie das European Prison Litigation Network (EPLN) gemeinsam mit der Staatlichen Universität für innere Angelegenheiten in Lwiw eine groß angelegte Verlegung von Gefangenen aus Strafvollzugsanstalten in den besetzten Gebieten der Regionen Cherson und Mykolajiw nach Russland. Die Gesamtzahl dieser Deportierten wird nach vorläufigen Schätzungen auf etwa 1800 bis 2000 Personen beziffert.
Die Menschenrechtler betonen die Rechtswidrigkeit dieses Vorgehens: Das humanitäre Völkerrecht verbietet die Zwangsverbringung von Zivilisten – Ausnahmen erlaubt es nur, wenn sie zu ihrer eigenen Sicherheit evakuiert würden. In diesem Fall verpflichte sich der evakuierende Staat, den Betroffenen ausreichend sanitäre Einrichtungen, Gesundheitsversorgung, Sicherheit und Ernährung zu bieten. Dies geschah nicht.
Außerdem bestätigen die Menschenrechtsexperten die wiederholten Inhaftierungen von entlassenen Gefangenen unter dem Vorwurf, sie hätten gegen russische Aufenthaltsgesetze verstoßen. Die Unterbringung in Abschiebezentren entspreche einer erneuten Haft.
Dem Bericht zufolge konnten ukrainische Staatsbürger Russland bis August 2024 über den Grenzübergang Kolotyliwka-Pokrowka [in der Region Sumy – dek] direkt in die Ukraine oder über Drittländer wie Lettland oder Georgien verlassen. Allerdings gab es häufig Probleme beim Grenzübertritt. Die meisten Ausreisen erfolgten heute über Georgien.
„Diese Menschen landen im Keller einer Baustelle“
Ehemalige Gefangene, die über Georgien ausreisen konnten, erwähnen oft die dortige Initiative Volunteers Tbilisi, die seit März 2022 in der georgischen Hauptstadt aktiv ist und sich ursprünglich dafür engagierte, humanitäre Hilfe in die Ukraine zu schicken. Später kam die Unterstützung von Geflüchteten hinzu, sagt Maria Belkina, die Gründerin der Initiative. Sie ist russische Staatsbürgerin und vor etwa sieben Jahren mit ihrer Familie nach Georgien gezogen.
Im Sommer 2023 erfuhr Belkina durch eine Kollegin von der Situation ukrainischer Staatsbürger, die illegal in russische Haftanstalten gebracht wurden und mit Problemen nach ihrer Entlassung konfrontiert waren. Als die Freiwilligen zur Grenze fuhren, trafen sie dort eine Gruppe ehemaliger Gefangener, die ihnen von der Verlegung aus Gefängnissen aus den russisch besetzten Gebieten und den Schwierigkeiten bei der Rückkehr in die Heimat berichteten. Schnell stellte sich heraus, dass es um Tausende Betroffene ging, die potenziell Hilfe brauchten.
Sie bekommen dort nicht einmal zu essen. Das Essen bringen wir.
Belkina und ihr Team haben seitdem etwa dreihundert Menschen an der Grenze empfangen. Auf ukrainischer Seite arbeitet Volunteers Tbilisi auch mit der Gefangenenhilfe Ukraine zusammen, die in Rechtsfragen berät, Aussagen dokumentiert und sie bei der Logistik der Heimreise unterstützt.
Am schwierigsten sei die Situation für Menschen, die außer ihren Entlassungsurkunden keine weiteren Dokumente hätten, so Belkina. Das seien mehr als die Hälfte der Fälle. Die georgische Seite stellt dann ein Ersuchen an ukrainische Diplomaten, die die Identität der Person bestätigen müssen.
„Diese Menschen landen dann im Keller einer Baustelle an der Grenze. Wir sprechen hier von absolut unwürdigen Bedingungen. Es ist buchstäblich ein Keller voller Baumaterialien, doch irgendwie müssen sie dort ausharren. Das kann einen Monat bis anderthalb Monate dauern. Das ist die gängige Praxis. Sie bekommen dort nicht einmal zu essen. Das Essen bringen wir“, erzählt die Freiwillige.
„Kyjiw und Tbilisi einigten sich auf ein gesondertes Verfahren“
Das ukrainische Außenministerium erklärte auf Graty-Anfrage, dass wegen des Krieges und des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen keine ukrainischen Konsulate auf russischem Hoheitsgebiet tätig seien und die Diplomaten ukrainische Staatsbürger nur von Nachbarländern Russlands aus unterstützen können.
Da die russischen Behörden häufig versuchten, Ukrainer nach Georgien abzuschieben, hätten sich Kyjiw und Tbilisi aber bereits auf ein gesondertes Verfahren zur Identitätsfeststellung und Rückkehr ukrainischer Staatsbürger geeinigt, die aus Haftanstalten in den besetzten Gebieten der Ukraine stammen und nach Russland verbracht wurden, so Sprecher Heorhii Tychy.
„Nach Einleitung eines entsprechenden Verfahrens wird ukrainischen Staatsbürgern in der Regel ein Ausweis für die Rückkehr in die Ukraine ausgestellt. Die Registrierung und Ausstellung dieses Dokuments zur Rückkehr in die Ukraine erfolgt innerhalb eines Arbeitstages, sofern alle Nachweise zur Identitätsfeststellung und der Staatsangehörigkeit vorliegen“, heißt es außerdem in einer Erklärung des Außenministeriums.
Demnach hat die ukrainische Botschaft in Georgien im Jahr 2024 95 Dokumente zur Rückkehr in die Ukraine an ehemalige Gefangene ausgestellt, in den ersten drei Monaten des Jahres 2025 bereits 37. Wie die ukrainische Botschaft in Georgien auf Anfrage der Gefangenenhilfe Ukraine mitteilte, wurden 2024 216 Anträge von ehemaligen Gefangenen sowie 44 Anträge bislang im Jahr 2025 gestellt.
Nach Angaben einer Anwältin der Organisation, Anna Skrypka, dauert dieses Verfahren zur Identitätsfeststellung und Bestätigung der ukrainischen Staatsbürgerschaft, um die zur Rückkehr benötigten Dokumente zu erhalten, tatsächlich im Durchschnitt noch immer zwischen einem und drei Monaten. Schlimm sei es für die Menschen, die trotz allem einen Negativbescheid bekämen. 2024 betraf das nach Botschaftsangaben neun Personen, in diesem Jahr noch keine.
Insgesamt sind seit 2022 etwa 400 ehemalige Gefangene aus den aktuell von Russland besetzten Gebieten der Ukraine aus russischer Haft über Georgien in die Ukraine zurückgekehrt. Etwa einhundert sind in Georgien geblieben.
Zuletzt berichtete der georgische Ableger von Radio Svoboda, dass Ende Juni 2025 etwas mehr als 50 ukrainische Staatsbürger im provisorischen Abschiebetrakt des russisch-georgischen Grenzübergangs Werchny Lars auf ihre reguläre Abschiebung warten.
Der Brand im Gewerkschaftshaus von Odessa im Mai 2014 war ein Schlüsselereignis: Auf die Euromaidan-Revolution war Russlands Annexion der Krym und die pro-russische Besetzung von Verwaltungsgebäuden im Donbas gefolgt. Dann stand die Frage im Raum, ob weitere Orte im Osten oder Süden der Ukraine folgen würden. In diesem Moment kam es in Odessa zu Auseinandersetzungen zwischen gewaltbereiten Gruppen: Die einen unterstützten den Euromaidan, die anderen formierten den pro-russischen, sogenannten Antimaidan.
Bei Straßenschlachten und einem Brand im Gewerkschaftshaus am 2. Mai 2014 starben insgesamt 48 Menschen. Viele der Opfer waren Vertreter des Antimaidan. Die russische Propaganda nutzte die Tragödie sogleich, um den angeblich faschistischen Charakter der Kyjiwer Regierung zu untermauern.
Fast elf Jahre nach dem Brand hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) am 13. März 2025 sein Urteil zu den Ereignissen gesprochen. Es unterstützt weder die russische Version, noch entlässt es den ukrainischen Staat aus seiner Verantwortung.
Der EGMR befand, dass die ukrainischen Behörden – damals noch die Regierung des bereits nach Russland geflohenen Präsidenten Viktor Janukowytsch – unzureichende Anstrengungen unternommen haben, um während der Ereignisse am 2. Mai 2014 in Odessa für Recht und Ordnung zu sorgen und eine Eskalation zu verhindern. Sie verzögerten die Brandbekämpfung und die Rettung von Menschen aus dem Gewerkschaftshaus und versäumten es im Nachhinein, die Verantwortlichen auf verschiedenen Ebenen zu ermitteln.
Gleichzeitig betonte das Gericht, dass es auch die Interventionen Russlands berücksichtig habe, die die Zusammenstöße zwischen den Protestlagern provozierten und anschließend versuchten, die Tragödie von Odessa als Rechtfertigung für den jahrelangen Krieg im Osten der Ukraine sowie später auch für die vollumfängliche Invasion in die Ukraine zu missbrauchen. Die Urteilsbegründung erwähnte auch jene damals verantwortlichen lokalen Amtsträger, die heute in Russland leben und dort Karriere machen: zum Beispiel den damaligen Leiter des regionalen Katastrophenschutzes, der mittlerweile Vize-Chef der Okkupationsverwaltung im von Russland besetzten Teil der Region Cherson ist.
Einen Tag nach der Veröffentlichung des EGMR-Urteils, am 14. März 2025, ist der damalige Euromaidan-Aktivist, später auch Mitglied des rechtsextremen Prawy Sektor, Demjan Hanul, im Zentrum von Odessa auf offener Straße erschossen worden. Hanul war früher schon angegriffen worden, laut seiner Ehefrau soll er in den Wochen vor seinem Tod erneut „pro-russische Verfolger“ erwähnt haben. Mutmaßlicher Täter ist ein ukrainischer Soldat, der sich unerlaubt seit längerer Zeit von seiner Einheit entfernt hat. Das Verfahren läuft noch, nach ersten Berichten soll er im nicht öffentlichen Prozess seine Schuld eingestanden haben.
Das ukrainische Onlinemedium Graty, das sich seit Jahren auf Gerichtsberichterstattung spezialisiert, hat das EGMR-Gerichtsurteil und seine Begründung untersucht und durch eine detaillierte Chronik der eskalierten Proteste eingeordnet. Es berichtet auch über den Prozess zur Ermordung von Hanul.
Am 13. März verkündete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sein Urteil in der Rechtssache Wjatscheslawowa und andere gegen die Ukraine. Der Gerichtshof fasste sieben verschiedene Klagen von insgesamt 28 Personen zusammen, die 2016 und 2017 im Zusammenhang mit den Ereignissen des 2. Mai 2014 in Odessa eingereicht wurden. Sie alle betrafen die gewaltsamen Zusammenstöße auf dem Hrezka-Platz und dem Kulykowe-Feld sowie den Brand im Gewerkschaftshaus.
Das Gericht verurteilte die Ukraine zu Entschädigungszahlungen zwischen je 12.000 bis 17.000 Euro an die Kläger.
Bei der Feststellung des Sachverhalts im Zusammenhang mit der Tragödie von Odessa stützte sich der EGMR nicht nur auf die offiziellen ukrainischen Ermittlungen und Gerichtsentscheidungen, sondern insbesondere auch auf die Berichte der UN-Beobachtungsmission, des Büros des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, des ukrainischen Ombudsmanns sowie eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, als auch auf die Ergebnisse der unabhängigen Recherchen durch die Nichtregierungsorganisation Gruppe des 2. Mai und auf Zeugenaussagen der Geschädigten. Von diesen waren drei direkt an den Ereignissen in Odessa beteiligt, die übrigen waren Hinterbliebene, deren Angehörige an jenem Tag unter verschiedenen Umständen ums Leben kamen.
Die Kläger zogen es vor, die politischen Ansichten ihrer Angehörigen nicht zu erwähnen
„Unter den Hinterbliebenen der Opfer, die an diesem Tag starben, befanden sich sowohl Anhänger als auch Gegner des Maidan sowie unbeteiligte Dritte. Die Kläger zogen es oft vor, die politischen Ansichten ihrer Angehörigen nicht zu erwähnen“, schreibt das Gericht in seinem Urteil.
Der EGMR wies in seinem Urteil außerdem auf die Hintergründe und den Kontext der Ereignisse hin: Nach dem Euromaidan und der Flucht von Präsident Viktor Janukowytsch aus der Ukraine im Februar 2014 kam es zu pro-russischen Protesten im Osten und Süden des Landes, oft unter Anwendung von Gewalt. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Annexion der Krym und der Einsatz des Militärs durch Russland sowie die Schaffung der selbsternannten Volksrepubliken „DNR“ und „LNR“ in den ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk und der Beginn der Kampfhandlungen zu nennen.
Chronologie der Konfrontationen
Anfang 2014 bildeten Protestierende in Odessa sogenannte Selbstverteidigungseinheiten: sowohl auf Seiten des Euromaidan als auch des Antimaidan. Letzterer war pro-russisch eingestellt und errichtete im März 2014 eine Zeltstadt auf dem Kulykowe-Feld (vor dem Gewerkschaftshaus – dek). Auf einem großen Bildschirm wurden Nachrichtensendungen des russischen Staatsfernsehens gezeigt und aus Lautsprechern ertönten Lieder über den Großen Vaterländischen Krieg, die zum Kampf gegen den Faschismus aufriefen.
„Wie aus den Videoaufnahmen des Zeltlagers auf dem Kulykowo-Feld und verschiedenen von den Aktivisten organisierten Veranstaltungen hervorgeht, zeigten die Anhänger der Bewegung häufig Flaggen der Russischen Föderation und der ehemaligen Sowjetunion, skandierten oder zeigten Parolen, in denen sie die neue (Kyjiwer – dek) Regierung als ‚faschistische Junta‘ darstellten und ein Referendum und die Föderalisierung der Ukraine in halbautonome Regionen forderten. Einige Menschen zeigten Plakate, auf denen sie ihre Hoffnung auf eine Wiederholung des Krym-Szenarios in Odessa zum Ausdruck brachten und die Russische Föderation dazu aufforderten, auch ihre Stadt aufzunehmen“, so der EGMR in seinem Urteil.
Am 2. März fand in Odessa eine Kundgebung zur Unterstützung der Einheit der Ukraine und gegen die Präsenz russischer Truppen auf der Krym statt, an der 7000 bis 10.000 Menschen teilnahmen. Am nächsten Tag versuchten pro-russische Demonstranten das Regionalparlament von Odessa in einer Dringlichkeitssitzung zu stürmen. Dem Gericht zufolge konnten gewalttätige Zusammenstöße mit proukrainischen Aktivisten vermieden werden, da Ordnungskräfte beide Lager voneinander trennten. Im März und April folgten wöchentlich friedliche Kundgebungen beider Gruppen.
Im April richtete die Regionaldirektion des ukrainischen Innenministeriums in Odessa einen Operationsstab ein, um die Situation in der Stadt zu kontrollieren.
Geheimdienst meldet Regionalbehörden Ende April erhöhtes Gefahrenpotenzial für den 2. Mai
Ende April kündigten Fußballfans von Tschornomorez Odessa und Metalist Charkiw für den 2. Mai vor dem Spiel ihrer Mannschaften eine Demonstration „Für die Einheit der Ukraine“ an. Dies löste heftige Reaktionen bei Antimaidan-Anhängern aus, die in sozialen Medien zum Protest gegen den „Naziaufmarsch“ aufriefen.
Den vom EGMR zitierten Informationen zufolge meldete der SBU dem Leiter der Regionaldirektion des Innenministeriums, Petro Luziuk, am 30. April ein erhöhtes Risiko von Zusammenstößen und Ausschreitungen am 2. Mai. Am selben Tag informierte die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der Hauptdirektion des Innenministeriums den Operationsstab über Pläne „subversiver Gruppen“, die Lage in der Region Odessa während der bevorstehenden Maifeiertage destabilisieren zu wollen. Etwa zur gleichen Zeit berichtete die Abteilung zur Bekämpfung von Cyberkriminalität des Innenministeriums über Posts in Sozialen Netzwerken durch Antimaidan-Anhänger, in denen die Möglichkeit von gewaltsamen Ausschreitungen in Odessa am 2. Mai 2014 erwähnt wurde.
Luziuk und sein Stellvertreter Dmytro Futschedshi ordneten daraufhin an, Pläne zur Gewährleistung von Recht und Ordnung an jenem Tag in der Stadt zu erstellen. Laut Gericht enthielten diese jedoch nur Routinemaßnahmen bei Fußballspielen und berücksichtigten nicht die Warnungen des Geheimdienstes und anderer Strafverfolgungsbehörden.
Am Morgen des 2. Mai waren etwa hundert Polizisten im Stadtzentrum von Odessa und mehr als zweihundert weitere rund um das Stadion im Einsatz.
13:30 Uhr: Antimaidan-Anhänger versammeln sich auf der Olexandriwsky-Allee (mittlerweile Allee der Ukrainischen Helden – dek), etwa 450 Meter vom Treffpunkt der proukrainischen Aktivisten (am Soborna-Platz – dek) entfernt. Sie haben Schilde und Äxte sowie Holz- und Metallstöcke bei sich, einige tragen Schusswaffen. Sie erklären, dass sie einen Überfall auf ihr Zeltlager auf dem Kulykowe-Feld Platz verhindern wollen.
Die Polizei verlegt rund 150 Beamte vom Stadion ins Stadtzentrum, verfügt Berichten zufolge aber über keinerlei Mittel, um sich im Falle einer Eskalation selbst schützen oder einschreiten zu können.
15 Uhr:Antimaidan-Anhänger stürmen das Büro des Vereins Rat für öffentliche Sicherheit, weil sie hier und in einem davor geparkten Wagen angeblich Waffen vermuten, was sich jedoch nicht bestätigt. Einige proukrainische Aktivisten versperren den Zugang zum Gebäude. Als eine Polizeieinheit vor Ort eintrifft, umstellt sie das Gebäude, ergreift aber keine Maßnahmen.
Gegen 15:15 Uhr:Antimaidan-Anhänger setzen sich in Richtung des Marsches „Für die Einheit der Ukraine“ in Bewegung und werden dabei von dreißig Beamten der Streifenpolizei und zehn weiteren Polizisten begleitet. An der Spitze dieser Kolonne gehen neben den Anführern des Antimaidan auch der stellvertretende Leiter der Regionaldirektion des Innenministeriums, Dmytro Futschedshi, sowie der Gruppenführer der Einsatzhundertschaft, Wadym Knyschow.
15:30 Uhr: Zu den ersten Zusammenstößen kommt es in der Nähe des Hrezka-Platzes. Nach vorliegenden Informationen greifen die Antimaidan-Anhänger die proukrainische Demonstration auf dem Weg vom Soborna-Platz zum Tschornomorez-Stadion an. Es werden Schüsse abgegeben und beide Seiten bewerfen sich mit Steinen, Pyrotechnik und Molotow-Cocktails.
Gegen 15:50 Uhr: Der Polizei gelingt es, die beiden Gruppen voneinander zu trennen, wobei sie den Antimaidan-Anhängern den Rücken zukehrt. Die Gruppe des 2. Mai bestätigt später mit Verweis auf Videoaufnahmen, dass einige Polizeibeamte und pro-russische Demonstranten rotes Klebeband am Arm und damit gleiche Erkennungszeichen trugen.
16:10 Uhr: Ihor Iwanow wird das erste Todesopfer der Proteste sein. Der Teilnehmer der proukrainischen Demonstration wird mit einer Schussverletzung im Bauch ins Krankenhaus eingeliefert und verstirbt dort während der Operation.
Der EGMR wertete Videoaufnahmen aus, auf denen zu sehen ist, wie mit Sturmhauben maskierte pro-russische Aktivisten hinter dem Rücken der untätigen Sicherheitskräfte, auf ihre Gegner schossen. In seiner Urteilsbegründung schreibt der EGMR:
„Laut dem Gutachten einesSachverständigen für Ballistikder Gruppe des 2. Mai schoss der pro-russische Aktivist, der von der NGO als Herr Budko identifiziert wurde, mit scharfer Munition aus einem Sturmgewehr vom Typ Kalaschnikow (AKS-74U). Der Experte vertritt die Auffassung, dass die tödlichen Verletzungen von Herrn Iwanow durch denselben Waffentyp verursacht wurden.
Wenige Sekunden später wurde einem schwer verletzten Polizeibeamten der Zugang zum Krankenwagen verweigert
Der Sachverständige verwies auch auf im Internet kursierende Videoaufnahmen, denen zufolge Patronenhülsen dieses Modells am Ort der Zusammenstöße gefunden wurden. Die Regierung gab in ihrer Zusammenfassung des Sachverhalts außerdem an, dass ‚Herr B.‘ mehrere Schüsse in Richtung der Maidan-Unterstützer aus einer Waffe abgefeuert hatte, bei der es sich offenbar um ein AKS-74U-Sturmgewehr handelte.
