Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Lisa Bukreyeva
Lisa Bukreyeva „Krieg ändert alles“
[bilingbox]Krieg ändert alles. Er berührt alles, was du gewohnt bist und kennst. Die Stadt ändert sich, als würden ihr Zähne wachsen. Ich habe mein ganzes Leben in Kyjiw gelebt, doch hat es niemals so desolat und aggressiv gewirkt. Viele Kontrollposten, Gräben, Panzersperren und Sandsäcke. Überall. Ich spürte, dass Kyjiw bereit war zum Kampf.
Krieg ist die schrecklichste Erscheinungsform des Menschseins. Kein Film, kein Buch, kein Foto kann den Schrecken dessen vermitteln, was da geschieht. Selbst ein Mensch, der es erlebt, ist sich nicht des gesamten Schmerzes bewusst, denn es ist unmöglich, damit zu leben. Doch ich denke, eine Künstlerin kann und sollte darüber sprechen, meine Arbeit ist dokumentarisch, aber auch emotional. Gleichzeitig denke ich, dass Fotografie Herzen berühren kann. Haben Sie Fotos aus Butscha oder Mariupol oder Asowstal gesehen? Jedes Mal, wenn ich die Namen dieser Städte ausspreche, habe ich diese Bilder vor Augen. Brauchen wir ein solches Foto? Ganz, ganz sicher. Das Mindeste, was es schafft: Es fängt ein, wie fragil die Menschlichkeit ist.
In jedem Fall ist Fotografie subjektiv. Wir können diesen Krieg auf einer politischen Ebene gewinnen, doch wir werden ihn nie in den Köpfen der Russen gewinnen. Sie werden weiter nach einem Genozid lechzen. Daher ist eine Brücke zwischen unseren Kulturen unmöglich. Und es gab nie eine. Die Ukrainer sind immer zu dieser Freundschaft gezwungen worden, unsere Identität und Kultur wurden dabei ausradiert.
Seit Beginn von Russlands Großinvasion bin ich in Kyjiw. Und bin immer noch hier. Ich glaube, meine Erfahrung gleicht der anderer Ukrainer. Es ist ein grenzenloser Schmerz und Schrecken. Die Zeit steht still. Es ist immer noch der 24. Februar, der 25. Februar beginnt erst, wenn der letzte russische Soldat unser Land verlassen hat.
Es ist auch nicht einfach zu fotografieren, denn hinter jedem Einschussloch in einer Mauer, einem Zaun oder einem Fenster verbirgt sich Tragik. Dann triffst du Menschen, die die Besatzung überlebt haben, du unterhältst dich mit ihnen, und in ihren Augen spiegelt sich der gesamte Horror dessen, was sie durchgemacht haben.~~~War changes everything. It touches absolutely everything you are used to. The city is changing, it’s like his teeth are growing. I’ve lived my whole life in Kyiv, but he’s never looked so desolate and aggressive. Many checkpoints, trenches, anti-tank hedgehogs and sandbags. They were literally everywhere. It felt like Kyiv was ready to fight.
War is the most terrible manifestation of humanity. No film, book or photograph can convey the horror of what is happening. Even the person living in it is not fully aware of all this pain, because it is impossible to live with it. But I think an artist can and should talk about it, and my work is documentary, but it’s also emotional. At the same time I believe that the photograph is capable of breaking hearts. Have you seen pictures from Bucha or Mariupol, Azovstal? Every time I say the names of these cities I have before my eyes these shots. Do we need such a photo? Absolutely sure. At the very least, it encapsulates how fragile humanity is.
In any case, photography is subjective. We can win this war at the political level, but we will never win it in the minds of the Russians. They will still be hungry for genocide. So no bridges between our cultures are possible. And they never existed. Ukrainians have always been forced into this friendship, while erasing our identity and culture.
Since the beginning of Russia’s full-scale invasion, I have been in Kiev. And I’m still here. I think my experience is similar to other Ukrainians. It’s endless pain and horror. Time has stopped for us, we still have the 24th of February, and the 25th will come when the last Russian soldier leaves our land.
It’s not easy to take pictures either, because behind every bullet hole in the fence or window is tragedy. Then you meet the people who survived the occupation, you talk to them, and all the horror they’ve been through is reflected in their eyes.[/bilingbox]
LISA BUKREYEVA
geboren 1993, lebt und arbeitet seit 2019 als Fotografin in Kyjiw
AUSZEICHNUNGEN
2021 Italian Street Photography festival |finalist 2021 BIAŁYSTOK INTERPHOTO FESTIVAL | Gewinnerin der Kategorie Street Art Photo 2021 PEP New Talents | shortlist 2022 Baku Street Photography festival
AUSSTELLUNGEN
2022 Nulid Gallery, Island 2022 PEP, Kommunale Galerie, Berlin 2021 BIAŁYSTOK INTERPHOTO FESTIVAL 2020 ICP Concerned, New York, USA 2019 Kyiv Photo Fair, Ukraine
VERÖFFENTLICHUNGEN u. a. in The New York Magazine, Der Spiegel, Die Zeit, Blind, Bird In Flight u.v.m.
BÜCHER
2021 ICP Concerned. Global Images for Global Crisis 2021 Ukraine XYZ
Foto: Lisa Bukreyeva Bildredaktion und Konzept: Andy Heller Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf Veröffentlicht am 27.07.2022
Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Igor Chekachkov
IGOR CHEKACHKOV „Was macht das Gefühl von Zuhause aus – und was passiert, wenn man dieses Gefühl verliert?“
[bilingbox]Als russland [sic!] die Ukraine überfiel, war ich gezwungen, meine Heimatstadt Charkiw zu verlassen. Ich bin nach Lwiw gegangen und habe ziemlich bald damit begonnen, das Leben der vertriebenen Menschen zu dokumentieren. Das Thema interessiert mich, weil ich jetzt selbst ein Vertriebener bin. Und indem ich Menschen fotografiere, die ihr Zuhause verlassen haben, hinterfrage ich auch meine eigene Position und meine Gefühle.
Dieses Foto habe ich in einem Wohnheim aufgenommen, in dem Vertriebene leben. Marina, Kostja und Wlad sind Freunde aus Kyjiw. Sie haben gemeinsam Film studiert und sind zu Beginn der Invasion nach Lwiw gezogen. Jetzt leben sie zusammen in einem kleinen Zimmer in einem Wohnheim.
Vor etwa zehn Jahren habe ich in Charkiw an der Fotoserie Daily Lives gearbeitet, die zeigt, wie Menschen zusammenleben und sich gemeinsame Räume teilen. Diese Serie setze ich heute in einem ganz anderen Kontext fort – ich dokumentiere, wie Menschen, die gezwungen wurden, ihre Häuser zu verlassen, in Notunterkünften zusammenleben. Als ich Charkiw gerade verlassen hatte, lebte ich in einem Haus in der Nähe von Lwiw mit etwa 20 anderen Vertriebenen zusammen. Dann zog ich an einen anderen Ort, und wir waren nur noch zu sechst. Diese Erfahrung machte mich neugierig darauf, wie andere Vertriebene zusammenleben.
Ich versuche, die Grenzen der Dokumentarfotografie zu erweitern und neue Formen der Darstellung des Krieges zu finden. Dokumentar- und Pressefotografen leisten eine großartige Arbeit, aber es gibt viele von ihnen auf der ganzen Welt. Deshalb möchte ich experimentieren und mich auf persönlichere Themen konzentrieren. Ich habe das Gefühl, dass ich noch mehr Zeit brauche, um darüber nachzudenken, was gerade passiert, was ich damit machen kann und was dabei die Rolle des Fotografen ist.
Mit meiner Fotografie frage ich, was das Gefühl von Zuhause, von Heimat ausmacht und was passiert, wenn Menschen dieses Gefühl verlieren. Wie Werte sich wandeln, wenn wir mit etwas so Schrecklichem konfrontiert sind, wie sich unsere Persönlichkeit verändert. Das sind die Fragen, die ich mir selbst stelle, und auch den Menschen, die ich fotografiere.
Kann Kunst eine Brücke bauen zwischen der Ukraine und russland? Ich hatte immer das Gefühl, dass Kunst der beste Weg ist, um Brücken zwischen Kulturen zu bauen, aber jetzt bin ich nicht mehr so optimistisch. russland hat so viele Dinge getan, um Hass in ukrainischen Herzen zu säen, und die Ukrainer werden für eine ganze Weile keine Brücken zu russland bauen wollen. Jedenfalls kann ich mir das nicht vorstellen, solange russland weiterhin die Ukraine angreift. Die Menschen, die uns angegriffen haben, sind von der Kunst nicht berührt; die, die es doch sind, würden nicht in ein anderes Land einfallen. Deswegen denke ich, dass wir Künstler nicht viel tun können. Die Kunstwerke werden nie von Kreml-Politikern oder russischen Soldaten gesehen werden. Aber ich hoffe, dass Kunst – und Fotografie im Besonderen – helfen kann, eine solche Katastrophe in Zukunft zu verhindern.~~~When russia invaded Ukraine, I was forced to leave my hometown Kharkiv to western Ukraine. I’ve settled down in Lviv and shortly I started documenting displaced people. I am interested in this subject because now I am a displaced person myself, and by photographing people who left their homes I am also questioning my position and my feelings.
This photograph was taken in the dorm, which is inhabited by displaced people. Marina, Kostya and Vlad are friends from Kyiv. They were studying cinematography together and moved to Lviv at the beginning of the invasion. Now they live together in a small room in the dorm.
About 10 years ago I was working on a “Daily Lives” series in Kharkiv, depicting how people live together and share common spaces. Now I continue this series in a very different context — I document how people who were forced to leave their homes and live together in shelters. When I just left Kharkiv I was living in a house not far from Lviv with about 20 other displaced. Then I moved to another place and there were just six of us. This experience made me interested in how other displaced people live together.
I am trying to push the boundaries of documentary photography and searching for new forms of depicting the war. Documentary and news photographers are doing a great job, but there are plenty of them from all over the world and that’s why I want to experiment and focus on more personal topics. I feel that I still need more time to reflect on what is going on, what I can do with it and what is the role of the photographer now.
With my photography I am questioning what is the feeling of home and what happens when people lose it. How values change when we face something so dreadful and how it changes our personality. These are the questions I ask myself, as well as the people I photograph.
Can art build bridges between Ukraine and russia? I always felt that art is the best way to build bridges between cultures, but now I am not so optimistic. russia did so many things to plant hate in Ukrainians hearts and Ukrainians will not want to build bridges with russia for quite a while. At least I can’t imagine this happening while russia continues to attack Ukraine. People, who attacked us, are not touched by art; the ones who are will not invade another country. This is why I don’t think we (artists) can do much. The work of art will never be seen by Kremlin politicians or russian soldiers. But I hope that art, and photography in particular, can help to prevent this kind of disaster in the future.[/bilingbox]
IGOR CHEKACHKOV
1989 in Charkiw/Ukraine geboren. Begann 2008 zunächst als Fotojournalist zu arbeiten und fand schließlich zur Arbeit als künstlerischer Fotograf.
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
2022 – Maison de la Photographie, Lille 2021 – Interphoto Festival, Białystok 2021 – Mystetskyi Arsenal, Kyjiw 2019 – Dongsung Market Art Project in Daegu/Südkorea 2019 – Einzelausstellung während des Hybrid-Kunstfestivals, Madrid 2019 – CEPA Gallery, Buffalo, New York 2018 – EEP Berlin 2017 – Fotofestival Odessa/Batumi
PUBLIKATIONEN u.a. in British Journal of Photography, Bird in Flight, P3 uvm.
