Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Johanna-Maria Fritz
Familienangehörige betrauern den Tod des 20-jährigen Soldaten Dima in Zorya, einem Dorf in der Nähe von Awdijiwka. 19.11.2023 / Foto: Johanna-Maria Fritz, Ostkreuz
dekoder: Wie ist dieses Bild entstanden?
Johanna-Maria Fritz: Ich arbeite gerade an einem Fotobuch zur Jugend an der Front. Dafür porträtiere ich Teenager und junge Männer, die als Soldaten kämpfen, aber auch solche, die einfach nur in der Nähe der Front leben. Ich bekam die Nachricht, dass in Zorya eine Beerdigung stattfindet. Der kleine Ort liegt etwa zwanzig Kilometer westlich von Awdijiwka im Gebiet Donezk.
Um wen trauern die Menschen hier?
Dima ist mit 20 Jahren in Bachmut bei einer Angriffswelle der Russen getötet worden. Er ist im Gebiet Donezk in der Ostukraine geboren und aufgewachsen. Als der Krieg begann, war er elf Jahre alt. Mit 18 hat er sich freiwillig zu den Grenztruppen gemeldet. Seine Eltern sind vor zwei Jahren vor der russischen Großinvasion geflohen, sie leben jetzt in Kyjiw. Aber sie wollten ihren Sohn in ihrem Heimatort beerdigen. Nadia, seine Mutter, sagt, sie hoffe, dass die Russen ihr ihren Sohn nicht ein zweites Mal nehmen: Erst haben sie ihn getötet, jetzt drohen sie, auch den Ort einzunehmen, wo er beerdigt ist. Die Frau, die über seinem offenen Sarg steht, ist seine Großmutter, die um ihren Enkel weint. Neben ihr steht Dimas Freundin Sofia, sie hält seine Mutter an der Hand.
Drei Generationen, aber die Gesichter der Frauen sind vom Schmerz so verzerrt, dass es fast aussieht, als wären alle im gleichen Alter.
Ja, das ist mir in der Ukraine häufig aufgefallen, besonders bei Soldaten: Ich habe Soldaten gesehen, die waren Ende 20, aber sie sahen aus wie Ende 40.
Sie berichten seit Beginn der russischen Großinvasion aus der Ukraine. Nach der Befreiung von Butscha waren Sie dort eine der ersten Journalistinnen. Verschmelzen eigentlich die Schrecken, die sie gesehen und fotografiert haben irgendwann zu einer ununterscheidbaren Masse?
Ich bin trotz allem jedes Mal neu betroffen. Dieses Bild ist für mich eines, auf dem man den Schmerz am deutlichsten sieht, den dieser Krieg verursacht. Ich habe fotografiert und dabei geweint. Es gibt aber auch manchmal Momente, in denen ich nicht fotografieren kann. Einmal wurde ich in einen Keller gerufen. Dort hatte eine Frau gerade ein Kind zur Welt gebracht, während draußen die Bomben fielen. Da habe ich es einfach nicht übers Herz gebracht, meine Kamera hochzunehmen. Die Umstände waren fürchterlich, aber gleichzeitig war es so ein besonderer Moment für die junge Mutter, den wollte ich ihr nicht kaputt machen.
Wie viele Soldaten in diesem Krieg schon gefallen sind, dazu machen weder Moskau noch Kyjiw konkrete Angaben. Im Interview mit dem russischen Nachrichtenportal Meduza berichtet ein anonymer Angehöriger des Bergungsdienstes der ukrainischen Streitkräfte von seiner gefährlichen Arbeit. Vom Austausch mit den Russen und wie schwarzer Humor hilft, das Grauen zu verarbeiten.
Wann haben Sie angefangen, nach Überresten von Gefallenen zu suchen?
Das war 2010. In der Nähe meines Hauses befand sich ein militärhistorisches Zentrum. Dort leisteten Freiwillige Archivarbeit, unternahmen Suchaktionen an Orten, wo im Zweiten Weltkrieg gekämpft wurde, und bestatteten Opfer, die auf ukrainischem Gebiet gefallen waren. Anfangs arbeitete ich im Archiv, doch dann beteiligte ich mich mehr und mehr selbst an der Suche. Es wurde zu meinem Hobby. Im Sommer 2014 schloss ich mich als Freiwilliger der Armee an. Seitdem wende ich mein Wissen und meine Fertigkeiten bei der Suche nach Vermissten in diesem Krieg an. Es klingt womöglich zynisch, aber mir gefällt diese Suche.
Was war am Anfang der vollumfänglichen Invasion besonders schockierend oder schwierig an Ihrer Arbeit?
Der Verlust der Komfortzone. Entweder du setzt dich damit auseinander, oder du kannst nicht weitermachen. In den vergangenen zehn Jahren haben fast 200 Menschen bei uns angefangen. Von denen sind etwa fünf Prozent geblieben, die halten das psychisch aus. Alle anderen sind entweder umgekommen, weil sie auf eine Mine getreten sind, bei manchen hat das Herz nicht mehr mitgemacht, manche waren psychisch so ruiniert, dass sie Hilfe von Psychiatern benötigten, um wieder zurück in ihre Familien zu finden. Hier gibt es keine vorgefertigten Schablonen – jeder ist anders. Aber die meisten schockiert vor allem der Anblick und der Gestank der Toten, an den man sich einfach nicht gewöhnen kann. Wenn du den ganzen Prozess von der Suche über die Identifizierung bis zur Bestattung eines Soldaten mitverfolgst, bist du auch mit deinen eigenen Emotionen konfrontiert. Aber du überwindest dich.
Manchmal muss man sich zusammenreißen, weil wir einfach sehr wenig Zeit haben, und wenn ein Körper zerfetzt wurde, muss man ihn bestmöglich zusammensetzen. Je weniger Daten, desto weniger Sicherheit. Fehler dürfen wir uns keine erlauben. Stellen Sie sich mal vor: Eine Familie bestattet einen Sohn, und dann stellt sich heraus, das war gar nicht er. Wie soll man denen erklären, wem da wo genau ein Fehler unterlaufen ist?
Gibt es für die Leichensucher eine Art psychologische Unterstützung?
Natürlich. Aber viele von uns haben gelernt, während der Arbeit selbst eine Psychokorrektur vorzunehmen – bei sich selbst und anderen.
Was meinen Sie mit Psychokorrektur?
Jeder kann unter bestimmten Umständen in einen Schockzustand geraten. Wenn ein Mensch zum Beispiel ertrinkt, dann kann er sich nicht kontrollieren, sein Körper widmet sich vollständig einer einzigen Aufgabe – Luft zu bekommen und die Atmung fortzusetzen. Wenn jemand zu ihm hinschwimmt, um ihn zu retten, wird der Ertrinkende ihn hinunterdrücken, um sich von ihm nach oben abzustoßen. Wenn man diesen Schockzustand beendet, kann man mögliche Fehler minimieren. Löst nun der Retter bei dem Ertrinkenden einen Schmerzschock aus, so holt er ihn aus diesem Zustand heraus, und der Ertrinkende kann dank seiner Fähigkeit zur Psychokorrektur beginnen, seine Bewegungen zu koordinieren.
Eine Psychokorrektur brauchen wir also, um uns in einer schockierenden, abnormalen Situation, die uns aus den gewohnten Bahnen wirft, zu konzentrieren, die Situation einzuschätzen und die Reihenfolge der notwendigen Schritte entscheiden zu können. Bei intensivem Beschuss zum Beispiel, wenn einer verletzt wurde – dem Verletzten einen Druckverband anzulegen, ihm ein Schmerzmittel zu spritzen, in Deckung zu gehen und ihn von höher gelegenen Positionen wegzuschaffen, damit er nicht erwischt wird. Zu erkennen, womit wir beschossen werden, und je nach Art der Waffen abzuschätzen, wann der Angriff vorbei ist und wann er womöglich von Neuem beginnt. Das ist in Summe eine Handlungskette, ohne die wir nicht mehr am Leben wären.
Seit dem 24. Februar 2022 werden wir Bergungstrupps mit Drohnen angegriffen
Kommt es vor, dass Teilnehmer der Suchtrupps während der Suchaktionen ums Leben kommen?
Hier besteht ein großer Unterschied zwischen der Zeit vor und nach dem 24. Februar 2022. 2014 bis 2022 hatten wir immer einen oder zwei Minenentschärfer im Team. Damals war es leichter, mit der Gegenseite eine Vereinbarung zu treffen, damit wir in die „graue Zone“ hineindürfen. Damals herrschte Waffenstillstand, auch wenn er immer wieder gebrochen wurde; der gegenseitige Hass war nicht so ausgeprägt, die Frontlinie stabil, es gab noch Versuche zum Dialog. Sie [die russische Seite] sahen uns, kannten uns. Der Minenentschärfer ging voraus, wir hinterher.
Vielleicht wundert Sie das, aber zwischen 2014 und Februar 2022 kam kein einziger meiner Kollegen bei einer Suchaktion ums Leben. Wir machten alles gründlich und Schritt für Schritt, ergriffen alle notwendigen Sicherheitsmaßnahmen. Obwohl wir 2014 des Öfteren verminte Leichen entdeckten. Aus solchen Fällen haben wir gelernt.
Leider werden Suchtrupps auch manchmal beschossen. Und seit dem 24. Februar 2022 werden wir auch mit Drohnen angegriffen.
Die Suchtrupps?
Ja, manche von uns tragen schwere Verletzungen davon. Das ist natürlich nicht die feine Art. Immerhin sind wir mit einer Markierung versehen, an der man auch aus Flughöhe erkennt, dass wir keine militärischen Zwecke erfüllen. Auf dem Autodach haben wir ein großes rotes Kreuz auf weißem Untergrund, wir tragen reflektierende Westen in Signalfarben und im Sommer weiße Sanitäter-Overalls. Trotzdem wurden seit dem 24. Februar 2022 vier unserer Kollegen schwer verletzt, und es ist fraglich, ob sie je weitermachen können.
Wie schützen Sie sich auf dem Schlachtfeld vor Angriffen?
Wir haben eine Regel: Während einer Suchaktion nehmen wir niemals eine Waffe in die Hand oder beteiligen uns an Kampfhandlungen, obwohl wir Soldaten sind. Wir bewegen uns im Blickfeld unserer bewaffneten Kameraden, die die Gegenseite daran hindern, zu uns vorzudringen. Wenn es doch zu einem Gefecht kommt, dann ist das wohl Schicksal.
Wenn wir Waffen mitnehmen würden, würde außerdem der Platz für andere wichtige Utensilien fehlen. Wir müssen Ausrüstung mitnehmen, Helme, Panzerwesten, Tragbahren, forensisches Werkzeug mit allem, was man für die Evakuierung von Leichen braucht, eine Apotheke, Wasser, Proviant. Jedes Gramm fällt ins Gewicht.
Sind Sie während der Suche schon in Gefechte geraten?
Ja. Ich glaube, das war ein Missverständnis: Wir hatten eine Vereinbarung getroffen, aber die Leute in den Schützengräben wussten wahrscheinlich einfach nichts davon. Denn als wir dicht an ihre Positionen herankamen, reagierten sie zuerst verstört und schockiert und begannen dann, auf uns zu schießen. Offenbar war ihnen nicht sofort klar, wer wir sind – ein paar unbewaffnete Leute in orangenfarbenen Westen mit Tragbahren. Als sie das Feuer eröffneten, schossen unsere Leute zurück, woraufhin sie umschwenkten und auf die ukrainischen Stellungen zielten.