Auf einem anderen veröffentlichten Video ist zu sehen, wie Herr Futschedshi, der eine leichte Verletzung am Arm erlitten hatte, in einen Krankenwagen stieg, in dem Herr Budko saß, der offenbar unverletzt war. Wenige Sekunden später wurde einem schwer verletzten Polizeibeamten, der von zwei weiteren Beamten gestützt wurde, offenbar der Zugang zu diesem Krankenwagen verweigert, der daraufhin wegfuhr.“
Den Berichten zufolge durchbrechen Antimaidan-Anhänger zehn Minuten später die Polizeikette. Etwa zu diesem Zeitpunkt wird Andrii Birjukow, ein weiterer Aktivist des Euromaidan, tödlich verwundet.
Gegen 17:30 Uhr: Pro-ukrainische Demonstranten übernehmen ein Feuerwehrauto, dass sie unter falschem Vorwand ins Stadtzentrum gerufen hatten, um damit die Barrikaden der Antimaidan-Anhänger zu durchbrechen.
Zur selben Zeit werden Schüsse aus einem Jagdgewehr in Richtung der pro-russischen Demonstranten und der Polizeikette abgegeben. Insgesamt sind zu diesem Zeitpunkt bereits sechs Personen aus beiden Lagern getötet und 47 Personen festgenommen worden.
Schlussendlich gewinnen die wütenden pro-ukrainischen Demonstranten allmählich die Oberhand und ziehen zum Zeltlager der Antimaidan-Anhänger auf dem Kulykowe-Feld. Einige der dort Protestierenden beschließen, sich im nahen Gewerkschaftshaus zu verbarrikadieren.
Eskalation am Gewerkschaftshaus
Gegen 19:20 Uhr: Pro-ukrainische Aktivisten erreichen das Kulykowe-Feld und beginnen, die Zelte niederzureißen und anzuzünden. Währenddessen werden sie von Antimaidan-Anhängern vom Dach des Gewerkschaftshauses mit Molotow-Cocktails beworfen. Nach Angaben der Gruppe des 2. Mai wird außerdem vom Dach und aus den Fenstern des Gebäudes auf pro-ukrainische Aktivisten geschossen.
19:30 Uhr: Dem ukrainischen Katastrophenschutz DSNS wird ein Brand gemeldet. Laut dem Mitarbeiter der Leitstelle bestehe jedoch keine unmittelbare Gefahr. Der Leiter der DSNS-Regionaldirektion, Wolodymyr Bodelan, ist vor Ort und weist seine Mitarbeiter an, nicht ohne seine Anweisung zu reagieren.
Bodelan erklärt später bei einer internen Untersuchung, dass er diese Entscheidung „vor dem Hintergrund der Entwendung eines Löschfahrzeugs einige Stunden zuvor und zur Verhinderung eines ähnlichen Szenarios sowie zur Gefahrenvermeidung für das Leben der Feuerwehrleute“ getroffen habe.
19:45 Uhr: Im Gewerkschaftshaus breitet sich das Feuer aus. Zehn Minuten später springen eingeschlossene Antimaidan-Anhänger verzweifelt aus den Fenstern der oberen Stockwerke, unter ihnen auch Angehörige der Kläger. Das Gericht stellte fest, dass es sowohl Fälle von Angriffen pro-ukrainischer Aktivisten auf die sich rettenden Antimaidan-Anhänger gab, als auch solche, in denen geholfen wurde.
20:09 Uhr: Auf Anweisung von Bodelan treffen die ersten Feuerwehrleute ein.
20:50 Uhr: Der DSNS meldet, dass das Feuer gelöscht sei. Später stellt sich heraus, dass insgesamt 42 Menschen im Gebäude ums Leben gekommen sind. Viele Menschen erlitten außerdem Verbrennungen und Verletzungen, als sie sich durch Sprünge aus den Fenstern retteten.
Die Polizei hat 63 Antimaidan-Anhänger festgenommen, die sich im Gebäude oder auf dem Dach befanden.
Am nächsten Tag stürmen pro-russische Anhänger das Polizeirevier, in dem die Verhafteten festgehalten wurden. Auf mündliche Anordnung von Futschedshi wurden diese schließlich ohne Status als Verfahrensbeteiligte freigelassen.
Ukrainische Ermittlungen und Gerichtsverfahren
Der EGMR stellte fest, dass die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden auf die Ereignisse in Odessa mit der Einleitung zahlreicher miteinander verbundener Strafverfahren reagierten, die sich in drei Gruppen unterteilen lassen:
Verfahren wegen Handlungen von Privatpersonen
Verfahren bezüglich des Handelns von Strafverfolgungsbeamten und
Verfahren zum Handeln des DSNS
Laut Beobachtungen der Gruppe des 2. Mai wurde der betreffende Bereich des Kulykowe-Felds nicht zur Beweissicherung gesperrt. Stattdessen wurden in der Nacht zum 3. Mai Arbeiter der kommunalen Straßenreinigung geschickt, um den Bereich aufzuräumen. Die erste Inspektion des Platzes fand erst am 15. Mai statt.
Forensische Experten begannen ihre Arbeit im Gewerkschaftshaus zwar noch in der Nacht des 2. Mai, wurden jedoch mehrmals durch Antimaidan-Anhänger gestört, die sich noch im Gebäude aufhielten. Vom 4. bis 20. Mai blieb das Gebäude für die Öffentlichkeit frei zugänglich.
Die Kugel aus dem Körper des verstorbenen Ihor Iwanow wurde nicht aufbewahrt
Kugeln und Splitter, die aus den Körpern der Opfer geborgen wurden, konnten durch die Experten nicht eindeutig identifiziert und keiner Waffe zugeordnet werden. Außerdem stellte sich heraus, dass die Kugel, welche die Chirurgen aus dem Körper des verwundeten und später verstorbenen Ihor Iwanow entfernt hatten, nicht aufbewahrt worden war und deshalb nicht im Rahmen der Ermittlungen untersucht werden konnte.
Experten stellten fest, dass die Menschen im Treppenhaus und in den unteren Stockwerken des Gewerkschaftshauses an Verbrennungen und Vergiftung durch Kohlenmonoxid und andere durch den Brand erzeugte, nicht identifizierte Gase und toxische Substanzen starben. Ein absichtlicher Einsatz von giftigen Stoffen wurde sowohl durch die offiziellen als auch durch die unabhängigen Untersuchungen ausgeschlossen.
Am 18. Mai 2014 verhaftete die Polizei Serhii Chodijak, der an der Demonstration „Für die Einheit der Ukraine“ teilgenommen hatte. Er wurde des Mordes an einem Antimaidan-Aktivisten und des versuchten Mordes an einem Polizeibeamten angeklagt. Mehr als zehn Jahre später ist dieses Gerichtsverfahren gegen Chodijak immer noch am Malyniwsky-Bezirksgericht in Odessa anhängig.
Am 26. Mai 2014 wurde Mykola Wolkow, ein Anhänger des Euromaidan in Odessa, unter dem Verdacht festgenommen, mit einer Waffe in Richtung Gewerkschaftshaus gefeuert zu haben. Im Februar 2015 war das Verfahren gegen Wolkow eingestellt worden, weil dieser verstorben sei. Das EGMR-Urteil hält jedoch fest, dass das Verfahren nach Einspruch eines der Opfer wieder aufgenommen wurde, da angeblich keine Todesnachweise vorlagen. Die weiteren Entwicklungen und der Stand der Ermittlungen sind dem EGMR nicht bekannt.
Der Euromaidan-Aktivist Wsewolod Hontscharewsky wurde beschuldigt, Antimaidan-Anhänger, die aus den Fenstern des Gewerkschaftshauses sprangen, mit einem Holzknüppel geschlagen zu haben. Im Februar 2015 wurde das Verfahren gegen ihn zunächst eingestellt, im Juli desselben Jahres nach Einspruch der Geschädigten wieder aufgenommen. Sie forderten die Ermittler auf, Videoaufnahmen im Verfahren zu beachten, die angeblich Hontscharewskys Beteiligung an den Taten beweisen. Nach Angaben des EGMR wurden die Videos jedoch nicht untersucht.
Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft reichte des weiteren Anklage gegen 19 Antimaidan-Anhänger wegen der Teilnahme an den gewaltsamen Ausschreitungen mit Körperverletzung und Todesfolge ein. Am 18. September 2017 sprach das Stadtgericht in Illitschiwsk (heute Tschornomorsk – dek) schließlich alle 19 Angeklagten frei und begründete dies mit verschiedenen Verfahrensfehlern während der Ermittlungen sowie unzureichenden Beweisen, um eine Schuld festzustellen.
Das Gericht kritisiert, dass die vorgerichtlichen Ermittlungen so unvollständig und mangelhaft waren, dass alternative Informationsquellen herangezogen werden mussten
Insbesondere merkte das Illitschiwsk-Gericht damals an, dass viele der Untersuchungen von Ermittlern durchgeführt wurden, die nicht zur ernannten Ermittlungskommission gehörten. Die von ihnen gesammelten Beweise und erstellten Protokolle wurden für unzulässig erklärt. Darüber hinaus bemängelte man, dass die erste Inspektion vor Ort mit einer unerklärlichen Verzögerung von fast zwei Wochen stattgefunden hatte, sodass in dieser Zeit alle Beweismittel verloren gingen.
Es wurde auch festgestellt, dass dem Gericht trotz zahlreicher Anordnungen keine Foto- oder Videobeweise vorgelegt wurden. Laut dem Gericht hatte die Staatsanwaltschaft nur einen Polizisten und keine der an den Ereignissen vom 2. Mai 2014 beteiligten Fußballfans befragt. In den Akten sei auch keine ballistische Expertise über Kugeln und Splitter aus den Körpern der Opfer enthalten gewesen. Insgesamt kritisierte das Gericht die vorgerichtlichen Ermittlungen als so unvollständig und mangelhaft, dass alternative Informationsquellen herangezogen werden mussten.
Aktuell verhandelt das Berufungsgericht im Gebiet Mykolajiw über den Fall.
Dem EGMR liegen Daten vor, wonach der oben erwähnte pro-russische Aktivist Witalii Budko seit dem 4. Juli 2016 als Verdächtiger im Mordfall Ihor Iwanow geführt wird. Da jedoch keine Zwangsmaßnahmen gegen ihn verhängt wurden, tauchte Budko unter. Laut Gericht ist er weiter zur Fahndung ausgeschrieben.
Der einzige Verurteilte versteckt sich in Russland
Die Ermittlungen zum Vorgehen der Polizei in Odessa wurden zunächst von der Staatsanwaltschaft und seit 2020 vom Staatlichen Ermittlungsbüro geführt.
Einen Tag nach der Tragödie, am 3. Mai 2014, wurde der Leiter der Regionaldirektion des Innenministeriums, Petro Luziuk, suspendiert und seinem Stellvertreter, Dmytro Futschedshi, die Leitung übertragen. Doch bereits am 6. Mai floh Futschedshi aus der Ukraine in die Republik Moldau und von dort weiter nach Russland. Am 13. Mai erschien ein Dokument, das ihn der Dienstpflichtverletzung in Verbindung mit den gewaltsamen Ausschreitungen und des Machtmissbrauchs verdächtigte, weil er am 4. Mai die Freilassung der inhaftierten Antimaidan-Anhänger angeordnet hatte.
Am 15. Mai wurde Futschedshi zur Fahndung ausgeschrieben. 2017 beantragte die ukrainische Staatsanwaltschaft die Auslieferung von Futschedshi bei der Russischen Föderation, wo sich dieser vor der Justiz versteckt hielt. Laut der Antwort der russischen Generalstaatsanwaltschaft sei Herr Futschedshi russischer Staatsbürger und deshalb keine Auslieferung möglich. Die Ukraine beschloss, den Flüchtigen in Abwesenheit zu verurteilen.
Am 18. April 2023 befand das Prymorsky-Bezirksgericht in Odessa Futschedshi der Mittäterschaft bei der Organisation von schweren Massenunruhen, des Amts- und Machtmissbrauchs in besonders schwerem Fall, der Beihilfe zur Besetzung staatlicher Gebäude und der Behinderung von Strafverfolgungsbeamten bei der Ausübung ihrer Dienstpflichten für schuldig. Er wurde zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe und einem dreijährigen Berufsverbot in den Strafverfolgungsbehörden, einer Geldstrafe sowie der Aberkennung seines Ranges als Obert verurteilt.
In der Zwischenzeit war Petro Luziuk bereits wegen Verletzung seiner Dienstpflichten am 30. April 2014 angezeigt worden. Später kam der Vorwurf der Urkundenfälschung hinzu, nachdem am 17. Juni 2015 eine interne Untersuchung festgestellt hatte, dass nach seiner Anweisung der offizielle Bericht über die Umsetzung des Einsatzplans gefälscht worden war.
Die ukrainischen Behörden teilten dem EGMR mit, dass das Prymorsky-Bezirskgericht in Odessa das Verfahren gegen Petro Luziuk am 14. Juni 2024 nach Ablauf der Verjährungsfrist eingestellt habe.
Des weiteren läuft seit 2018 ein Verfahren gegen den damaligen Chef der städtischen Polizei von Odessa und zwei Einsatzbeamte wegen Amtsmissbrauchs sowie seit 2021 zwei weitere Verfahren gegen einen damaligen stellvertretenden Abteilungsleiter und den stellvertretenden Gruppenführer der 2. Einsatzhundertschaft der Hauptdirektion des ukrainischen Innenministeriums in der Stadt Odessa.
Katastrophenschützer nicht zur Verantwortung gezogen
Am 1. Mai 2016 wurden gegen den damaligen Leiter der DSNS-Regionaldirektion, Wolodymyr Bodelan, sowie seine Kollegen Jurii Schwydenko und Switlana Kojewa Ermittlungen eingeleitet, weil sie während der Ereignisse in Odessa Bürger in Gefahr gebracht hätten. Am folgenden Tag wurden diese Anschuldigungen auch auf Bodelans Stellvertreter Wiktor Hubaj ausgeweitet.
Wie sich jedoch herausstellte, hatte Wolodymyr Bodelan zu diesem Zeitpunkt bereits die Ukraine verlassen, nach ihm wird weiter gefahndet. Das Verfahren gegen die anderen drei wurde zunächst vor dem Prymorsky- und später vor dem Kyjiwsky-Bezirksgericht in Odessa geführt. Am 1. August 2022 wurde das Verfahren ausgesetzt, weil sich die Anwälte der Angeklagten der Armee anschlossen.
Am 11. April 2016 wurde gegen Ruslan Welyky, den stellvertretenden Leiter der DSNS- Regionaldirektion Odessa, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und am Prymorsky-Bezirksgericht in Odessa geführt. Am 20. Juni 2022 wurde das Verfahren wegen der Einberufung des Beschuldigten in die Armee ausgesetzt, später wurden die Verhandlung wieder aufgenommen. Am 27. Juni 2023 forderte das Prymorsky-Bezirksgericht die Staatsanwaltschaft sowie den Angeklagten auf, bis zum 29. Dezember 2023 Beweise vorzulegen. Des weiteren erklärte es, dass die Verjährungsfrist in diesem Fall im Mai 2024 ablaufen würde. Dem EGMR ist nichts über den weiteren Status des Verfahrens bekannt.
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Der EGMR stellte die Verletzung von Artikel 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Ukraine fest: das Recht auf Leben. Der beklagte Staat (die Ukraine – dek) hat nicht alles Vertretbare und in seiner Macht Stehende getan, um die Gewalt in Odessa am 2. Mai 2014 zu verhindern oder diese zu beenden, und nicht rechtzeitig Maßnahmen eingeleitet, um jene zu retten, die vom Brand im Gewerkschaftshaus betroffen waren.
Dabei berücksichtigte der EGMR auch die erhebliche Beteiligung der Russischen Föderation an den Ereignissen rund um das sogenannte „Referendum“ auf der Krym, die russische Unterstützung für separatistische Vereinigungen im Osten der Ukraine und Versuche, die südlichen Regionen zu destabilisieren. In seinem Urteil verwies das Gericht explizit auf den Einsatz russischer Propaganda bei den Antimaidan-Kundgebungen in Odessa:
„Im vorliegenden Fall beschränkt sich die Aufgabe des Gerichtshofs auf die Prüfung der internationalen Verantwortlichkeit der Ukraine, ungeachtet der Tatsache, dass einige der Verfehlungen, für welche die ukrainische Regierung nach der Konvention verantwortlich gemacht wird, ihren ehemaligen lokalen Amtsträgern zuzuschreiben sind, die in der Zwischenzeit aus der Ukraine in die Russische Föderation geflohen sind, die russische Staatsbürgerschaft angenommen haben oder wie im Fall von Herrn Bodelan (dem ehemaligen Leiter des DSNS in der Region Odessa), dort Karriere im Kontext der russischen Vollinvasion gemacht haben.“
Wolodymyr Bodelan wurde nämlich inzwischen zum stellvertretenden Leiter der Okkupationsverwaltung im von Russland besetzten Teil der Region Cherson ernannt.
Eine Erklärung, geschweige denn eine Rechtfertigung für diese Verzögerungen wurde nicht vorgelegt
Der EGMR merkte ebenso Probleme bei der Untersuchung der am 2. Mai begangenen Verbrechen an, insbesondere während der Sicherstellung von Beweisen, da der Tatort sofort gereinigt und das Gewerkschaftshaus nicht für die Öffentlichkeit gesperrt wurde. Darüber hinaus wies das Gericht auf die Verzögerungen hin, die dazu führten, dass Verdächtige entkommen konnten oder sich auf andere Weise der Verantwortung für ihre Taten entzogen.
„Trotz öffentlich zugänglicher Foto- und Videoaufnahmen, die zeigen, dass ein Antimaidan-Aktivist, der Herrn Budko ähnelt, mit einem Sturmgewehr in Richtung der Demonstranten schießt, während er direkt neben der Polizei steht, die in keiner Weise darauf reagiert, haben die nationalen Behörden mehr als zwei Jahre gebraucht, um strafrechtliche Ermittlungen gegen Herrn Budko einzuleiten, und mehr als sieben Jahre, um ein Strafverfahren gegen Herrn Iwachnenko, einen der betroffenen Polizeibeamten, zu eröffnen“, kritisierte der EGMR. „Eine Erklärung, geschweige denn eine Rechtfertigung für diese Verzögerungen wurde nicht vorgelegt. Da Herr Budko untertauchen konnte, wurden die Ermittlungen im Oktober 2016 eingestellt. Das Strafverfahren gegen Herrn Iwachnenko endete mit seiner Entbindung von der strafrechtlichen Verantwortung aufgrund des Ablaufs der zehnjährigen Verjährungsfrist.“
Angesichts des Ausmaßes der Gewalt und der Zahl der Todesopfer, der Beteiligung von Anhängern zweier verfeindeter politischer Lager im Kontext erheblicher sozialer und politischer Spannungen sowie der Gefahr einer allgemeinen Destabilisierung der Lage waren die Behörden nach Ansicht des EGMR dazu verpflichtet, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Transparenz und eine umfassende öffentliche Kontrolle der Ermittlungen zu gewährleisten. Stattdessen konnten, ohne wirksame Kommunikation, Falschinformationen über die Ereignisse in Odessa zu einem russischen Propagandainstrument im Rahmen der russischen Vollinvasion im Februar 2022 gegen die Ukraine werden.
Der einbehaltene Leichnam
Das Gericht befasste sich auch mit der Beschwerde der Stieftochter des im Gewerkschaftshaus getöteten Mychail Wjatscheslawow, Olena, welche anderthalb Jahre auf die Herausgabe des Leichnams ihres Vaters warten musste. Am 12. Mai 2014 gab sie eine Vermisstenanzeige auf. Am 30. Mai identifizierte sie ihn schließlich als eine von zwei unbekannten Leichen.
Am 10. Juni wurde eine Autopsie und am nächsten Tag eine DNA-Untersuchung durchgeführt, die jedoch keine Beziehung zwischen dem Verstorbenen und Wjatscheslawowa nachweisen konnte. Später stellte sich heraus, dass Mychail ihr Adoptivvater und nicht ihr leiblicher Vater gewesen war. Die Ermittler gingen weiter davon aus, dass die Identifizierung nicht abgeschlossen war.
Im Juni 2015 kamen Wjatscheslawowa, ihre Mutter und ein weiterer Verwandter erneut und identifizierten den Verstorbenen als Mychail Wjatscheslawow. Am 30. Juni wurde der Familie die Sterbeurkunde ausgestellt, jedoch nicht die Leiche zurückgegeben. Am 31. August untersuchten Experten den Schädel des Verstorbenen und kamen ebenfalls zu dem Schluss, dass es sich um die angegebene Person handelte.
Zwischen Juni und Oktober stellte die Tochter von Mychail Wjatscheslawow mehr als vier Anträge auf Herausgabe des Leichnams ihres Vaters, die jedoch abgelehnt wurden, bis sich der Leiter der UN-Beobachtungsmission im Dezember an die Staatsanwaltschaft wandte.