Foto: Igor Chekachkov Bildredaktion und Konzept: Andy Heller Übersetzung aus dem Englischen: dekoder Veröffentlicht am 13.07.2022
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Belarus spielt im Krieg gegen die Ukraine eine zentrale Rolle: Für Russland war es möglich, von dort aus am 24. Februar 2022 direkt die ukrainische Hauptstadt Kiew anzugreifen. Doch insgesamt wirft das Verhalten von Machthaber Alexander Lukaschenko viele Fragen auf: Warum hilft er dem russischen Präsidenten Wladimir Putin? Wie fest steht er an dessen Seite? Hat er eigene Interessen, und wenn ja, welche? Und wie stehen die Belarussinnen und Belarussen zum Krieg?
In unserem FAQ, das Stück für Stück weiter wachsen wird, sammeln wir zentrale Fragen zum Krieg und lassen sie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beantworten: FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Krieg gegen die Ukraine?
1. Inwiefern ist Belarus am Krieg gegen die Ukraine beteiligt?
Nach allem, was bekannt ist, steht fest: Belarussische Truppen oder Sicherheitskräfte waren und sind bisher nicht am Krieg in der Ukraine beteiligt. Belarus unterstützt Moskau aber bei der Invasion, allen voran mit seinem Territorium, das zum Durchgangshof der russischen Armee geworden ist. Dafür waren russische Truppen vor dem Krieg unter dem Vorwand gemeinsamer Militärmanöver von Russland nach Belarus verlegt worden und sind von dort aus auf Kiew vorgedrungen. Zudem deuten zahlreiche Hinweise darauf hin, dass ukrainisches Staatsgebiet von belarussischem Territorium aus beschossen wird1.
Im Laufe der ersten Kriegsmonate haben sich die russisch-militärischen Aktivitäten, die mit dem belarussischen Staatsgebiet verbunden sind, verringert, ebenso die Zahl russischer Truppen in Belarus – die weiter präsent sind. Das hing sicherlich mit dem russischen Rückzug aus dem Raum Kiew ab Ende März zusammen. Zum Teil könnte auch weitere belarussische Infrastruktur im Krieg genutzt worden sein, zum Beispiel für die Versorgung mit Treibstoff2. Über die militärische Zusammenarbeit haben Putin und Lukaschenko bei einem Treffen außerdem erst Ende Juni erneut verhandelt.
Doch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) schätzte die Lage im April so ein, dass Belarus – auch wenn russische Truppen von dort aus agier(t)en – keine Kriegspartei sei. An den Ausgangsbedingungen zu dieser Analyse hat sich im Wesentlichen nichts geändert.
Zugleich gibt es zivile Belarussinnen und Belarussen, die sich der ukrainischen Seite angeschlossen haben. So haben sich manche Aktivisten der belarussischen Opposition bereits seit 2014 als Freiwillige bei den ukrainischen Streitkräften gemeldet3. Ihre Zahl wuchs nach Beginn der großflächigen Invasion der Ukraine weiter an. Sie durften auch eigene Einheiten in der ukrainischen Armee bilden, allerdings bleiben Truppenstärke sowie ihre genaue Funktion bislang unklar. Außerdem gab es Sabotageakte an den Eisenbahnlinien von Belarus nach Russland, mit dem proklamierten Ziel, den Transport von militärischem Gerät zu unterbinden.
Siarhei Bohdan Politischer Analyst am Ostrogorski Centre Minsk/London
2. Kann Belarus aus diesem Krieg irgendwelche Vorteile für sich ziehen?
Nein, Belarus hat mit diesem Krieg nichts zu gewinnen, sondern kann sogar alles verlieren. Dafür sprechen gleich mehrere Punkte:
Die Menschen: Ein Gemetzel mit den Ukrainern, die in Belarus als Brudervolk wahrgenommen werden, ist für sich genommen, eine Tragödie – was unter Belarussinnen und Belarussen auch vielfach so gesehen wird.
Die Wirtschaft: Der Krieg bedeutet den De-facto-Verlust der Ukraine als bedeutendem Handelspartner, mit dem zuletzt auch ein stets steigendes Handelsvolumen verbunden war.
Das Verhältnis zur EU: Der Krieg verschärft für das belarussische Regime die Konfrontation mit der EU und den NATO-Mitgliedstaaten. Das Verhältnis ist seit dem Protestjahr 2020 ohnehin massiv belastet, Belarus isoliert und mit Sanktionen belegt.
Das Regime: Lukaschenko könnte sich auch in seinem Machterhalt bedroht sehen. Umfragen zufolge lehnt ein immerhin deutlich wahrnehmbarer Teil der Bevölkerung ↓ den Krieg ab, darunter auch Anhänger des Lukaschenko-Lagers. Damit wäre zumindest offen, ob ein Kriegseintritt nicht auch – trotz der harten Repressionen – neue Proteststimmung im Land befördert.
Entsprechend ließ die belarussische Führung die Nutzung des eigenen Territoriums durch Moskau für den Vorstoß auf Kiew regelrecht über sich ergehen. Experten gehen davon aus, dass Alexander Lukaschenko in die Angriffspläne nicht eingeweiht gewesen ist – auch wenn er zuvor verbal in Richtung Westen ausgeteilt hat. Soweit bekannt, hat Minsk bei den russischen Kriegsvorbereitungen selbst keinen aktiven Beitrag geleistet. Lukaschenko hat Anfang Mai zudem – für belarussische Verhältnisse auffallend – kritische Töne am Vorgehen des Kreml geäußert.
Siarhei Bohdan Politischer Analyst am Ostrogorski Centre Minsk/London
3. Belarus ist also Aufmarschgebiet für russische Truppen – wie konnte es dazu kommen? Und wieso dann nicht schon früher?
Das hat mit drei Faktoren zu tun, die sich gegenseitig bedingen: mit der politischen Isolierung von Minsk seit dem Protestjahr 2020, der entsprechend gewachsenen belarussischen Abhängigkeit von Moskau und den damit eröffneten Möglichkeiten für den Kreml, mehr russisches Militär nach Belarus verlegen zu können.
Um das genauer zu verstehen, ist es wichtig, sich die gesamte Entwicklung der Jahre seit Annexion der Krim vor Augen zu führen: Minsk hat seit 2014 die zweigleisige Strategie ↓ verfolgt, einerseits Verbündeter an der Seite Russlands zu sein, sich andererseits aber kritisch von der Ukraine-Politik des Kreml zu distanzieren. Damit hatte Kiew, allen Spekulationen zum Trotz, aus nördlicher Richtung kaum etwas zu befürchten. Für die Kiewer Führung war das entscheidend, weil die ukrainische Hauptstadt unweit der belarussischen Grenze liegt, das Land also von dieser Flanke sehr verletzlich ist. Sprich: Ohne diesen belarussischen Balkon war es dem Kreml bis vor kurzem nicht möglich, einen Großangriff zu wagen.
Tatsächlich war der Zugang für die russische Armee zum belarussischen Territorium bis zum Jahr 2020 sehr begrenzt. So hatte Minsk stets dafür gesorgt, gemeinsame Übungen fern der ukrainischen Grenze abzuhalten. Auch wurde die belarussische Armee wenig auf ein mögliches Zusammenwirken mit russischen Streitkräften vorbereitet: Zum Beispiel nahmen an den Manövern oft dieselben Einheiten aus Belarus teil, die überdies nur einen geringen Teil der gesamten belarussischen Armee ausmachten. Selbst die Ausrüstung der Streitkräfte beider Länder unterschied sich zunehmend voneinander.
Schon im Herbst 2020 beeilte sich der Kreml, gemeinsame Manöver zu starten – mit bis dahin beispiellosen Truppenverschiebungen an die belarussisch-ukrainische Grenze.
Nach der brutalen Unterdrückung der Proteste durch das belarussische Regime im Jahr 2020 änderte sich diese Ausgangslage komplett. Das erweist sich rückblickend als Schlüsselmoment für eine geopolitische Umwälzung in der Region: Wegen der 2021 verhängten massiven westlichen Sanktionen gegen Belarus hielt sich Machthaber Alexander Lukaschenko fortan noch stärker an den Kreml. Schon zuvor war er in hohem Maße von russischen Krediten und Subventionen abhängig. Das verstärkte sich nun, so dass sein politisches Überleben mehr denn je die Rückendeckung aus Moskau braucht, während er nach innen mit immer schärferen Repressionen herrscht.
Die regelmäßige direkte Anwesenheit russischen Militärs dehnte sich in der Folge für weitere hunderte Kilometer westwärts aus. Denn schon im Herbst 2020 beeilte sich der Kreml, gemeinsame Manöver zu starten – mit bis dahin beispiellosen Truppenverschiebungen an die belarussisch-ukrainische Grenze, Luftlandeoperationen und einem in seinem Umfang ebenfalls bis dahin nicht dagewesenen Einsatz der strategischen Luftwaffe. Seither stieg die Zahl der gemeinsamen Manöver drastisch an. Damit war die Bedrohung der Ukraine entlang der belarussisch-ukrainischen Grenze seit dem Jahr 2020 kontinuierlich gewachsen. Auch eine ständige Präsenz russischer Truppen besteht inzwischen in Belarus. Im Jahr 2021 konnte Moskau zum ersten Mal den Aufbau eines russischen Militärstützpunktes durchsetzen: In der Region Grodno soll ein gemeinsames militärisches Ausbildungszentrum für Luftwaffe und -abwehr entstehen4. Zudem wurde begonnen, russische Kampfflieger auf belarussische Luftstützpunkte zu verlegen5. Ähnliche Vorstöße der russischen Seite waren zuvor jahrelang ergebnislos verlaufen.
Siarhei Bohdan Politischer Analyst am Ostrogorski Centre Minsk/London
4. Was denken die Belarussen? Gibt es keine Proteste gegen den Krieg?
Еs ist schwer zu sagen, was die Belarussinnen und Belarussen über den Krieg denken. Das Land wird repressiv regiert, unabhängige Umfrage-Institute existieren, wenn überhaupt, dann nur im Exil. So gibt es nur wenige aktuelle Zahlen, die zumindest Anhaltspunkte liefern können, darunter von der Belarussischen Analysewerkstatt, die jüngsten aber vom Soziologen Ryhor Astapenia bei Chatham House. Dort gaben 40 Prozent der Befragten bei einer Online-Umfrage von Mitte April 2022 an, gegen den Krieg zu sein. 32 Prozent befürworteten den Krieg. Die Zahlen zeigen auch, dass es insgesamt eine verbreitete Angst gibt, in den Krieg mit eigenen Truppen hineingezogen zu werden.
Allerdings sind hierbei mindestens zwei Dinge zu beachten: Einerseits könnte die Zahl der Befürworter höher sein, weil die Befragungen nur online erfolgten, nicht wie sonst häufig bei solchen Erhebungen auch per Telefon. Damit zusammenhängende Verzerrungen können nicht ganz korrigiert werden. Zweitens könnte genauso die Zahl der Kriegsgegnerinnen in Wirklichkeit höher sein, sich in den Zahlen aber womöglich nicht ausdrücken: Dadurch, dass Belarus die russische Attacke mit der Überlassung des eigenen Territoriums unterstützt, könnten sich manche dazu gedrängt gefühlt haben, befürwortend zu antworten, obwohl sie eigentlich dagegen sind – aus Angst vor persönlichen Konsequenzen.