Das Gefecht dauerte ungefähr eineinhalb Stunden. Am Ende robbten wir zu unserem Ausgangspunkt zurück. Die Angst blieb an die zwei Jahre. Aber ich bin nicht daran zerbrochen.
Jeder Kommandeur wird sich bemühen, die Gefallenen aus den eigenen Reihen bergen zu lassen
Führen Sie Buch über die seit dem 24. Februar 2022 geborgenen Leichen? Mich würden beide Seiten interessieren.
Wir zählen alle zusammen. Insgesamt sind es rund 5000. Haben Sie eine Vorstellung von den Dimensionen dessen, was da passiert? Ich als Leichensucher bin überzeugt: Wir haben noch mindestens 50 Jahre zu tun – ab dem Zeitpunkt, wo das alles zu Ende ist. Allein auf ukrainischer Seite. Und dann gibt es ja auch noch die russische. Und manche Menschen finden wir überhaupt nie. Wenn es einen in lauter Stücke zerreißt – umgeben von Wildnis, Natur und Verwesung … Ein ungeschulter Mensch würde nie im Leben auf solche Fragmente achten.
Kann man aufgrund Ihrer Daten über die Menge der gefundenen Überreste die Verluste auf beiden Seiten einschätzen?
Nein, unsere Statistik liefert kein vollständiges Bild über die Zahl der Todesopfer. Wir sehen nur einen Teil.
Wie funktioniert die Identifizierung der gefundenen Leichen?
Da werden Daten aus mehreren verschiedenen Quellen zusammengeführt und verglichen. Erstens liefern uns die Angehörigen der Soldaten Informationen, zum Beispiel besondere Kennzeichen, Tätowierungen etwa. Zweitens sammelt die Polizei aufgrund der Vermisstenmeldungen ebenfalls Daten. Außerdem gibt es Vereine, die den Verwandten von Vermissten bei der Suche helfen.
Wenn die Informationen aus allen drei Quellen übereinstimmen, dann greifen wir auf die interne Kommunikation der ukrainischen Streitkräfte zu. Wenn ein Soldat vermisst wird, dann muss der Kommandeur Meldung machen über Ort, Zeit und Zahl der Verschwundenen unter Angabe ihrer persönlichen Daten. Wir überprüfen das alles, und wenn die Daten übereinstimmen, untersuchen wir eben den Ort des Geschehens.
Wenn es ein derzeit besetztes Gebiet ist, so bestimmen wir die konkreten Standorte und bearbeiten sie erst, wenn es gelungen ist, das Territorium zu befreien. Wenn es aber besetzt bleibt, dann geben die ukrainischen Streitkräfte meinem Wissen nach die Informationen an Kontaktpersonen auf der russischen Seite weiter, damit die Suche von denen durchgeführt wird. Na, und weiter je nachdem. Wenn sich die Stelle nahe an Kampfhandlungen befindet, dann gehen da weder wir noch die Russen hin. Keiner kann den Krieg aufhalten, so viel habe ich schon verstanden.
Erzählen Sie mal bitte, wie der Austausch abläuft.
Der erfolgt immer auf russischem Gebiet an der nördlichen Grenze der Ukraine und entsprechend den Richtlinien des humanitären Völkerrechts. Ein Kühlwagen mit ukrainischem Personal und Leichen russischer Soldaten fährt nach Russland. Wir laden die Leichen in einen russischen Kühlwagen um, übernehmen die toten ukrainischen Soldaten und fahren zurück in die Ukraine.
Wie ist es, dem Feind ins Gesicht zu blicken? Gab es auch schon Exzesse aufgrund menschlichen Fehlverhaltens?
Für die Vereinbarung von Ort und Zeit des Austauschs gibt es Verhandler. Während des Austauschs selbst reden wir mit niemandem. Wir arbeiten in weißen Overalls, mit Mundschutz und Kapuzen – in erster Linie aus hygienischen Gründen. Die Russen sind auch so gekleidet. Nur die Augen sind zu sehen. In der ganzen Zeit gab es nie einen Konflikt. Man merkt, dass die Leute angewiesen wurden, nicht mit uns zu sprechen. Keiner verhält sich respektlos – alle sind absolut neutral. Gesichtslose Menschen verladen Leichen von Kriegsopfern und fahren wieder nach Hause.
Dabei werfen beide Seiten einander häufig vor, dass sie die Leichen der Gefallenen nicht abholen und sich überhaupt nicht darum kümmern. Inwiefern sind diese Vorwürfe gerechtfertigt?
Das sind politische Manipulationen von beiden Seiten. Die Leichen werden bei der ersten Gelegenheit geborgen. Wir benachrichtigen die russische Seite, und sie kommen nur dann nicht, wenn sie sich dadurch in Lebensgefahr begeben würden. Mir sind keine Fälle bekannt, wo eine Leiche einfach liegenbleibt.
Waren Sie auch an Orten, an denen Russland massenhafte Kriegsverbrechen begangen hat, etwa in Butscha oder Borodjanka?
Ja, dort waren unsere Spezialisten im Einsatz, aber im Detail kann ich dazu nichts sagen, weil die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind.
Nicht einmal jeder vierte russische Soldat trägt eine Erkennungsmarke. Der Grund ist Aberglaube oder schlechte Ausstattung der Truppe
Welche Rolle spielen die Erkennungsmarken bei der Identifizierung der Toten?
Auf den russischen Plaketten stehen nur Kennnummern aus Buchstaben und Ziffern. Sie haben ihre interne Datenbank, anhand derer nur sie in der Lage sind, die Person mithilfe ihres Codes zu identifizieren. Das heißt, die Soldaten sind entpersonalisiert. Wobei wir nur bei 15 bis 20 Prozent der gefallenen Russen, die wir geborgen haben, Plaketten gefunden haben. Da wirkt einerseits der Aberglaube, dass eine solche Marke etwas für Todgeweihte ist, andererseits bestehen Lücken in der Versorgung der Armee in einem großen Krieg, manche verlieren sie oder weigern sich, sie zu tragen, weil sie die Dringlichkeit nicht verstehen.
Auf den ukrainischen Marken steht der volle Name und eine Identifikationsnummer, die dieselbe ist wie die Steuernummer. Das ist die individuelle Nummer des Soldaten. Außerdem steht bei den Ukrainern die Blutgruppe drauf und zu welcher Einheit sie gehören: zur ukrainischen Nationalgarde, zum Grenzschutz, zur Polizei oder zu den ukrainischen Streitkräften. All das beschleunigt die Identifizierung eines Toten, wenn man ihn rein visuell nicht mehr erkennen kann. Die Menschen in Russland müssen verstehen, dass keiner ihre Kinder und Angehörigen braucht außer ihnen selbst.
Wie oft werden DNA-Tests für die Identifikation eingesetzt – die sind ja ziemlich teuer?
DNA-Tests sind nur eine der Methoden, mit denen die Identität eines Toten festgestellt werden kann. Sie dienen als letzter Beweis und geben den Verwandten die endgültige Gewissheit, wer der Tote ist.
In welchen Fällen wird ein DNA-Test gemacht? Sie haben ja keinen Zugriff auf DNA-Datenbanken russischer Soldaten.
Ja, leider. Wenn sich die ukrainische und die russische Seite eines Tages darauf einigen könnten, die Genotypen von Verwandten von Vermissten auszutauschen, dann würden bestimmt auf beiden Seiten viele ihre vermissten Angehörigen finden. Aber es gibt viele Gründe, warum das unmöglich ist, unter anderem politische.
Noch einmal – wie oft und in welchen Fällen werden DNA-Tests gemacht?
In der Regel dann, wenn anhand der Leiche und der Überreste keine Identifikation möglich ist. Wenn einer eine Erkennungmarke, einen Pass oder einen Militärausweis hat und somit eindeutig zugeordnet werden kann, dann kann der Ermittler auf den DNA-Test verzichten.
Sprechen Sie mit Ihren Kollegen über das, was während der Arbeit passiert?
Natürlich. Aber das sind interne Gespräche, dazu möchte ich nichts sagen. Oft ist das ein spezieller schwarzer Humor – Scherze über den Tod, die über alle Regeln des Anstands hinausgehen. Wer zurückwitzelt, hat die Probe bestanden und ist einer von uns. Ich kann an der Reaktion eines Unbekannten in einer solchen Situation erkennen, ob er tatsächlich Erfahrung mit Leichen hat oder ob ich es mit einem Dilettanten zu tun habe. Im Kreis bereits bekannter Kollegen ist das eine eigenartige Form der gegenseitigen Unterstützung, die Rückversicherung, dass man in seinem Rudel ist – so viele sind wir ja nicht.
dekoder: Seit zehn Jahren sind Sie immer wieder als Fotoreporter in der Ukraine unterwegs. Sie haben den Maidan-Aufstand fotografiert und den Beginn des Krieges im Donbas erlebt. Aber das Foto, das Sie für die Serie Bilder vom Krieg ausgewählt haben, ist ein Stillleben. Was ist die Geschichte dahinter?
Rafael Yaghobzadeh: Ich habe es in der Wohnung eines ukrainischen Freundes in Kyjiw aufgenommen. Er arbeitet in der Filmbranche. Für den Fall, dass er zur Armee eingezogen wird, hat er eine Ausbildung zum Drohnenpiloten begonnen. Ich habe ihn porträtiert, wie er zuhause am Computer übt, Drohnen zu steuern. Als ich das Fenster sah, dachte ich erst, das Klebeband sei bereits wieder entfernt worden. Die Menschen in Kyjiw haben ihre Fenster in den ersten Tagen der Vollinvasion verklebt, damit keine Splitter umherfliegen, wenn es in der Nähe eine Explosion gibt. Inzwischen ist die Front ja schon lange weit entfernt, aber das Klebeband ist immer noch da als eine Spur jener Zeit.
Russland beschießt die Hauptstadt immer wieder mit Raketen. Wie geht nach so einer Angriffswelle der Alltag weiter?
Der Krieg ist ständig präsent, auch wenn es in Kyjiw keine Kämpfe gibt. Einerseits in Form solcher Spuren an den Fenstern. Andererseits weil junge Männer wie mein Bekannter ständig mit dem Bewusstsein leben, dass sie jederzeit eingezogen und an die Front geschickt werden können.
Wie hat sich das Land verändert, seit Sie vor zehn Jahren zum ersten Mal nach Kyjiw gekommen sind?
Alles hat sich verändert: das Land, die Gesellschaft, sogar die Gesichter der Menschen. Das Land wird angegriffen und muss sich verteidigen, aber gleichzeitig macht es eine rasante Modernisierung durch, wirtschaftlich, technologisch, kulturell. Bei meinem letzten Besuch habe ich einige junge Leute kennengelernt, die noch Teenager waren, als 2014 der Krieg im Donbas begann. Denen wurde erst so richtig klar, dass sich ihr Land im Krieg befindet, als Russland die Vollinvasion startete.
Nach der gescheiterten Gegenoffensive im Sommer hört man manchmal, dass sich unter den Ukrainern Resignation breit mache. Teilen Sie diesen Eindruck?
Nein, gar nicht. Vom ersten Kriegstag an haben die Leute immer wieder die Kraft gefunden, wieder aufzustehen und neue Reserven anzuzapfen. Dass das Land in diesem Krieg immer noch so gut funktioniert, ist alles andere als selbstverständlich.
Haben sich denn auch Ihr Blick und Ihre Art zu arbeiten verändert?