Am 29. Dezember 2015 wurde der Familie der Leichnam von Mychail Wjatscheslawow übergeben und noch am selben Tag beigesetzt.
Der EGMR kam zu der Bewertung, dass die Einbehaltung des Leichnams von Mychail Wjatscheslawow mindestens ab dem 31. August, als die letzte Untersuchung stattfand, bis Ende Dezember nicht rechtmäßig war.
„Das Wichtigste ist die ordnungsgemäße Untersuchung aller Todesfälle“
Es sei nun sehr wichtig, dass die Ukraine diesem EGMR-Urteil nachkommt, die angeordneten Entschädigungen zahlt und angemessene Maßnahmen ergreift, sagt Oleksandr Pawlitschenko, der Vorsitzende der ukrainischen Helsinki-Menschenrechtsgruppe, gegenüber Graty. Die Anwälte der Menschenrechtsorganisation hatten die Eingabe an den EGMR im Namen mehrerer Kläger zum Fall „Wjatscheslawowa und andere gegen die Ukraine“ vorbereitet.
„Die Summe der Entschädigungen ist ziemlich hoch, mehr als 300 000 Euro. Die größte Herausforderung besteht jedoch bei den allgemeinen Maßnahmen, nämlich der Organisation einer ordnungsgemäßen Untersuchung aller Todesfälle. Darauf müssen wir achten,“ sagte Pawlitschenko. „Positiv ist jedoch, dass es nach 2014 anscheinend keine ähnlichen Situationen bei Ermittlungen gab. Obwohl ich sagen kann, dass wir auch Beschwerden verfahrensrechtlicher Art in Bezug auf Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention haben, welche unterlassene oder nicht ordnungsgemäße Untersuchung von Todesfällen unter der Zivilbevölkerung nach dem Beginn der russischen Vollinvasion betreffen. Dieses Problem wird in diesem Zusammenhang auch zur Sprache kommen.“
Reaktion der ukrainischen Regierung
Direkt am 13. März 2025 erklärte das ukrainische Justizministerium, das EGMR-Urteil prüfen und einen Plan für dessen Umsetzung ausarbeiten zu wollen
„Die Tragödie von Odessa ereignete sich drei Monate nach der Revolution der Würde, als das Land in seinen Strukturen, insbesondere dem Strafverfolgungssystem, noch durch das institutionelle Erbe des Janukowytsch-Regimes geprägt war „, heißt es in der Erklärung. „Die vom EGMR festgestellten Unzulänglichkeiten im Vorgehen der Polizei und Feuerwehr deuten auf systemische Probleme hin, die sich über viele Jahre hinweg unter der Vorgängerregierung herausgebildet haben.“
Gleichzeitig begrüßte das Justizministerium die Tatsache, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die bedeutende Rolle der russischen Desinformation und Propaganda bei der Anstiftung zu Hass und Feindseligkeiten vor den tragischen Ereignissen anerkannt habe.
Russland war nicht an dem Verfahren beteiligt. Im Frühjahr 2022 hatte es den Europarat verlassen und verweigerte damit, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen.
In der unabhängigen Ukraine wird jedes Jahr Ende November jenen Millionen Menschen gedacht, die in den sowjetischen 1930er Jahren durch die von Moskau provozierte Hungersnot, den Holodomor, starben. Seit drei Jahren werden diese schmerzhaften historischen Erinnerungswunden wieder aufgerissen durch die Berichte vom Hungern ukrainischer Zivilisten und Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft. Das von Moskau befohlene Aushungern von Ukrainern erscheint als eine systematische Konstante – damals und heute.
Mariupol im Frühjahr 2022: Wjatscheslaw Sawalny arbeitete als Mechaniker in der südostukrainischen Großstadt. Nachdem die russische Armee am 24. Februar 2022 großflächig die Ukraine überfiel und besonders brutal die russische Besetzung der Stahl- und Hafenstadt Mariupol vorantrieb, versuchte Sawalny, seine Familie – seinen Sohn und seine Frau – in Sicherheit zu bringen. Doch an einem russischen Checkpoint im etwa 120 Kilometer nordwestlich gelegenen Polohy – in der Nachbaroblast Saporishshja, die ebenfalls teilweise in wenigen Tagen von russischen Truppen besetzt wird – nahmen ihn russische Uniformierte fest. Es folgten zehn lange Monate in Kriegsgefangenschaft an verschiedenen Orten – zusammen mit anderen Ukrainern: Zivilisten wie Soldaten.
2023 kommt Wjatscheslaw Sawalny durch einen Gefangenenaustausch frei. 2024 berichtet er ukrainischen Journalisten sowie einer Ukraine-Veranstaltung in Deutschland von seinen Erfahrungen in russischer Gefangenschaft.
Das Recherchemedium texty.org.ua hat Sawalnys Bericht dokumentiert und die Rolle des Hungers von Experten einordnen lassen.
Ukrainische Gefangene berichten nach ihrer Freilassung aus russischer Kriegsgefangenschaft immer wieder, dass der Hunger eine der schlimmsten Qualen in den russischen Folterkammern war. So auch der Mechaniker Wjatscheslaw Sawalny aus Mariupol, wenn er über seine Folter-Erfahrungen spricht und die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden dabei unterstützt, die konkreten Kriegsverbrecher zu identifizieren, die Ukrainer wie ihn in Gefangenschaft foltern und töten.
„Wir verloren alle sehr viel Gewicht. Sie folterten uns durch Hunger. Als sie dann etwas Brot ausgaben, ertappte ich mich dabei, wie ich es anstarrte und mir lange vorstellte, es zu essen“, berichtet Wjatscheslaw Sawalny. Vor Hunger habe er kaum schlafen können. „Alle Gespräche in unserer Zelle drehten sich nur ums Essen: Alle waren abgemagert und erschöpft. Die Leute in der Zelle stritten sich und kämpften um Lebensmittel.“
Wie so viele Ukrainer, die durch Russlands Krieges gegen die Ukraine in Gefängnissen der russischen Besatzer landen, hat auch Sawalny keinerlei Gründe für seine Inhaftierung erfahren. Stattdessen habe man ihn gefoltert und gleichzeitig gezwungen, leere Papiere zu unterschreiben.
„Sie brachten mich zum Verhör und sagten, dass sie nichts gegen mich in der Hand hätten. Sie überprüften die Social-Media Accounts meiner Tochter, aber fanden auch dort nichts“, erinnert er sich. Also zwang man ihn zweimal, im Abstand von mehreren Monaten, die Geschichte seiner Verhaftung zu erzählen und sich dabei filmen zu lassen. Um die Aussagen vergleichen und Widersprüche finden zu können, vermutet Sawalny.
2000 Kniebeugen im Informationsvakuum
Doch Rechtsfreiheit und Hunger waren längst nicht die einzigen Erniedrigungsformen: „Die Wärter erlaubten uns nicht zu sitzen. Wir mussten 18 Stunden lang stehen. Die Zelle wurde videoüberwacht. Wenn jemand versuchte, sich hinzusetzen, schlugen sie zu oder zwangen ihn, Kniebeugen zu machen: Kopf nach unten, Hände hinter den Rücken. Einmal mussten wir das zweitausendmal machen. Später haben wir tote Winkel gefunden, die für die Kamera nicht einsehbar waren und uns abwechselnd ausgeruht.“
Weiter erinnert er sich an Schikanen beim Hofgang: „Wir mussten gebückt laufen, mit dem Kopf nach unten und den Händen hinter dem Rücken verschränkt, die Beine halb gebeugt. Während wir ‘spazierten’, schlug man uns mit Sand gefüllten Plastikrohren, die blaue Flecken auf unseren Körpern hinterließen. Wir schrien vor Schmerz.“
Die Gefangenen lebten in einem völligen Informationsvakuum, wurden ständig gefoltert und teils täglich verhört. Bitten um medizinische Hilfe wurden ignoriert und Nahrungsrationen gestrichen.
„Ich war in der Hölle. Allein während meiner Gefangenschaft wurden mindestens vier Ukrainer in den Folterkammern von Donskoi in der Region Tula hingerichtet. Als ich in Kursk war, starben zwei weitere. Und das sind nur die Hinrichtungen, von denen ich weiß“, sagt Sawalny, während er sich Fotos von Mitarbeitern der russischen Gefängnisse ansieht und nach bekannten Gesichtern sucht.
Ich war in der Hölle
Die Russen täten alles dafür, so Sawalny, dass die Gefangenen, falls sie je in die Ukraine zurückkehren sollten, möglichst stark traumatisiert seien und zu einer Belastung für die Gesellschaft würden: „Sie weckten uns auch nachts auf, indem sie plötzlich das helle Licht anschalteten, um unseren Schlaf zu stören, damit wir uns nicht erholen und ausruhen konnten.“
Ermittler brauchen Betroffene
In der Ukraine arbeiten die Strafverfolgungsbehörden aktiv daran, die Leiter russischer Gefängnisse und konkrete Kriegsverbrecher zu identifizieren und Verfahren vorzubereiten. Julija Polechina, Anwältin der Menschenrechtsorganisation Sitsch, dokumentiert bereits seit 2015 Aussagen ukrainischer Soldaten und Zivilisten, die in russischer Gefangenschaft waren. Sie sagt, dass alle Befragten, wie Wjatscheslaw Sawalny, von Folter durch Hunger berichteten. Dies wird auch durch Ärzte bestätigt, die schwere und langwierige Folgen durch anhaltenden Hunger konstatieren. Die Anwältin fordert alle Betroffenen solcher Verbrechen auf, nicht zu schweigen:
„Wer freigelassen werden konnte, sollte über die Verbrechen an Ukrainern in den Haftanstalten in den besetzten Gebieten und in Russland aussagen. Dank dieser Informationen können die Ermittler der Nationalen Polizei Strafermittlungen durchführen und die Fälle vor Gericht bringen.“
Glaube ans Überleben
Für Wjatscheslaw Sawalnys Freilassung hat sich besonders seine Tochter Karyna Djatschuk eingesetzt. Sie wurde Aktivistin und organisierte eine starke Bewegung zur Unterstützung von Zivilisten in russischer Gefangenschaft, gründete mit anderen Angehörigen von illegal gefangengehaltenen Ukrainern die Nichtregierungsorganisation Civilians in Captivity. Karyna Djatschuk kontaktierte alle möglichen Stellen, schrieb Briefe und Appelle an ukrainische Behörden und versuchte, russische Anwälte zu finden, die möglicherweise dabei helfen könnten, den Aufenthaltsort ihres Vaters zu ermitteln. Doch am wichtigsten war: Sie glaubte an seine Rückkehr.
Am 8. Januar 2023 kam es zu einem Gefangenenaustausch, bei dem 50 Ukrainer [gegen ebenso viele russische Kriegsgefangene – dek] freikamen, darunter auch Wjatscheslaw Sawalny. Zum Zeitpunkt seiner Freilassung wog er nur noch 55 Kilogramm. Später wurde er zweimal operiert, brauchte lange, um sich zu erholen und konnte trotz ausgewogener und ausreichender Ernährung kaum wieder zunehmen.
Seit 2014 Folter durch Hunger
Iryna Badanowa war von November 2015 bis Juni 2024 Expertin im ukrainischen Koordinierungsstab für die Suche und Freilassung von Kriegsgefangenen in einer Unterabteilung des Generalstabs und des Verteidigungsministeriums tätig. Sie sagt, sie habe zum ersten Mal 2014 nach der Freilassung von Soldaten der 30. Mechanisierten Brigade von der Folter durch Hunger und Durst erfahren:
„Die Jungs erzählten mir, dass sie zusammen mit 37 Gefangenen in einem Loch gehalten wurden und nur eine Drei-Liter-Flasche Wasser und einen Laib Brot pro Tag bekamen. Da es ein heißer August war, litten sie noch mehr unter Wassermangel als unter Hunger.“
Schon damals wurden ukrainische Gefangene nicht nur von lokalen Separatistenkämpfern, sondern auch durch den russischen Föderalen Geheimdienst FSB verhört. Das heißt, das russische Foltern ukrainischer Gefangener durch Hunger wird seit über einem Jahrzehnt angewendet.
Wer aus der Gefangenschaft zurückkehrt, weist alle Anzeichen von Entkräftung auf
„Jeder, der aus der Gefangenschaft zurückkehrt, weist alle Anzeichen von Entkräftung auf: blasse Haut, erheblicher Gewichtsverlust (manchmal mehr als ein Viertel des Gewichts vor der Gefangenschaft), Haar- und Zahnausfall, schwere Entzündungen des Magens, der Speiseröhre, der Leber und der Bauchspeicheldrüse, die eine langwierige Behandlung erfordern“, sagt Badanowa. Diese Folter durch Hunger und Durst beeinträchtige die ehemaligen Gefangenen auch psychisch noch lange über die Gefangenschaft hinaus:
„Nach ihrer Freilassung können einige ihren Hunger kaum mehr stillen, selbst wenn sie eigentlich genügend Eiweiß, Fett und Vitamine zu sich nehmen. Andere können bestimmte Lebensmittel nicht mehr ansehen, ohne dass ihnen übel und schwindlig wird. Geschweige denn essen.“
Diese Störungen können als die traumatischsten bewertet werden, denn neben einer langfristigen gastrologische Behandlung ist hier auch eine sorgfältige psychologische oder psychiatrische Behandlung erforderlich.
2024 nahm Wjatscheslaw Sawalny an einer Veranstaltung zum Holodomor-Gedenktag in Burg bei Magdeburg teil. Der Verein Ukrainer in Burg zeigte den ukrainischen Kurzfilm Rote Halskette über das Leben eines Mädchens im Jahr 1933. Danach berichtete Sawalny dem Publikum seine Geschichte.
„Wjatscheslaws Geschichte aus dem Jahr 2022 und die meiner Großmutter im Jahr 1933 haben Gemeinsamkeiten“, sagt die Menschenrechtsaktivistin und Regisseurin und Autorin des Films Tetjana Wyssozka. „Die Russische Föderation lässt Ukrainerinnen und Ukrainer in Gefangenschaft heute absichtlich verhungern – genau wie zu Zeiten des Holodomor, als man Familien alle Essensvorräte wegnahm, sodass sie keine Chance zum Überleben hatten. Diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zielen darauf ab, den Menschen über seine Grundbedürfnisse zu zerstören. Und sie wiederholen sich.“
Das ist Sawalnys Präsentation, die er im November 2024 in Deutschland zeigte
Tausende von ukrainischen Zivilisten werden aktuell in russischen Gefängnissen in den besetzten Gebieten, auf der Krym und in Russland festgehalten [genaue Zahlen gibt es nicht – dek]. Ihre Angehörigen haben kaum Kontakt zu ihnen, da Russland seine Verbrechen verschleiert, keine Informationen bestätigt und internationalen Organisationen den Besuch von Haftanstalten verwehrt.
Leider bestehen aktuell keine regelmäßigen Mechanismen, um Zivilisten aus russischer Gefangenschaft zu befreien.
Viele Ukrainer sind durch die Foltergeschichten der Heimkehrer aus russischer Gefangenschaft kaum noch zu beeindrucken. Aber Menschen außerhalb der Ukraine wissen oft nichts darüber, wie die Russen ukrainische Zivilisten entführen und jahrelang ohne jeden Grund gefangen halten. Und das, obwohl die Inhaftierung von Zivilisten in internationalen bewaffneten Konflikten nach dem Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten verboten ist.
Der Angriff auf die politische Aktivistin Kateryna Handsjuk 2018 in Cherson steht in der Ukraine symbolisch für die Zeit zwischen der Revolution der Würde 2014 und der russischen Vollinvasion 2022: Ein korrupter Lokalbeamter lässt die Stadträtin mithilfe eines stadtbekannten Kriminellen und ATO-Veteranen töten. Anschließend versucht er, der Strafe zu entgegen. Doch zivilgesellschaftliche Aktivisten aus ganz unterschiedlichen Richtungen lassen nicht locker und zwingen die Strafverfolgungsbehörden praktisch dazu, weiter zu ermitteln, bis Urteile gesprochen werden können.
Maksym Kamenjew hat für das ukrainische Onlinemedium Graty die Prozessunterlagen und Urteile über die Täter und Komplizen, den Organisator und den Auftraggeber ausgewertet und rekonstruiert damit Schritt für Schritt den tödlichen Angriff auf Kateryna Handsjuk. Dekoder veröffentlicht diese komplexe und verworrene Geschichte auf Deutsch in drei Teilen im Februar 2025.
Ende Juli 2020 überwies die Staatsanwaltschaft den Fall von Olexii Lewin und Wladyslaw Manher ans Gericht. Die beiden wurden beschuldigt, den Säure-Anschlag auf die Chersoner Aktivistin Kateryna Handsjuk 2018 in Auftrag gegeben zu haben, an dem sie Tage später im Krankenhaus starb. Am 18. August 2020 eröffnete Richterin Julija Iwanina die Verhandlung des Falles.
Zur Eröffnungsverhandlung erschien Lewin fast nackt. Auf der verglasten Anklagebank, dem Aquarium, hatte er nicht mehr als eine zerrissene blaue Unterhose an. Er behauptete, dass er in der Untersuchungshaftanstalt gezwungen worden sei, gegen Manher auszusagen. Bevor er zum Gericht gebracht wurde, habe man ihn ausgezogen und ihm nicht erlaubt, sich normal anzuziehen. Das Aufsichtspersonal versicherte jedoch, dass Lewin sich selbst entkleidet und sich danach geweigert habe, vor Gericht zu erscheinen. Deshalb habe man ihm in diesem Zustand bringen müssen. Lewins Körper wies keine Anzeichen von Einwirkung äußerer Gewalt auf.
Druck
Während des Prozesses gegen Manher und Lewin berichteten Ihor Pawlowsky sowie zwei weitere Zeugen erneut von Druck seitens der Angeklagten.
Pawlowsky behauptete, er habe sich 2019 zunächst geweigert, dem Deal mit den Ermittlern zuzustimmen. „Ich wurde bedroht: Wenn ich im Prozess gegen Manher aussagen und ihn Mykolajowytsch nennen würde, würden meine Familie und die meiner Tochter Probleme bekommen“, so Pawlowsky vor Gericht.
Im Januar 2020 war Pawlowsky erneut verhaftet worden. Die Staatsanwaltschaft verdächtigte ihn der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Vor Gericht sagte er aus, er sei in Untersuchungshaft von Leuten aufgefordert worden, nicht gegen Manher auszusagen. Andernfalls drohten sie ihm, das Genick zu brechen.
„Wie lange soll das noch dauern? Leute haben Geld gegeben und wollen Ergebnisse sehen“
Aber Pawlowsky wurde nicht nur bedroht, sondern man habe auch versucht, ihn zu bestechen. Er behauptete, dass ihm Lewin persönlich nach seiner Festnahme 20.000 Dollar dafür angeboten habe, wenn er nicht gegen ihn und Manher aussagte, doch er weigerte sich.
Zwei von Pawlowskys Mitarbeitern berichteten ebenfalls von Morddrohungen. Beide bestanden darauf, dass es Lewins Idee war, sich die Aktivisten vorzuknöpfen. Pawlowsky habe nur gelacht und gemeint, dies sei Unsinn.
Die zwei behaupteten auch, dass sie kurz vor dem Angriff auf Handsjuk vor Pawlowskys Büro ein Gespräch zwischen Lewin und Torbin mithörten: „Serhii, wie lange soll das noch dauern? Leute haben Geld gegeben und wollen Ergebnisse sehen, Mykolajowytsch ist wütend“, berichtet Pawlowskys Mitarbeiter Pawlo Pylypenko später vor Gericht. Torbin habe Lewin gegenüber versichert, dass seine Jungs schon „arbeiten“ würden.
Beide Mitarbeiter Pawlowskys betonten vor Gericht, dass sie bedroht würden.
Pylypenko saß zu diesem Zeitpunkt wegen Ermittlungen zu gewaltsamen Protesten am 4. Mai 2018 vor der Bezirksverwaltung in Oleschky in Untersuchungshaft. Er behauptete, eines Tages sei ein Wachmann der Haftanstalt zusammen mit 14 anderen Personen in seine Zelle gekommen und habe gesagt, dass er in Schwierigkeiten sei. Er wählte die Nummer des stadtbekannten Banditen Wiktor Batar und stellte den Anruf auf laut.
„Bruder, ehrlich, ich flehe dich an. Du bist der Einzige, der mich aus der Scheiße rausholen kann“
Batar drohte dann: Wenn Pylypenko „gegen einflussreiche Leute“ aussagen würde, würde er sich „kümmern“. Anschließend erhielt Pylypenko einige Ohrfeigen. Doch er ließ sich nicht beirren, stimmte einem Deal mit den Ermittlern zu und erhielt eine zweijährige Bewährungsstrafe. Im Gegenzug sagte er vor Gericht gegen Lewin und Manher aus.