Unabhängig davon, wie belastbar diese Zahlen sind, sprechen die Handlungen einiger Belarussinnen und Belarussen für sich: Zum Kriegsausbruch gab es kleinere protestartige Menschenversammlungen6, vor der ukrainischen Botschaft in Minsk wurden Blumen abgelegt (oft gelb und blau eingewickelt). Die gelb-blaue Farbsymbolik der ukrainischen Flagge spiegelt sich auch in verwendeten Haarschleifen und Schals. Das ist in einem Land, das so autoritär regiert wird wie Belarus, schon durchaus bemerkenswert, weil die Menschen für diesen offen gezeigten Protest harte Strafen in Kauf nehmen. Auch kommt es zu Sabotageakten an den Eisenbahnlinien, die als Zeichen des Protestes gewertet werden können.
Jan Matti Dollbaum Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen
5. Was erfährt man in Belarus überhaupt vom Krieg?
In Belarus ist es noch möglich, Informationen zum Krieg zu erhalten, weil es im Exil unabhängige belarussische Online-Medien gibt, die darüber berichten. Das muss man mit einer Einschränkung sagen: Ihre Webseiten sind in Belarus so gut wie alle gesperrt, so dass die Leute dafür VPN-Zugänge benötigen. Was hilft, ist, dass die Inhalte auch über Plattformen wie Telegram, Youtube und Facebook verbreitet werden. Die Exil-Medien sind entstanden, nachdem die Mehrheit der unabhängigen belarussischen Journalistinnen und Journalisten nach dem Protestjahr 2020 und den darauf folgenden harten Repressionen das Land verlassen haben. Nur im Ausland ist es noch möglich, regierungskritisch sowie zu heiklen sozialen und politischen Themen zu berichten. Dazu gehört auch der russische Überfall auf die Ukraine.
Was außerdem – im Unterschied zu Russland – in Belarus noch zugänglich ist: Ukrainische Nachrichtenseiten im Internet, die über den Krieg berichten.
Bleibt also die Frage, ob die Informationen, die es gibt, Menschen in Belarus auch tatsächlich erreichen. In einer aktuellen Umfrage der Belarussischen Analysewerkstatt des Soziologen Andrej Wardomazki gaben 63 Prozent der Befragten an, sich vor allem über Telegram-Kanäle oder Youtube zu informieren. Auf beiden Plattformen dominieren unabhängige belarussische Exil-Medien als Informationsquellen, die damit eine starke Bedeutung haben. 55 Prozent der Befragten erhalten ihre Informationen vorwiegend aus dem belarussischen oder russischen Staatsfernsehen7. Blickt man auf frühere Befunde, relativieren sich diese Zahlen ein wenig, weil es nur rund 16,3 Prozent der Befragten sind, die dem belarussischen Staatsfernsehen überhaupt Vertrauen entgegenbringen8. Selbes gilt für das russische Staatsfernsehen, das für eine Mehrheit im Land noch vor fünf Jahren als vertrauenswürdige Quelle galt, sogar viel eher als das eigene Staatsfernsehen. Wie man sieht, hat sich das geändert.
Dazu muss man wissen, dass das belarussische Staatsfernsehen die Narrative des russischen Staatsfernsehens eins zu eins kopiert: Dass es in diesem Krieg darum gehe, angebliche Nazis in der Ukraine zu bekämpfen, mit Minsk an der Seite Moskaus gegen die gesamte Welt. Diese staatliche Propaganda mag also dieselbe wie in Russland sein, doch sie trifft auf eine vollkommen andere Gesellschaft. Nämlich eine, die sich viel stärker von seiner politischen Elite abgekapselt hat als die russische. Wenn wir also über belarussische Staatspropaganda sprechen, sollte man ihre Wirkung nicht überbewerten, weil sie weit weniger bei den Menschen verfängt.
Auch wenn Machthaber Alexander Lukaschenko oft laut und markig gegen den Westen, Polen oder Litauen poltert, so ist es in diesem Zusammenhang interessant zu sehen, dass die Botschaften, die er verbreitet, trotzdem sehr viel friedvoller sind als das, was das eigene Staatsfernsehen sendet. Lukaschenko will permanent vermitteln, dass Belarus an diesem Krieg in keiner Weise beteiligt sei und versucht, den Umstand für sich zu nutzen, dass die belarussische Armee selbst nicht an der Seite Moskaus steht. Damit dürfte er sich erhoffen, bei der westlichen Staatenwelt an den Sanktionen gegen sein Land zu rütteln – bislang jedoch ohne Erfolg ↓.
Die unabhängigen belarussischen Medien nennen den Krieg dagegen einen Krieg und berichten darüber so, wie es in allen anderen Ländern mit freien Medien auch der Fall ist.
Aliaksandr Papko Politikwissenschaftler am Think Tank EAST-Zentrum und Fernsehjournalist in Warschau
6. War Lukaschenko nicht eh schon immer Russlands Marionette?
Jein. Die Russland-Politik von Machthaber Alexander Lukaschenko war stets vor allem eins: eigennützig. Daher lässt er sich nicht einfach als Marionette des russischen Präsidenten Wladimir Putin bezeichnen. Eher als Junior-Verbündeter, der sich oft loyal und ergeben zeigt, aber eigene Ziele hat. Deshalb verfolgte er lange eine Schaukelpolitik zwischen der Europäischen Union und Russland, hat dafür jedoch seit dem vergangenen Jahr den Spielraum verloren.
Schauen wir uns die Entwicklung seit Lukaschenkos Machtantritt 1994 genauer an: Ohne russische Subventionen wäre der Erfolg seines Herrschaftsmodells nicht denkbar. Mit Boris Jelzin als russischem Präsidenten hatte es Lukaschenko allerdings noch leicht, weil dieser dafür kaum Gegenleistungen erwartete. Zugleich unterstützte Lukaschenko mit seiner antiwestlichen Rhetorik die Position des Kreml während des Kosovo-Kriegs9 und in Bezug auf die Nato-Osterweiterung10.
Unter Wladimir Putin begann der Kreml allerdings, die Subventionen für Belarus erstmals mit der Erwartung zu verknüpfen, dass das Land auf einzelne nationale Hoheitsrechte verzichtet. Der noch zu Jelzins Zeiten unterzeichnete „Vertrag über die Bildung eines Unionsstaates“zwischen Belarus und Russland entwickelte sich damit von einem Lippenbekenntnis zu einem Forderungskatalog. Lukaschenko widersetzte sich jedoch und sicherte sich die weiteren russischen Subventionen, indem er einen außenpolitischen Kurswechsel Richtung Westen androhte. Gleichzeitig gelang es ihm, substanzielle Demokratisierungsforderungen der EU und der USA – mit dem Verweis auf die Gefahr einer russischen Intervention – abzuwehren11.
Im Westen wurde diese Schaukelpolitik sehr wohl wahr-, jedoch auch in Kauf genommen. Aus westlicher Sicht zählte in erster Linie, dass Lukaschenko weder nach dem Georgienkrieg 2008 noch im Fall der Ukraine 2014 offiziell die Position des Kreml unterstützte. Damit empfahl er sich für eine Vermittlerrolle in den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Das führte im Jahr 2016 sogar zur Aufhebung aller Sanktionen, die der Westen nach der Präsidentschaftswahl vom Dezember 2010 gegen Belarus verhängt hatte.
Die Massenproteste nach der Präsidentschaftswahl im August 2020 veränderten die politische Konstellation für Lukaschenko jedoch grundlegend: Erstmals verdankt er sein politisches Überleben allein Putin, zudem erkennt der Westen ihn seitdem nicht länger als Präsidenten an. Über Asylsuchende an der Grenze zwischen Belarus und Polen versuchte Lukaschenko Ende 2021 vergeblich gegenüber der Europäischen Union neue Verhandlungen zu erzwingen. Gleichzeitig bot sich Lukaschenko dem Kreml wieder als antiwestlicher Vorposten an, um dessen weitergehende Forderungen zur Bildung des Unionsstaates klein zu halten. Lukaschenkos neue Abhängigkeit zeigte sich insbesondere im massiven Ausbau der russischen Militärpräsenz in Belarus ↑. So bietet der Krieg für Lukaschenko dieses Mal – im Unterschied zu 2014 – keine Möglichkeit, sich als Vermittler zu profilieren. Stattdessen wird er vom Westen und der Ukraine als Handlanger des Kreml wahrgenommen.
Astrid Sahm Politikwissenschaftlerin an der Stiftung Wissenschaft und Politik
Russland führt Krieg gegen die Ukraine. dekoder stellt die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen. Gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern geht es in diesem FAQ darum, fakten- und wissenschaftsbasiert zu erklären und einzuordnen, was man zu Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wissen muss.
Stellen Sie uns gern auch Ihre Fragen – per Email unter dekoder-lab@dekoder.org. Wir werden versuchen, mit Expertinnen und Experten aus europäischen Universitäten Antworten darauf zu finden.