Ganz bestimmt. Ich nehme heute ganz andere Details wahr, die mir früher vielleicht nicht aufgefallen wären. Ich bin meistens mit drei oder vier Kameras unterwegs und arbeite dann parallel auf drei Ebenen: Zuerst erfülle ich den Auftrag, mit dem mich meine Auftraggeber losgeschickt haben. Seit zwei Jahren fotografiere ich für Le Monde. Dann habe ich noch eine Mittelformatkamera dabei, mit der mache ich Schwarz-Weiß-Bilder, aus dieser Arbeit stammt dieses Foto. Und auch noch eine Polaroidkamera. Ich sammle außerdem Objekte: Karten, Bilder, Archivmaterial für ein Langzeitprojekt. Das hilft mir, einen Schritt zurückzutreten. So ergibt sich ein vielschichtiges Bild, das tiefer geht als die Reportagefotografie, die aktuelle Ereignisse dokumentiert.
Sie haben schon als Schüler ihre Bilder an französische Medien verkauft. Trotzdem haben Sie noch ein Geschichtsstudium an der Sorbonne abgeschlossen. Wirkt sich dieser akademische Hintergrund auch auf Ihre Fotografie aus?
Ich denke schon. Ich sichte gerade meine Bilder aus Butscha. Ich war dort zum ersten Mal am 2. März 2022, bevor die Kleinstadt von den russischen Angreifern eingenommen wurde. Nachdem die ukrainische Armee Butscha befreien konnte, bin ich wieder dorthin gefahren. Seitdem besuche ich den Ort regelmäßig, um einen Eindruck von den Veränderungen zu bekommen, die dort vor sich gehen. Ich möchte nicht nur einzelne Ereignisse fotografieren und dann weiterziehen. Mich interessieren die langfristigen Entwicklungen.
Fotografie: Rafael Yaghobzadeh Bildredaktion und Konzept: Andy Heller Interview: Julian Hans Veröffentlicht am: 13.02.2024
dekoder: Diese Fotos sind während des Besuchs von Außenministerin Annalena Baerbock beim ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky im September entstanden. Aber der Moment, der Ihnen von dieser Reise am stärksten in Erinnerung geblieben ist, den haben Sie nicht fotografiert. Was war das?
Dominik Butzmann: Wenn man mit einer ausländischen Delegation den Präsidentenpalast in Kyjiw besuchen will, durchläuft man mehrere Sicherheitskontrollen. Alle Aufgänge sind mit Sandsäcken gesichert, es ist dunkel, nur im Innersten des Palastes brennt Licht. Bei einer der Kontrollen hatte ich meine Kamera gerade in eine dieser Plastikwannen gelegt, in denen sie durch den Scanner fährt. Da fiel mir ein Sicherheitsmann auf, der neben dem Gerät stand: vielleicht 50 Jahre alt, grüne Uniform, helle, sehr klare Augen. Er musterte die Besucher und ich musterte ihn. Ich gucke ja die ganze Zeit, auch wenn ich gerade nicht fotografiere. Ich stelle meine Antennen auf, um zu merken, wenn irgendwo etwas passiert oder die Atmosphäre sich verändert. Wenn ich im Blick habe, welche Gefühle im Raum sind, kann ich reagieren und gegebenenfalls eine andere Perspektive wählen oder eben ganz schnell ein Bild machen. Also scannte ich die Leute und er scannte die Leute. Und dann guckte er so beiläufig auf sein Telefon und zuckte plötzlich zusammen wie unter einem Krampf. Offenbar hatte er die Vorschau einer SMS gelesen. Sein Gesicht wurde bleich, er schüttelte den Kopf und kämpfte sichtlich mit den Tränen. Er muss irgendetwas Schreckliches gelesen haben.
Wie haben die Umstehenden reagiert?
Die anderen Uniformierten haben ihn angeguckt und in ihren Gesichtern konnte man sehen: Die wissen, was ihm gerade passiert. Die haben tief eingeatmet und dann weiter ihre Arbeit gemacht. Aber es war deutlich, dass die alle solche Momente kennen. Weil im Krieg jeder jederzeit mit schlimmen Nachrichten rechnet. Solche Momente passieren wahrscheinlich täglich hundertfach in ukrainischen Familien, aber hier war ich auf einmal ganz unerwartet Zeuge.
Hätten Sie diesen Moment gern fotografiert?
Nein, auf keinen Fall.
Aus Pietät?
Ja, natürlich. Aus Pietät. Ich bin kein Kriegsfotograf. Ich habe wenig Erfahrung damit, welche Rolle Pietät spielen sollte in Situationen, in denen Menschen sterben oder in denen Angst vor dem Tod auftritt. Ich mache Politikfotografie, da erlebt man auch viele Dramen und viel Stress und Menschen, die unter Druck stehen. Aber das ist nicht vergleichbar. Außerdem lag meine Kamera ja in dieser Schale vor diesem Menschen. Wenn ich die rausgenommen und fotografiert hätte, hätte ich mehrere Regeln gleichzeitig gebrochen: Erstens fotografiert man Sicherheitsstrecken grundsätzlich nicht. Und wenn ich dann die Kamera hochnehme und fotografiere, könnte das als aggressiver Akt empfunden werden. Erst recht, wenn die Person in einer emotional offensichtlich belastenden Situation ist. Das wäre eine Grenze, die ich auf keinen Fall überschritten hätte.
Ist Ihnen auch an den Personen, die sie fotografieren, aufgefallen, wie der Krieg sie verändert hat?
Im April war ich dabei, als Robert Habeck zusammen mit Wolodymyr Selensky den Keller einer Schule besichtigt hat, in dem sich in der ersten Phase des Krieges Kinder über lange Wochen versteckt hatten. Während Habeck und Selensky sich die Zeichnungen ansahen, die die Kinder in dieser Zeit an die Kellerwände gemalt hatten, habe ich Selenskys Gesicht fotografiert. Da sieht man, wie unfassbar müde er ist und dass er schon gar nicht mehr weiß, was er fühlen soll. Er wirkt wie versteinert. Robert Habeck sah auch verändert aus, als er aus diesem Keller kam. Mich beschäftigen diese stillen Zeugnisse der Gewalt bis heute.
Lassen sich solche Emotionen überhaupt in Bilder fassen?
Ja. Ich glaube, es sind tausende solcher Geschichten wie die von dem Mann, der eine schlimme Nachricht erhält, die so einen Krieg ausmachen. Tausende kleiner Situationen, die als innere Bewegung stattfinden und erst später äußerlich sichtbar werden. Bei meinen Portraits, also in konzentrierten, bilateralen Situationen, sehe ich es als größte Herausforderung, diese inneren Bewegungen abzubilden. Um so einen Krieg in Bilder zu fassen, muss man, denke ich, immer mit den Menschen sprechen. Deshalb finde ich es so wichtig, dass schreibende Journalisten und Fotografen als Team losgehen.
Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Yana Kononova
Kraftwerk in Ochtyrka | Treibstofftank am Flughafen Hostomel / Fotos @ Yana Kononova
dekoder: Guten Morgen, Yana, wie geht es Ihnen? Die russische Armee hat In der Nacht wieder Raketen auf Kyjiw geschossen. In den Nachrichten hieß es, dass 50 Menschen verletzt wurden.
Yana Kononova: Gegen drei Uhr hat mich der Alarm geweckt, aber da waren die Raketen bereits abgefangen. Die Vorwarnzeiten wurden in letzter Zeit immer kürzer. Ich lebe in einer Kleinstadt etwas außerhalb von Kyjiw. Hier steht ein großes Wärmekraftwerk, das wurde 2022 beschossen, aber nicht getroffen. Das Kraftwerk produziert etwa 60 Prozent der Energie für die Region, deshalb rechnen wir jederzeit mit einem neuen Angriff.
Zerstörte Industrieanlagen sind auch ein häufiges Motiv in Ihren Arbeiten als Fotografin. Was interessiert Sie daran?
Ich bin keine Kriegsreporterin. Mein Ansatz ist dokumentarisch-nüchtern. Gleichzeitig möchte ich zeigen, was der Krieg mit den Menschen macht. Als ich im Frühjahr 2022 zum ersten Mal Schauplätze des Krieges besuchte, sah ich am Flughafen Hostomel zerstörte Treibstofftanks, die unter der Einwirkungen von Bomben und Hitze zerquetscht und verdreht wurden. Dieser Anblick hat mich erschüttert, und mir schien, dass diese physischen Überreste einen Eindruck geben von den psychischen Traumata, die der Krieg hinterlässt, die aber für das Auge unsichtbar bleiben.
Was ist die Geschichte der Bilder, die Sie für unsere Rubrik ausgewählt haben?
Diese Bilder sind in der Nähe Ochtyrka entstanden, einer Kleinstadt in der Region Sumy im Nordosten der Ukraine. Um Ochtyrka wurde nach dem 24. Februar 2022 etwa einen Monat lang heftig gekämpft. In der Nähe wird Erdöl gefördert und es gibt ein großes Elektrizitätswerk, das mit Masut betrieben wird. Am 3. März wurde das Elektrizitätswerk von zwei Bomben getroffen. Fünf Arbeiter wurden getötet. Ich hatte mich einer Gruppe internationaler Journalisten angeschlossen, weil ich damals noch keine Akkreditierung vom Verteidigungsministerium hatte, um in die Kriegsgebiete zu reisen. Als ich von dem zerstörten Kraftwerk hörte, wollte ich unbedingt dort hin. Die Journalisten protestierten, sie hatten ihre Reportagen schon fertig und wollten zurück nach Kyjiw. Aber ich überredete den Bürgermeister, dass er uns auf das Gelände lässt. Aber als er dann kam, wollte niemand außer mir sich das zerstörte Kraftwerk ansehen. Immerhin reichte die Zeit, um ein paar Bilder zu machen. Ich fand das sehr beeindruckend. Es müssen einmal sehr moderne Gebäude gewesen sein.
Sind die Spuren, die der Krieg an Gebäuden und Industrieanlagen hinterlässt einfach besser zu sehen als die Spuren, die er bei den Menschen hinterlässt?
Ja, das war meine ursprüngliche Intention. Ich wollte nicht direkt menschliches Leid abbilden. Ich werde oft gefragt, warum ich keine Menschen zeige. Ich habe auch Menschen fotografiert, aber ich mag diese Bilder nicht besonders. Für mich wird die Unmenschlichkeit des Krieges in diesen zerstörten Landschaften besonders sichtbar, dieser Gewaltexzess, der mit menschlichem Leben nicht vereinbar ist.
Sie haben sich schon in früheren Arbeiten mit Landschaften beschäftigt. Hat der Krieg ihren Blick verändert?
Das ist eine schwierige Frage. Ich würde eher sagen, dass mir noch einmal klar geworden ist, wie die Natur Landschaften prägt und wie der Mensch Landschaften prägt, das sind zwei völlig unterschiedliche Prozesse.
Dieser Krieg ist nicht der erste, den Sie erleben. Als Sie ein Kind waren, musste Ihre Familie vor dem Armenisch-Aserbaidschanischen Krieg fliehen. Haben Sie Erinnerungen an die Heimat ihrer Kindheit?