Als weiterer wichtiger Zeuge der Anklage sagte Serhii Torbin vor Gericht aus, dass Lewin ihn 2021 per Telefon gebeten habe, nicht auszusagen. Zu jenem Zeitpunkt befand sich Lewin in Untersuchungshaft und Torbin im Gefängnis. Torbin zeichnete eines dieser Gespräche auf und präsentierte es während seiner Vernehmung vor Gericht am 15. Juni 2022:
„Bruder, ehrlich, ich flehe dich an. Du bist der Einzige, der mich aus der Scheiße rausholen kann. Mach verdammt nochmal keine Aussage. Lass dich nicht blicken, hau ab. Für mich gibt’s keinen anderen Ausweg. Gehe nicht vor Gericht“, zitierten Reporter des ukrainischen Onlinemediums Watchers die Stimme der Sprachaufnahme, welche der von Lewin ähnelt.
Richterin Julija Iwanina fragte Lewin, ob er sich hierzu äußern wolle, woraufhin dieser sich auf sein Recht nach Artikel 63 der Verfassung berief, sich nicht selbst belasten zu müssen und die Aussage verweigerte.
Nicht feststellen konnten die Ermittler, wie und wann Manher Lewin gesprochen und bezahlt hat
Wladyslaw Manher und Olexii Lewin bestritten, Druck auf Zeugen ausgeübt zu haben. Wenn jemand Druck auf die Prozessbeteiligten ausgeübt habe, dann seien es die Ermittler und Staatsanwälte gewesen.
Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass Wladyslaw Manher erstmals Anfang Juli 2018 an einen Angriff auf Kateryna Handsjuk gedacht habe. Er habe dann Lewin vorgeschlagen, den Anschlag zu organisieren. Danach wendete sich dieser an Torbin und der wiederum an seine Kameraden. Nicht feststellen konnten die Ermittler allerdings, wie und wann Manher mit Lewin kommuniziert hatte.
Laut der Anklage bezahlte Manher die Dienste aller Beteiligten. Nicht festzustellen war jedoch, wie er Lewin bezahlt habe.
Mykolajowytsch
Serhii Torbin und Ihor Pawlowsky bezeugten vor Gericht, Lewin habe ihnen persönlich gesagt, dass Manher den Angriff auf Kateryna Handsjuk in Auftrag gegeben habe.
Torbin wurde noch einmal am 15. Juni 2022 vor Gericht befragt. Ende Februar 2023 wurde er in die Streitkräfte mobilisiert.
Torbin behauptete, dass Lewin und Manher eine „super Beziehung“ gehabt hätten. Oft habe man sie zusammen am Flussufer oder in Restaurants angetroffen. Torbin betonte, dass Lewin Manher oft Mykolajowytsch und manchmal Glatzkopf nannte.
„Bei einem unserer Treffen fragte ich Lewin, wer es denn nötig habe, Handsjuk eins auszuwischen? Lewin meinte, ‚Mykolajowytsch will es‘. Als ich nachfragte, ob das Manher sei, sagte er ‚Ja‘“, so Torbin vor Gericht.
Manher und Lewin bestritten nicht, dass sie sich kannten. Jedoch betonten sie, dass sie nicht befreundet seien, sondern sich nur gelegentlich über gemeinsame Freunde trafen, da ihre Ehefrauen befreundet waren.
Lewin sagte, er habe Manher bei seinem Vor- und Vatersnamen genannt: Wladyslaw Mykolajowytsch. In seinem Telefon habe er ihn als „Boss“ abgespeichert, weil er bestimmte, was in der Region geschah. Beide bestritten, dass Lewin Manher beraten habe. Auch konnten sie sich nicht daran erinnern, worüber genau sie am Tag des Angriffs auf Handsjuk am Telefon gesprochen hätten. Doch sei es sicherlich um Fragen im Zusammenhang mit der Unterstützung von ATO-Veteranen gegangen.
Ihor Pawlowsky bestätigte, dass Lewin Manher Mykolajowytsch nannte. Vor Gericht erinnerte er sich daran, dass er Manher nach der Kundgebung vor der Regionalverwaltung kennengelernt habe. Damals hatten Lewin und Torbin am 6. Juli 2018 die Kundgebung zur Unterstützung der Stadtoberen organisiert. Lewin hingegen bestritt, dass er die Kundgebung vor der Regionalverwaltung von Cherson organisiert und den Teilnehmern Geld gezahlt habe. Er habe lediglich bei den Unterstützern von Manher gestanden. Einige Tage nach der Kundgebung erhielt Pawlowsky einen Anruf von Lewin, dass er und Mykolajowitsch bald in seinem Büro vorbeischauen würden.
Während des Treffens, erinnert sich Pawlowsky, kamen sie auf Handsjuk zu sprechen, die Manher öffentlich der Korruption und illegalen Abholzung beschuldigte. „Genau kann ich mich nicht erinnern, ob es Manher oder Lewin war, der meinte, dass es Zeit sei, ihr das Maul zu stopfen“, sagte Pawlowsky vor Gericht. Er habe den Drohungen gegenüber Handsjuk aber keine Bedeutung beigemessen.
Lewin bestand darauf, dass sie bei diesem Treffen nicht über Handsjuk gesprochen hätten. Er wiederholte vor Gericht abermals die Geschichte, die er noch in Bulgarien den Journalisten von slidstvo.info über das Treffen in Pawlowskys Büro erzählte hatte. Er sei lediglich dafür gewesen, Handsjuk mit Seljonka zu übergießen. Pawlowsky und Torbin waren schließlich dafür gewesen, sie mit Fäkalien zu übergießen und anschließen zu fotografieren.
„Wir haben den Angriff bestellt. Sie hat einfach zu viel Lärm gemacht“
Vor Gericht erinnerte sich Pawlowsky an einen anderen Vorfall, da Lewin in einem Gespräch mit ihm Mykolajowytsch erwähnte – am 3. August, dem Tag, an dem der erste Verdächtige, Nowikow, verhaftet wurde. An jenem Tag sei er mit einem Assistenten in seinem Büro gewesen. Plötzlich stürmte ein aufgeregter Lewin herein. Vor Gericht gab Pawlowsky das Gespräch wieder:
„Er fragte, ob wir einen Anwalt hätten und ob wir wüssten, was passiert sei. Wir fragten: ‚Was ist passiert?‘ Er sagte: ‚Sie haben Torbin verhaftet.‘ Ich stellte die Frage: ‚Warum wurde gerade der festgenommen?‘ Er antwortete: ‚Weißt du das denn nicht? Die haben Kateryna Handsjuk übergossen‘. Ich fragte: ‚Warum haben sie das getan?‘ Und ich zitiere hier wörtlich. Er antwortete: ‚Nun, wir haben einen Angriff auf Kateryna Handsjuk bestellt.‘ Ich fragte ihn: ‚Wer ist wir? Und warum?‘ Er antwortete: ‚Ich und Mykolajowytsch. Sie hat einfach zu viel Lärm gemacht.“
Pawlowsky rief dann Torbin an, doch der nahm nicht ab. Schließlich erreichte er Torbins Frau, die ihm mitteilte, dass er betrunken sei und zu Hause schlief. Als Lewin feststellte, dass die Polizei Torbin nicht verhaftet hatte, beruhigte er sich.
„Ist dir klar, dass wir jetzt Komplizen in diesem Verbrechen sind?“
Lewin bestritt das Gespräch nicht, sagte aber, es habe nur unter vier Augen stattgefunden. Als Pawlowsky Torbin weiter nicht erreichen konnte, sei er nervös geworden.
„Ich sagte ihm: ‚Ist dir klar, dass wir jetzt Komplizen in diesem Verbrechen sind?‘ Als es ihm klar wurde, liefen seine Lippen blau an und sein Gesicht wurde bleich. Er hatte schon immer Probleme mit seinem Blutdruck und ich fragte ihn, ob ich einen Krankenwagen rufen solle. Doch er machte nur eine Geste mit der Hand: ‚Setz dich“, so Lewins Version des Gesprächs.
Er behauptete, dass Pawlowsky mit Hilfe einer Wahrsagerin nach Torbin suchte. Die Frau hieß Anna, war zwischen 30und 35 Jahre alt und laut Torbin Pawlowskys Lebensgefährtin. Nach einigen Prozeduren versicherte sie Pawlowsky, dass Torbin nicht verhaftet worden sei.
„Als wir nach einiger Zeit Torbin fanden, sagte Ihor: ‚Siehst du, Anna hat es vorausgesagt. Sie sieht alles‘“, erklärte Lewin. Er bestritt, Pawlowsky gesagt zu haben, dass er und Manher Torbin den Angriff Handsjuk befohlen hätten.
Motiv
Manher betonte vor Gericht immer wieder, dass er den Angriff auf Handsjuk nicht befohlen habe und sie nicht mal gut kenne und deshalb kein Motiv gehabt habe, sie zu töten.
Doch der Staatsanwaltschaft zufolge wollte Wladyslaw Manher Handsjuk für eine Weile aus dem öffentlichen und politischen Leben der Region Cherson verschwinden lassen. Deshalb habe er den Angriff auf sie angeordnet.
Auch laut Kateryna Handsjuks Aussage im Krankenhaus hatte er ein Motiv, allerdings machte sie vor ihrem Tod keine näheren Angaben zum Konflikt mit Wladyslaw Manher. Erst ihr Vater Wiktor Handsjuk sowie mehrere Unterstützer berichteten Details vor Gericht.
Der renommierte Chersoner Journalist Serhii Nikitenko erinnerte daran, dass der Konflikt bis ins Jahr 2014 zurückreichte. Nach dem Sieg der Revolution der Würde fanden im Frühjahr vorgezogene Präsidentschafts- und Kommunalwahlen statt. Im Herbst gab es Neuwahlen zur Werchowna Rada. Damals gab Kateryna Handsjuk ihre Arbeit in der regionalen Sportförderung auf und kehrte in die Politik zurück. Und kandidierte für die Partei Batkiwschtschyna für den Stadtrat und das Regionalparlament von Cherson.
Handsjuk war bereits nach der Orangenen Revolution 2006 in die Partei von Julija Timoschenko eingetreten und Stadträtin in Cherson geworden. Nach den Kommunalwahlen 2012 verließ Handsjuk jedoch die Politik und begann als Journalistin und Selbstständige mit internationalen humanitären Organisationen zusammenzuarbeiten.
Während des Euromaidan trat Kateryna Handsjuk häufig bei Protesten gegen prorussische Einflussnahme auf. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Herbst 2014 kandidierte sie nicht mehr, dafür aber Wladyslaw Manher. 2016 wurde sie Mitglied, Beraterin und Abteilungsleiterin im Chersoner Stadtrat.
Vor Gericht erklärte Nikitenko, dass Manhers Wahlkampfstab das vom Zentrum für politische Studien und Analysen entwickelte Konzept der Rechenschaftspflicht für öffentliche Gelder gestohlen habe, in welchem Nikitenko als Experte und Handsjuk als regionale Vertreterin tätig waren.
„Es war ein großes Projekt, an dem wir lange gearbeitet haben und in der Presse darüber berichteten. Später fanden wir auf Wahlkampfmaterialien heraus, dass Wladyslaw Manher das Konzept als das seine deklarierte“, so Nikitenko vor Gericht.
Jedoch half das Manher nicht. Er wurde nur Dritter bei der Wahl.
Im folgenden Jahr, 2015, beschloss Wladyslaw Manher, für das Amt des Bürgermeisters von Cherson zu kandidieren. Nach der schlechten Erfahrung wollte er diesmal als Kandidat einer politischen Partei antreten. Im Sommer desselben Jahres bewarb er sich um die Mitgliedschaft in der Partei Batkiwschtschyna.
Dies rief den heftigen Protest einiger Parteimitglieder hervor, darunter von Kateryna Handsjuk. Auf einer Parteiversammlung, auf der über die Aufnahme von Manher in die Partei entschieden wurde, veranstaltete Handsjuk ein regelrechtes Verhör. Außerdem nahm sie die Sitzung auf und gab die Aufnahme später an Nikitenko weiter.
Handsjuk befragte da Manher zu seiner Mitgliedschaft in der Partei der Regionen und zu seiner Tätigkeit als Mitarbeiter von deren Abgeordeneten Shurawko.
Manher selbst sagte später vor Gericht, dass er nie Parteimitglied und nur elf Tage Assistent von Shurawko gewesen sei. Dies habe ihm 2013 geholfen, den Leitungsposten der Agrarinspektion in der Region Odesa zu bekommen. Da er Mitarbeiter eines Abgeordneten war, durchlief er ein vereinfachtes Auswahlverfahren. Gleichzeitig betonte er weiterhin, dass er sich an eine solche Befragung nicht erinnern könne und Handsjuk nicht kenne.
Manher kandidierte für Batkiwschtschyna, Handsjuk leitete Wahlkampf eines Konkurrenten.
Katerynas Vater und ihre Unterstützer betonten jedoch, dass Kateryna und mehrere andere Kollegen ihre Mitgliedschaft im September 2015 eben wegen der Aufnahme Manhers in die Partei beendet oder ausgesetzt hätten.
Daraufhin kandidierte Manher als Batkiwschtschyna-Kandidat für das Bürgermeisteramt in Cherson. Handsjuk leitete den Wahlkampfstab ihres ehemaligen Parteikollegen Wolodymyr Nikolajenko. Dieser kandidierte jedoch als parteiloser Kandidat und erhielt im ersten Wahlgang die meisten Stimmen, jedoch weniger als 50 Prozent, sodass ein zweiter Wahlgang die Entscheidung brachte.
Wladyslaw Manher belegte im ersten Wahlgang den dritten Platz, während der zweite Platz an den damaligen Bürgermeister Wolodymyr Saldo ging, der als Kandidat für die Partei Nasch Kraj antrat. Vor dem zweiten Wahlgang zog Saldo seine Kandidatur zurück, sodass am Ende Manher gegen Nikolajenko antrat. Doch die Intrige scheiterte und Nikolajenko gewann die Stichwahl. Manher wurde Mitglied des Regionalparlaments. Die Konfrontation zwischen Handsjuk und Manher blieb bestehen.
Nach der Wahlniederlage strebte Manher den Posten des Vorsitzenden des Regionalparlaments an. Handsjuk ihrerseits versuchte, ihn daran zu hindern. Sie schrieb kritische Beiträge über ihn auf Facebook und unterstützte den Journalisten Nikitenko bei investigativen Recherchen, die er unter anderem über Manher in seinem Nachrichtenportal MOST veröffentlichte. Dennoch wählten ihn die Abgeordneten am 27. September 2016 mit einer Mindestzahl an Stimmen zum Parlamentssprecher.
Kateryna Handsjuk führte ihre Kritik an Manher fort. Auf ihre Anregung hin veröffentlichte Nikitenko auf dem gemeinsamen YouTube-Kanal MOST einen mehrteiligen Investigativfilm mit dem Titel Es gibt Grenzen über den Kampf lokaler Clans um die Kontrolle der städtischen Wasserversorgers von Cherson.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich MOST bereits zu einem ernstzunehmenden Investigativmedium entwickelt. Handsjuk und Nikitenko widmeten den letzten Teil der Reihe ausschließlich dem Parlamentsvorsitzenden Manher. Die Folge Wer sind Sie, Mr. Manher? erschien am 16. Juli 2017. Kateryna Handsjuk, die offiziell Verwaltungsbeamtin war, wird im Abspann nicht erwähnt.
Kateryna ließ den Film direkt auf das Parlamentsgebäude projizieren. Darin behauptet Nikitenko, dass Manher den Posten des Vorsitzenden der Regionalversammlung durch politische Korruption erlangt habe und den Abgeordneten im Gegenzug für ihre Zustimmung die Kontrolle über kommunales Land und Unternehmen versprochen habe.
Kateryna sagte nach dem Angriff auf Nikitenko, sie sei als Nächste dran
Manher gefiel der Film nicht, und er klagte gegen MOST und Nikitenko. Nachdem die Journalisten die ersten beiden Instanzen verloren, entschied im Mai 2018 der Oberste Gerichtshof zu Gunsten der Journalisten und wies Manhers Klage wegen Verleumdung ab. Einen Monat später, am 18. Juni, wurde Nikitenko von Unbekannten überfallen und verprügelt. Handsjuk und er vermuteten Manher hinter dem Angriff.
Katerynas Vater Wiktor Handsjuk erinnerte sich vor Gericht daran, dass seine Tochter nach dem Angriff auf Nikitenko sagte, sie sei als Nächste dran.
Wladyslaw Manher betonte dagegen vor Gericht, dass er Handsjuks kritische Veröffentlichungen nicht ernst genommen habe. Er habe auch nicht gewusst, dass Kateryna Mitautorin von Nikitenkos Film war. „Das war eine einzige Lüge, deshalb rieten mir die Anwälte dies nicht zu ignorieren und wie zivilisierte Menschen vor Gericht zu ziehen“, betonte Manher vor Gericht und fügte hinzu, dass er nach der Entscheidung des Obersten Gerichts den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen habe, der seine Klage zur Prüfung angenommen habe.
Im Januar 2020 wandte sich Manhers Anwalt tatsächlich an den EGMR. Doch konnte in keiner öffentlich zugänglichen Quelle eingesehen werden, ob das Gericht Manhers Klage annahm.
Manher bestand darauf, dass er nichts mit dem Angriff auf Nikitenko zu tun hatte.
Der General
Bei seiner Anhörung vor Gericht am 13. Februar 2019 präsentierte Wladyslaw Manher gar noch eine alternative Überlegung darüber, wer den Angriff auf Kateryna Handsjuk beauftragt habe. Er beschuldigte den SBU-General Danylo Dozenko für das Verbrechen verantwortlich zu sein.
Dozenko war 2017 Leiter der Hauptabteilung des SBU in der Region Cherson, zuvor Leiter des Geheimdienstes für die Krim, aber in Cherson stationiert. Im Jahr 2018 beförderte der Präsident Dozenko in den Rang eines Generalmajors. Zuvor war er als Offizier der Spionageabwehr nach Kyjiw versetzt worden, wo er schließlich die Abteilung für den Schutz der nationalen Staatlichkeit leitete.
„Nachdem der Angriff so schwerwiegende Folgen hatte, war Kateryna physisch zerstört und diese Tragödie wurde für politische Zwecke missbraucht“
Manher behauptete, dass Kateryna Handsjuk mit dem SBU zusammengearbeitet habe und Dozenko direkt unterstellt gewesen sei. Laut Manher habe der Chersoner SBU-Chef kriminelle Vereinigungen gebildet, die in illegale Abholzung und Erpressung verwickelt gewesen seien. Dies sei der Grund, warum Dozenko in Konflikt mit der Polizei geriet.
„Ich glaube, dass Danylo Dozenko den Angriff auf Kateryna Handsjuk befohlen hat, um die Polizei zu diskreditieren. Nachdem der Angriff so schwerwiegende Folgen hatte, war Kateryna physisch zerstört und diese Tragödie wurde für politische Zwecke missbraucht“, sagte Manher und behauptete, „unwiderlegbare Beweise“ zu haben.
Eine SBU-Pressesprecherin bezeichnete die Aussage von Manher als absurd, unbegründet und verleumderisch. Und: „Ich schließe nicht aus, dass sein Ziel darin bestand, die zahlreichen Beweise, die der ukrainische Inlandsgeheimdienst gegen ihn gesammelt hat, zu diskreditieren, um zu erreichen das der Fall einer anderen Strafverfolgungsbehörde übergeben wird.“
Während des Prozesses erzählte Manher seine Version der Geschichte: Er behauptete, Dozenko habe den Film Wer sind Sie, Mr. Manher? bei dem Journalisten Nikitenko bestellt. Auf Anweisung der Präsidialverwaltung sollte Manher als Mitglied der Oppositionspartei Batkiwschtschyna diskreditiert werden. Deren Vorsitzende Julija Tymoschenko wurde seinerzeit bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen als Hauptkonkurrentin von Petro Poroschenko gehandelt.
Manher behauptete, dass er nach der Veröffentlichung des Films den amtierenden Leiter der Agrarinspektion in der Region Odesa kontaktiert habe, der zuvor sein Stellvertreter gewesen sei. Dieser behauptete, er habe ein von Dozenko unterzeichnetes Schreiben erhalten, das Informationen über Strafverfahren gegen Manher abfragte. Da keine bekannt waren, schickte der Leiter der Agrarinspektion lediglich Informationen über Verfahren gegen Mitarbeiter der Inspektion.
„Diese Zahlen wurden in Nikitenkos Film so präsentiert, als seien dies Verfahren gegen mich gewesen“, argumentierte Manher vor Gericht.
Informationen über alle drei Strafverfahren, die laut Nikitenko während Manhers Tätigkeit bei der Agrarinspektion eröffnet wurden, waren im Register über Gerichtsentscheidungen nicht auffindbar.