7. Gefragt wurde in der Wardomazki-Umfrage nach den wichtigsten Informationsquellen (nicht nach den einzigen). Auch zwei Jahre zuvor zeigte sich, dass das Staatsfernsehen an Bedeutung verliert. Einer Erhebung des Zentrums für Osteuropa und internationale Studien (ZOiS) vom Dezember 2020 zufolge war für nur rund 10 Prozent der Menschen das Staatsfernsehen die erste Informationsquelle, für noch weniger das staatlich kontrollierte Radio oder staatsnahe Blätter. Social Media, unabhängige Online-Medien und Messenger wurden dagegen von rund 70 Prozent der Befragten als wichtigste Informationsquelle angegeben. vgl. ZoiS Report 03/2021: Belarus at a crossroads: attitudes on social and political change, S. 10 ↑
9. Durch Russlands Veto-Recht bei den Vereinten Nationen bleibt dem Kosovo die Mitgliedschaft dort bis heute verwehrt. Präsident Wladimir Putin zog den Kosovo in der Vergangenheit immer wieder heran, etwa um sein Vorgehen im Donbass und auf der Krim zu rechtfertigen, vgl. zum Beispiel Video #8: Putin: Kosovo als Präzedenz für Krim und Katalonien?↑
10. Nach Aufnahme der Slowakei in die Nato im März 2004 stellte es der belarussische Präsident bei einer Rede Mitte April gegen das Nato-Bündnis so dar, als würden westliche Militärs belarussisches und russisches Staatsgebiet umzingeln und antasten: „Unser Territorium ist völlig von technisch-intelligenten Mitteln ‚durchschossen‘. (…) Und nicht nur unser Territorium, sondern auch das russische bis hin zum Kreml ist damit ‘durchschossen’. Wann gab es das schon mal?“, vgl. president.gov.by: Послание Президента Беларуси Александра Лукашенко Парламенту ↑
11. Insbesondere nach dem Krieg in Georgien vom August 2008 verschärfte sich der Ton zwischen Russland und Belarus. vgl. DGAP Standpunkt (09/2010): Die Ökonomisierung russischer Außenpolitik↑
Helena Lea Manhartsberger und Laila Sieber „Verschiedene Perspektiven erzählen“
Am Abend, an dem wir Oleksandra in Lwiw treffen, ist die Stadt voller Menschen. Lautes Grölen schallt durch die Gassen. Das Grau ist dem Grün der Bäume gewichen. Und die Wintermäntel den kurzen Kleidern. Seit unserem letzten Aufenthalt in der Ukraine sind zwei Monate vergangen. Die sonnigen Tage lassen den Krieg abseits der Front jetzt noch surrealer erscheinen. In Lwiw haben die Cafés geöffnet und Alkohol darf wieder ausgeschenkt werden – zumindest bis 21 Uhr. Drei Gruppen von Männern in Camouflage und gelben Armbinden patrouillieren durch die Straßen. Sie gehören der Territorialverteidigung an, die überall im Land eingesetzt wird, auch um die eigenen Bürger*innen zu kontrollieren. Die Stimmung ist ausgelassen, aber die ersten Bars machen schon zu. Um 23 Uhr fängt die Ausgangssperre an. Oleksandra sitzt lässig auf dem linken Bein ihres Kumpels Wolodymyr. „Wir sind kein Paar“, sagt er „sie ist lesbisch. Wenn meine Freundin uns so sehen würde, wäre sie trotzdem ganz schön eifersüchtig.“ Die junge Frau schaut auf ihren Kumpel herunter und zieht eine Augenbraue hoch. „Danke fürs Outing,“ sagt sie, und fängt an zu erzählen:
„Ich komme aus einer sehr konservativen Familie, mein Vater will nicht, dass meine Mutter arbeiten geht. Seit der Krieg angefangen hat, ist die Situation sehr angespannt. Mein Vater hat Angst, mobilisiert zu werden. Und wir alle haben Angst davor, wie viele Familien sind wir von seinem Einkommen abhängig. In der Ukraine sagt man: „Sprich nicht öffentlich über Probleme in der Familie.“ Und „Wenn er dich schlägt, liebt er dich.“ Auch von meiner Mutter höre ich diese Sprüche. Leider ist die Ukraine ein sehr konservatives Land. Die meisten Menschen sind religiös und die Rechte von Frauen und LGBT Personen sind eingeschränkt. Ich höre so oft – in meinem Job, in der Uni, im privaten Umfeld: „Du bist nur ein Mädchen, du bist nicht stark genug.“ Aber was ich momentan erlebe ist das Gegenteil. Die Frauen sind viel stärker als die Männer. Viele Frauen, die ich kenne, sagen, dass sie kämpfen würden, wenn es sein müsste. Ich würde es auch tun. Auch wenn die Gefahr für uns Frauen von überall ausgehen kann. Eine Soldatin, die an der Front gekämpft hat, wurde von ihren Kameraden vergewaltigt. Als sie darüber mit dem Kommandeur der Truppe geredet hat, sagte er zu ihr, sie müsse gehen. Wenn sie so über die Soldaten rede, würde sie die ukrainische Armee beschämen. Der Vorfall dürfe in der Kriegssituation nicht öffentlich gemacht werden. Sie sprach trotzdem darüber. Und wurde nach Hause geschickt. Der Mann, der sie vergewaltigte, ist weiterhin in der Truppe. Der schlimmste Satz derzeit ist: „Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.“ Ich höre ihn ständig, wenn ich mich über die Situation von Frauen und LGBT Personen aufrege. Vor dem Krieg war es schon schlimm genug, aber jetzt ist es noch schlimmer, weil gar keine Kritik mehr erlaubt ist. Wenn ich mich darüber aufrege, wie Frauen beim Militär behandelt werden, beschimpfen mich alle – Männer und Frauen. Sie sagen zu mir: „Was willst du mit diesem Feminismus, jetzt ist nicht die Zeit dafür. Du fällst deinen Leuten in den Rücken, du musst die Armee unterstützen! Warum machst du die Soldaten schlecht? Warum konzentrierst du dich so sehr auf EINE vergewaltigte Frau?“ Ich sage ihnen, das ist nicht die einzige Frau, die vergewaltigt wurde. Es ist nur die erste, die sich bis jetzt getraut hat an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich kenne viele Frauen in der Armee. Alle haben Angst vergewaltigt zu werden.“
Wir haben den ganzen März und drei Wochen im Juni gemeinsam in der Ukraine gearbeitet. Von Anfang an war es uns wichtig nicht nur Fotos zu zeigen, sondern auch den Geschichten der Menschen Raum zu geben, um die Situation in der Ukraine fernab des schnellen, tagesaktuellen Journalismus zu dokumentieren und dabei verschiedene Perspektiven zu erzählen. Auch, um die Vielschichtigkeit dieses Krieges aufzuzeigen, beschäftigen wir uns in unserer Arbeit vor allem mit Einzelschicksalen und persönlichen Geschichten. Dabei merken wir, dass viele Menschen über bestimmte Themen im Moment nicht sprechen wollen, weil sie Angst haben, dass ihre Kritik missverstanden werden könnte. Oleksandra ist eine der Wenigen, die sich traut, das offen anzusprechen.
Jedem Portrait geht ein langes Gespräch voraus. Dabei wechseln wir uns ab, wer aufschreibt und wer fotografiert. Mit vielen Protagonist*innen sind wir in ständigem Kontakt und bei unserem zweiten Besuch im Juni haben wir einige wieder getroffen, Freundschaften sind entstanden. Wir erleben, wie sich die Stimmung der Menschen verändert, und ergänzen so unseren Blick von außen mit einem Blick von innen.
HELENA LEA MANHARTSBERGER geboren 1987 in Innsbruck, lebt in Wien Studium Internationale Entwicklung an der Uni Wien, Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der HS Hannover und am DMJX in Aarhus, Fotografie am ISI Jogjakarta, Indonesien. Global Challenges and Sustainable Developments an der Angewandten in Wien und der Tongji University, Shanghai. Freie Foto- und Videojournalistin, Mitarbeiterin beim Verein ipsum und Teil des Selbstlaut Kollektivs.
AUSSTELLUNGEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL)
2022 – Fragmente des Krieges, Willy-Brandt Haus, Berlin 2021 – sex work – lock down, Einzelausstellung, Reich für die Insel, Innsbruck 2021 – VGH Fotopreis, Finalist, GAF Eisfabrik, Hannover 2021 – Portraits Hellerau, Technische Sammlung Dresden 2021 – Fotofestiwal Łódź, Polen 2020 – LUMIX Festival für jungen Bildjournalismus, Hannover 2020 – Athens Photo Festival, Benaki Museum, Griechenland 2020 – Kassel Dummy Award und exhibition tour, shortlist 2019 – Kassel Dummy Award und exhibition tour, shortlist
2022 – RLB Kunstpreis 2021 – Hellerau Portraits Award 2021 – VGH Fotopreis (finalist) 2020 – Digital Storytelling Award, LUMIX Festival für jungen Bildjournalismus 2020 – Bird in Flight Price (finalist)
PUBLIKATIONEN u.a. in Die Zeit, Der Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Stern Crime, Financial Times, Dummy, BBC
LAILA SIEBER geboren 1989 in Freiburg, Deutschland Studium der Audiovisuellen Medien an der Hochschule der Medien Stuttgart und Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover, sowie an der KASK School of Arts in Gent, Belgien. Freie Foto- und Videojournalistin, Mitbegründerin des Fotomagazins BLUME und visuelle Künstlerin.
AUSSTELLUNGEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL) 2022 – Fragmente des Krieges, Willy-Brandt-Haus, Berlin 2021 – Award of Excellence in CPOY 76 Spot News 2019 – On poetry and what remains, Jaleh Galerie, Teheran, Iran (Einzelausstellung) 2019 – Visa pour l’image, Perpignan, Frankreich 2018 – LUMIX Festival für jungen Bildjournalismus, Hannover
PUBLIKATIONEN u.a. in Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Der Spiegel, Al Jazeera, Süddeutsche Zeitung
Am heutigen Dienstag, 21. Juni 2022, ist der 118. Tag des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Den 100. Tag des Kriegs am Freitag, dem 3. Juni, hatten zahlreiche Medien genutzt, um in Analysen, Hintergründen, Interviews die hundert Tage zu reflektieren, die Europa schon jetzt grundlegend verändert haben.
Für das ukrainische Online-Medium zbruc.eu hat Juri Andruchowytsch einen Text dazu verfasst. Andruchowytsch, der aus Iwano-Frankiwsk in der Westukraine kommt, dem historischen Galizien, ist eine der weltweit bekanntesten literarischen ukrainischen Stimmen. Seine Gedichte, Essays und Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und international ausgezeichnet, auch in Deutschland, etwa mit der Goethe Medaille (2016) oder dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (2006).
Andruchowytschs Text ist allerdings nicht am 100. Tag, sondern am 107. Tag des Krieges erschienen. Also nach dem runden Datum, aber noch bevor sich Olaf Scholz zusammen mit weiteren europäischen Staats- und Regierungschefs Ende vergangener Woche für einen baldigen EU-Kandidatenstatus für die Ukraine ausgesprochen hat. Vermutlich hätte es Andruchowytschs sehr grundlegenden Text nicht geändert – von dem er selbst schreibt: „Es wird spannend sein, dieses Wirrwarr am 207., 307. oder 1007. Tag wieder zu lesen.“ dekoder hat ihn aus dem Ukrainischen ins Deutsche übersetzt.
Zum 100. Kriegstag hat es bei mir [mit einem Text] nicht geklappt, aber am 100. haben auch ohne mich alle über den 100. gesprochen. Genauer gesagt, nicht nur über den 100., sondern über alle 100 Tage, die dieser miteinschließt.
Und das ist nicht verwunderlich, im Gegenteil: 100 Tage sind vermutlich die erste bedeutende politische Zeiteinheit. Die wohl, wie unschwer zu erraten, mit Napoleons 100 Tagen begonnene Methode, 100 Tage nach Beginn jedes beliebigen Prozesses ein Fazit zu ziehen, gefiel und bürgerte sich ein. Mittlerweile ist es nicht nur eine Methode, sondern eine ganze Methodik, um nicht zu sagen eine Methodologie: 100 Tage neue Regierung, 100 Tage missglückte Reform, 100 Tage Diktatur, 100 Tage Pandemie, Protest, Regen, Überschwemmung etc. Ich denke auch an die Hundert Tage, Genosse Soldat. Hier werden jedoch die Tage bis zur Entlassung aus der Armee heruntergezählt, es geht um eine Verminderung, um eine Reduktion, eine Regression, eine Reversion. Also um die Annäherung an die gierig herbeigesehnte, wunderbare Null, mit der die neue Freiheit beginnt.
Heute aber sind wir in der gegenteiligen Situation: Vermehrung, Progression und Aversion. Vor einer Woche war der 100., heute ist der 107. Tag des Krieges, den man häufig großangelegt nennt. In meinen Augen ist er aber noch nicht vollumfänglich. Zur Vollumfänglichkeit fehlt ihm nicht viel: die Generalmobilmachung zum Beispiel, oder ein Atomschlag. Das wissen alle und alle denken daran.
Auch ich denke daran, und ein paar Gedanken habe ich hier versammelt, eigentlich ist es ein ungeordnetes Wirrwarr an Gedanken. Es wird spannend sein, dieses Wirrwarr am 207., 307. oder 1007. Tag wieder zu lesen. Wenn es denn noch jemanden geben wird, der es lesen und dem man es vorlesen kann. Dennoch sammle ich.
Punkt für Punkt also. Was beobachten wir?