Mein Vater war Ingenieur der sowjetischen U-Boot-Flotte. Er war auf einer Insel im Kaspischen Meer stationiert. Als nach der Auflösung der Sowjetunion der Krieg um Bergkarabach ausbrach, wurde er nach Odessa verlegt. Ich erinnere mich noch gut an die Insel. Dort hatten ursprünglich Anhänger des Zoroastrismus gelebt. Diese von Zarathustra begründeten Religion verehrt das Feuer. Später wurde dort Öl gefunden und der Ort war stark geprägt von der Erdölindustrie. Die Landschaft, in der wir als Kinder aufwachsen, prägt uns fürs Leben. Gut möglich, dass meine Faszination für große Industrieanlagen daher kommt.
Mit ihrer Kamera macht die Kyjiwer Fotografin Marysia Myanovska sich 2019 daran, den Stadtbezirk neu zu erkunden, in dem sie und ihr ein Jahr zuvor verstorbener Bruder Witali ihre Jugend verbrachten. Trojeschtschyna ist einer der größten Schlafbezirke Europas. Er liegt am linken Ufer des Dnipro und ist durch den Fluss vom Zentrum der ukrainischen Hauptstadt getrennt. In den 1970er und 1980er Jahren wurden hier gewaltige Wohnkomplexe für Fabrikarbeiter errichtet. Pläne, eine U-Bahn-Linie zu bauen, die den Bezirk mit dem Rest Kyjiws verbinden sollte, scheiterten immer wieder am Geld. So blieben die Jugendlichen, die hier aufwuchsen, weitgehend unter sich. Ohne Cafés, Bars oder Freizeiteinrichtungen verbrachten sie die meiste Zeit auf der Straße. Nachdem die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, machte das Land eine schwere Wirtschaftskrise durch und viele Bewohner von Trojeschtschyna verloren ihre Arbeit. „Mein Bruder verkörpert die erste Generation junger Menschen in der unabhängigen Ukraine”, sagt Myanovska. „Er betrat eine Welt, die geprägt war von Kriminalität, Heroin Chic, MTV, Sex und von der ersten Techno-Welle.“ Auf der Suche nach ihm lernt sie eine neue Generation kennen. Eine Generation, die die Freiheit nicht geschenkt bekam, sondern für sie kämpfen muss.
dekoder: Sie haben sich in dem Projekt Oh Brother, Where Art Thou auf die Spuren Ihres verstorbenen Bruders gemacht. Was war er für ein Mensch?
Marysia Myanovska: Ich bin 14 Jahre jünger als er, deshalb war er auch eine Vaterfigur für mich. Ich habe mehr Zeit mit ihm verbracht als mit meinem leiblichen Vater. Wenn er seine Freunde treffen wollte, sagte meine Mutter immer: „Oh, nimm Marysia mit“. Ich fand seine Freunde cool, die Musik, die sie hörten, die Klamotten, die sie trugen. Obwohl ich noch kein Teenager war, hat mich ihr Stil geprägt.
Auf den Bildern spielt das Viertel Trojeschtschyna in Kyjiw eine wichtige Rolle. Wie war es, dort aufzuwachsen?
Ich benutze gern das Wort „Ghetto“, obwohl das vielen in der Ukraine nicht gefällt. Trojeschtschyna wurde als Schlafstadt für Fabrikarbeiter gebaut. Und außer schlafen konnte man dort auch nicht viel machen. Es gab Schulen, ein paar kleine Geschäfte und ein Kino, das alte Filme aus der Sowjetzeit zeigte. Mein Bruder und seine Freunde hatten keine Computerspiele, also haben sie die meiste Zeit auf der Straße verbracht. Sie haben Sport gemacht, weil es wichtig war, stark zu sein und gut kämpfen zu können. In den 1990er Jahren verloren viele Bewohner ihre Arbeit, das Viertel wurde immer düsterer, die Kriminalität nahm zu, die Menschen hatten kein Geld und keine Perspektive und wurden immer zorniger. Zuhause liefen auf MTV Clips mit coolen Jugendlichen in teuren Klamotten, und dann gehst du vor die Türe und alles ist grau. Es gab Schießereien auf der Straße, vor unserer Schule wurde ein Mädchen getötet. Junkies warfen ihre Spritzen überall hin.
Während der Arbeit an dem Projekt begann Russland den vollumfänglichen Krieg gegen die Ukraine. Wie hat das Ihre Arbeit verändert?
Erst wusste ich nicht, wie ich weitermachen soll. Ich hatte eine Gruppe Jugendlicher begleitet, die mich an meinen Bruder und seine Freunde erinnerten, so wie ich sie als kleines Mädchen gesehen habe. Dann verstand ich, dass es wichtig ist, diesen historischen Moment zu dokumentieren, und ich habe sie einfach weiter begleitet. Mein Bruder lebte auch in einem sehr wichtigen und sehr dramatischen Moment, als die Ukraine unabhängig wurde. Seine Generation bekam die Unabhängigkeit geschenkt und wusste nicht, was sie mit ihr anfangen soll. Die jetzige Generation muss für unsere Unabhängigkeit kämpfen.
Wir hatten keine Vorstellung davon, wer wir sein wollten. Was bedeutet unabhängig sein eigentlich in der Praxis? Es war eine sehr schwere Zeit für die Generation meines Bruders. Sie mussten damit zurechtkommen, dass ihre Realität eine ganz andere war als die, die der Fernseher zeigte. Unsere Gegenwart heute ist dramatisch, und ich glaube, für die Jugend gilt das ganz besonders. Während des Krieges ist es noch schwerer, sich eine Zukunft auszumalen, Pläne zu machen, wenn du nicht weißt, ob du vielleicht an die Front musst. Du weißt ja noch nicht einmal, ob dein Land in ein paar Jahren noch existiert.
Waleri Salushny, Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, sorgte mit seinen Aussagen in einem Interview mit dem Economist und mit seiner Analyse von einer Pattsituation im Krieg in seiner Heimat für kontroverse Diskussionen. Sowohl in der Ukraine als auch im Westen. Was aber würde ein langanhaltender Stellungskrieg, in dem sich die Ukraine und Russland gegenseitig über längere Zeit aufreiben, für Belarus und für den dortigen Machthaber Alexander Lukaschenko bedeuten und vor allem für einen politischen Wandel, auf den die belarussische Opposition im Exil hofft? Dies fragt sich der Politanalyst Artyom Shraibman in seinem Beitrag für das belarussische Online-Medium Zerkalo.
Salushnys Aussagen müssen durch das Prisma seiner Rolle als Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte gelesen werden. Er ist dafür zuständig, sein Land zu befreien. Er ist weder Militäranalytiker noch hat er Spaß daran, das heimische und das westliche Publikum in tiefe Depressionen zu stürzen. Wenn dieser Artikel und das Interview veröffentlicht werden, dann bedeutet das, dass dahinter konkrete militär-politische Ziele stehen.
Diese werden offensichtlich, wenn man die ungekürzte Fassung des Textes auf Ukrainisch liest: Salushny erklärt ruhig und methodisch, welche Arten von Waffen und Kriegstechnik die ukrainischen Streitkräfte benötigen, um aus der aktuellen Sackgasse herauszukommen. Sein Text ist ein Versuch, den Bündnispartnern der Ukraine klarzumachen, dass sie keine besseren Ergebnisse auf dem Schlachtfeld erwarten können, wenn sie die Unterstützung Kyjiws mit Waffen nicht ernster nehmen. Dafür muss er den Westen wachrütteln, auch wenn das bedeutet, die unangenehme Wahrheit laut auszusprechen. Welche Folgen diese kalte Dusche haben wird, wissen wir nicht. Entweder die westlichen Partner helfen der Ukraine, aus dem von Salushny beschriebenen Dilemma herauszukommen, und der Krieg nimmt eine Wende. Oder sie machen weiter damit, die ukrainische Armee nicht für einen Sieg auszurüsten, sondern nur für die Vermeidung einer Niederlage. Wir wissen auch nicht viel über den Erschöpfungsgrad der russischen Truppen oder darüber, wie sehr ihnen die aktuelle Kriegsform langfristig schaden wird – mit regelmäßigen Angriffen mit Langstreckenraketen und Drohnen auf Lager, Schiffe und Stabsquartiere seitens der Ukraine. Ich sage das, damit wir den wichtigsten Aspekt jedes und insbesondere dieses Kriegs nicht aus den Augen verlieren: Wir können nicht in die Zukunft blicken. Was heute wie eine neue Realität auf Jahre aussieht, kann in ein paar Wochen ganz anders sein, und dann können wir alle Pläne und Prognosen, die wir in Erwartung einer jahrelangen Pattsituation erstellt haben, wieder vergessen.
Die Versuche mancher Stimmen im Westen, Druck auf Kyjiw auszuüben, doch endlich mit Moskau zu verhandeln, ignorieren die politische Realität sowohl in Russland als auch in der Ukraine
Aber es wäre auch falsch, ein solches Szenario zu ignorieren, und ich finde, es ist an der Zeit, ernsthaft darüber zu sprechen. Viele Belarussen, die sich den Wandel wünschen, so auch ich selbst, sind daran gewöhnt, sich die Zukunft im Format „vorher – nachher“ vorzustellen, mit Russlands Niederlage im Krieg als Zeitenwende. Auf lange Sicht hat diese Auffassung durchaus ihre Berechtigung. Doch Salushnys Artikel und eine nüchterne Analyse der Situation auf dem Schlachtfeld sowie der wirtschaftlichen Lage der kriegführenden Parteien legen nahe, dass das „Vorher“ noch viele Jahre lang andauern könnte.
Diese Jahre müssen nicht einmal von Waffenstillstand oder Feuerpausen begleitet sein. Die Versuche mancher Stimmen im Westen, Druck auf Kyjiw auszuüben, doch endlich mit Moskau zu verhandeln, ignorieren die politische Realität sowohl in Russland als auch in der Ukraine. Putin hat von sich aus keine Motivation, die Kampfhandlungen einzustellen – sein Regime ist untrennbar mit dem Kriegszustand verschmolzen, bezieht daraus Legitimität und Langlebigkeit. In der Ukraine wiederum ist es unmöglich, der Regierung oder den Wählern beizubringen, warum sie dem Kreml glauben sollten, dass er auch nur irgendwelche Vertragsbedingungen erfüllen und die Pause nicht für eine Nachrüstung nutzen und dann erneut zum Angriff übergehen wird.
Was die Aussicht auf Veränderungen in Belarus betrifft, ist diese Pattsituation wohl das aussichtsloseste Szenario. Ein auf Sparflamme dahinköchelnder Krieg ist für Lukaschenko politisch gesehen ein Geschenk. So haben jene Belarussen, die im Land geblieben und leicht zu verunsichern sind, stets ein Abschreckungsbeispiel vor Augen, dass das Leben noch schlimmer werden kann. Russland ist weiterhin mit dem Krieg beschäftigt und hat keine Zeit für andere Abenteuer wie etwa die Eingliederung von Belarus. Dabei ist Russlands Antrieb, Lukaschenko finanziell zu unterstützen, stärker als in Friedenszeiten, wenn eher die Buchhaltung den Ausschlag gibt. Gleichzeitig arbeitet die russische Rüstungsindustrie weiterhin auf Hochtouren und sichert auch für die belarussische Produktion eine stabile Auftragslage. Was könnten Triebfedern für einen Wandel in Belarus sein, wenn ein schwelender Konflikt im Ukrainekrieg auf Jahre zur Realität wird?