Kateryna arbeitete als Aktivistin mit dem SBU in der Region Cherson zusammen, um gegen den Einfluss der „russische Welt“ zu bestehen
Katerynas Vater Wiktor Handsjuk bestätigte vor Gericht, dass sowohl er als auch seine Tochter Danylo Dozenko kannten und ein gutes Verhältnis zu ihm hatten. Er erklärte, dass Kateryna als Aktivistin mit dem Leiter des SBU in der Region Cherson zusammengearbeitet habe, um gegen den Einfluss der „russische Welt“ zu bestehen.
Dozenko wurde vor Gericht als Zeuge der Verteidigung vernommen und bestätigte, dass er Kateryna Handsjuk kannte, betonte jedoch, dass er mit ihr ausschließlich über offizielle Angelegenheiten kommuniziert habe. Dabei ging es um kommunale Unternehmen und eine mögliche Finanzhilfe an den SBU durch den Stadtrat.
Dozenko schloss nicht aus, dass er eine Anfrage an die Agrarinspektion des Gebiets Odesa bezüglich eines Strafverfahrens gegen Manher gestellt haben könnte, betonte aber, dass er keine Befehle erhalten habe, ihn zu diskreditieren.
„Als der Angriff auf Handsjuk stattfand, arbeitete ich bereits in Kyjiw und machte zu jenem Zeitpunkt Urlaub im Ausland“, sagte Dozenko vor Gericht.
Er betonte, dass er nicht schuldig sei. Einen Lügendetektortest lehnte er ab, weil er nicht glaube, irgendetwas beweisen zu müssen.
Das Urteil
Der Prozess gegen Lewin und Manher dauerte fast vier Jahre. Nach Russlands vollumfänglicher Invasion im Februar 2022 wurde er zunächst unterbrochen. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus dem Gebiet Kyjiw wurden die Anhörungen fortgesetzt.
„Manher und Lewin haben die höchstmöglichen Strafen erhalten. Die unmittelbaren Täter wurden bestraft genauso wie die Mittäter und Anstifter“
Am 26. Juni 2023 befand die Richterin Julia Iwanina sowohl Wladyslaw Manher als auch Olexii Lewin für schuldig, den Angriff auf Kateryna Handsjuk befohlen und organisiert zu haben und verurteilte beide zu je zehn Jahren Gefängnis.
Das Gericht gab auch der Zivilklage des Vaters, der Mutter und des Ehemanns von Kateryna Handsjuk gegen Manher und Lewin statt und verurteilte sie zur Zahlung von 15 Millionen Hrywnja [rund 370.000 Euro – dek] an die Angehörigen des Opfers.
Das Gericht beschlagnahmte das Eigentum der beiden Angeklagten. Da Manher außerdem gegen die Bedingungen seiner Auflagen verstoßen hatte, zog das Gericht den gesamten Betrag der Kaution zugunsten des Staates ein.
Richterin Iwanina ließ Manher und Lewin bis zur Vollstreckung des Urteils in Untersuchungshaft. Das Gericht rechnete Manher und Lewin zwei bzw. zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft an.
Staatsanwalt Andrii Sinjuk erklärte gegenüber Graty, er sei mit dem Urteil zufrieden. Das Gericht gab dem Antrag der Staatsanwaltschaft in vollem Umfang statt. „Manher und Lewin haben die höchstmöglichen Strafen erhalten. Die unmittelbaren Täter wurden bestraft genauso wie die Mittäter und Anstifter. Ihor Pawlowsky, der die Strafermittlungen vereiteln wollte, wurde ebenfalls bestraft“, kommentierte Sinjuk.
Wiktor Handsjuk, der Vater der verstorbenen Kateryna, war im Gerichtssaal anwesend, als das Urteil verkündet wurde. Er lehnte es ab, das Urteil zu kommentieren und sagte er fühle nur Leere.
Aktivisten von Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt? in T-Shirts mit dem Konterfei von Kateryna Handsjuk sowie ihre Freunde und Familie applaudierten nach der Urteilsverkündung im Gerichtssaal.
Der Angriff auf die politische Aktivistin Kateryna Handsjuk 2018 in Cherson steht in der Ukraine symbolisch für die Zeit zwischen der Revolution der Würde 2014 und der russischen Vollinvasion 2022: Ein korrupter Lokalbeamter lässt die Stadträtin mithilfe eines stadtbekannten Kriminellen und ATO-Veteranen töten. Anschließend versucht er, der Strafe zu entgegen. Doch zivilgesellschaftliche Aktivisten aus ganz unterschiedlichen Richtungen bewegen die Strafverfolgungsbehörden dazu, nicht nur die Täter, sondern auch den Organisator und schließlich den Auftraggeber des Verbrechens festzunehmen und vor Gericht zu stellen.
Maksym Kamenjew hat für das ukrainische Onlinemedium Graty die Prozessunterlagen und Urteile über die Täter, Komplizen, den Organisator und den Auftraggeber ausgewertet und rekonstruiert damit Schritt für Schritt den tödlichen Angriff auf Kateryna Handsjuk. Dekoder veröffentlicht diese komplexe und verworrene Geschichte auf Deutsch in drei Teilen im Februar 2025.
Schon am 5. November 2018 – einen Tag, nachdem Kateryna Handsjuk im Kyjiwer Krankenhaus an den Folgen der Säure-Attacke in Cherson gestorben war – erklärten Freunde und Unterstützer des Bündnisses Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?, dass Ihor Pawlowsky, Mitarbeiter des Rada-Abgeordneten Mykola Palamartschuk vom Block Petro Poroschenko, in den Überfall verwickelt sei. Laut Angaben der Aktivisten war er bereits früher straffällig gewesen und unter dem Spitznamen „Hund“ bekannt.
Während der Präsidentschaft von Wiktor Janukowytsch hatte Pawlowsky für den Abgeordneten Jurii Samoilenko von der Partei der Regionen gearbeitet. Einem anderen Politiker der Partei, Olexii Schurawko, half er, nach dem Euromaidan im besetzten Donbas unterzutauchen.
Laut Aktivisten habe „Torbins Bande“ die letzten sechs Monate vor dem Angriff für Pawlowsky gearbeitet. Es sei Pawlowsky gewesen, der Torbin als Anführer der Truppe das „Geld für Katjas Ermordung“ gab.
Der Generalstaatsanwalt beschuldigte indes die Aktivisten, Ermittlungserkenntnisse durchzustechen
Pawlowsky selbst bestritt jede Beteiligung und betonte, er habe nicht einmal gewusst, wie das Opfer aussah. Sein Vorgesetzter Palamartschuk distanzierte sich von seinem Mitarbeiter und entließ ihn einen Tag nach den Veröffentlichungen der Aktivisten.
Generalstaatsanwalt Jurii Luzenko beschuldigte indes die Aktivisten, Ermittlungserkenntnisse an Medien durchzustechen. Doch vier Tage später, am 10. November, wurde Ihor Pawlowsky dennoch verhaftet. Am 12. November erklärte das Gericht den Verdacht auf Mittäterschaft an einem Auftragsmord mit besonderer Grausamkeit nach Artikel 115 des ukrainischen Strafgesetzbuchs.
Sechs Monate später stimmte Pawlowsky einem Deal mit den Ermittlern zu. Er verpflichtete sich, „ehrlich und wahrheitsgemäß über die ihm bekannten Umstände des Angriffs auf Handsjuk auszusagen“. Im Gegenzug stufte die Staatsanwaltschaft Pawlowskys Beteiligung von „Mittäterschaft an einem Auftragsmord“ zu „Strafvereitelung“ (Art. 396 Abs. 1 ukr. StGB) herunter. Im April 2019 entließ ihn das Prymorsky-Bezirksgericht von Odesa auf Antrag der Staatsanwaltschaft in den Hausarrest unter der Auflage, eine elektronische Fußfessel zu tragen.
Nach Fristablauf des Hausarrests stellte die Staatsanwaltschaft aufgrund von Pawlowskys Gesundheitszustand keinen Antrag auf Verlängerung. Im Juli desselben Jahres übergab die Staatsanwaltschaft den Fall ans Gericht.
Die Journalisten behaupteten, Torbin habe im Sommer 2018 130-mal mit Pawlowsky telefoniert
Pawlowskys Absprache mit den Ermittlern warf bei den Unterstützern Kateryna Handsjuks die Frage auf, ob dieser wirklich eine so geringe Rolle bei dem Angriff auf die Aktivistin gespielt habe. Im April 2019 veröffentlichten Journalisten von slidstvo.info eine Recherche auf Grundlage der Ermittlungsakten, die unter anderem Pawlowskys Telefonverbindungen in den Tagen vor und nach dem Angriff enthielt.
Die Journalisten behaupteten darin, dass Serhii Torbin im Sommer 2018 – vor seiner Verhaftung – 130-mal mit Pawlowsky telefoniert habe. Davon 40-mal nach dem 13. Juli, als Torbin laut Untersuchung den Anschlagsauftrag erhalten hatte. Auch am 18. Juli standen sie in Kontakt – dem Tag, an dem Torbin seine Komplizen nach Cherson brachte, um ihnen Handsjuk zu zeigen. Ebenfalls sprachen sie am 26. Juli, als Torbin und Horbunow die Säure kauften. Als die Polizei am 3. August Nowikow festnahm, telefonierten Torbin und Pawlowsky gar viermal miteinander.
Am 31. Juli 2019 schrieben Aktivisten von „Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ bei Pawlowskys Haus „Hier lebt ein Mörder“ an den Zaun.
Die Anschuldigung der Aktivisten, dass Pawlowsky Torbin das Geld für den Anschlag gegeben habe, wurden durch die Ermittlungsakten jedoch nicht bestätigt.
Erst ein Jahr später, am 1. Oktober 2020, sagte Ihor Pawlowsky vor Gericht aus – und nannte Olexii Lewin, einen Mitarbeiter eines Regionalabgeordneten von Cherson, und Wladyslaw Manher, Vorsitzender des Chersoner Regionalparlaments, als Organisator bzw. Auftraggeber des Anschlags.
Das Angebot
Die Absprache mit den Ermittlern sah vor, dass Serhii Torbin gegen Lewin und Manher aussagte. Nachdem er die beiden zunächst 2019 belastet hatte, bestätigte Torbin erneut im Juni 2022 seine Aussagen. Während des Prozesses gegen Lewin und Manher wurde er als Zeuge der Anklage vor Gericht befragt.
Torbin berichtete, dass Lewin ihm damals vorgeschlagen habe, Handsjuk zu überfallen, und ihm dafür eine Anzahlung von 500 Dollar und schließlich die Abschlusszahlung von weiteren 4500 Dollar gab.
Torbin und Lewin hatten sich im März 2018 kennengelernt. Ihre Wege kreuzten sich in einem Café, wo sie einander durch einen gemeinsamen Freund und ATO-Veteranen vorgestellt wurden. Anfang Juli 2018 bat Lewin Torbin, mit seinen Mitarbeitern zu einer Kundgebung in der Nähe des Regionalverwaltung von Cherson zu kommen. Laut Lewin würden am 6. Juli „schwere Jungs zusammenkommen und versuchen die Macht zu übernehmen“. Torbin glaubte seinem neuen Bekannten und brachte seine Leute von der Sicherheitsfirma und seiner NGO zur Kundgebung mit.
Handsjuk: „Antimaidan“, „Gauner in Uniform“ und ein „Haufen verärgerter Holzfäller“
Am vereinbarten Tag gab es in der Nähe der Regionalverwaltung zwei Kundgebungen, unter den Teilnehmern befanden sich auch ATO-Veteranen. Torbins Leute unterstützten den damaligen Gouverneur Andrii Hordejew sowie den Vorsitzenden des Regionalparlaments Wladyslaw Manher. Die Teilnehmer der Gegenkundgebung forderten indes den Rücktritt von Hordejew, Manher und weiteren Beamten. Unter anderem kritisierten sie das Verbot, privat Holz in den Wäldern zu schlagen.
Kateryna Handsjuk kritisierte damals die Regionalverwaltung und ihre Unterstützer. Auf ihrer Facebook-Seite schrieb sie, Hordejew und Manher hätten einen „Antimaidan“ versammelt und „Gauner in Uniformen gesteckt, damit sie aussähen wie ATO-Veteranen“. Dazu postete sie ein Foto von Manher am Fenster der Stadtverwaltung: „Der Feigling Manher am Fenster, wie einst Wiktor Pelych von der Partei der Regionen.“ Handsjuk hatte 2014 zu den Organisatoren des Euromaidan in Cherson gehört.
Gleichzeitig zeigte Handsjuk kaum Sympathie für die andere Seite der Demonstrationen und nannte sie „einen Haufen verärgerter Holzfäller“. Torbin las den Beitrag auf Facebook.
„Zuerst meinte ich, dass ich mich nicht beteiligen werde. Doch ich hätte da Jungs, mit denen ich darüber reden könnte“
Vor Gericht behauptete Torbin dann, Lewin habe ihn gebeten, sich privat und ohne Telefon in der Nähe des Cafés Soloty kljutschyk [deutsch: Goldschlüsselchen] am Dnipro-Park zu treffen. Zur vereinbarten Zeit kam Torbin zum Café und ließ sein Telefon im Auto liegen. Lewin wartete bereits und bot ihm an, im Park spazieren zu gehen.
Lewin erwähnte, dass er einer Person eine Lektion erteilen wolle und begann zu erklären, um wen es sich handelte. Als Torbin Lewins Worten entnahm, dass es um Kateryna Handsjuk ging, schlug dieser ihm vor, sie zu verprügeln, um ihr einen Arm oder ein Bein zu brechen oder sie mit Säure zu übergießen. Er erklärte, es sei notwendig, dass sie arbeitsunfähig werde und ins Krankenhaus komme. Ein Mord stand damals nicht zu Debatte. Torbin fragte Lewin, warum es dies tun wolle.
„Lewin sagte, dass sie allen auf die Nerven gehe, auch Mykolajowytsch. Zuerst meinte ich, dass ich mich nicht daran beteiligen werde. Doch ich hätte da Jungs, mit denen ich darüber reden könnte“, erinnert sich Torbin vor Gericht an das Gespräch. Nachdem er sich mit seinen Kameraden beraten habe, habe er am nächsten Tag zugestimmt.
Torbin behauptete weiterhin, dass Lewin ihm die Entlohnung für den Angriff genannt habe. Er übergab die Anzahlung, drängte auf Ausführung und zahlte schließlich die Restsumme. Während der gesamten Zeit korrespondierten sie über WhatsApp und trafen sich im besagten Café Soloty kljutschyk.
Fluchthilfe
Torbin bestand vor Gericht darauf, dass Lewin nicht nur den Angriff auf Handsjuk bezahlte, sondern ihm und Wolodymyr Wassjanowytsch auch finanziell aushalf, als sie Cherson verlassen wollten. Ein Treffen der beiden wurde durch Zeugen bestätigt. Vor Gericht machten sowohl Torbin, Wassjanowytsch, Pawlowsky und dessen Fahrer Walerii Odinzow detaillierte Zeugenaussagen dazu.
Am 17. August rief Wassjanowytsch Torbin an und bat um ein Treffen. Einige Stunden später kam er nach Cherson und teilte ihm mit, dass Wyschnewsky und Horbunow von der Polizei festgenommen worden seien. Daraufhin beschlossen Wassjanowytsch und Torbin, die Stadt zu verlassen, hatten jedoch weder Geld noch ein Auto. Den Jeep Cherokee, mit dem sie Handsjuk gefolgt waren, hatten sie nach dem Anschlag angezündet.
Torbin versuchte erfolglos, Lewin über WhatsApp zu erreichen. Daraufhin bat er Pawlowsky um Hilfe. Am Abend desselben Tages fuhren Torbin und Wassjanowytsch zu Pawlowskys Haus am Stadtrand von Cherson.
Dort ging Torbin zum Eingang, während Wassjanowytsch im Taxi wartete. Torbin bat Pawlowskys Frau, die ihn empfing, ihren Mann zu rufen. Als dieser schließlich herauskam, erklärte ihm Torbin, dass er in Schwierigkeiten stecke und dringend Geld brauche, um die Stadt zu verlassen.
Pawlowsky war bereit zu helfen. Da er seine Bankkarte bei seinem Fahrer Walerii Odinzow gelassen hatte, warteten sie, bis dieser eintraf. Eine halbe Stunde später kam auch Lewin und gab ihnen 2000 Dollar.
August 2018: Die Polizei erwischt Torbin und Wassjanowytsch am Busbahnhof. Lewin flieht nach Bulgarien
Pawlowsky und Torbin sagten später aus, dass Lewin Torbin angeboten habe, sich gemeinsam nach Bulgarien abzusetzen, was dieser jedoch ablehnte, da er keinen Reisepass besaß. Anstelle dessen wolle er nach Kyjiw fahren und sich dort verstecken.
Torbin fragte Pawlowskys Fahrer, ob dieser ihn und Wassjanowytsch nach Kyjiw bringen könne. Odinzow erklärte jedoch, der Wagen müsse erst repariert werden, sonst würde er es nicht bis Kyjiw schaffen. Letztlich willigte er ein, die beiden zum Busbahnhof zu bringen, von wo aus sie mit dem Bus nach Kyjiw fahren könnten.
Am Busbahnhof nahm sie jedoch die Polizei fest.
Am nächsten Morgen verließ Lewin Cherson in Richtung Bulgarien.
Ihor Pawlowsky und sein Assistent Wassyl Schtscherbinin sagten vor Gericht aus, dass Lewin am Morgen seiner Abreise in Pawlowskys Büro vorbeikam. Lewin berichtete, dass Torbin am Vorabend von den Ermittlern aufgespürt und am Busbahnhof festgenommen worden war. Lewin meinte, bald werde man auch ihn finden, weshalb er die Stadt verlassen müsse.
Moskal
Erst am 4. Dezember 2018 gab der SBU bekannt, dass man Olexii Lewin verdächtigte, den Anschlag auf Kateryna Handsjuk in Auftrag gegeben zu haben. Noch einmal anderthalb Monate später, am 24. Januar 2019, wurde Lewin in der Ukraine zur Fahndung ausgeschrieben und dann erst im September desselben Jahres auf die Interpol-Fahndungsliste gesetzt.
Erst ein Jahr später, am 24. Januar 2020, nahm die bulgarische Polizei Lewin in der Stadt Burgas fest. Drei Tage später veröffentlichte sie Einzelheiten: Im Jahr 2018 reiste Lewin zu Fuß über den Grenzübergang im Dorf Durankulak nach Bulgarien ein. Er war hier nicht offiziell registriert. Seit der Ausschreibung zur internationalen Fahndung hatte er sein Aussehen verändert und ähnelte nicht mehr dem Foto in der Datenbank. Die Polizei konnte ihn anhand seiner Fingerabdrücke identifizieren.
Im März 2020, zu Beginn der Coronavirus-Pandemie wurde Lewin an die Ukraine ausgeliefert, wo das Gericht seine Festnahme anordnete. Vier Monate später gab die Staatsanwaltschaft den Abschluss ihrer Ermittlungen gegen die Auftraggeber des Anschlags auf Handsjuk bekannt und überwies den Fall am 27. Juli an das Gericht.
Lewin lebte nach Gefängnisstrafe unter falschem Namen
Die Ermittler fanden heraus, dass Lewin unter falschem Namen lebte. Er hatte ihn 2015 angenommen, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde. Davor hatte er den Nachnamen Moskalenko geführt und war unter dem Spitznamen Moskal-Junior bekannt.
Im Februar 2008 war Moskalenko Junior als Mitglied der Spynda-Bande verhaftet worden: Sechs Jahre später, am 7. Oktober 2014, befand eine Richterin des Korabelny-Bezirksgerichts von Mykolajiw ihn und seinen Vater Olexii Moskalenko Senior sowie sechs weitere Bandenmitglieder für schuldig, mehrere Auftragsmorde begangen zu haben, darunter am Direktor des Schumensky-Marktes in Cherson, Ihor Pantala. Wie sein Vater wanderte Moskalenko Junior für 12 Jahre ins Gefängnis.
Knapp ein Jahr später, am 25. Dezember 2015, wurde Olexii Moskalenko jedoch auf der Grundlage des sogenannten Sawtschenko-Gesetzes freigelassen: Das Berufungsgericht der Oblast Mykolajiw rechnete ihm dementsprechend jeden Tag der siebeneinhalb Jahre U-Haft als zwei Hafttage im Gefängnis an.
Später vor Gericht gab Lewin an, dass er sich nach seiner Entlassung zunächst um seine Gesundheit gekümmert und Ende 2016 seine Wohnung in Spanien verkauft habe. Mit dem Erlös gründete er dann einen Agrarbetrieb in der Region Cherson und registrierte ihn unter dem Namen „Leviathan“.