1) Die Regierung – die zentrale, in Kyjiw – ist nicht geflohen, nicht ausgereist, hat sich nicht in Luft aufgelöst (oder wie sie sich selbst rühmt: „Der Präsident ist hier, der Ministerpräsident ist hier.“). Das ist schließlich normal, so muss es sein. Aber die Propaganda modelliert daraus einen unvergleichlichen Heroismus, der in meinen Augen allmählich auf die Nerven geht. Sie sind nicht geflohen, tolle Kerle. Trotzdem sind nicht sie die Helden.
2) In der westlichen Auslegung der ukrainischen Gegenwehr hat sich eine wesentliche Entwicklung vollzogen (und vollzieht sich auch weiterhin): Sie galt als unmöglich, vergeblich, zum Scheitern verdammt, unerwartet, verzweifelt, verlustreich, hoffnungslos, mutig, heroisch, effektiv, gekonnt, erfolgreich. Jetzt hat die Spirale anscheinend dialektisch eine neue Windung erreicht: sie ist gefährlich und sie muss begrenzt werden. „Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren, aber auch russland [sic – dek] darf diesen Krieg nicht verlieren.“ Diese absurde These wird offenbar gerade zum westlichen und insbesondere europäischen Mainstream.
3) Ich weiß nicht, welcher Schlaumeier die in letzter Zeit oft wiederholte These formuliert hat, dass „jeder Krieg mit Verhandlungen endet“. Nein, nicht jeder. Es gibt auch Fälle von bedingungsloser Kapitulation. Das in unseren Breiten bekannteste Beispiel dafür ist Berlin, 8. Mai 1945.
4) Einer der amerikanischen Geheimdienste hat sich für seine ungenauen Vorkriegsprognosen bereits entschuldigt – ein unerwarteter Faktor wurde nicht berücksichtigt: der Kampfeswille der Ukrainer. Doch die schwärzesten Schwäne kommen noch.
5) Immer deutlicher wird, dass das Zeichen Z für Zombies steht. Im Krieg gegen die Ukraine spielen Leichen eine führende Rolle: kobson, shirinowski, motorola, putin.
6) Alles reimt sich mit allem. Wir haben Volonteure, sie Marodeure. Bei uns wird vertraut, bei ihnen geklaut.
7) Sowohl bei uns als auch bei ihnen sterben Menschen. Aber unsere für Freiheit und Würde, und ihre für putins Hirngespinste. Hier reimt sich nichts miteinander, denn bei uns rettet man Hunde, und bei ihnen isst man sie.
8) Der Wirbel im Internet um das „Canceln“ der GRK (der Großen Russischen Kultur) ist im Grunde nichts anderes als ein gezieltes Ablenkungsmanöver. Während die GRK boykottiert wird, wird die ukrainische Kultur vernichtet. Ein Boykott ist eine Form gewaltloser Ablehnung. Vernichtung ist ein Gewaltakt. Lauthals über das Erste klagen, und das Zweite „nicht zu bemerken“ – das ist ein Element der russischen Kriegsführung. Die Säuberung von Bibliotheken im okkupierten Gebiet wird merkwürdigerweise nicht so lebhaft besprochen wie das „Verbot“ von Tolstoi und Bulgakow.
9) 2014 war es shirinowski, jetzt sind es lawrow, lukaschenko, patruschew und unzählige andere, die immer aufdringlicher auf die mögliche „Annexion der Westukraine durch Polen“ hinweisen. Die Mitglieder von putins Politbüro sind von einer Manie des Zerteilens befallen. Transkarpatien werde auf Bitten Orbans nicht angegriffen. Es gibt plötzlich so viele Orwell, dass ganz Russland auf einen Kommentar zu seinem Roman zusammengeschrumpft ist.
10) Während die Opinionmaker weltweit bedrückt über Millionen von „refugees from Ukraine“ berichten, erwähnen sie lieber nicht, dass ein Drittel dieser Millionen bereits zurückgekehrt ist. Das ist unbequem, es passt nicht in ihre kollektive „Syrer-Schublade“: Lässt man ihn einmal herein, wird man ihn nie wieder los. Und die hier gehen freiwillig zurück, obwohl sie es schon reingeschafft hatten. Sind sie anders?
11) Wir sind anders. Der Westen sollte alles vergessen, was er bisher über die Ukraine wusste. Heute ist der 107. Tag, an dem sie – wie sich gezeigt hat – anders ist. Man sollte lernen ihr zuzuhören, damit man mit den eigenen Friedensbemühungen weniger Schaden anrichtet. Man sollte sie bei ihrer schwierigen Aufgabe internationaler Teufelsaustreibung nicht stören.
12) Das Böse wird bestraft werden. Gott ist kein Naivling.
Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Jędrzej Nowicki
Jędrzej Nowicki „Ein Funken Licht, selbst in dunkelsten Zeiten“
[bilingbox]Das Foto mit Glassplittern vor einem stark zerstörten Wohnblock im Bezirk Saltiwka in Charkiw hat mir wieder einmal gezeigt, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten einen Funken Licht gibt. Das Bild ist vom 19. März 2022. Charkiw befand sich damals mitten in einer brutalen Belagerung, und Saltiwka – einer der größten Schlafbezirke der Stadt – lag direkt an der Front. Tausende Bewohner von Charkiw lebten nur noch unter der Erde, die humanitäre Krise spitzte sich zu. Es war sehr bewegend und herzzerreißend, die zweitgrößte ukrainische Stadt zu dieser Zeit zu sehen.
Fast zwei Monate später fuhr ich wieder dorthin. Die russischen Truppen waren zurückgedrängt worden, Menschen kehrten zu den Ruinen ihrer Häuser zurück, das Leben normalisierte sich wieder. Es ist eine neue Normalität, doch war sie nicht von Dauer. Während ich diesen Text schreibe, steht Charkiw unter schwerem Beschuss – niemand weiß, was das bedeutet. Ist es einfach eine Mahnung der Russen, dass sie noch da sind, oder wollen sie vielleicht einen zweiten Totalangriff auf Charkiw starten? Also fahre ich wieder mit Helm und kugelsicherer Weste durch die Stadt. Erkundige mich ständig bei Einheimischen nach den sichersten Routen und Stadtteilen, wo es weniger gefährlich ist zu arbeiten.
Kein einziges Leben wird zurückkommen, und es wird Jahrzehnte brauchen, bis dort wieder eine friedliche Region entstehen kann. Genau wie mein geliebtes Warschau Jahrzehnte brauchte, nachdem es vor 80 Jahren in Ruinen verwandelt wurde. Heute blüht der Flieder wieder und die Luft flirrt in den endlosen Sommernächten. Eine Stadt, die überlebt hat.
Diese zutiefst menschliche Fähigkeit, immer Licht im Dunkel zu finden, treibt mich an als Fotograf und fasziniert mich als Mensch.~~~This photograph of shattered glass laying in front of a heavily damaged block in the Saltivka district of Kharkiv reminded me that even in the darkest times there always is a glimpse of light. The picture was taken on the 19th of March. Kharkiv was back then in the middle of a brutal siege and the Saltivka district – biggest dormitory suburb of the city – was its very frontline. Thousands of Kharkiv’s residents moved to live underground and humanitarian crisis was a pressing issue. To see Ukraine’s second-largest city at that time was a moving and rather heartbreaking experience. I decided to revisit Kharkiv after nearly 2 months. Russian troops had been pushed back, people started coming to their ruined houses, life was getting normal back again. New normality it is though and it is not given forever. As I’m writing this text now Kharkiv is being heavily shelled – no one knows what this might mean. Whether it’s just a reminder from Russians that they’re still there or maybe they will attempt to prepare a second full-scale attack on Kharkiv? So again I find myself driving around the city in a helmet and vest. Constantly checking with locals safest routes and neighbourhoods where it is relatively safe to work. No lives will be returned and rebuilding a peaceful region will take decades.
As it took decades for my beloved city of Warsaw – turned into ruins some 80 years ago now blooming with lilac, with the air vibrating with the noise of endless summer nights. The city that survived. This deeply humane ability to always find light in darkness is what drives me as a photographer and fascinates me as a human being.[/bilingbox]
JĘDRZEJ NOWICKI
geboren 1995, lebt in Warschau/Polen Er ist ein Dokumentarfotograf mit Fokus auf Osteuropa und bislang vor allem auf Belarus. Er hat auch im Nahen Osten und in Afrika gearbeitet.
AUSSTELLUNGEN, STIPENDIEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL)
2021 – World Report Award 2021 – Luis Valtuena Award 2019 – Ian Parry Scholarship
PUBLIKATIONEN Le Monde, Die Zeit, Newsweek, The Guardian, The Wall Street Journal uvm.
Foto: Jędrzej Nowicki Bildredaktion und Konzept: Andy Heller Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf Veröffentlicht am 02.06.2022
Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: ROBIN HINSCH
ROBIN HINSCH „Auf diesem Parkplatz könnten auch wir stehen“
Ich bereise die Ukraine seit 2010. In meiner Serie Kowitsch untersuche ich, wie die Lebenswirklichkeit der Menschen ständigen Veränderungen ausgesetzt ist. Ich fand und finde die Ukraine allein deshalb interessant, weil sie peripher und zentral zugleich ist und schon immer war. Bereits nach dem Zerfall der Sowjetunion gab ein Ringen um Einfluss auf das Land, ob nun aus Ost oder West. Dieser Zustand der Identitätsfindung oder des – im etwas überspitzen Sinne – nation building ist, was mich an der Ukraine interessiert.
Als ich Anfang März in Lwiw ankam, lag allgemeines Unbehagen in der Luft, unterstützt vom Dröhnen des Bombenalarms. Doch die Situation blieb noch diffus. Dies änderte sich schlagartig, als die ersten Raketen auch in Lwiw einschlugen. Immer drastischer wurde dieses Bild, je weiter ich in den Osten fuhr. Nach einiger Zeit im Südosten des Landes beschloss ich, nach Kyjiw zu fahren. In dieser Zeit schlug ein Iskander-Marschflugkörper in das Einkaufszentrum Retroville ein und hinterließ einen gigantischen Radius der Zerstörung.
Für mich steht dieses Bild stellvertretend für diesen entpersonalisierten Krieg, den Schrecken und das Leid, das Menschen sich gegenseitig zufügen können. Es ist ein Versuch im Betrachter, in der Betrachterin das Gefühl zu wecken, selbst auf diesem Parkplatz zu stehen.
ROBIN HINSCH
geboren 1987 Er studierte Fotografie an der HfG Karlsruhe in der Klasse von Elger Esser, an der Hochschule Hannover bei Prof. Ralf Mayer und Prof. Rolf Nobel, an der HfBK Hamburg bei Silke Großmann und schloss sein Studium mit einem Master in Fotografie an der HAW Hamburg bei Prof. Vincent Kohlbecher ab.
2022 – Gute Aussichten, Haus der Fotografie, Hamburg
2021 – Fotofestiwal, Lodz
2020 – Willy Brandt Haus, Berlin
STIPENDIEN UND AUSZEICHNUNGEN (AUSWAHL)
2022 – PH Museum Photography Grant (Shortlist) 2022 – Copenhagen Photo Award (Shortlist) 2022 – Hellerau Portrait Award (Shortlist) 2021 – Gute Aussichten Award 2020 – Sony Grant
PUBLIKATIONEN u.a. in Spiegel, CNN, Guardian, Rolling Stone, National Geographic, Süddeutsche Zeitung Magazin u.v.m.