Mal abgesehen von Putins oder Lukaschenkos Tod, der irgendwann unausweichlich, aber nicht allzu vorhersehbar eintreten wird, gibt es zwei mögliche Problemquellen für Minsk: die Wirtschaft und das Wohlwollen Russlands. Wobei man sich eine Situation, in der nur einer dieser Pfeiler wegbricht und der andere bestehen bleibt, schwer vorstellen kann. Ja, eine hausgemachte Finanzkrise nach dem Muster von 2011, hervorgerufen lediglich durch Fehler der Wirtschaftsorgane, ist in Belarus durchaus möglich. Das Wachstum zum höchsten Ziel erhoben, überschwemmt die Regierung den Markt schon jetzt mit billigem Geld und hält die Preise mithilfe von administrativen Maßnahmen niedrig. Wirtschaftsexperten warnen vor der Gefahr, dass diese Blase platzen könnte.
Es gibt zwei Szenarien, die zu ernsthaften wirtschaftlichen Konflikten zwischen Minsk und Moskau wie in alten Zeiten führen könnten
Doch für sich genommen bringt eine Wirtschaftskrise zwar noch mehr Volatilität in die allgemeine Situation im Land, aber nicht zwangsläufig politische Probleme für Lukaschenko. Solange er die Gesellschaft fest in seiner Gewalt hat und die Loyalität zu Moskau aufrechterhält, wird Putin immer ein paar Milliarden übrig haben, um in Belarus einen Brand zu löschen.
Schlimmer für ihn wäre es, wenn die Krise durch eine bewusste Entscheidung Moskaus ausgelöst würde, den Hahn abzudrehen: Weniger Hilfe zu leisten, als Minsk gerne hätte, oder die Verluste durch eine sich verschlechternde Wirtschaftslage weltweit und in Russland nicht mehr auszugleichen. Eine solche Verschlechterung könnte vieles provozieren – von stark fallenden Rohölpreisen und einer neuerlichen russischen Rezession bis hin zur Verdrängung belarussischer Waren vom russischen Markt durch die Konkurrenz aus China.
Es gibt zwei Szenarien, die zu ernsthaften wirtschaftlichen Konflikten zwischen Minsk und Moskau wie in alten Zeiten führen könnten. Erstens, wenn Putin etwas fordert, das Lukaschenko ihm nicht geben will (eine stärkere Integration oder allzu unangenehme militärische Zugeständnisse), und zweitens, wenn Minsk allzu offen den Dialog mit dem Westen wiederherzustellen versucht. Ersteres hängt in hohem Maße von den Launen der russischen Regierung ab und ist deswegen schwer prognostizierbar. Hier gibt es viele Variablen – von Putins persönlicher Lust, den Retter zu spielen, bis hin zur Kriegsmüdigkeit der russischen Gesellschaft, die dazu führen könnte, dass der Kreml die Aufmerksamkeit auf neue außenpolitische Siege lenken will, etwa die Vereinigung mit Belarus. Beim zweiten Szenario – Moskau fühlt sich von einem neuerlichen Flirt zwischen Minsk und dem Westen provoziert – gibt es ebenfalls viele Unbekannte. Doch je länger der Stellungskrieg in der Ukraine dauert, desto höher stehen die Chancen für eine solche Neuaufnahme des Dialogs.
Nach den Wahlen 2025 werden die Proteste und die Gewalt von 2020 für die neue Generation europäischer und amerikanischer Politiker in ferner Vergangenheit und für die meisten vor ihrer Zeit liegen. Die politischen Gefangenen werden zum Teil wieder frei sein, also ist nicht ausgeschlossen, dass ihre Zahl im Vergleich zu heute geringer sein wird. Die belarussische Beteiligung am Einmarsch in der Ukraine 2022 wird den westlichen Regierungen, wenn Lukaschenko sie nicht selbst daran erinnert, noch weniger präsent sein als der Krieg selbst. In diesem Szenario wird der Krieg für den Westen leider genauso zur Routine werden wie vor dem 24. Februar 2022. Im Westen wird es immer mehr und immer einflussreichere Stimmen geben, die eine gezielte Lockerung der Sanktionen für Belarus wollen und dafür nur eine Forderung stellen: die Freilassung der restlichen politischen Häftlinge.
Wird Lukaschenko in seinem Dialog mit dem Westen Putins rote Linien überschreiten?
Bis dahin wird die Idee, dass man Lukaschenkos Regime mit Sanktionen zu Fall bringen kann, wenn man nur noch ein kleines bisschen ausharrt, endgültig verworfen sein. So werden die Sanktionen allmählich ihre heutige „Immunität“ verlieren. Minsk wird seinerseits immer noch an der Aufhebung dieser Beschränkungen interessiert sein, vor allem, wenn sich der wirtschaftliche Effekt durch das explosionsartige Wachstum der russischen Rüstungsindustrie und ihrer Nachfrage nach belarussischen Gütern langsam erschöpft.
Wird Lukaschenko in seinem Dialog mit dem Westen Putins rote Linien überschreiten? Werden diese roten Linien wiederum noch unflexibler werden, je älter Putin wird und je mehr sein Regime verpuppt? Wird es neue Phänomene geben, die den zivilen Widerstand in Belarus anheizen, so wie 2020 die Pandemie? An den „Krieg im Hintergrund“ wird sich mit der Zeit nicht nur der Westen gewöhnen, sondern auch die belarussische Gesellschaft, sodass das Argument von „Lukaschenko als Friedensgarant“ an Überzeugungskraft verlieren wird.
All diese Fragen sind für unsere Zukunft von größter Bedeutung. Im Moment müssen wir jedoch davon ausgehen, dass ein Wandel in Belarus kaum vorstellbar ist, solange Putin und Lukaschenko an der Macht und die Beziehungen zwischen Minsk und Moskau intakt sind. Was die Aussicht auf eine Demokratisierung in Belarus betrifft, so wird diese wiederum nur möglich, wenn sich Moskau entweder als unfähig erweist oder das Interesse daran verliert, eine prorussische Diktatur in unserem Land aufrechtzuerhalten. Die Fortsetzung eines festgefahrenen Stellungskriegs in der Ukraine, wie von Salushny beschrieben, befreit Lukaschenko nicht von allen potenziellen Problemen der nächsten Jahre. Von allen Alternativen dürfte sie jedoch das entspannteste Szenario für ihn sein.
Melitopol im Süden der Ukraine fiel schon im Februar 2022 unter russische Kontrolle. Seitdem wurde die Stadt zur Hochburg des ukrainischen Widerstandes gegen die Besatzer. Und gleichzeitig, wie iStories berichtet, zum „größten Gefängnis Europas“, wo Russland hunderte Zivilisten entführt und foltert. Polina Ushwak hat mit Menschen gesprochen, die Opfer dieses Terrors wurden.
„Mama, ich war in der Hölle“ – die Videoreportage zum Material von iStories mit englischen Untertiteln
Bereits am 25. Februar 2022 kam die russische Armee nach Melitopol. In den ersten Tagen beschimpften die Stadtbewohner die Besatzer, forderten sie auf, ihr Staatsgebiet zu verlassen. „In der ersten Woche reagierten sie [die russischen Soldaten] zurückhaltend, vermieden den Kontakt. Wenn die Leute sie fragten: ‚Was wollt ihr hier? Haut ab!‘ senkten sie den Blick und schauten weg. Erst später, als sie sich ein bisschen eingelebt hatten, zeigten sie Zähne – sie errichteten Kommandanturen und Foltergefängnisse. Immer mehr Menschen verschwanden …“, erinnert sich der 29-jährige Maxim Iwanow, ein Landschaftsdesigner aus Melitopol.
„Umerziehung“ mit dem Gummiknüppel
Zum ersten Mal wurden Maxim und seine Freundin Tatjana Bech Anfang April entführt. „Ich hatte eine kleine [ukrainische] Flagge bei mir. Als ein Panzer an uns vorbeifuhr, habe ich sie aus der Tasche gezogen und gerufen: ‚Verpisst euch aus unserem Land.‘ Der Panzer hielt an, und mich umzingelten an die zehn Männer, sie schmissen die Flagge auf den Boden und trampelten darauf herum. Dann sagten sie: ‚Ihr kommt jetzt mit zur Umerziehung.‘“
Maxim und Tatjana mussten die Nacht in der Kommandantur verbringen. Da waren auch andere, die wegen einer proukrainischen Haltung oder Verstoß gegen die Ausgangssperre festgehalten wurden. „Sie [die russischen Soldaten] haben gesagt: ‚Du hast doch Ruhm der Ukraine gerufen? Ruf jetzt Ruhm für Russland!‘ Ich habe geantwortet, dass ich so einen Scheiß nicht rufen werde. Da haben sie mit Gummiknüppeln auf mich eingeschlagen. Damals kamen mir diese Schläge heftig vor.“ Am nächsten Tag mussten Maxim und Tatjana unterschreiben, dass sie keinerlei Beschwerden hätten, und durften gehen.
Erst wurden vor allem Leute aus den einheimischen Behörden entführt. Später dann Lehrkräfte, die weiter nach ukrainischen Standards unterrichteten
Im März häuften sich solche Entführungen. Ein Notfalltelefon wurde eingerichtet (Entführt in Melitopol). Dort konnte man anrufen, wenn ein Angehöriger entführt wurde. Man wurde beraten, was man tun und welche Behörden man informieren soll. Außerdem erhielt man psychologischen Beistand.
Natalja, eine Mitarbeiterin des Call-Centers, erzählt, kurz nach der Besatzung seien vor allem Leute aus den einheimischen Verwaltungsbehörden entführt worden. Zum Herbst hin, als die Besatzungsmacht einen russischen Lehrplan vorschreiben wollte, begannen die Entführungen von Schulleitungen und Lehrkräften, die weiter nach ukrainischen Standards unterrichteten. „Dann kamen die Bauern dran. Es gab auch eine Phase, in der sehr viele Veteranen der ATO [Antiterroristische Operation, wie der Krieg im Donbass von 2014 bis 2018 genannt wurde, ab 2018 hieß er ,Operation der vereinten Kräfte‘ – iStories] entführt wurden“, erzählt Natalja. „Und viele Geschäftsleute, um Lösegeld zu erpressen.“
Seit Ausbruch des vollumfänglichen Angriffskriegs verzeichnen Mitarbeitende des Notfalltelefons 311 Entführungen, 107 Menschen sind nach wie vor in Geiselhaft, zu 56 Personen liegen keine Informationen vor. Nach Einschätzung der Mitarbeitenden des Notfalltelefons Entführt in Melitopol ist die Dunkelziffer der Entführungen dreimal so hoch.
500.000 Rubel für Denunzianten
Am Morgen des 22. August verließen Maxim Iwanow, der wegen der ukrainischen Flagge „zur Umerziehung“ festgenommen worden war, und seine Freundin Tatjana ihre Wohnung. Sie wollten zum Tag der Unabhängigkeit der Ukraine (24. August) Flyer kleben, doch sie schafften nur ein paar wenige. „Dann kam die sogenannte Polizei. Sie durchsuchten uns und fanden die Flyer, und außerdem noch Nachrichten auf meinem Handy an einen Menschen, dem ich Koordinaten [von russischem Militärgerät] übermittelt hatte.“ Sie warfen Maxim zu Boden, fesselten ihn und steckten ihn in den Kofferraum. So wurden Tatjana und er zum zweiten Mal festgenommen und auf das Polizeirevier in der Tschernyschewski-Straße gebracht.