„Ich hatte 2400 Hektar Land in Bewirtschaftung. Außerdem lebte ich sieben Jahre in Spanien und hatte dort eine Baufirma und zwei Wohnungen, von denen ich eine verkauft habe. Die Wohnung kostete 200.000 Euro. 240.000 Euro habe ich dann investiert und Weizen und Sonnenblumen angebaut“, so Lewin vor Gericht.
Anfang 2017 lernte er in einem Fitnessclub Mykola Stawyzky, Abgeordneter im Chersoner Regionalparlament der Radikalen Partei von Oleh Ljashko, kennen. Später bot Stawyzky, der Lewins Vergangenheit kannte, ihm eine Stelle als Mitarbeiter an.
Im Juni 2018 meldete sich Mykola Stawyzky zum Dienst in der ukrainischen Armee und überließ Lewin seinen Mercedes.
In Bulgarien erzählte Lewin Journalisten seine Version
Lewin wollte Torbin kennenlernen, weil dieser in der Stadt als einer der „Cyborgs“ des Donezker Flughafens bekannt war. Er stellte sich Torbin bei Pawlowsky vor, zollte ihm seinen Respekt und bot Unterstützung an. Torbin bat ihn dann von Zeit zu Zeit um Hilfe, als er verschiedene Hilfslieferungen für die ATO vorbereitete.
In Bulgarien erzählte Lewin im Herbst 2019 Journalisten von slidstvo.info seine Version der Ereignisse: Damals betonte er, nichts mit dem Angriff auf Handsjuk zu tun zu haben.
Lewin bestätigte dabei, dass er einige Tage nach der Kundgebung vor der Chersoner Regionalverwaltung in Pawlowskys Büro war. Der Mitarbeiter des Abgeordneten war dabei gerade dabei, sich mit Torbin und vier anderen Männern zu besprechen.
Sie sprachen darüber, was sie mit Kateryna Handsjuk tun sollten, die sie alle nervte. Bei der Kundgebung habe sie die Gegenseite unterstützt, die gegen das Abholzungsverbot protestierte. Zu deren Organisatoren gehörte Olexandr Zehelnyk, ein ATO-Veteran aus Oleschky. Lewin nannte ihn „einen Erzfeind von Pawlowsky“. Einige der Anwesenden schlugen vor, Handsjuk in eine Mülltonne zu werfen, aber dies sei schwierig zu bewerkstelligen.
„Ich meinte, wir sollten sie mit Seljonka übergießen. Denn so würden doch oft Beamte bei Kundgebungen mit grüner Farbe begossen“, sagte Lewin gegenüber den Reportern.
Doch diese Idee habe keine Unterstützung gefunden, stattdessen habe die Runde beschlossen, Handsjuk mit einem Eimer Fäkalien vor ihrem Büro zu übergießen und anschließend Fotos davon zu machen.
Lewin behauptete, dass er am Tag des Angriffs auf der Arbeit war und mit keinem der Angeklagten kommuniziert habe. Dass Handsjuk nicht mit Fäkalien, sondern mit Säure übergossen wurde, erfuhr er erst aus den Nachrichten. Lewin behauptete, Torbin habe ihn gebeten, ihn nach Kyjiw zu bringen, was er jedoch ablehnte, da er selbst Cherson am nächsten Morgen verlassen müsse.
„Wir sollten sie mit Seljonka übergießen“
Als Torbin ihn um Geld bat, habe Lewin eingewilligt und ihm 1000 Dollar gegeben. Lewin bestand darauf, dass weder Pawlowsky noch Torbin gesagt hätten, warum sie nach Kyjiw wollten. Er habe Torbin einfach als Freund geholfen, der offenbar in Schwierigkeiten steckte.
Außerdem beharrte er darauf, dass die Reise nach Bulgarien zur Behandlung von gesundheitlichen Problemen zusammen mit seiner Frau seit langem geplant gewesen sei und sie damals bereits auf gepackten Koffern gesessen hätten. Mykola Stawyzky bestätigte vor Gericht, dass Lewin bereits im Mai eine geplante Auslandsreise erwähnt habe, ohne jedoch den genauen Zeitpunkt zu nennen.
Während der Anhörung vor Gericht bestritt Lewin die Aussage Torbins, er habe den Anschlag auf Handsjuk angeordnet und ihm zunächst eine Anzahlung und danach den Rest des Geldes gegeben, nachdem Kateryna mit Säure übergossen wurde.
Lewin bestritt nicht, dass er Torbin gelegentlich mit Geld, Waren und manchmal Tankgutscheinen ausgeholfen habe, bestand aber darauf, dass er hiermit nur dessen ehrenamtliche Projekte unterstützte. Des Weiteren betonte er, dass er und Torbin über WhatsApp nie das Café Soloty kljutschyk erwähnt hätten.
Das Gericht konnten den Inhalt der Konversation zwischen Lewin und Torbin über WhatsApp nicht ermitteln.
Kaution
In einem Interview mit ihrer Anwältin Jewhenija Sakrewska sagte Kateryna Handsjuk, sie wisse nicht, wer den Angriff auf sie in Auftrag gegeben habe. Doch sie habe keine Zweifel daran, dass es einen Auftraggeber gab. Handsjuk nannte zehn Personen, die aus ihrer Sicht infrage kämen und hob zwei von ihnen hervor: den stellvertretenden Leiter der Regionalverwaltung von Cherson, Jewhen Ryschtschuk, und den Vorsitzenden des Regionalparlaments, Wladyslaw Manher.
„Sie verfügen über bestimmte Kontakte, die so etwas organisieren können: Olexii Lewin, ein Mitarbeiter von Manher, ist einer von ihnen“, sagte Handsjuk damals und fügte hinzu, dass sie einen grundsätzlichen Konflikt mit Ryschtschuk und Manher habe.
In einem Interview mit Kateryna für den slidstvo.info-Investigativfilm Handsjuk. Ein System-Mord nannte die Aktivistin noch einen weiteren möglichen Auftraggeber: den Chef der Regionalverwaltung, Andrii Hordejew.
„Eine Verbindung von Ryschtschuk und Hordejew mit dem Angriff auf Handsjuk konnten wir jedoch nicht feststellen“, sagte Staatsanwalt Andrii Synjuk gegenüber Graty.
Die Ermittler nannten schließlich Wladyslaw Manher als Anstifter des Anschlags auf Handsjuk. Am 11. Februar 2019 erklärten sie dem Vorsitzenden des Regionalparlaments von Cherson ihren Verdacht auf Anstiftung zu einem Auftragsmord mit besonderer Grausamkeit nach Artikel 27, Absatz 3 und Artikel 115, Absätze 4, 6, 11, 12, Teil 2 des ukrainischen Strafgesetzbuchs.
Die Staatsanwaltschaft hielt Manher für den Auftraggeber des Mordes an Handsjuk und Lewin und Pawlowsky für seine Mittäter. Der Wortlaut des Verdachts implizierte, dass Manher das Geld für den Angriff bezahlte habe, während Lewin und Pawlowsky die unmittelbaren Täter – Torbin und seine Komplizen – ausfindig machten und bezahlten.
Vier Tage später, am 15. Februar 2019, erließ das Petschersky-Bezirksgericht Kyjiw Haftbefehl gegen Manher. Doch gegen Zahlung einer Kaution in Höhe von 2.497.000 Hrywnja [umgerechnet damals etwa 80.620 Euro – dek], welche sein Anwalt noch am selben Tag anwies, wurde Manher aus der Untersuchungshaft entlassen.
Im April desselben Jahres stufte die Staatsanwaltschaft den Verdacht gegen ihn zurück und beschuldigte ihn anstatt des Mordes nur noch der Anstiftung zur schweren Körperverletzung (Art. 121 Abs. 2 ukr. StGB).
Die Anwälte des Parlamentsvorsitzenden beantragten infolgedessen eine 17-fache Reduzierung der Kaution. Im November 2019 gab das Kyjiwer Schewtschenko-Bezirksgericht dem Antrag teilweise statt und reduzierte die Kaution auf 1.152.000 Hrywnja [26.550 Euro – dek].
Wladyslaw Manher blieb bis zum 19. Juni 2020 auf freiem Fuß. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Ermittlungen des Angriffs auf Handsjuk abgeschlossen, sodass ihm und Lewin Akteneinsicht gewährt wurde. Die Anklage gegen Ihor Pawlowsky war bereits in Strafvereitelung geändert worden.
Ausweitung der Ermittlungen wegen neuer Umstände: Manher wird im Krankenhaus festgenommen
Am 11. Juni 2020 aber wandte sich die Staatsanwaltschaft unerwartet an das Gericht und beantragte eine Ausweitung der Ermittlungen aufgrund neuer Umstände. Außerdem beantragte die Staatsanwaltschaft abermals Manher zu verhaften. Staatsanwalt Andrii Synjuk begründete diesen Schritt damit, der Verdächtige versuche, Druck auf Zeugen auszuüben und sie zu zwingen, ihre Aussagen zu widerrufen oder zu ändern.
Doch statt vor Gericht zu erscheinen, begab sich Manher auf die Intensivstation der Kardiologie-Abteilung des Chersoner Regionalkrankenhauses. Richterin Tetjana Iljewa vom Pertschersky-Bezirksgericht in Kyjiw veranlasste dennoch Manhers Festnahme.
Das Gericht entschied in nichtöffentlicher Sitzung über die Vorwürfe gegen Manher. Die Staatsanwaltschaft gab keine Auskunft darüber, wem genau der Parlamentsvorsitzende gedroht habe. Manher selbst bestritt, Druck auf Zeugen ausgeübt zu haben.
Der Angriff auf die politische Aktivistin Kateryna Handsjuk 2018 in Cherson steht in der Ukraine symbolisch für die Zeit zwischen der Revolution der Würde 2014 und der russischen Vollinvasion 2022: Ein korrupter Lokalbeamter lässt die Stadträtin mithilfe eines stadtbekannten Kriminellen und ATO-Veteranen töten. Anschließend versucht er, der Strafe zu entgegen. Doch zivilgesellschaftliche Aktivisten aus ganz unterschiedlichen Richtungen lassen nicht locker und zwingen die Strafverfolgungsbehörden praktisch dazu, weiter zu ermitteln.
Maksym Kamenjew hat für das ukrainische Onlinemedium Graty die Prozessunterlagen und Urteile über die Täter und Komplizen, den Organisator und den Auftraggeber ausgewertet und rekonstruiert damit Schritt für Schritt den tödlichen Angriff auf Kateryna Handsjuk. dekoder veröffentlicht diese komplexe und verworrene Geschichte auf Deutsch in drei Teilen im Februar 2025.
An jenem Dienstag, dem 31. Juli 2018, stand Kateryna Handsjuk früh auf. Sie musste pünktlich zu einer Sitzung in der Stadtverwaltung von Cherson erscheinen. Sie arbeitete dort als Abteilungsleiterin, doch Kateryna Handsjuk war keine typische Beamtin. Mit ihren 33 Jahren lebte sie mit ihrem Mann in der Zweizimmerwohnung ihres Vaters in einem Plattenbauviertel von Cherson, obwohl sie eine recht hohe Position in der Stadtverwaltung bekleidete.
Kateryna Handsjuk besaß kein Auto und teilte sich einen Dienstwagen mit Fahrer mit ihrem Kollegen, dem stellvertretenden Bürgermeister Wolodymyr Nikolajenko. Der Fahrer musste stets im Voraus bestellt werden. Um acht Uhr morgens griff Kateryna Handsjuk also zum Telefon und begann sich fertig zu machen.
Vierzig Minuten später rief der Fahrer zurück: Er warte vor dem Hauseingang. Handsjuk packte ihre Sachen und eilte hinunter. Als sie aus der Haustür trat und hinten in den Wagen steigen wollte, spürte sie plötzlich etwas Warmes über sich ergießen.
„Ich riss mir den Rest meiner Kleidung herunter und schrie“
Im Augenwinkel sah Kateryna noch einen Mann davonlaufen. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit weißer Aufschrift, kurze Hosen und ein Basecap. Er war etwa 20 bis 25 Jahre alt, nicht groß gewachsen und hatte trainierte, aber krumme Beine. Er rannte in Richtung eines Nachbarhauses, während ein anderer Mann in der Nähe stand und den Flüchtigen beobachtete.
„Ich sah, wie die verätzte Kleidung an meinen Armen herunterlief und mir wurde klar, dass es sich um Säure oder eine Chemikalie handelte. Ich riss mir den Rest meiner Kleidung herunter und schrie“, erinnerte sich Handsjuk später in einem Interview mit der Anwältin Jewhenija Sakrewska im Krankenhaus.
Im Krankenhaus
Ein Krankenwagen brachte Handsjuk ins Gebietskrankenhaus Cherson. Im Schockzustand kam sie auf die Intensivstation. Am nächsten Tag wurde sie mit einem Rettungsflugzeug nach Kyjiw ins Verbrennungszentrum des Städtischen Klinischen Krankenhauses Nr. 2 geflogen. Die Ärzte beurteilten ihren Zustand als schlecht, aber stabil.
Wiktor Handsjuk, Katerynas Vater, kam jeden Tag zu ihr auf die Station. Er war selbst Chirurg und konnte sich mit den Kollegen des Verbrennungszentrums austauschen, die versuchten, seine Tochter zu retten. Sie sagten ihm offen, dass ihr Zustand sehr ernst sei und sie keine Erfahrung in der Behandlung solcher Verbrennungen hätten.
„Bislang hatte man bei uns Säureverbrennungen mit einer betroffenen Körperoberfläche von bis zu 15 Prozent behandelt. Katjas Körper aber war zu über 39 Prozent verbrannt. Laut Frank-Index ist es unmöglich, mit einem Index über 90 zu überleben. Katjas Index lag bei 117“, erinnerte sich Wiktor später in seiner Aussage vor Gericht.
14 Hauttransplantationen unter Vollnarkose in vier Monaten
Die ukrainischen Ärzte wandten sich an ihre ausländischen Kollegen, aber keine Klinik erklärte sich bereit, Katerynas Behandlung zu übernehmen, da auch sie keine Erfahrung mit der Behandlung solch schwerer Verbrennungen hatten.
Mehr als drei Monate führten die Ärzte des Kyjiwer Verbrennungszentrums bei Handsjuk insgesamt 14 Hauttransplantationen unter Vollnarkose durch. Die Haut wurde an gesunden Körperstellen entnommen, um die Verbrennungen zu bedecken, doch immer wieder wurde sie abgestoßen und färbte sich innerhalb von zwei bis drei Tagen schwarz.
Ende September fühlte sich Kateryna Handsjuk ein wenig besser. Die Ärzte rieten ihr zu leichten Bewegungen, ihre Beine zu strecken. Sie konnte sich sogar mehrmals selbst aufsetzen.
Am 17. Oktober allerdings verschlechterte sich Katerynas Zustand drastisch. Sie wurde bewusstlos und begann blau anzulaufen. Doch gelang es den Ärzten, ihren Zustand zu stabilisieren und sie wieder zu Bewusstsein zu bringen. Am 2. November, nach weiteren Beratungen, rieten die Ärzte Wiktor Handsjuk, sich auf das Schlimmste vorzubereiten.
Zwei Tage später, am Morgen des 4. November, ging Vater Handsjuk Lebensmittel einkaufen. Katerynas Ehemann Serhii Denysow blieb bei ihr.
„Ich habe mich gefragt, was passiert wäre, hätte Katja überlebt“
„Wir sprachen über die Reha und darüber, wie wir hier rauskämen, wenn dieser ganze Horror vorbei sei“, erinnerte sich Denysow später in einem Interview mit der ukrainischen Nachrichtenplattform Suspilne.
Als Wiktor zurückkam, musste Serhii ihm mitteilen, dass Kateryna gestorben war.
„Ich habe mich gefragt, was passiert wäre, hätte Katja überlebt“, sagt Wiktor Handsjuk vor Gericht. „Sie hätte keine Haare mehr gehabt, hätte nie mehr ohne Krücken gehen können. Sie hätte nie mehr ein kurzärmeliges Kleid getragen oder ihren Hals entblößt. Ihr linker Arm hätte nicht mehr funktioniert und sie hätte ohne rechte Brustwarze gelebt. Ihr Kopf wäre ganz vernarbt gewesen. Sie hätte ihr linkes Auge nicht mehr schließen können, die Hornhaut wäre bald ausgetrocknet und sie erblindet. Sie wäre schwerstbehindert gewesen und ich weiß nicht, wie sie so hätte leben sollen.“
Der Angriff auf Kateryna Handsjuk erschütterte die ukrainische Öffentlichkeit: Fußballfans und Menschenrechtler, rechte und linke Aktivisten, Ehrenamtliche, Korruptionsbekämpfer und Journalisten setzten sich für sie ein.
Obwohl Kateryna Handsjuk eine lokale Beamtin war, galt sie als Aktivistin, die sich dem prorussischen Einfluss in Cherson entgegenstellte und Korruption in den Behörden und vor allem bei der Polizei bekämpfte.
„Zum Schluss knüpfen sie sich noch uns einfache Pussys vor“
Handsjuk hatte die Zivilgesellschaft unabhängig von politischen Ausrichtungen dazu aufgerufen, sich gemeinsam gegen prorussische Kräfte und korrupte Strafverfolgungsbehörden zu stellen. Ihr öffentlicher Appell an die Zivilgesellschaft wurde berühmt:
„Lasst uns zusammenstehen und uns gegenseitig unterstützen. Sonst erledigen sie erst die Linken mithilfe der Rechten und die Rechten werden danach von den Bullen fertiggemacht. Zum Schluss knüpfen sie sich noch uns einfache Pussys vor.“
Handsjuk verfolgte Angriffe auf Aktivisten und Journalisten in der gesamten Ukraine und forderte die Strafverfolgungsbehörden auf, diese Verbrechen zu untersuchen. Sie zählte allein in den Jahren 2017–2018 in der Ukraine mehr als solche 50 Angriffe auf Aktivisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens.
Auch nach dem Angriff auf sie selbst sprach Handsjuk im Krankenhaus über ihr angespanntes Verhältnis zur Polizei
Handsjuk war überzeugt, dass korrupte Beamte und Sicherheitskräfte dahintersteckten und darum die Mehrheit dieser Verbrechen ungeklärt blieb. Auch als sie nach dem Angriff auf sie selbst im Krankenhaus lag, sprach sie über ihr angespanntes Verhältnis zur Polizei in vielerlei Hinsicht.
Am Tag nach dem Anschlag auf Handsjuk fand vor dem Hauptgebäude des Innenministeriums in Kyjiw eine Protestaktion unter dem Motto „Bestraft das Böse“ statt. Einer der Organisatoren der Kundgebung, Wladyslaw Hresjew, erklärte gegenüber BBC-Ukraine, dass die Demonstrierenden dem Innenminister Arsen Awakow und der Nationalen Polizei als Teil des Innenministeriums misstrauten. Also wandten sich die Aktivisten an Generalstaatsanwalt Jurii Luzenko und baten darum, die Ermittlungen an die Abteilung für Spionageabwehr des SBU zu übertragen.
Zwei Tage später besuchte Jurii Luzenko Kateryna Handsjuk im Krankenhaus und versprach, die Ermittlungen der Polizei zu entziehen. Doch er hatte es nicht eilig, sein Versprechen einzulösen.
Nach dem ersten Protest schlossen sich die Unterstützer der Aktivistin aus Cherson in der Initiative Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt? zusammen. Fußballfans hängten bei Spielen der Ukraine-Liga regelmäßig Transparente mit dieser Frage auf. Aktivisten sprühten Graffiti mit Katerynas Konterfei an Hauswände und auf Bürgersteige, versammelten sich zu Kundgebungen in der Nähe der Werchowna Rada und verteilten Flugblätter an die Teilnehmer des Yalta European Strategy Forums.
Journalisten in T-Shirts mit Handsjuk-Porträt fragten bei Pressekonferenzen der Regierung und Ermittlungsbehörden und jeder Gelegenheit auch den Präsidenten: „Wer hat den Mord an Kateryna Handsjuk bestellt?“
Oft schien es, als würden die offiziellen Ermittlungen nur durch die Bemühungen von Katerynas Unterstützern vorangetrieben.
Nicht schuldig
Allein am Tag nach dem Angriff auf Kateryna Handsjuk änderte die Polizei zweimal die juristische Einstufung des Verbrechens. Zunächst leiteten die Ermittler ein Verfahren wegen Rowdytums (Artikel 296, Absatz 4 des ukrainischen Strafgesetzbuchs) ein, später als vorsätzliche schwere Körperverletzung (Art. 121 Abs. 2 ukr. StGB) ein. Erst nach ersten Protesten wurde schließlich wegen versuchten Mordes mit besonderer Grausamkeit (Art. 15 und Art. 115, Abs. 2, Punkt 4 ukr. StGB) ermittelt.
Die Polizei erklärte die Neueinstufung des Verbrechens damit, dass sie die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung erst einen Tag später erhalten habe. Diese erst bestätigte, dass Handsjuk mit konzentrierter Schwefelsäure übergossen wurde, was das Ausmaß der Verletzungen und die Lebensgefahr bestimmte.