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Russland führt seit fast drei Monaten Krieg im Nachbarland. Der russische Angriffskrieg konzentriert sich dabei mittlerweile vornehmlich im Südosten des Landes: Kämpfe um Großstädte wie Charkiw, Cherson, Kramatorsk und Mariupol halten an. Doch wie sind die Angriffe bisher verlaufen? Wie konnte der Vormarsch auf Kiew verhindert werden? Warum hat Russland Anfang April die Strategie geändert? Wie groß ist die Gefahr eines Nuklearschlags – auch angesichts von Waffenlieferungen? Und: Was können wir eigentlich im Moment über die Kämpfe wissen, über die unterschiedlichen kursierenden Opferzahlen oder über die genauen Geländegewinne der russischen Armee?
In unserem FAQ, das Stück für Stück weiter wachsen wird, sammeln wir zentrale Fragen zum Krieg und lassen sie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beantworten: FAQ#4: Kriegsverlauf in der Ukraine: Was wir wissen – und was nicht
KRIEG EINER ATOMMACHT: Kräfteverteilung und (nukleare) Gefahren
1. Russland ist eine Atommacht mit einer schlagkräftigen Armee. Hat die Ukraine auf Dauer überhaupt eine Chance?
Die Ukraine hat eine Chance in diesem Krieg, sofern der Westen weiter Waffen liefert. Andernfalls kommt es zu einer russischen Übermacht. Blickt man auf den Beginn des Krieges, so hat die numerische Anzahl der Kräfte am 24. Februar 2022 – gemessen an Truppen und Soldaten auf beiden Seiten – allerdings noch wenig ausgesagt. Sprich: Zahlenmäßig gab es von Beginn an eine russische Überlegenheit, aber sie war letztlich nicht so groß, wie es ursprünglich erschien.
Dazu drei konkrete Punkte:
Erstens: Die Ukraine hat seit Kriegsbeginn mobil gemacht und Reservisten einberufen. Russland dagegen konnte dies nicht tun, da sich das Land der offiziellen Lesart nach nicht im Krieg befindet, sondern eine „militärische Spezialoperation“ führt. Alles andere käme der russischen Gesellschaft gegenüber einem Eingeständnis gleich und würde die eigene Propaganda torpedieren.
Zweitens: Auf der russischen Seite wurden in den ersten Tagen und Wochen viele Fehler gemacht, die den Ukrainern mehr Zeit verschafft haben. So konnten sie noch Waffen an die Truppen ausgeben, die erst kurz vor Kriegsbeginn an die Ukraine geliefert worden waren. Außerdem gelang es dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky, einen kontinuierlichen Nachschub an Lenk- und vor allem Panzerabwehrwaffen aus dem Ausland aufzustellen.
Auf der russischen Seite wurden in den ersten Tagen und Wochen viele Fehler gemacht, die den Ukrainern mehr Zeit verschafft haben
Drittens: Die russische Führung plante einen „Blitzkrieg“. Daher ließ sie beim Einmarsch lediglich einen Teil der ukrainischen Flugabwehrsysteme zerstören, hatte also keine Lufthoheit und hat sie bis heute nicht. Trotzdem schickte der russische Präsident Wladimir Putin sofort Bodentruppen ins Land. Damit setzte er die eigenen Leute bei den Kampfhandlungen, die nun viel länger dauern als geplant, den Angriffen der Ukrainer aus der Luft aus. Als die Offensive schon zu Beginn ins Stocken kam, war auch Nachschub mit Treibstoff und Munition schlecht organisiert.
Diese Kriegszielplanung erklärt sich aus völliger Unkenntnis der ukrainischen Gesellschaft: Auf der russischen Seite gab und gibt es mehrere irrige Annahmen. Russland ist zum Beispiel ganz offensichtlich davon ausgegangen, dass die ukrainischen Soldaten für Präsident Wolodymyr Selensky nicht sterben wollen, sondern putschen oder überlaufen würden. Denn Selensky hatte vor dem Krieg sehr schlechte Zustimmungswerte1. Doch das geschah nicht, schon gar nicht nach acht Jahren Donbass-Krieg mit Russland als beteiligter Konfliktpartei.
Die eigentliche Chance für die Ukraine besteht darin, die Kosten für die russische Seite in die Höhe zu schrauben und die Geländegewinne so zu begrenzen, dass es Moskau als bessere Option erscheint, aufzugeben und zu Verhandlungen überzugehen als den Krieg fortzusetzen. Das wäre am Ende dieses Krieges eine realistische Option. Aber da sind wir noch nicht.
2. Welche Waffen gehen an die Ukraine – und warum?
Die Ukraine kann kaum noch selbst Waffen herstellen, auch keine Munition. Das kann nur durch Lieferungen aus dem Ausland kompensiert werden. Zwar hat die Ukraine früher viele Waffensysteme selbst produziert, doch all diese Hersteller sind durch die russische Luftwaffe zerstört worden. Unterstützt wird die Ukraine, indem etwa Panzerabwehrlenkwaffen, Kurzstrecken-Panzerabwehrwaffen (zum Beispiel Panzerfäuste) und Fliegerabwehrsysteme mittlerer Reichweite, wie BUK und S-300, geliefert werden. Außerdem Munition, Schutzausrüstung und Feuerwaffen.
Bisher wird in der Politik, wenn es um Waffenlieferungen geht, sehr kurzfristig agiert. Häufig wird das geliefert, was gerade gebraucht wird, mit Fokus auf Waffen sowjetischer Bauart und was an Lagerbeständen in Europa dazu verfügbar ist. Dazu gehört der Kampfpanzer T-72. Der Grund: Diese Waffensysteme sind den ukrainischen Streitkräften vertraut, sodass sie sofort eingesetzt werden können. Beim T-72 hat außerdem Polen zum Beispiel die Möglichkeit, Ersatzteile herzustellen.
Die Vorräte so ziemlich aller Waffensysteme sowjetischer Bauart sind in Europa begrenzt und gehen zur Neige
Darüber hinaus sind die Vorräte so ziemlich aller Waffensysteme sowjetischer Bauart in Europa begrenzt und gehen zur Neige. Sie wurden früher nur wenig gekauft, und es gibt keine Produktionsstätten dafür. Das betrifft zum Beispiel das Flug-Raketenabwehrsystem S-300. Und das sind gerade die Systeme, mit denen auch die russischen Marschflugkörper und Bomber im ukrainischen Luftraum abgeschossen werden können.
Diese Knappheit können auf Dauer nur westliche Waffensysteme kompensieren. Diese in die Ukraine einzuführen, ist jedoch ein sehr komplexer Vorgang. Es kann Monate dauern, bis die Truppen geschult sind, um diese Systeme bedienen zu können. Das hat damit zu tun, dass sich westliche Systeme von den Systemen sowjetischer Bauart grundlegend unterscheiden. Sie sind anders programmiert und sprechen elektronisch andere Sprachen. Das wäre so, als hätte man Microsoft, Apple oder Linux vor sich. Sprich: Bis die Ukraine neu gelieferte Waffensysteme, die nicht sowjetischer Bauart sind, verwenden kann, vergehen vielleicht drei Monate. In diesem Kontext sind auch die Erwägungen der Bundesregierung zu sehen, ukrainische Soldaten in Deutschland an solchen Systemen auszubilden2.
3. Bedeutet die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine völkerrechtlich gesehen einen Kriegseintritt?
Nein, völkerrechtlich führen Waffenlieferungen grundsätzlich nicht dazu, dass die Bundesrepublik Kriegspartei wird3. Die Russische Föderation dürfte Deutschland deswegen nicht rechtmäßig angreifen – das wäre völkerrechtswidrig.
Der Grund: Waffenlieferungen wie auch die Ausbildung ukrainischer Streitkräfte – zum Beispiel an Bundeswehr-Standorten in Deutschland – stellen lediglich eine Unterstützung der Ukraine im Rahmen ihrer individuellen Selbstverteidigung gegen die Russische Föderation dar. Rechtlich betrachtet handelt es sich dabei um das bloße Zur-Verfügung-Stellen von Waffen (und die Einweisung an diesen), ohne dass dabei konkrete Instruktionen für einen spezifischen Angriff gegeben werden. Damit ist dieser Eingriff noch zu niedrigschwellig, um eine ausreichende Einflussnahme auf das Kampfgeschehen und damit einen Kriegsbeitritt darzustellen. Im Gegensatz dazu könnte man überlegen, ob das Weiterleiten konkreter Positionsangaben – zum Beispiel von Generälen, die anschließend angegriffen werden – diese Schwelle überschreitet und damit einen Eingriff in den Krieg als Konfliktpartei darstellt. Denn da ist der Grad der Einflussnahme deutlich höher. Im Ergebnis muss jede solcher Unterstützungshandlungen als Einzelfall abgewogen werden.
Sobald deutsche Soldatinnen und Soldaten in der Ukraine mitkämpfen, würde dies rechtlich betrachtet einen Kriegsbeitritt Deutschlands darstellen.
Allerdings kann sich Putin so oder so durch solche Schritte provoziert „fühlen“. Mit anderen Worten: Ob Putin sein Handeln davon abhängig macht, ist keine völkerrechtliche, sondern eine politisch-strategische Frage, auf die wir de facto nur begrenzt Einfluss haben. Denn er stützt sich nicht auf das Völkerrecht, wie seine Invasion ins Nachbarland von Beginn an demonstriert.
Anne Dienelt Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg
4. Ist die Gefahr eines Atomkriegs real?
Grundsätzlich besteht in einem Krieg mit Beteiligung von Atommächten eine latente Gefahr, dass Nuklearwaffen auch eingesetzt werden können. Doch selbst wenn man denjenigen argumentativ folgen würde, die Wladimir Putin als „durchgeknallt“ bezeichnen: Dass Russland die USA mit strategischen Kernwaffen angreifen wird, um in der Ukraine zu siegen, dürfte unwahrscheinlich sein. Diese Angst vor einem Atomkrieg treibt seit Wochen die halbe Welt um. Jedoch galt die Erhöhung der Alarmstufe, die Putin in den ersten Kriegswochen befahl, offenkundig „lediglich“ den strategischen Angriffskräften.
Das bedeutet: Die erhöhte Alarmstufe soll für eine größere Aufmerksamkeit sorgen. Putin ist noch nicht zu einer Strategie des sogenannten nuclear brinkmanship übergegangen, wenngleich die ausgelöste Alarmstufe ein subtiler Schritt in diese Richtung war. Zumal der Einsatz von taktischen Kernwaffen keinen Sinn in einem Land macht, in dem in großer Zahl eigene Truppen stehen.
Die Staaten des Westens könnten bereits jetzt durch Putin als Kriegspartei gewertet werden – auch wenn es völkerrechtlich keine Grundlage dafür gibt
Für John Erath, Senior Policy Director des Center for Arms Control and Non-Proliferation in Washington, ist klar, dass Putin weiß, dass „die Antwort für alle katastrophal wäre“. Sprich: Solange er, Putin, sich bewusst sei, dass ein Einsatz von Atomwaffen seinerseits auch einen für ihn vernichtenden Atomschlag beinhaltet, ist davon auszugehen, dass es sich um nukleare Erpressung handelt.