Tatjana ist sich sicher, dass ein Einheimischer sie denunziert hat. „Die Leute bekommen Geld dafür, dass sie es gleich per Anruf melden, wenn sie etwas sehen. Diesmal haben wir mit der Klebeaktion im Stadtzentrum angefangen. Sobald wir bei den Wohnhäusern waren, war fünf Minuten später die Polizei da – jemand hatte uns verpetzt.“
In manchen Bezirken hat die Besatzungsmacht eigene Telegram-Bots eingerichtet, wo jeder Informationen über „Saboteure“ hochladen kann. Bei einer Festnahme der beschuldigten Person soll der Denunziant angeblich 500.000 Rubel [etwa 5200 Euro – dek] bekommen.
„Ich habe die Koordinaten von Truppenbewegungen und Militärgerät in Melitopol und Umgebung bei einem Chat-Bot hochgeladen. Das war sehr riskant, aber ich wollte diese Dämonen aus unserer Stadt verbannen und weiß, dass das richtig war …“, erzählt Maxim.
Schon beim ersten Verhör wurde er auf dem Polizeirevier geschlagen, ihm wurden mehrere Rippen gebrochen. Sie sind auch ein Jahr später noch nicht verheilt. Am nächsten Tag wurde er zu den Garagen unter der Brücke nach Nowy Melitopol gebracht und abermals brutal zusammengeschlagen.
Du krepierst hier und keiner kriegt es mit
„Sack über den Kopf und raus. Sie schubsen mich, ich falle. Sie schlagen mit einer Eisenstange und irgendwelchen Stöcken auf mich ein. Auf die Brust, auf den Rücken. Dann stülpen sie mir einen Eimer über den Kopf und hämmern darauf ein. Ich fiel immer wieder hin, verlor mehrmals das Bewusstsein. Ich habe nichts mehr gespürt. Später sah ich, dass meine großen Zehen gebrochen waren, das musste beim Hinfallen passiert sein. Sie konnten mich jeden Moment umbringen. Ich habe gefragt, ob ich meine Eltern anrufen kann, um mich zu verabschieden. Vergiss es, hieß es, du krepierst hier und keiner kriegt es mit. Dann brachten sie mich in eine Garage und ließen mich dort zurück. Ich öffnete die Augen: Das Blut rann nur so an mir herunter, es war überall“, erinnert sich Maxim Iwanow.
Am nächsten Tag gingen die Misshandlungen weiter. „Es war immer das Gleiche. Ich stand da mit dem Gesicht zur Wand, sie kamen rein und schlugen mir von hinten auf die Rippen, richtig heftig, und auf den Nacken.“ Am fünften Tag wurden Maxim und andere Gefangene zum Duschen nach draußen gebracht. „Da war nur ein Wasserschlauch. Aber wir haben uns gefreut, wir hatten uns so lange nicht gewaschen. Ich zog mich aus, da fingen die Aufseher an zu tuscheln, dann sagte einer: ‚Der ist fertig, nehmt ihn mit.‘ Wahrscheinlich haben sie gesehen, dass mein Rücken und meine Rippen komplett schwarzblau waren, und entschieden, dass es reicht.“
Alles „ganz zivilisiert“?
Vor dem Krieg lebte der 23-jährige Leonid Popow bei seiner Mutter in der Oblast Poltawa. Ende 2021 kam er nach Melitopol, um mit seinem Vater Neujahr zu feiern, bei Kriegsbeginn war er immer noch dort. Von den ersten Tagen der Besatzung an führte er Tagebuch, er notierte alles, was er sah: dass ständig Schüsse zu hören waren; dass die Leute durchdrehten und Lebensmittelläden plünderten, dass er einen erschossenen Mann auf der Straße liegen sah. Seine Mutter Anna flehte Leonid immerzu an, sich evakuieren zu lassen, solange es noch gehe, aber er wollte nicht. „Nein, Mama, gerade jetzt, wenn in der Stadt so etwas passiert, gehe ich nicht weg. Ich werde hier gebraucht“, antwortete er. Anna erzählt, sie habe ihrem Sohn Geld für den Lebensunterhalt geschickt, mit dem er Bedürftige in Melitopol und Geflüchtete aus Mariupol unterstützte.
Im Mai 2022 wurde Leonid zum ersten Mal entführt. Er verließ das Haus, um ein Schawarma zu kaufen, da wurde er in ein Auto gezerrt und in eine Kommandantur gebracht. Dort kam er erst nach drei Tagen wieder raus. Seiner Mutter erzählte er nicht, was in diesen drei Tagen geschah. Dass ihr Sohn gefoltert wurde, erfuhr sie erst von ihrem Ex-Mann. „Betrunkene Kadyrowzy haben ihn an der Wand fixiert, sie haben gelacht und mit Messern nach ihm geworfen, ihn mit Stromschlägen gequält. Er weiß bis heute nicht, warum sie ihn entführt haben. Vor der Freilassung haben sie ihm seinen Pass weggenommen und gesagt, er soll sich einen russischen besorgen – das hat er alles seinem Vater erzählt“, sagt Anna.
Auch Leonids jüngerer Bruder Jaroslaw blieb nicht von den massenhaften Entführungen verschont. Als im Mai 2022 alle Handynetze der Stadt darniederlagen, ging er – wie viele andere – nach der Sperrstunde noch raus, um ein Signal zu suchen. Alle wurden festgenommen und auf eine Kommandantur gebracht. Anna erzählt, ihr Sohn sei mit etwa 30 Personen in einer sehr engen Zelle gewesen.
Wenn ihr ihm nicht das Maul stopft, knallen wir euch alle ab
Laut Jaroslaw sei darunter ein psychisch kranker oder betrunkener Mann gewesen. Er habe die ganze Zeit geschrien und Radau gemacht. „Die Soldaten sagten: ,Wenn ihr ihm nicht das Maul stopft, knallen wir euch alle ab wie junge Katzen.‘ Da haben die Leute Angst bekommen, haben zu mehreren auf den Mann eingeprügelt. Als er trotzdem weiter schrie, haben sie angefangen ihn zu würgen, damit er aufhört. Bis er tot war. Ich habe meinen Sohn gefragt: Und was hast du gemacht? Er sagte, er habe sich weggedreht, mit dem Finger in der Mauer gepult und zum ersten Mal in seinem Leben gebetet“, erzählt Anna die Erinnerungen ihres Sohnes nach.
Auch nach seiner ersten Entführung und der Folter mit Stromschlägen weigerte sich Leonid Popow, Melitopol zu verlassen. Er verbrachte ein Jahr in der besetzten Stadt und war erst im April 2023 bereit, sich von freiwilligen Helfern rausbringen zu lassen. Doch zwei Tage vor der geplanten Abreise verschwand er.
Bei der Polizei, an die Leonids Vater sich wandte, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben, sagte man ihm, dass sein Sohn höchstwahrscheinlich von Soldaten mitgenommen worden sei. „Machen Sie sich keine Sorgen. Das ist nur so ein Kontrollverfahren, sie halten ihn zwei Wochen fest und lassen ihn wieder laufen. Alles ist gut, machen Sie sich keine Sorge, alles läuft ganz zivilisiert“, erzählt Anna die Worte ihres Ex-Mannes nach. „Das ist ja deren Lieblingssatz: Alles ganz zivilisiert“, kommentiert sie.
Drei Monate nach der Entführung brachten Soldaten Leonid mit akuter Unterernährung ins Krankenhaus
Leonid kam nicht frei – nicht nach zwei Wochen und auch nicht nach zwei Monaten. Vertreter der zivilen und der Militärpolizei setzten sich mit seinen Eltern in Verbindung und versprachen, ihn zu finden. Aber Anna erfuhr erst von einem anderen Entführten, der mit Leonid in einer Zelle gewesen war, was mit ihrem Sohn passiert ist.
„Im Juni hat ein Mann Leonids Vater angerufen und gesagt, er sei mit unserem Sohn im Keller einer Kommandantur festgehalten worden. Er sagte, dass es Leonid sehr schlecht geht. Er liege da und bewege sich nicht, sei völlig abgemagert und flüstere ständig: ‚Ich hab Hunger.‘ Er erzählte, dass sie dort nur alle zwei, drei Tage ein bisschen Wasser kriegen. Essen bekommen sie auch nicht jeden Tag und immer nur sehr wenig. Außerdem sei das Zeug ungenießbar, schlimmer als Hundefutter. Und sie würden geschlagen.“
Anna befürchtete, dass sich die psychische Erkrankung ihres Sohnes in Geiselhaft verschlimmern könnte. Mit 17 wurde bei Leonid Schizophrenie festgestellt. Dank einer Therapie konnte eine Remission erreicht werden, doch die Ärzte warnten Anna, dass sich Leonids Zustand bei starkem Stress verschlechtern und er auf die intellektuellen Fähigkeiten eines Zehnjährigen zurückfallen könnte.
In Geiselhaft wurde Leonids Gesundheitszustand kritisch. Drei Monate nach der Entführung brachten ihn Soldaten mit akuter Unterernährung ins Krankenhaus: Bei einer Größe von 1,95 m wog er nur noch 40 Kilo.
Während des Krankenhausaufenthaltes gelang es Leonid, vom Handy seines Zimmernachbarn ein paar Nachrichten an seine Mutter zu schicken. „Ich hatte in der Zelle solche Angst vor dem Einschlafen. Angst, dass sie wiederkommen und mich würgen, zu Tode quälen. Durst hatte ich auch so sehr, sie gaben uns nichts zu trinken. Und Hunger. Außerdem haben sie mich heftig geschlagen. So fest, dass ich vier Tage lang nicht auf die Toilette konnte. Weswegen, Mama? Vielleicht weißt du, was ich getan habe?“, schrieb er an seine Mutter.
Gegen Leonid wurde nie eine offizielle Anklage erhoben. Seinem Vater wurde nur mündlich mitgeteilt, Leonid sei festgenommen worden, weil er Militärtechnik fotografiert und Kontakt zur ukrainischen Armee gehabt habe. Beweise wurden dafür keine geliefert.
Mit einer Tüte über dem Kopf und Elektroden am Arm
Anhand von Gesprächen mit Menschen, die Entführungen und Folter überlebt haben, und mit Angehörigen von Menschen, die immer noch in Gefangenschaft sind, konnten wir fünf Adressen ausmachen, wo man die Entführten festhält.
Meistens kommen sie in die Kommandanturen. Eine befindet sich in einem ehemaligen Gebäude der Verkehrspolizei auf der Alexejewa-Straße 26, eine andere auf der Tschernischewski-Straße 37, in einer ehemaligen Polizeidienststelle für den Kampf gegen organisierte Kriminalität.
Leonid Popow wurde auf der Alexejewa-Straße festgehalten, bis er akut unterernährt war. Das Gebäude der Verkehrspolizei ist überhaupt nicht als Haftanstalt geeignet.
Die Räume, in denen verhört und gefoltert wird, befinden sich direkt neben den Zellen. Deswegen können die Gefangenen hören, wie andere gefoltert werden. Die schlimmste Folter kommt zum Einsatz, wenn jemand in der ukrainischen Armee gekämpft hat oder der Weitergabe von Koordinaten verdächtigt wird.