Der Polizei gelang es nicht, Katerynas Angreifer sofort zu ergreifen. Am Tag des Angriffs veröffentlichte die Nationale Polizei ein Video, auf dem zu sehen ist, wie ein Verdächtiger – ein Mann mit Basecap, schwarzem T-Shirt und braunen Shorts – den Tatort verlässt. Mykola Werbyzky, damals Polizeichef der Region Cherson, sagte, dass der Angreifer von Komplizen mit Fluchtwagen unterstützt wurde.
Ein Mitdreißiger mit kurzen Haaren ähnelte dem Mann aus den Überwachungsvideos
Am 3. August 2018 verkündete Innenminister Arsen Awakow, dass Ermittlungsbeamte einen Verdächtigen festgenommen hätten: Der in Cherson lebende Mykola Nowikow, ein Mitdreißiger mit kurzen Haaren, ähnelte dem Mann von aus den Überwachungsvideos.
Der stellvertretende Leiter der Nationalen Polizei, Wjatscheslaw Abroskin, fügte sogleich hinzu, dass die Ermittler weiter nach Beweisen suchten. Doch die vorliegenden Beweise reichten dem Gericht in Cherson, um Nowikow am 6. August für zwei Monate in Untersuchungshaft zu nehmen.
Die Unterstützer Handsjuks recherchierten indes auch selbst. Am 12. August veröffentlichten die Journalisten Denys Kasansky und Marjana Pezuch einen Beitrag, wonach die Polizei einen Unschuldigen inhaftiert hatte.
Sie veröffentlichten die Aussagen von Anna Antoschyna und ihrem Ehemann Serhii aus Lwiw, die das Ermittlungsverfahren nicht berücksichtigt hatte. Das Paar behauptete, am Tag des Angriffs auf Handsjuk mit Nowikow und dessen Schwester im Dorf Prymorske, 90 Kilometer von Cherson entfernt, Urlaub gemacht zu haben. Nowikow habe den Ort an jenem Tag nicht verlassen. Am 22. August wurde Nowikow aus der Untersuchungshaft entlassen.
Freiwilligenkämpfer
In der Zwischenzeit hatten die Ermittler neue Verdächtige festgenommen, die ATO-Veteranen Mykyta Hrabtschuk (Kampfname „Ameise“), Wolodymyr Wassjanowytsch („Schraube“), Wjatscheslaw Wyschnewsky („Wirkungsgrad“), Wiktor Horbunow („Harry“) und Serhii Torbin („Einsatzführer“). Alle vier waren Freiwilligenkämpfer und kämpften im Donbas in der Ukrainischen Freiwilligenarmee (UDA).
Torbin diente als Kommandeur des 5. UDA-Bataillons im Donbas, die anderen in seiner Einheit. Im September 2017 war Torbin nach Cherson zurückgekehrt, wo er die NGO „Freiwillige der Gotteskompanie“ und die Sicherheitsfirma „Legion Service“ registrierte. Er organisierte außerdem ehrenamtlich Hilfsgüterlieferungen an die Front.
Torbin mietete ein Haus für seine Kameraden in der Stadt Oleschky in der Nähe von Cherson, wo sie gemeinsam die Ernte auf den Feldern oder Ferienkomplexe am Meer bewachten.
Handsjuk identifizierte Hrabtschuk als die Person, die sie mit Schwefelsäure übergegossen hatte
Wiktor Horbunow wurde bereits am 6. August zur Fahndung ausgeschrieben. Denn die Polizei hatte herausgefunden, dass er Schwefelsäure über eine Anzeige gekauft hatte. Sie nahm ihn und Wolodymyr Wyschnewsky am 16. August in der Region Dnipro im UDA-Hauptquartier fest. Am Abend des nächsten Tages griff die Polizei Serhii Torbin und Wolodymyr Wassjanowytsch am Busbahnhof von Cherson auf, als die beiden gerade nach Kyjiw fahren wollten. Zwei Tage später verhafteten die Beamten auch Mykyta Hrabtschuk in Shytomyr.
Kateryna Handsjuk identifizierte Hrabtschuk als die Person, die sie mit Schwefelsäure übergegossen hatte. Außerdem wies Hrabtschuk Spuren charakteristischer Verbrennungen am Hals und seinem rechten Bein auf.
Kateryna Handsjuk kannte Serhii Torbin, der laut den Ermittlern den Angriff organisiert hatte, persönlich. Torbin hatte Handsjuk als Beamtin der Chersoner Stadtverwaltung mehrmals um Hilfe gebeten. Einmal bat er sie um Kraftstoff für seine Spendenfahrten, ein anderes Mal um Werbetafeln für Plakate seiner NGO.
Alle fünf Inhaftierten bestritten zunächst ihre Schuld. Nach Handsjuks Tod änderte die Polizei abermals die Einstufung des Verbrechens zu Mord: Nun wurde wegen Mordes mit besonderer Grausamkeit (Artikel 115 des ukrainischen Strafgesetzbuches) ermittelt. Den Verhafteten drohte eine lebenslange Freiheitsstrafe.
Auf Anweisung von Generalstaatsanwalt Luzenko übergab die Nationale Polizei den Fall an den SBU.
Die Aussicht auf eine lebenslange Haftstrafe trieb die Männer zu einem Deal mit den Ermittlern
Die Aussicht auf eine lebenslange Haftstrafe trieb die verhafteten Männer zu einem Deal mit den Ermittlern. Torbin und seine Komplizen legten Geständnisse ab und verrieten, wer den Angriff auf Kateryna befohlen hatte. Die Staatsanwaltschaft ermittelte dafür nur wegen schwerer Körperverletzung mit Haftstrafen von drei bis sechseinhalb Jahren.
Am 6. Juni 2019 bestätigte Richterin Olena Tschorna am Pokrowsky-Bezirksgericht von Odesa die Einigung zwischen den Angeklagten und den Ermittlern. Mit Zustimmung von Wiktor Handsjuk und Serhii Denysow und ihren Anwälten verurteilte das Gericht Torbin zu sechseinhalb Jahren, Hrabtschuk zu sechs Jahren, Wassjanowytsch und Wyschnewskyi zu je vier Jahren und Horbunow zu drei Jahren Haft.
Geständnisse
Hrabtschuk, Wassjanowytsch, Wyschnewskyi und Horbunow sagten aus, dass Serhii Torbin den Angriff auf Handsjuk an sie herangetragen habe. Alle fünf erinnerten sich an ähnliche Details, wie es dazu kam.
Am 13. Juli 2018 sagte Torbin seinen Kameraden, dass es in Cherson eine „Separatistin“ gäbe, die schlecht über ATO-Kämpfer spreche. Viele hätten die Schnauze voll und man müsse ihr Grenzen setzen. Torbin schlug ihnen vor, sie zu verprügeln und einen Arm oder ein Bein zu brechen oder sie mit Säure zu übergießen. Für die erste Variante versprach er fünftausend Dollar „für alle“, im zweiten Fall dreitausend.
„Selbst wenn es kein Geld gegeben hätte, hätte ich das gemacht“
„Selbst wenn es kein Geld gegeben hätte, hätte ich das gemacht“, wird Hrabtschuk vor Gericht von Watchers zitiert, das als einziges Medium alle Gerichtsverhandlungen zum Attentat auf auf Handsjuk verfolgte. Er erklärte demnach weiterhin, dass er Torbins Befehle ausgeführt habe, weil er ihn als Kommandeur respektierte.
Am nächsten Tag, dem 14. Juli 2018, fuhr Torbin mit seinen Komplizen nach Cherson, wo in der Nähe des Rathauses ein Treffen zwischen Beamten der Stadtverwaltung und Veteranen des Asow-Regiments stattfand. Torbin zeigte den Vieren Kateryna Handsjuk, die ebenfalls beim Treffen anwesend war. Danach warteten sie, bis Handsjuk die Arbeit verließ und versuchten ihr zu folgen, um ihren Wohnort herauszufinden. Da sie sich aber in Cherson nicht gut auskannten, verloren sie sie schnell aus den Augen.
Einige Tage später übergab Torbin den vier Komplizen 10.000 Hrywnja, damals circa 500 Dollar, als Anzahlung und forderte sie auf, sich an die Arbeit zu machen.
Es würde schwierig, sie zu verprügeln: Handsjuk war immer von Menschen umgeben
Torbins Komplizen beschlossen, Handsjuk zu verprügeln, da es hierfür mehr Geld gab. Von der Anzahlung kauften sie einfache Tastenhandys und SIM-Karten, die sie nur am Tag des Überfalls benutzen wollten. Dazu einen Hammer, mit dem sie Handsjuk schlagen wollten.
Da sie den Wohnort der Aktivistin nicht ermitteln konnten, baten sie Torbin, ihnen die Adresse zu besorgen. Einige Tage später übergab er einen Zettel mit der Adresse.
Als sie Handsjuk beschatteten, wurde Horbunow, Wassjanowytsch, Hrabtschuk und Wyschnewsky schnell klar, dass es schwierig werden würde, sie zu verprügeln: Kateryna war ständig von Menschen umgeben und fuhr mit Auto und Fahrer zur Arbeit und zurück.
Sie berieten sich und beschlossen, dass es einfacher wäre, sie mit Säure zu übergießen. Torbin meldeten sie ihren neuen Plan – mit der Bedingung, dass sie auch hierfür fünftausend Dollar bekämen. Torbin meinte, dass er dies erst klären müsse und sagte ihnen am darauffolgenden Tag zu.
Dann schlug Torbin vor, dass sie die Säure in einem Autoteileladen kaufen sollten. Da es dort aber Überwachungskameras gab, mussten sie die Idee verwerfen. Alternativ begannen sie, im Internet zu suchen.
Hrabtschuk holte sie ein und goss das Glas voller Säure über ihren Kopf und Rücken. Einige Tropfen trafen dabei ihn selbst
Am 26. Juli kauften Horbunow und Torbin in Kachowka zwei 1,5-Liter-Flaschen Schwefelsäure zum Preis von je 300 Hrywnja [damals knapp 10 Euro – dek]. Einen Liter Säure füllten sie später in ein Glas, das sie vorsichtshalber in einen Lappen wickelten.
Nach einer Woche kam Torbin wieder zu seinen Kameraden und forderte sie auf zur Tat zu schreiten.
Am 31. Juli, dem Tag des Anschlags, stiegen Hrabtschuk, Wassjanowytsch und Wyschnewsky um sechs Uhr morgens in einen Jeep Cherokee und verließen Oleschky Richtung Cherson. Horbunow blieb zu Hause. Die Angreifer wussten, dass Kateryna Handsjuk für gewöhnlich nach 8 Uhr vom Fahrer zur Arbeit abgeholt wurde.
Wassjanowytsch blieb mit dem Auto einige Kilometer von Handsjuks Haus entfernt stehen. Wyschnewsky wartete auf einem Sportplatz in der Nähe von ihrem Haus, während Hrabtschuk mit dem Säureglas am Hauseingang wartete. Alle vier Angreifer schalteten ihre Mobiltelefone ein und aktivierten die neuen SIM-Karten.
Um 8:40 Uhr meldete Wyschnewsky an Hrabtschuk, dass ein Daewoo Lanos zu Handsjuks Haus fuhr. Fünf Minuten später eilte Kateryna aus dem Haus zum Auto. Hrabtschuk holte sie im letzten Moment ein und goss das Glas voller Säure über ihren Kopf und Rücken. Einige Tropfen trafen dabei ihn selbst an Hals und Bein und verursachten Verätzungen. Er ließ das Glas fallen und rannte zu Wassjanowytsch mit dem Auto. Hinter sich hörte er Handsjuk schreien.
Torbin erfuhr aus den Nachrichten, dass seine Komplizen den Auftrag ausgeführt hatten. Drei Tage nach dem Überfall traf er sie in Cherson. Am 2. August brachte er ihnen die versprochenen 4000 Dollar nach Oleschky, die sie unter sich aufteilen sollten. 500 Dollar behielt Torbin als Organisator für sich.
Marija Berlinska ist eine der bekanntesten Armee-Freiwilligen der Ukraine. 2014 absolvierte sie erste Luftaufklärungskurse in einem Freiwilligenbataillon, der gegen die von Russland gesteuerten Kräfte im Osten der Ukraine kämpfte. Seitdem engagiert sie sich in mehreren mitbegründeten Projekten für die Technologisierung der ukrainischen Armee. Ob NGO Zentr pidtrymky aeroroswidky (Zentrum für Luftaufklärungsunterstützung), Initiativen wie Narodny FPV (Volks-FPV) und Victory Drones oder die Stiftung Dignitas Fund – all diese Projekte bilden Militärangehörige und Zivilisten in Bau, Wartung und Umgang mit Drohnen aus.
Berlinska ist die „Mutter der ukrainischen Luftaufklärung“, so der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy im Porträt. Sie berät staatliche und militärische Entscheider ebenso wie zivilgesellschaftliche Akteure. Ihre Prognosen und Ratschläge werden im Hinterland oft als zu pessimistisch kritisiert, stoßen an der Front jedoch häufig auf große Zustimmung.
Berlinska schreibt regelmäßig Beiträge für die Ukrajinska Prawda, im Interview mit Chefredakteurin Sewhil Mussajewa spricht sie über ihr jüngstes Treffen mit Präsident Wolodymyr Selensky und die aktuell so schmerzhaften wie umstrittenen ukrainischen Themen: drängende Reformen im Verteidigungssektor, notwendige Verbesserungen bei der Mobilisierung sowie Worst-Case-Szenario und realistische Maßnahmen zu dessen Vermeidung.
Marija Berlinska im Interview mit Ukrajinska Prawda
Ukrajinska Prawda: Wir haben schon verschiedene Phasen dieses Krieges durchlaufen. Zu Beginn der Invasion begeisterter Widerstand, später die Befreiung der Regionen Charkiw und Cherson, dann die erfolglose Gegenoffensive. Danach kam, was Walerii Salushny, der ehemalige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, als Pattsituation und Sackgasse bezeichnete. In welchem Stadium des Krieges befinden wir uns deiner Meinung nach jetzt?
Marija Berlinska: Wir befinden uns an einem Punkt, an dem die Russen in der Offensive und dabei erfolgreich sind. Sie werden die Offensive fortsetzen, das ist logisch. Doch wir kämpfen nicht nur gegen die versammelte Rüstungsindustrie Russlands, sondern auch Chinas, Nordkoreas, des Iran, Belarus’ und vieler anderer offener oder verdeckter Verbündeter.
Unter anderem beliefern leider auch westliche Länder die Russen mit Komponenten für Drohnen, Raketen, Flugzeuge und andere Rüstungsgüter.
Wir befinden uns also an einem Punkt, an dem der Feind aus seinen Fehlern gelernt, sich neu aufgestellt und beschlossen hat, nun aufs Ganze zu gehen.
Ja, auf DeepState können wir das offensichtliche Vorrücken der Russen sehen. Gleichzeitig haben wir erwartet, dass die Russen Pokrowsk schon im September 2024 umzingeln und einnehmen würden. Jetzt haben wir November und sie stehen immer noch einige Kilometer vor Pokrowsk. Zwar rücken sie weiter vor, aber in einem sehr langsamen Tempo.
Ich würde das Ganze aus einer weiteren Perspektive betrachten. Heute sehen wir es als Norm an, dass es die Ukraine gibt: mit funktionierendem Bankensystem, dass wir Kaffee trinken gehen können und der Verkehr funktioniert – also die Staatlichkeit und damit grundlegende wirtschaftliche, kulturelle und politische Prozesse. Doch in Wirklichkeit ist das ein Wunder. Nur gewöhnen sich Menschen sehr schnell an gute Dinge.
Die Tatsache, dass Pokrowsk noch nicht eingenommen wurde, ist auf keinen anderen Faktor zurückzuführen als auf das Heldentum der Ukrainer. Sie kämpfen um jedes Waldstück und jeden Meter. Freiwillige Helfer setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um Geld für Drohnen zu sammeln. Und unter vielen miesen Kommandeuren gibt es immer noch anständige Leute, die bis zum Schluss bei ihren Einheiten bleiben, sterben und verwundet werden, aber um jeden Meter kämpfen.
Wenn wir es zynisch mit einem Boxkampf vergleichen, sind die Russen irgendwo in Runde 3 oder 4, doch wir bereits in Runde 10 oder 11.
Nur so ist zu erklären, dass Pokrowsk im November 2024 immer noch uns gehört. Angesichts des dichten Artilleriefeuers, der Luftangriffe, der Tausenden von Gleitbomben, die auf uns fallen, und der ständigen taktischen Verbesserungen der Russen, ist das ein Wunder.
Die Russen zögern nicht, von uns zu lernen, sie übernehmen unsere besten Praktiken und verbreiten sie bei sich, auch in der Technologie.
Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem der Feind beschlossen hat, aufs Ganze zu gehen. Wenn wir es zynisch mit einem Boxkampf vergleichen, sind die Russen irgendwo in Runde 3 oder 4, doch wir bereits in Runde 10 oder 11.
Also nach dem Grad der Erschöpfung?
Ja, nach der Erschöpfung. Wir hängen mehr und mehr in den Seilen und sie haben ihre Kriegsmaschinerie gerade erst in Gang gesetzt. Das heißt, sie spüren ihre katastrophalen Verluste noch nicht.
Die Kremlführung weiß, dass eine Niederlage oder das Ausbleiben sichtbarer Ergebnisse für sie nicht nur den politischen, sondern auch den realen Tod bedeutet. Das könnte einen Aufstand in Russland geben. Deshalb lassen sie nicht locker und werden so viele Ressourcen wie nötig in dieses Kriegsfeuer werfen, nonstop.
Ihre angestrebten Ziele beschränken sich nicht auf die Besetzung der Region Donezk und die vollständige Kontrolle über den Donbas, richtig?
Wir reden hier nicht über rein administrative Grenzen. Wenn es ihnen gelingt, die Region Saporishshja im Ganzen zu besetzen, werden sie dafür kämpfen und sie einnehmen. Wenn es ihnen gelingt, Richtung Dnipro vorzustoßen, werden sie gegen Dnipro ziehen.
Ich habe festgestellt, dass die Ukrainer oft der Illusion unterliegen, es reiche aus, Putin etwas zu geben, ein Opfer zu bringen, und er werde aufhören. Aber Russland versteht nur Gewalt, das weiß ich sicher. Ich weiß ebenso, dass Russland sich genau so viel nehmen wird, wie wir ihm geben. Und wenn es die Ressourcen hat, bis nach Lwiw zu marschieren, wird es bis nach Lwiw ziehen.
Deshalb habe ich schon mehrfach darauf hingewiesen, dass es sehr wichtig ist, wie der Feind zu denken. Der Feind denkt wie ein Verrückter.
Könnte Russland uns also einnehmen, wenn sich seine Verbündeten auf der „Achse des Bösen“ maximal konsolidierten, die westlichen Länder aber untätig blieben und die Ukraine selbst von internen Unruhen geplagt würde? Ja, das kann es durchaus.
Ich war erstaunt über die Zahlen vom September 2024: Russland hat 200 ballistische Raketen aus Nordkorea erhalten und gegen unsere Städte eingesetzt. Gleichzeitig war die Zahl der Raketen, die wir in dieser Zeit von allen unseren Partnern erhalten haben, geringer. Was können wir in diesem Fall nicht nur Russland, sondern auch seinen Verbündeten entgegensetzen?
Erstens müssen wir die Realität akzeptieren und dürfen uns nicht einlullen lassen. Zweitens müssen wir uns das Worst-Case-Szenario klarmachen.
Welches ist das für Marija Berlinska im November 2024?
Das Worst-Case-Szenario ist, dass wir uns nach und nach zu einem der Hauptschlachtfelder in einem Dritten Weltkrieg zwischen der „Achse des Bösen“ und den demokratischen Ländern entwickeln, was sich bereits abzeichnet. So werden wir zu einem großen Trainingsgelände.
Das Worst-Case-Szenario ist auch, wenn einerseits die Länder der „Achse des Guten“ nicht rechtzeitig aufwachen und erkennen, dass sie so schnell und so viel wie möglich Ressourcen und vielleicht sogar eigene Soldaten bereitstellen müssen.
Andererseits werden wir ohne Einigkeit und Konsens bei uns selbst Kampfgeist und Moral verlieren. Dann verlieren wir die Kontrolle über die Armee und damit allmählich unsere Staatlichkeit als solche.
Könnte Russland uns also einnehmen, wenn sich seine Verbündeten auf der „Achse des Bösen“ maximal konsolidierten, die westlichen Länder aber untätig blieben und die Ukraine selbst von internen Unruhen geplagt würde? Ja, das kann es durchaus. Und nicht nur die linke Dnipro-Seite.
In den letzten Monaten hatte ich den Eindruck, dass unsere Partner in den europäischen Ländern alles tun wollen, um den Krieg einzufrieren. Was lässt diese Menschen erkennen, dass das auch eine Bedrohung für sie darstellt?