Diskutiert wird immer wieder, inwiefern die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine als Auslöser für einen Atomkrieg gelten könnte. Tatsächlich ist es so, dass die Staaten des Westens bereits jetzt durch Putin als Kriegspartei gewertet werden könnten – auch wenn es völkerrechtlich keine Grundlage dafür gibt. Aktuell muss man davon ausgehen, dass das russische Militär ein westliches Eingreifen in der Ukraine (und sei es nur zum Zweck der Herstellung einer stabilen Friedenszone in der Westukraine) eher fürchtet, weil die russische Führung kaum Optionen hat, in einer Weise zu eskalieren, die russischen Zwecken dienen könnte.
5. Wie war die Kriegsstrategie der russischen Armee in der ersten Phase des Krieges?
Putins ursprünglicher Plan beruhte auf einer „Blitzkrieg“-Strategie: Der großflächige Angriff am 24. Februar 2022 erfolgte um 5 Uhr morgens, also zu einer Zeit, als die geringste Aufmerksamkeit bestand. In weniger als einer Stunde startete die russische Armee mehrere Luftangriffe auf Ziele in der gesamten Ukraine und Truppen drangen gleichzeitig über vier Achsen ins Land ein. Der Widerstand der ukrainischen Streitkräfte verhinderte einen Sturm auf den Regierungssitz in Kiew – der offensichtlich das erste militärstrategische Ziel war.
Der Widerstand der ukrainischen Streitkräfte verhinderte einen Sturm auf den Regierungssitz in Kiew – offensichtlich das erste militärstrategische Ziel
Dabei zeichnete sich bereits früh ab, dass die russischen Kräfte, die in die Ukraine vordrangen, gar nicht ausreichen würden, um das Land zu besetzen. In der Folge rückten sie nur langsam vor. Angriffe der ukrainischen Armee und eigene militärstrategische Fehler der russischen Armeeführung brachten erhebliche Verluste. Teilweise hatten die Truppen auch Kontakt zu ihren Kommandostellen verloren.
Das Vorgehen gegen Städte und Großstädte wurde während dieser ersten Kriegsphase mit jeder Woche brutaler, mit Angriffen, bei denen wahllos in Wohnviertel und gezielt auf Krankenhäuser und Geburtskliniken geschossen wurde. Städte wurden eingekesselt und von Wasser-, Strom- und Lebensmittelversorgung abgeschnitten. Wenn es überhaupt Einigungen auf Fluchtkorridore gibt, haben diese oft keinen Bestand, etwa weil fliehende Zivilisten mit ihren Autos dort doch beschossen werden. Hinzu kommt ein Vorgehen der russischen Armee, das bereits aus früheren Kriegen in Syrien und Tschetschenien bekannt ist: Sobald es gelingt, Frauen, Kinder und ältere Menschen über einen solchen Korridor rauszubringen, beginnt danach erst recht die Bombardierung der Stadt durch russische Artillerie.
6. Wie hat Russland den Frontverlauf Anfang April geändert – und warum?
Der Vormarsch auf die Hauptstadt Kiew und der Versuch, Präsident Selensky gewaltsam zu stürzen – ein zentrales Ziel der ersten Kriegsphase – wurde abgebrochen, weil das offensichtlich gescheitert war. Die russische Führung begann daher, die Truppen aus diesem Gebiet ab- und im Südosten der Ukraine zusammenzuziehen. Bis Mitte April zeigte sich die strategische Änderung auf dem Schlachtfeld deutlich. Seither gibt es nicht mehr vier, sondern zwei zentrale Fronten.
Erstens: die Donbass-Front, wo die russische Armee versucht, das gesamte Gebiet unter ihre Kontrolle zu bringen. Zweitens: die Krim-Front im Süden, den Russland ebenfalls einzunehmen beabsichtigt.4 Die damit deklarierten Ziele: eine Landverbindung zur Krim zu schaffen und die Ukraine vollends von den Häfen abzuschneiden. Umkämpfte Städte im Süden – Mykolajew, Melitopol, Cherson und Odessa – liegen zudem alle auf dem Weg zum angrenzenden Transnistrien. Damit wächst die Bedrohung für die Republik Moldau.
Besonders hart umkämpft von Beginn an: Mariupol, das bereits wochenlang eingekesselt war. Die ukrainische Armee konnte ihre Verteidigungslinie nur fern der Hafenstadt, etwa 120 Kilometer weit weg, halten. Sie hatte nicht genügend Waffen, um für eine Befreiung vorzustoßen. Die humanitäre Situation wurde entsprechend immer kritischer. Der Sprecher des Roten Kreuzes bezeichnete die Lage schon im März als „apokalyptisch“5. Es wird von vielen tausend toten Zivilisten ausgegangen.
Den letzten Verteidigern Mariupols gingen im April zunehmend Munition und Lebensmittel aus: Seit Mitte des Monats hielten sie sich im weitläufigen Gelände des Stahlwerks Asowstal verschanzt, unterschiedlichen Angaben zufolge suchten dort zwischenzeitlich bis zu 2000 Zivilisten Schutz. Anfang Mai begann die russische Armee, das Werk zu stürmen. Die ukrainische Armee hielt der russischen Belagerung und den ständigen Raketenbeschüssen in Mariupol trotzdem lange stand. Damit waren über Wochen russische Truppen gebunden beziehungsweise abgenutzt worden. Doch in dieser Schlacht ist davon auszugehen, dass die Stadt (vorerst) an Russland fällt.
Das, was als russisch besetzt beschrieben wird, [steht] nicht in jedem Fall auch tatsächlich unter russischer Kontrolle. (…) Die meisten Karten überschätzen den Umfang der eingenommenen Gebiete
Allerdings kommt die Offensive der russischen Truppen nicht überall so voran, wie es mitunter scheint. Beispiel Odessa: Die Stadt war zwar Ziel von russischen Angriffen mit Marschflugkörpern, die Treibstofflager, Militäreinrichtungen aber auch Wohnviertel trafen. Doch der Vormarsch stockt. Vor dem Hafen befinden sich im gebührenden Abstand Landungsschiffe der russischen Marine, die einen Angriff starten könnten und weitere Kriegsschiffe, die den Zugang zum Hafen blockieren. Für einen Angriff vom Wasser aus wurde die russische Schwarzmeerflotte allerdings stark geschwächt, weil die ukrainische Armee das Flaggschiff Moskwa versenkte.
Auch ist schwierig, abzusehen, wie groß die eingenommene Landfläche durch die russische Armee genau ist. Ein Mittel zur Darstellung sind Landkarten, die russische Geländegewinne und -verluste, Angriffsrichtungen und auch die Position von Formationen zeigen. Die zahlreichen Karten, die es gibt, stimmen aber nicht immer überein. Das bedeutet, dass das, was als russisch besetzt beschrieben wird, nicht in jedem Fall auch tatsächlich unter russischer Kontrolle steht. Da sich schwere und nicht manövrierfähige russische Kolonnen nur auf den großen Straßen bewegen können, bleiben viele Siedlungen und Gebiete, die sich fernab dieser Hauptstraßen befinden, unberührt und somit nicht besetzt. Die meisten Karten überschätzen daher den Umfang der eingenommenen Gebiete.
7. Wenn Russland den Osten einnehmen sollte: Ist der Krieg dann zuende?
Nein, es würde lediglich ein vorübergehendes Ende der Kampfhandlungen bedeuten, nicht aber ein Ende des russischen Angriffs auf die Ukraine. Die Idee, die speziell in der deutschen Öffentlichkeit viel diskutiert wird, man würde die russische Führung damit zufriedenstellen, ihr die Ostukraine zu überlassen, greift zu kurz.
Die Krux: Zum einen würde die Ukraine damit zum Objekt gemacht und über sie bestimmt. Zum anderen würde dies wenig Früchte tragen, da der Konflikt in erster Linie eingefroren, jedoch nicht gelöst wäre. Es würde zu einem Waffenstillstand kommen, jedoch nicht zu einer umfassenden Verhandlungslösung – schon gar nicht mit wirksamen Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Im Gegenteil: Es muss befürchtet werden, dass dies – vor allem solange sich russische Truppen auf ukrainischem Territorium befinden – nur das Vorspiel für einen späteren erneuten Angriffskrieg Russlands wäre. Dieser könnte sich auch gegen weitere Nachbarstaaten richten.
Nimmt Russland den Osten der Ukraine ein, wäre damit ziemlich wahrscheinlich ein Szenario verbunden, bei dem Moskau im Osten der Ukraine weitere Volksrepubliken entstehen lässt
Schauen wir uns das im Detail an: Nimmt Russland den Osten der Ukraine ein, wäre damit ziemlich wahrscheinlich ein Szenario verbunden, bei dem Moskau im Osten der Ukraine weitere sogenannte Volksrepubliken entstehen lässt, ebenso im Süden des Landes – je nachdem, wie viel Territorium Russland unter seine Kontrolle bringen konnte. Diese neu entstandenen Volksrepubliken würden möglicherweise später im Wege von arrangierten „Volksabstimmungen“ annektiert.
Das bisherige militärstrategische Vorgehen Russlands legt nahe, dass ein Waffenstillstand von seiten Moskaus unter zwei Bedingungen wahrscheinlich wäre: Erstens, sobald die russische Führung glaubt, unter den derzeitigen Bedingungen im Osten und Süden der Ukraine genügend Territorium unter seine Kontrolle gebracht zu haben. Zweitens, wenn weitergehende militärische Vorstöße erst einmal aussichtslos erscheinen. Die Frage ist, wann dieser Punkt erreicht ist.
Dieses Volksrepubliken-Szenario würde bedeuten, dass die Ukraine in einer unmöglichen und zerrissenen Situation verbleibt, die das Land auf Dauer zerstört, teilt, territorial verstümmelt, und in seinen Entwicklungsmöglichkeiten stoppt. Und die Gefahr eines erneuten Angriffskrieg bleibt bestehen.
8. Welche Rolle spielen russische Wehrpflichtige in diesem Krieg?
Zu Beginn des Krieges behauptete die russische Führung, Wehrpflichtige seien am Krieg nicht beteiligt. Doch es zeigte sich schnell6, dass das nicht stimmt. Genaue Zahlen – auch für den späteren Verlauf der Kriegshandlungen – fehlen dazu. Doch die Praxis, Wehrpflichtige einzusetzen, ist bereits aus den Tschetschenien-Kriegen sowie dem Russisch-Georgischen Krieg bekannt. Zurückzuführen ist das auf die Struktur der russischen Armee, die sich trotz zahlreicher Reformbemühungen des vergangenen Jahrzehnts im Kern weiter auf zwei Säulen stützt: auf Wehrpflichtige und Reservisten. Sprich: Dort, wo eine konzentrierte Kampfkraft benötigt wird, ist der Einsatz von Wehrpflichtigen über kurz oder lang unabdingbar.
Doch der Militärführung fehlt oft der personelle Nachwuchs. Nachweislich dienen derzeit mehrere Maßnahmen dazu, die Personallücken im Feld zu schließen, durch:
a) das Rekrutieren von Ausländern (zum Beispiel zentralasiatischer Arbeitsmigranten7), b) den Abzug von Truppen aus Militärbasen in Georgien8 (die es in den abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien gibt) c) das Zwangsrekrutieren von Wehrpflichtigen.9
Unterschreiben junge Männer unter Zwang eine Verpflichtung, wonach sie ihren Dienst weiter als Vertragssoldat (und nicht länger als Wehrpflichtiger) ableisten, können sie ganz legal in die Ukraine geschickt werden
Unterschreiben junge Männer unter Zwang eine Verpflichtung, wonach sie ihren Dienst weiter als Vertragssoldat (und nicht länger als Wehrpflichtiger) ableisten, können sie ganz legal in die Ukraine geschickt werden. Dass es so etwas gibt, ist Menschenrechtlern seit Mitte der 2000er Jahre bekannt.