Das Wasser hat so gestunken, dass ich es nicht trinken konnte
Bei seiner ersten, dreitägigen Entführung hielt man Leonid in der Tschenyschewski-Straße fest. Dorthin kamen auch Maxim und Tatjana. Maxim wurde am Folgetag in die Garagen unter der Brücke nach Nowy Melitopol verschleppt, wo er weiter misshandelt wurde. Tatjana wurde durchsucht, sechs Stunden lang verhört und dann in einen Container im Innenhof der Kommandantur gesperrt. „Da war ein Parkplatz, auf dem ein Container stand, wie für Frachtschiffe. Ohne Fenster, eine Tür war hineingesägt, die abgeschlossen werden konnte. Es war August – tagsüber unerträglich heiß und nachts sehr kalt. Da drin gab es zwei Bänke und einen Hocker. Auch Wasser stand da, aber es hat so gestunken, dass ich es nicht trinken konnte. In den ersten Tagen bekam ich nichts zu essen. Später brachte mir irgendein Koch was. Auf die Toilette durfte ich nur zwei Mal am Tag, aber das war unmöglich. Ich fand einen kleinen Eimer und machte da rein, das kippte ich ihnen später am Eingang vor die Füße.“
Nach dem Container und den Misshandlungen wurden Maxim und Tatjana auf das Polizeirevier in der Getmanskaja-Straße gebracht. Dort saßen sie in verschiedenen Zellen. Tatjana wurde in Ruhe gelassen, aber Maxim wurde auch hier schwer misshandelt.
Sie machen den Strom erst aus, wenn ich nicht mehr schreie, sondern wegkippe
„Zwei Männer kommen rein. Tüte übern Kopf, die sie mit Klebeband so umwickeln, dass ich kaum Luft bekomme. Ich soll mich auf den Boden setzen, sagen sie. Dann spüre ich, wie sie mir Zangen an die Zehen machen, wie so Klemmen …“, erzählt Maxim. „Mittlerweile kann ich ruhig darüber reden. Aber sobald ich es mir wieder bildlich vorstelle … Sie verpassen mir Stromschläge, ich schreie. Sie fragen mich nach dem ukrainischen Sicherheitsdienst, nach Soldaten, nach der Polizei. Ich sage ihnen, ich kenne niemanden, ich habe ja nicht einmal Kontakt zur Polizei, mit dem SBU hatte ich überhaupt noch nie zu tun. Aber die meinen: ‚Du lügst!‘ Sie verpassen mir Stromschläge, zwanzig Minuten lang. Lassen den Strom sieben Sekunden laufen und machen erst aus, wenn ich nicht mehr schreie, sondern wegkippe. Ein paar Sekunden später wieder.“
Um den Lärm zu übertönen, schalteten die Folterer von 8 bis 22 Uhr laute Musik ein, wie uns alle erzählten, die die Folter erlebt haben. Maxim erinnert sich, dass die russische Nationalhymne dabei war, und viel „suizidales Zeug“, Songs über den Tod, aber auch russische Pop- und Rockmusik: Gasmanow, Morgenshtern, Instasamka, Korol i Schut, Aria. Es war auch der Song Das geht vorbei von Pornofilmy dabei, darin heißt es:
„Mit einer Tüte überm Kopf und Elektroden am Arm sitzt mein Russland im Knast aber glaub mir: Das geht vorbei!“
Inoffizieller Clip zum Song Das geht vorbei der seit 2022 im Exil lebenden Punkband Pornofilmy
„Seltsam, dass sie das dort gespielt haben“, wundert sich Maxim. „Aber uns tat es gut, es gab Hoffnung, dass der, der die Playlist zusammenstellte, noch nicht völlig hinüber war.“
Ganz konnte die Musik die Schreie der gefolterten Häftlinge dennoch nicht übertönen. „Es gab Tage, an denen es still war, aber die meiste Zeit wurde irgendwo gefoltert. Man hörte, wie jemand geprügelt wurde. Hörte Schreie. Manchmal schrie jemand ‚Hilfe, Gnade, es reicht, bitte‘, manchmal war es einfach nur ein langes: ‚A-a-a-a‘“, beschreibt Maxim die Zustände in den Zellen.
Manche Häftlinge hielten es nicht aus und begingen Suizid. „Der Wärter schaute in die Zelle, griff zum Handy und meldete nur, es habe sich einer die Pulsadern aufgeschlitzt. Danach hörte man, wie sie den Leichnam verpacken und in irgendetwas einwickeln“, erinnert sich Maxim an einen solchen Fall. Von Suiziden erzählten uns auch andere Entführte.
Die Militärs haben das Sagen
In der besetzten Stadt existieren weiterhin eine Staatsanwaltschaft, ein Ermittlungskomitee und die Polizei. Aber in Wirklichkeit haben allein die Militärs das Sagen.
Als Leonid im Krankenhaus lag, rief jemand vom Ermittlungskomitee seinen Vater an und sagte, gegen Leonid gebe es kein laufendes Verfahren, er könne seinen Sohn abholen. „Ich habe mich so gefreut! Er ist frei! Ich habe schon einen Fahrer gesucht, um zu ihm nach Melitopol zu kommen“, erinnert sich Leonids Mutter an ihre damaligen Gefühle. Die Freude währte nicht lange.
Leonids Vater brachte ihn nach Hause. Aber kaum waren sie aus dem Wagen gestiegen, hielt ein schwarzer Niva mit getönten Scheiben neben ihnen. Ein Soldat stieg aus – es war derjenige, der Leonid in der Kommandantur das Essen gebracht hatte – und sagte, niemand habe ihn freigelassen. „Er hielt ihm die Tüte hin und sagte, so laufe das nun mal. Leonid hat sie sich selbst über den Kopf gezogen“, erzählt Leonids Vater von der dritten Entführung.
Beim Ermittlungskomitee sagte man Leonids Eltern, man habe keinen Einfluss auf das Militär. „Bei uns laufen Untersuchungen, um seinen Aufenthaltsort festzustellen. Bei uns ist er nicht. Wenden Sie sich an die Militär-Kommandantur. Wir haben das auch schon getan, aber wir können Ihnen die Antwort nicht mitteilen – Ermittlungsgeheimnis“, sagte die Ermittlerin, die für Leonid Popows Fall zuständig ist.
Nicht nur russische Soldaten
Doch an dem System der Entführungen sind nicht nur russische Soldaten beteiligt. Nach ihrer Freilassung konnte Tatjana Bech den Ermittler Alexander Kowalenko identifizieren. Er hatte ihr erstes Verhör geführt. Vor dem Krieg war er in Melitopol bei der ukrainischen Polizei gewesen.
Nach Leonids Entführung nahmen drei Männer Kontakt zu seinen Eltern auf. Der erste sagte, er sei ein Ermittler von der zivilen Polizei. Er stellte sich nicht vor, sondern sagte: „Schreiben Sie einfach Fox.“
Später rief Leonids Vater jemand an, der stellte sich als Militärpolizist vor und schlug ein Treffen vor. Er sagte, Leonid gehe es gut, er bekomme zu essen und werde nicht misshandelt, festgenommen habe man ihn, weil er Militärgerät fotografiert habe. Wir fanden heraus, dass es sich bei dem Anrufer um Igor Kara handelte, einen ehemaligen Ermittler aus Mariupol. Als wir ihn anriefen, stritt er zunächst ab, Leonid Popow zu kennen, später gab er zu, mit dessen Vater gesprochen zu haben. Dann verwies er auf das Ermittlungskomitee: „Dort ist er vermisst gemeldet. Das Ermittlungskomitee kümmert sich um die Suche.“
Der dritte Mann, zu dem Leonids Eltern nach seiner Entführung Kontakt hatten, war ebenfalls von der Militärpolizei und hieß Lew. Anfangs gab er vor, nach Leonid zu suchen. Aber als Leonids Eltern von einem anderen ehemaligen Häftling erfuhren, dass sich ihr Sohn in der Kommandantur befindet, erklärte Lew sich bereit, Lebensmittel zu überbringen. Er war es auch, der Leonid abholte, als er zum dritten und letzten Mal entführt wurde. Mittlerweile haben alle drei Männer Annas Nummer blockiert und den Kontakt abgebrochen.
Ich kroch auf allen vieren und pinkelte Blut
Maxim und Tanja wurden nach der Folter gezwungen, bei einem Propagandavideo über ein Attentat auf Jewgeni Balizki mitzumachen, den Vorsitzenden der Besatzungsverwaltung der Oblast Saporishshja. Kurz danach wurde Tatjana freigelassen. Maxim wurde noch einen weiteren Monat misshandelt. Nach zwei Monaten Gefangenschaft und Misshandlung war Maxims Zustand kritisch. „Ich konnte nicht mehr richtig gehen, ich kroch auf allen vieren und pinkelte Blut“, erinnert er sich. Ende Oktober 2022 wurde er auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet deportiert – unter der Bedingung, dass er den Russen von dort per Telegram Koordinaten der ukrainischen Armee durchgibt. Der Ermittler hatte den Namen eines Telegram-Kanals auf einen Zettel geschrieben und ihn Maxim in die Hosentasche gesteckt.
Zu Fuß bis zum ukrainischen Kontrollposten
Man brachte Maxim bis Wassiljewka, zum letzten Kontrollposten auf besetztem Gebiet. Damals konnte man von dort noch zum ukrainisch kontrollierten Teil der Oblast Saporishshja gelangen – mittlerweile haben die Russen diesen Weg blockiert.
„Sie haben vor der Kamera ein Urteil gesprochen, dass ich in Melitopol eine Persona non grata sei“, erinnert sich Maxim. „Danach lief ich 40 Kilometer zu Fuß von Wassiljewka bis [zum ukrainischen Kontrollposten in] Kamenskoje. Es war die Hölle. Kamenskoje ist eine Grauzone, da sind auf einem Hügel unsere Jungs, und auf dem nächsten diese Wichser. Und ständig wird geschossen. Ich konnte einfach nicht mehr. Ich wollte irgendwo klopfen und fragen, ob ich übernachten könnte, aber das Dorf war tot, die Häuser zerstört. Ich fand eine verlassene Tankstelle und verbrachte die Nacht dort. Es war kalt – Ende Oktober. Raureif überall, meine Füße waren Eiszapfen. Ich fand ein Stück Glaswolle und deckte sie damit zu. Und ständig Schüsse. Es schlägt irgendwo neben mir ein, und ich höre die Erde herunterprasseln. Ich dachte schon, diese Tankstelle würde mein Grab.“
Ich habe die ukrainische Flagge gesehen und bin auf die Knie gefallen
Bei Sonnenaufgang erreichte Maxim einen Kontrollposten. „Ich habe die ukrainische Flagge gesehen und bin auf die Knie gefallen – ich hätte weinen können. Ich dachte, sie bringen mich gleich um, weil ich keine Papiere bei mir habe. Aber unsere Jungs haben mir etwas zu essen gegeben, mir Kaffee eingeschenkt und mich beruhigt. Es kamen ein paar Polizisten, sie brachten mich nach Saporishshja. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, fühlte ich gar nichts mehr. Ich konnte nicht glauben, dass das alles wahr war: dass ich die Sonne sehe, frische Luft atme und nicht beim kleinsten Geräusch zusammenzucken muss.“
Tatjana war schon einen Monat vorher ausgewiesen worden. Heute lebt sie mit Maxim in Saporishshja. Sie arbeitet in einer Fabrik, Maxim kann noch nicht arbeiten, weil er von der Folter zu viele Verletzungen davongetragen hat, und nicht nur körperliche. „Es ist fast ein Jahr her, aber für mich fühlt es sich an wie eine Woche“, sagt Maxim. „Bei der kleinsten Beugung nach vorn habe ich furchtbare Schmerzen, denn mit den Rippen ist es leider nicht so wie mit einem Bein, man kann sie nicht eingipsen, deswegen weiß ich gar nicht, wie sie zusammengewachsen sind. Meine Zehen sind falsch zusammengewachsen. Ich habe oft Albträume. Früher kannte ich so etwas nicht. Je länger die Ereignisse zurückliegen, desto häufiger erinnert mich mein Unterbewusstsein daran … Viele glauben mir bis heute nicht, sie sagen: Was für eine Folter denn im 21. Jahrhundert? Aber ich habe es erlebt, genau wie tausend andere Männer und Frauen, und es passiert auch heute noch.“
Den Erlass zur „Ausweisung von Bürgern, die an Terrorakten beteiligt waren“ hat der Verwaltungsvorsitzende der besetzten Oblast Saporishshja im Juli 2022 unterschrieben. Die Verwaltung stufte die Deportation als „die humanste Strafmaßnahme“ ein. Die Vorgangsweise wurde gefilmt: Den Folteropfern mit Säcken über dem Kopf wurden ihre „Urteile“ verlesen und anschließend befohlen, zum ukrainischen Kontrollposten zu laufen, der sich mehrere Dutzend Kilometer entfernt befand. Vielen bekamen ihre Ausweispapiere nicht zurück. Die letzte uns bekannte Ausweisung war im Januar 2023, seitdem wurden keine entführten Menschen mehr aus der Stadt gelassen.