Siehst du, das Verbrechen ist gut organisiert und wir sind es nicht.
Die Terroristen und Wahnsinnigen haben sich zusammengetan, doch die westliche Welt ist leider sehr gespalten und begreift nicht, welche existenzielle Bedrohung dies für das eigene Koordinatensystem und seine Spielregeln bedeutet. Die Länder der so genannten Achse des Bösen versuchen, ihre eigene Weltsicht hierauf zu übertragen.
Je schlimmer die Situation, desto mehr wollen die Leute zuhören.
Du warst bei einem vertraulichen Treffen mit Präsident Wolodymyr Selensky. Außerdem kommunizierst du mit der Militärführung und den Leitern einiger wichtiger Ministerien, die für unsere Verteidigungsfähigkeit verantwortlich sind. Verstehen diese Menschen dort die Gefahr?
Ich habe festgestellt, dass man zuhören möchte und einige Ideen akzeptiert. Ich habe auch festgestellt, dass es leider viele Prozesse gibt, die manuell gemanagt werden, selbst auf der strategischen Ebene. Was mir noch aufgefallen ist? Je schlimmer die Situation, desto mehr wollen die Leute zuhören.
Ich sage mal so, ich habe es in all den zehn Jahren als meine Pflicht angesehen, immer wieder das gleiche Mantra zu wiederholen: Drohnen werden den Verlauf dieses Krieges bestimmen, Technologie wird den Verlauf dieses Krieges bestimmen. Wir müssen die Bevölkerung vorbereiten, Leute ausbilden und die Philosophie des gesamten Krieges neu begründen. Wir müssen aufhören daran zu glauben, dass es uns schon nicht betreffen wird oder wir einen leichteren Weg haben.
Der einzige Weg, der uns hilft, ist die technologische Militarisierung der Gesellschaft.
Der einzige Weg, der uns hilft, ist die technologische Militarisierung der Gesellschaft. Das bedeutet, dass jeder in der Lage sein muss, Technologie zu produzieren und anzuwenden, um sich und sein Volk zu schützen. Dann geht kein Mensch mehr nach vorn, um aufzuklären, sondern es fliegt eine Drohne, oder Bodendrohnen sorgen für Deckungsfeuer, Minenverlegung und -räumung, Logistik usw.
Ein Team von Freiwilligen und ich sind bereit, diese Aufgabe zu übernehmen und dafür zu sorgen, dass mindestens 10-20.000 Menschen in jeder Region wissen, wie man Boden- und Flugroboter steuert und die Betriebsprogramme versteht, wie man mit ihnen kommuniziert und kämpft.
Der Krieg nährt sich auch nicht aus der Region Donezk oder aus Kursk. Er wird tief aus Russland gespeist.
Ich habe ja bereits über das Worst-Case-Szenario gesprochen, nun wollen wir uns dem Best-Case-Szenario zuwenden. Auch wenn es ein sakrales Mantra umstößt, müssen wir die Wahrheit sagen: dass das nicht mehr die Grenzen von 1991 sein werden. Das können wir vergessen. Wir geben kein Land auf, nicht die Krim und nicht den Donbas. Doch wir müssen aufhören, in der Öffentlichkeit zu diskutieren, dass wir sie in einem Jahr wieder haben werden. Das könnte im besten Fall – mit der richtigen und umfassenden Vorbereitung – in Jahren geschehen.
Im Moment besteht das beste Szenario darin, eine aktive Verteidigung zu führen. Das bedeutet, einen 30-40 Kilometer breiten Streifen, vermint mit mehreren und befestigten Verteidigungslinien entlang der gesamten Frontlinie zu bauen. Man kann hier vom Feind lernen, der teils eine sieben-, acht-, manchmal zehnfach gestaffelte Verteidigung hat. Dort muss investiert werden.
Der Krieg nährt sich auch nicht aus der Region Donezk oder aus Kursk. Er wird tief aus Russland gespeist, aus den Panzerfabriken, den Reparaturwerken, den Forschungs- und Entwicklungszentren. Dort müssen wird zuschlagen und diese Ressourcen zerstören.
Wir brauchen wirklich ein eigenes Raketenprogramm, doch wir beginnen erst, uns dem zu nähern.
Das ganze Land muss bereit sein, einen Sprintmarathon zu laufen.
Und drittens muss das ganze Land, die ganze Bevölkerung, endgültig auf die Geschichte eines langen Krieges, eines Sprintmarathons, eingestimmt werden und darauf, dass jeder bereit sein muss, ihn zu laufen. Kinder sollten bereits ab der 5. oder 6. Klasse Programmieren, Robotik und die Grundlagen der militärischen Kommunikation lernen.
Nicht, dass ich möchte, dass unsere Kinder in den Krieg ziehen, sondern weil der Krieg 2014 begonnen hat und diejenigen, die damals 12-14 Jahre alt waren, jetzt kämpfen und nicht darauf vorbereitet waren.
Wenn man mit den Militärs an der Front spricht, beklagen alle, dass es zu wenig Leute gibt, zu wenig Infanterie. Was kann man gegen den katastrophalen Personalmangel tun?
Man könnte zumindest drei konkrete Schritte unternehmen: Erstens, die Versetzungen innerhalb der Armee vereinfachen. Damit könnten einige unzufriedenen Leute Dampf ablassen und gleichzeitig würde die Armee etwas Menschlichkeit gegenüber den eigenen Soldaten zeigen.
Es ist wirklich absurd, dass Menschen, die gekommen sind, um die Freiheit zu verteidigen, sich in der Sklaverei wiederfinden.
Man muss es jedoch vernünftig machen, denn wir wollen nicht, dass auf einmal eine ganze Brigade zu einer anderen wechselt und wir dann, wie man uns im Generalstab erklärte, ein Loch in der Front haben.
Wenn jedoch alle plötzlich einen Kommandeur verlassen, liegt dies wohl am Kommandeur. Das wäre vielleicht ein Signal, ihn auszutauschen.
Ich würde die Forderung der Gesellschaft und der Armee nach Gerechtigkeit erfüllen.
Der zweite Punkt ist die vertikale Versetzung. Wenn eine Person in der Führungsebene einer Einheit bei der Erfüllung ihrer Aufgaben versagt, sollten wir auf jeden Fall ihre Rolle überdenken.
Es kann nicht sein, dass jemand in einer hohen Position nur befördert werden kann. Ich denke, es wäre fair zu sagen: Wer seine Aufgaben nicht erfüllt, geht nach unten und kann Zugführer oder einfacher Infanterist werden.
Drittens würde ich die Forderung der Gesellschaft und der Armee nach Gerechtigkeit erfüllen. Wir müssen den Menschen eine Pause gönnen, denn die Lasten des Krieges werden die ganze Zeit von denselben Menschen getragen. Deshalb würde ich allen zumindest alle drei-vier Monate ein paar Wochen oder sogar einen Monat Urlaub gönnen.
Wenn man es richtig und systematisch durchdenkt, die Front nicht ausdünnt und die ganze Sache digitalisiert und dabei die Reihenfolge der Prioritäten beachtet, ist das absolut realistisch.
Dann gibt keine Selbstmorde, keine Scheidungen und nicht einen solch hohen Prozentsatz von Deserteuren. Dann haben die Menschen die Möglichkeit, ihre Kinder zu umarmen, Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, ins Kino oder zum Arzt zu gehen.
Ist die Führung bereit, solche Entscheidungen zu treffen?
Wie man ein ineffizientes Managementsystem verändert? Was ich jetzt sage, klingt für einige wahrscheinlich nach Astrophysik oder wirrem Gerede: Ich behandle Menschen wie Roboter. Das ist meine Berufskrankheit der letzten zehn Jahre.
Ich glaube, dass die einzige Möglichkeit, Ressourcen effektiv zu nutzen, darin besteht, sie zu digitalisieren. Jeder von uns hat seine eigenen taktischen und technischen Eigenschaften. Du hast zum Beispiel die Eigenschaft, ein großes Team von Journalisten zu führen. Doch gibt es auch etwas, was du nicht kannst. Magst du zum Beispiel Excel-Tabellen?
Ich hasse sie.
Siehst du. Wenn man dir das aufbürdet, würdest du das nicht schaffen.
Wir haben gute Ingenieure, die schlechte Mörserschützen sind, oder gute Fahrer und Mechaniker, die schlechte Scharfschützen abgeben. Mit anderen Worten, wir setzen Menschen für den falschen Zweck ein. Denn wir kennen ihre Eigenschaften nicht.
Wenn man den Menschen als Roboter betrachtet, hat jeder von uns seine eigenen Spezifikationen: Mit einem Staubsaugerroboter pflügt man kein Feld, oder? Und mit einem Bewässerungsroboter kocht man keinen Borschtsch.
Da geht um das Humankapital.
Aber wie können wir es am besten nutzen? Zunächst jeden Roboter beschreiben. Wir bewerten doch auch Pizzalieferanten, Uber-Fahrer oder einen Coffeeshop. Big Data lügt nie. Wenn du ein Café mit einer Bewertung von 4,9 bei 6000 Bewertungen siehst, ist der Kaffee dort wahrscheinlich wirklich gut. So ist es hier auch.
Nur so kann man vernünftige Entscheidungen treffen – nicht getrieben von Emotionen oder weil man irgendwo Beziehungen hat, weil man mal zusammen auf einer Hochzeit gefeiert hat.
Anfang September veröffentlichte die Ukrajinska Prawda euren Artikel „Ministerium des Chaos“. Hat sich seitdem etwas verändert? Wie würdest Du das Verteidigungsministerium heute beschreiben?
Wahrscheinlich als das „Ministerium des letzten Versuchs“ (lächelt).
Was für Personen braucht es da deiner Meinung nach?
Wir brauchen jetzt geniale Leute. Die gibt es nur sehr wenige. Ich für meinen Teil gehöre nicht dazu.
Ich würde mich deshalb auf Logik, technische Eigenschaften und frühere Leistungen stützen und nicht von Emotionen leiten lassen, nicht von irgendwelchen Bekanntschaften, einem guten Eindruck oder der Fähigkeit zu schmeicheln und der Führung Komplimente zu machen oder sich verbiegen zu können. Das ist alles Unsinn. Ich glaube, dass solche Leute ihren Vorgesetzten einen schlechten Dienst erweisen.
Aber du verstehst doch, dass die derzeitige Regierung und Verwaltung nach dem Loyalitätsprinzip aufgebaut sind und das wird sich wohl kaum ändern.
Also ich hatte diese eine Gelegenheit, mit dem Präsidenten zu sprechen. Und ich habe ihm ganz aufrichtig und ehrlich gesagt, was ich denke. Im Grunde sage ich das schon seit zehn Jahren jedem, mit dem ich rede. Abgeordneten, Ministern und Leitern von Rüstungsunternehmen habe ich immer die Dinge gesagt, die ich für richtig halte.
Ich brauche nichts, ich bin nach Beginn der großen Invasion hierher zurückgekommen. Seit 2018 habe ich in Amerika gelebt, arbeitete in einer guten Führungsposition, alles war gut – ganz klassisch: Familie, Haus, viele Reisen – alles war in Ordnung.
Deshalb habe ich dem Präsidenten die Wahrheit gesagt. Als ich die Gelegenheit hatte, es ihm ins Gesicht zu sagen, sagte ich: „Wenn wir ertrinken, ertrinken wir alle.“ Woraufhin er mir sagte, dass er hier leben wolle.
Bist du zum Beispiel bereit, für das Verteidigungsministerium zu arbeiten?
Ich bin nicht bereit – nicht weil ich eine weiße Weste tragen möchte oder Angst vor Verantwortung habe. Ich bin nicht bereit, weil ich glaube, dass ich dort, wo ich gerade bin, effektiv bin: Unser Team bei Victory Drones und Dignitas tut sehr viel, um dem Verteidigungs- und Sicherheitssektor dabei zu helfen, einige wirklich gute Veränderungen voranzubringen. Einiges davon können wir hier noch nicht sagen. Aber so Gott will, wird die Zeit kommen, in der wir erzählen können, wie viel sich im Rahmen der positiven Reformen verändert hat.
Wie viele Drohnen werden derzeit im Programm Narodny FPV gebaut?
Etwa tausend Drohnen werden übergeben. Das ist nicht sehr viel, aber viel wichtiger ist, dass wir die Blockade in den Köpfen der Menschen beseitigt haben.
Lasst uns intelligent kämpfen. Dann werden wir diesen Kampf David gegen Goliath gewinnen.
Was als traditioneller Krieg begann, ähnelt zunehmend Szenen aus einem Science-Fiction-Film. Einige Übereifrige reden bereits vom vollständigen Verschwinden traditioneller Waffengattungen und dem Ersatz von Soldaten und Panzern durch Roboter. Doch in Wirklichkeit ist dies noch weit entfernt. Das ukrainische Portal Texty.org.ua bilanziert, was sich seit dem Februar 2022 militärisch und technisch verändert hat.
Die Hauptwaffe zur Bekämpfung des Gegners im taktischen Raum bleibt die Artillerie – sowohl großkalibrige Geschütze als auch Raketenartillerie (wie etwa die amerikanischen Raketenwerfer HIMARS oder die russischen Smersh oder Grad, die eine ballistische Flugbahn haben, aber beim Abschuss durch ein Rohr geleitet werden – dek). In letzter Zeit berichten einige Experten, dass der Einsatz von Drohnen immer mehr in den Vordergrund rückt, doch bleibt die Artillerie wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg die wichtigste Waffe der Kriegsführung.
Nur das Artilleriekaliber hat sich verändert. Während im Ersten Weltkrieg 3-Zoll-Splittergranaten gegen die Infanterie und Geschosse bis zu 300 mm gegen starke Befestigungsanlagen eingesetzt wurden, verursachten im Zweiten Weltkrieg insbesondere 80-120 mm-Mörsergranaten einen erheblichen Teil der Schäden. Heute sind es 152 und 155 mm-Granaten und schwere Mehrfachraketenwerfer.
Mit der Integration eines Aufklärungszielradars und moderner Lenkmunition hat das Artillerie-Gegenfeuer eine neue Stufe erreicht.
2. Befestigungen
Feldbefestigungen erfordern einen erheblichen Aufwand; und während die Russen es sich leisten können, ganze Einheiten zum Graben einzusetzen, haben die ukrainischen Streitkräfte diese Möglichkeit aufgrund des Personalmangels nicht. Außerdem hat sich herausgestellt, dass sowohl Marinestützpunkte als auch Flugplätze praktisch nicht auf Angriffe vorbereitet sind. Deshalb braucht es eine verstärkte technische Ausstattung der Pioniereinheiten aller Teilstreitkräfte.
3. Minen
Alle Systeme zur Minenverlegung zeigen eine hohe Effektivität. Gleichzeitig wird deutlich, dass es an technischen Lösungen für die Aufklärung und die Überwindung von Minenfeldern fehlt.
4. Drohnen und elektronische Kampfführung
Viele Experten prognostizierten den breiten Einsatz von Luft- und Seedrohnen. Während dies eingetreten ist, bleibt die Drohnenabwehr jedoch systematisch zurück. Dieser Umstand zwingt die Streitkräfte dazu, neue taktische Einsatzpläne für verschiedene Kräfte anzuwenden sowie spezialisierte Systeme der elektronischen Kampfführung und Flugabwehr zur Bekämpfung von schwer zu erfassenden und niedrigfliegenden Drohnen zu entwickeln.
Der massenhafte Einsatz von FPV-Drohnen sowie KI-gelenkter Loitering-Waffen verändert das Bild auf taktischer Ebene des Gefechtsfelds grundlegend. Die Wirksamkeit des Einsatzes von schwer zu erkennenden taktischen Drohnen in niedriger Flughöhe hat sich als viel höher erwiesen als angenommen.
5. Flugabwehr
Eine gestaffelte Flugabwehr aus Boden-Luft-Raketensystemen hat sich als besonders effektiv erwiesen, um den Einsatz der gegnerischen Luftwaffe über und hinter der Frontlinie zu begrenzen. Dies wiederum führte zu einer raschen Anpassung aufseiten der Russen, welche konventionelle Bomben mit speziellen Modulen zu Gleitbomben umrüsteten.
Eigenbeschuss durch Boden-Luft-Raketen mit Zielsuchsensoren stellt bei den ukrainischen Streitkräften ein ernsthaftes Problem dar. Bis zu 30 Prozent der Verluste an Fluggeräten entfallen auf Friendly Fire. Dies erfordert neue Lösungen für Freund-Feind-Erkennungssysteme und die Einleitung der Selbstzerstörung von Raketen im Flug bei Anvisierung eigener Kräfte.
Generell hat der Krieg gezeigt, dass Marschflugkörper und ballistische Raketen das wirksamste Mittel sind, um die gegnerische Flugabwehr zu überwinden und Ziele im rückwärtigen Raum zu bekämpfen. Diese Fähigkeiten reichen jedoch nicht aus, um Waffenfabriken und die Hauptverkehrsstränge vollständig zu zerstören.
Daher ist damit zu rechnen, dass Raketen entweder mit höherer Sprengladung und höherer Geschwindigkeit entwickelt werden oder der Gegner bis zu zehn Raketen gleichzeitig auf ein Ziel abschießt, so wie zum Beispiel bei der Zerstörung des Wärmekraftwerks Trypillja.
Die von der Ukraine eingesetzten Anti-Schiffs-Raketen haben sich als effektiv erwiesen, um die Flugabwehr von Schiffen durch Einzel- und Doppelschläge zu überwinden, was beispielsweise zur Zerstörung des Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte, des Kreuzers Moskwa, führte.
Deshalb müssen die russischen Streitkräfte neue Lösungen für den Schutz von Kriegsschiffen und vor allem ihrer Liegeplätze finden, denn Angriffe ukrainischer Seedrohnen haben die russische Flotte bereits gezwungen, nach Noworossisk zu fliehen. Bislang versuchen die Russen Helikopter zur Abwehr einzusetzen, doch das Aufkommen von Seedrohnen mit Flugabwehrraketen wird dieses Problem [aus Sicht der Ukrainer] lösen.
6. Gepanzerte Fahrzeuge
Der Krieg hat gezeigt, wie anfällig gepanzerte Fahrzeuge für Angriffe aus der Luft sind. Mehr als 90 Prozent der Zerstörungen von gepanzerten Fahrzeugen werden heute durch einfache Hohlladungsmunition verursacht, die von Drohnen abgeworfen wird, beziehungsweise von Kamikaze-Dohnen, die sich auf die Fahrzeuge stürzen.
Daher benötigen alle Kampf- und Schützenpanzer sowie gepanzerten Mannschaftstransportwagen Anpassungen, um das Schutzniveau der Panzerung auf der Oberseite zu erhöhen, sowie Ausrüstung mit Systemen der elektronischen Kampfführung zum Schutz vor Drohnen.
7. Drohnen-Luftkämpfe
Er häufen sich Fälle, in denen russische Drohnen von ukrainischen Kampfdrohnen abgefangen werden. Das erinnert an den Ersten Weltkrieg, als die Hauptaufgabe von Jagdflugzeugen darin bestand, feindliche Aufklärungsflugzeuge zu vernichten. In naher Zukunft ist mit echten Luftkämpfen zwischen Drohnen zu rechnen.
8. Sturmangriffe auf Städte
Während der Angriffe auf Städte bleibt die im Ersten und Zweiten Weltkrieg entwickelte Praxis der Sturmbataillone relevant. Nur die Taktik ändert sich: Eindringen und Konzentrierung von Personal an den Angriffslinien oder Angriffe mit hochmobilen Trupps. Solche Gruppen zu bekämpfen ist schwierig, doch können die ukrainischen Streitkräfte Erfolge verzeichnen.
9. Leichte Fahrzeuge
Es besteht dringender Bedarf an der Entwicklung und Bereitstellung von leichten Fahrzeugen wie Quads oder Elektromotorrädern zur Unterstützung von Aufklärungseinheiten und Truppen im rückwärtigen Raum. Auch bestehen weiter systemische Probleme bei der Evakuierung von Verwundeten vom Gefechtsfeld durch spezialisierte Einheiten mit entsprechender Ausrüstung. Zwar gibt es Einsätze von Bodendrohnen, doch sind diese sehr selten.
10. Satelliten
Die Mittel zur Beschaffung von Aufklärungsinformationen haben sich stark verändert. So setzen die ukrainischen Streitkräfte äußerst effektiv verschiedene Elemente der Weltraumaufklärung und Satellitenkommunikation ein. Um dem etwas entgegenzusetzen, müssen die Russen ihrerseits Satellitenkommunikationskanäle stören und mehr eigene Satelliten ins All bringen, womit sie sich allerdings schwertun. Die ukrainischen Streitkräfte erhalten über ihre Verbündeten Informationen in Echtzeit, was ihnen erlaubt, kurzfristig auf Veränderungen der Lage zu reagieren und den Besatzern das Leben deutlich zu erschweren.