Anna Machno weiß nicht, wo ihr Sohn ist und was mit ihm passiert ist. Seit seiner letzten Entführung sind fünf Monate vergangen. Beim russischen Verteidigungsministerium behauptet man, Leonid sei nie von russischen Soldaten festgenommen worden. Das Ermittlungskomitee in Melitopol führt Scheinermittlungen durch, obwohl eindeutige Beweise vorliegen, dass Leonid entführt und gefoltert wurde. Die russische Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa lässt Leonids Mutter bereits seit zwei Monaten auf Antwort warten.
dekoder: Sie haben gerade einen Monat lang als „Artist in residence“ in Kyjiw gearbeitet. Warum geht man als Künstler in ein Land, das sich im Krieg befindet?
Norman Behrendt: Der Düsseldorfer Maler Paul Maciejowski hatte die Idee, Künstlern aus Deutschland einen Aufenthalt in Kyjiw zu ermöglichen. Der Titel Ich komme und sehe trifft es sehr gut: Nach bald zwei Jahren sind wir alle ein bisschen abgestumpft und viele wollen nichts mehr vom Krieg hören. Dort hinzufahren, den Alltag zu erleben und den Menschen zu begegnen, war unser Ziel. Als Künstler teilen wir unsere Erfahrungen aus dieser Zeit und können so weiter für das Thema sensibilisieren. In meiner Arbeit beschäftige ich mich schon länger mit der Architektur von Metro-Systemen; da war ich neugierig zu sehen, wie sich die Metro in Kyjiw von einem Transportsystem zu einem Schutzraum verwandelt.
Dieses Foto ist auch in einem Luftschutzbunker entstanden. Wie kam es dazu?
Bevor ich nach Kyjiw kam, habe ich mich gefragt, ob ich dort überhaupt konzentriert arbeiten kann, oder ob ich ständig von Fliegeralarm unterbrochen werde. Tatsächlich hat es fast zwei Wochen gedauert, bis wir zum ersten Mal einen Alarm hatten. Unser Atelier war in einem großen Gebäude, in dem zu Sowjetzeiten das Institut für Automation untergebracht war. Seit einigen Jahren arbeiten dort verschiedene Künstlergruppen. Da gibt es im Keller einen richtigen Bunker mit dicken Betonwänden und schweren Stahltüren. In Kyjiw haben alle auf ihren Handys eine App, die bei Angriffen anzeigt, wo der nächste Schutzraum ist. Aber es kamen gar nicht so viele Menschen in diesen Schutzraum. Die ukrainischen Künstler haben einfach weiter gearbeitet. Die Flugabwehr fängt ja glücklicherweise das Meiste ab.
Das war in den ersten Tagen des russischen Überfalls anders. Auf der Tafel, die dort an der Wand hängt, hat jemand bei jedem Alarm das Datum notiert …
In dem Bunker suchen auch viele Leute Zuflucht, die in der Nähe wohnen oder arbeiten, auch Familien mit Kindern. Diese Daten vermitteln etwas von dem bedrückenden Gefühl, jeden Tag in diesen Bunker zu müssen. Und niemand weiß, wie lange das dauern wird. Ende März hören die Aufzeichnungen auf, aber wir wissen ja, dass der Krieg immer noch andauert. Die Zeichnungen lassen vermuten, dass Kinder sich die Zeit mit Malen vertrieben haben. Das zeigt, dass selbst an so einem Ort die Fantasie lebendig ist.
Haben Sie auch in der Metro fotografiert?
Dafür hätte ich eine Erlaubnis gebraucht, die hatte ich nicht. Aber mich hat sehr beeindruckt, wie routiniert die Kyjiwer mit der Situation umgehen. Viele Schulklassen bringen sich bei einem Luftalarm in der Metro in Sicherheit, deshalb sind dort sehr viele junge Leute. Die Metro in Kyjiw ist sehr tief, teilweise bis zu hundert Meter unter der Erde. Da fühlt man sich sehr sicher. Das Bahnpersonal hat dann faltbare Hocker ausgeteilt, man konnte sich setzen, man konnte auf die Toilette gehen. Und die ganze Zeit fuhren auch die Züge weiter. Menschen kamen und gingen. Überhaupt hatte ich den Eindruck, die Stadt hat eine beeindruckende Resilienz, sie lebt einfach ihr Leben weiter. Wüsste man nicht, dass sich das Land im Krieg befindet, würde man sich vielleicht über die Kontrollposten in der Stadt und die Militärfahrzeuge auf den Straßen wundern. Die Leute gehen zur Arbeit, die Restaurants haben geöffnet, auf den Straßen ist viel Verkehr. Trotzdem merkt man natürlich in Gesprächen, wie der Krieg die Menschen belastet.
Was kann Kunst an so einem Ort schaffen?
Zusammen mit dem Berliner Fotografen Eric Pawlitzky haben wir eine Skulptur gebaut, die aus einem Notausgang und zwei Lüftungsschächten besteht. Aus den Lüftungsschächten waren Geräusche und Ansagen aus der Berliner U-Bahn und der Kyjiwer Metro zu hören. Die Idee war, eine symbolische Verbindung zwischen der deutschen und der ukrainischen Hauptstadt zu schaffen, die seit September 2023 auch Partnerstädte sind. Wir können als Künstler keine U-Bahn-Linie zwischen Berlin und Kyjiw bauen, aber wir können die Idee einer echten Verbindung der beiden Städte in die Köpfe pflanzen.
Ihr Aufenthalt in der Ukraine war ja an sich auch eine solche Verbindung. Wie ist das bei den Künstlern in Kyjiw angekommen?
Die Künstler, aber auch die Menschen generell, die wir getroffen haben, waren alle sehr dankbar. Es bedeutet ihnen viel, wenn andere ganz konkret ihre Verbundenheit mit ihrem Land zeigen. Im Moment kommen außer NGO-Vertretern und Journalisten nur wenige Ausländer. Wir wurden unglaublich warmherzig aufgenommen. Ab 21. November werden unsere Arbeiten im Zentrum für Moderne Kunst M17 gezeigt. Das ist eine unglaubliche Ehre.
Der britische Fotograf Christopher Nunn hat eine Gabe, Dinge zum Sprechen zu bringen. Beim Ansehen seiner Arbeiten spielen sich ganze Geschichten im Kopf des Betrachters ab. Nach Beginn des verdeckten Krieges gegen die Ukraine im Donbass 2014 fotografierte er Fernsehgeräte in Wohnräumen und Behörden, einige in russisch kontrolliertem Gebiet gelegen, einige auf Gebiet unter ukrainischer Kontrolle. Einige Geräte zeigten die russische Sicht der Welt in der Version der staatlichen Propaganda, auf anderen liefen ukrainische Sender. Infowar nannte er das Projekt. In seinem jüngsten Projekt War Rooms geht es wieder darum, dass der Krieg in die Häuser der Menschen eingedrungen ist. Aber diesmal nicht durch den Fernseher, sondern in seiner ganzen realen Brutalität.
dekoder: Wie finden Sie die Orte, an denen Sie diese Fotos aufnehmen?
Christopher Nunn: Ich habe bei diesem Projekt mit der ukrainischen Regisseurin Oksana Karpovych zusammengearbeitet. Ihr Film Intercepted soll im kommenden Jahr erscheinen. Die meisten Bilder entstanden während der ukrainischen Gegenoffensive im Jahr 2022 in der Region Charkiw. Wir hatten einen großartigen Producer, Artem Fysun, der selbst aus Charkiw stammt. Er hat uns in unterschiedliche Städte und Dörfer geführt, die gerade erst befreit worden waren nach Monaten russischer Besatzung.
Wie gefährlich war es, dort zu arbeiten?
Piwnitschna Saltiwka, ein Wohnviertel am Stadtrand von Charkiw, ist einer der am stärksten zerstörten Orte. Das Viertel wurde praktisch in eine Geisterstadt verwandelt. Das erste Mal, als wir dort hinfuhren, war kurz vor der Gegenoffensive, und die russischen Stellungen lagen noch sehr nahe an Charkiw. Wir mussten ein paar Minuten nach unserer Ankunft schon wieder gehen, weil etwa 100 Meter die Straße hoch „Grad“-Raketen eingeschlagen waren. Das war zu der Zeit die tägliche Realität der Menschen dort. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer leben heute noch immer in dieser dauernden Angst.
Als Betrachter fragt man sich, ob diese Räume schon lange verlassen sind, oder ob das Geschoss gerade erst eingeschlagen hat?
Einige der Gebäude befanden sich im Zentrum von Charkiw und wurden nur wenige Stunden vor unserer Ankunft bombardiert. Einige der Bilder habe ich in der Region Kiew aufgenommen, diese wurden während der frühen Phasen der Invasion beschädigt. Die Zerstörung ist allgegenwärtig, aber die Ukrainer beeilen sich auch, zerstörte Gebäude entweder schnell zu reparieren oder abzureißen. Wir wussten daher, dass die Räume, die wir betraten, vielleicht nicht lange in diesem Zustand existieren würden.
Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass gar nicht alle Räume durch Artillerie verwüstet wurden. Einige sind auch einfach verlassen, weil die Einwohner fliehen mussten. In anderen haben Besatzer gehaust.
Genau. Wir sehen einen Raum, der auf die eine oder andere Weise durch den Konflikt verändert wurde und in einem Zustand der Unordnung ist. Die Räume waren im Grunde Tatorte und sie zeigen die Folgen des russischen Krieges: Tod, Vertreibung, Besatzung und Zerstörung. Je besser man die Ukraine und ihre Kultur kennt, desto mehr Details erkennt man auf den Bildern. Alltägliche Dinge wie bestimmte Tapetenmuster, die man in der Ukraine häufig findet, Ikonen oder das Blumenmuster auf einem Kochtopf zum Beispiel. Viele Wohnungen waren noch für Weihnachten und Neujahr geschmückt. Die Ukrainer begehen Weihnachten am 7. Januar, und am 24. Februar begann die Invasion.
Gibt es etwas, was Sie an diesen Orten besonders berührt hat?
Abgesehen von der menschlichen Tragödie dieses Krieges und dem Leid, das er verursacht, war es immer traurig, auf verlassene oder sterbende Haustiere zu treffen, oder einfach die Spuren des friedlichen Lebens zu sehen, das nicht mehr existiert. Wir haben viele zerstörte Schulen gesehen, das ist auch sehr bedrückend.