Vor diesem Hintergrund droht die laufende Einberufung neuer Wehrpflichtiger zu einem Fiasko für die russische Führung zu werden. Anfragen junger Männer und besorgter Angehöriger, die unter allen Umständen einer Einberufung entgehen wollen, häufen sich10 bei den Komitees der Soldatenmütter und anderen Menschenrechtsorganisationen. Präsident Wladimir Putin hat Ende März angekündigt, dass in den folgenden drei Monaten 134.500 Wehrpflichtige einberufen werden sollen11. Es wird angenommen, dass die Militärkommissariate die Kriterien für die Rückstellung von Rekruten aufgrund von medizinischen Gründen aufweichen könnten.12
Eine Mobilmachung der Armee, um mehr Soldaten zu rekrutieren, hat der Kreml bislang vermieden.
Nadja Douglas Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)
9. Wie geht die ukrainische Armee vor, um gegen die russische Invasion Widerstand zu leisten?
Die ukrainische Armee kämpft mit dem gesamten Portfolio gepanzerter Verbände, vor allem mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen. Das ist ein enorm wichtiger Teil ihrer Verteidigung, ohne den zum Beispiel Kiew oder Charkiw eingekesselt worden wären. Dass die ukrainische Armee sich mit diesen gepanzerten Verbänden frei bewegen, sie zusammenziehen und Schwerpunkte bilden kann, ist möglich, weil sie von Flieger-Abwehrsystemen geschützt werden und zumindest örtlich und zeitlich begrenzt die russische Luftwaffe fernhalten.
Die Waffenlieferungen westlicher Staaten helfen der Ukraine dabei, sich weiter verteidigen zu können. Wie wichtig die gepanzerten Verbände und die Flugabwehrsysteme für diesen Kampf sind, tritt medial – also in Bildern – nicht so in den Vordergrund. Präsenter durch soziale Medien war von Anfang an die agile Partisanen-Technik mit Angriffen aus Hinterhalten, auf russische Nachschubkonvois, aber auch auf zum Teil hochrangige Generäle, die so getötet wurden. Aufsehen erregen außerdem die Drohnenangriffe auf russische Panzer. Eigentlich ist das aber der kleinere Teil des Krieges, bei dem allerdings zahlreiches Filmmaterial ins Netz gelangt.
Die ukrainische Armee kämpft mit dem gesamten Portfolio gepanzerter Verbände, vor allem mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen. Das ist ein enorm wichtiger Teil ihrer Verteidigung
Die Bayraktar-Drohne – ein in der Türkei produziertes Modell – ist in ihrer Wirksamkeit in diesem Krieg zugleich nicht zu unterschätzen. Der Grund: Während die ukrainische Luftwaffe ihre sonstigen Kapazitäten nutzt, um russische Kampfflugzeuge zu jagen, stehen diese Drohnen für Luftbodeneinsätze zur Verfügung. Damit kann die ukrainische Armee tiefer in die Reihen des Feindes vordringen als ihr das sonst vom Boden aus möglich wäre. Die Drohnen fliegen tief, sind klein und selbst von russischen Fliegern aus kaum zu sehen. Zum Teil gelangen der ukrainischen Armee auch deshalb viele Angriffe, weil die russische Armee zurückhaltend mit der Flugabwehr war: Zu groß war die Gefahr, in der Luft die eigenen Leute zu treffen. Die russische Seite hatte hier zu große Koordinationsschwierigkeiten. So haben die Bayraktar-Drohnen den Russen horrende Verluste zugefügt.
Die ukrainischen Streitkräfte (besonders das Heer) haben – anders als die russischen – außerdem vor Jahren damit begonnen, die Kommandostrukturen aus der Sowjetzeit abzulegen und Befehlshabern auf unteren Ebenen mehr Spielraum zu lassen. Das macht sie flexibler und bringt Vorteile gegenüber den starren Kommandostrukturen der russischen Armee, die bei dem früheren sowjetischen Prinzip geblieben ist.
Zudem hat sich auf ukrainischer Seite ein effektives Logistiksystem entwickelt, welches stark auf die Unterstützung von Freiwilligen aufbaut und das Informationen aus amerikanischen Quellen nutzen kann (zum Beispiel Satellitenbilder). Aus dem privaten Sektor kam ebenfalls Unterstützung seitens der USA: Das sogenannte Starlink-System wurde von Eigentümer Elon Musk für die Ukraine zur Verfügung gestellt, um dort das Internet aufrechtzuerhalten.
10. Wie kommt es, dass so viele hochrangige russische Generäle gefallen sind?
Hauptgrund ist, dass der Krieg länger dauert, als es die russische Führung vorgesehen hatte. Die für den Einmarsch in die Ukraine aufgebaute Kommandostruktur war für länger anhaltende Kampfhandlungen nicht ausgelegt. Dieser strategische Fehler hat es später notwendig gemacht, dass neue Befehlshaber direkt an die Front mussten, um sich ein Bild der Lage zu machen. Das brachte sie in große Gefahr, weil sie sich dort normalerweise nicht aufhalten.
Sie mussten die Führung von Bataillonen übernehmen, die erst später zusätzlich ins Feld geschickt wurden. Das betraf Kommandeure, die zwei bis drei Bataillone neu zugeteilt bekamen und sich einen Überblick darüber verschaffen mussten, was diese Bataillone vor Ort eigentlich tun. Ebenso erging es den vorgesetzten Generälen aus dem jeweiligen Armeekommando. Ihnen unterstehen zum Teil sogar bis zu 17 Bataillone gleichzeitig, was sehr viel ist. Diese mussten sie persönlich einweisen. Das hat die ukrainische Armee ausgenutzt und begonnen, diese aus der Deckung gekommenen Kommandeure und Generäle13 durch Scharfschützen oder mit Artillerie gezielt zu töten.
Dazu hat beigetragen, dass die Struktur der russischen Armee noch aus Sowjetzeiten sehr hierarchisch aufgebaut ist – anders als die ukrainische Armee.
11. Was lässt sich bisher zu (zivilen) Opferzahlen sagen?
In den Medien ist täglich von weiteren zivilen Kriegsopfern zu lesen. Grundsätzlich ist von hohen Opferzahlen in der ukrainischen Zivilbevölkerung auszugehen, vermutlich von mehreren tausend Toten14. Eine gesicherte, konkrete Zahl ist im Moment nicht seriös zu liefern. Was die Verluste bei den Streitkräften angeht, so variieren auch hier die Angaben stark je nach Konfliktpartei. Im Zuge der Kriegspropaganda – diese umfasst eben auch die Opferzahlen – ist davon auszugehen, dass die Zahlen beider Seiten verfälscht sind. Zahlen, die im Internet und auch von Medien verbreitet werden, sind daher ebenso mit Vorsicht zu genießen. Was sich sagen lässt, ist, dass es auf beiden Seiten ebenfalls mehrere tausend gefallene Soldatinnen und Soldaten sein müssen.
Auch die Menschen, die flüchten mussten, sind Opfer dieses Krieges: Schätzungen von neutralen Organisationen, wie beispielsweise dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes oder den Vereinten Nationen, legen nahe, dass mehr als sechs Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer das Land verlassen haben. Außerdem sind es wohl inzwischen rund 7,7 Millionen Menschen15, die innerhalb der Ukraine fliehen mussten (Binnenflüchtlinge).
Anne Dienelt Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg
12. Wie können die begangenen Kriegsverbrechen untersucht und völkerrechtlich geahndet werden?
Das ist ein langer juristischer Weg. Kriegsverbrechen, ebenso Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord, können vom Prinzip her sowohl von einer nationalen als auch von der Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (IStGH) untersucht und verfolgt werden. In der Ukraine schockierten besonders die grausamen Bilder von mutmaßlich durch russische Soldaten getöteten Zivilisten aus Kiewer Vororten wie Butscha und Borodjanka. Grundsätzlich gilt: Zivilisten – das ist völkerrechtlich verbindlich in den Genfer Konventionen geregelt – sind von den Kriegshandlungen auszunehmen; das heißt, sie dürfen im Krieg nicht direkt angegriffen werden. Liegen mutmaßliche Rechtsverstöße vor, so kann eins der damit betrauten Gerichte am Ende eines Strafprozesses, inklusive Beweisaufnahme, rechtskräftig feststellen, inwiefern Kriegsverbrechen verübt wurden, und wer dafür strafrechtlich verantwortlich ist. Dabei muss juristisch ausgeschlossen werden, dass es sich bei den getöteten Zivilisten nicht um ungewollte Opfer als Nebeneffekt eines Angriffs handelt (Kollateralschäden). Denn völkerrechtlich betrachtet gelten diese – so zynisch es in den Ohren juristischer Laien und der Betroffenen klingen mag – als rechtmäßig.
[Es] muss juristisch ausgeschlossen werden, dass es sich bei den getöteten Zivilisten nicht um ungewollte Opfer als Nebeneffekt eines Angriffs handelt (Kollateralschäden)
Daher kommt der Beweissicherung für solche Verfahren zentrale Bedeutung zu: Die Ermittlungsbehörden müssen unter anderem Zeugenberichte, Fotos und Satellitenaufnahmen sammeln und auswerten. Besonders wichtig sind auch Obduktionen an den Opfern zur Feststellung des Tathergangs und der genauen Todesursache. In der Ukraine sind damit im Moment unterschiedliche Akteure befasst: Neben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft, die zu Kriegsverbrechen aller beteiligten Streitkräfte – also auch der ukrainischen Seite16 selbst – ermittelt und in diesem Zuge auch Beweise sichert, sind weiterhin verschiedene investigative Medien wie Bellingcat beteiligt, außerdem internationale Organisationen wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), darunter Human Rights Watch (HRW). Seitens der EU soll auch Eurojust ermitteln und Beweise sichern. Auf die Beweissicherung folgt die Aufarbeitung durch Gerichte. Neben den nationalen ukrainischen Gerichten können außerdem Gerichte anderer Staaten Gräueltaten untersuchen. Dazu gehört auch die Bundesrepublik. So hat die deutsche Bundesgeneralanwaltschaft bereits Ermittlungen nach dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch aufgenommen17.
Die ukrainische Regierung fordert überdies, ein Sondertribunal zur rechtlichen Aufarbeitung der Verbrechen bei den Vereinten Nationen einzurichten. Sondertribunale gab es mehrere seit den 1990er Jahren, unter anderem zum Völkermord von Rwanda. Vor diesem Sondertribunal sind im Laufe von 20 Jahren 61 der insgesamt 93 Angeklagten zu Haftstrafen von durchschnittlich 30 Jahren verurteilt worden18.
Anne Dienelt Institut für Internationale Angelegenheiten, Universität Hamburg
Russland führt Krieg gegen die Ukraine. dekoder stellt die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen. Gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern geht es in diesem FAQ darum, fakten- und wissenschaftsbasiert zu erklären und einzuordnen, was man zu Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wissen muss.
Stellen Sie uns gern auch Ihre Fragen – per Email unter dekoder-lab@dekoder.org. Wir werden versuchen, mit Expertinnen und Experten aus europäischen Universitäten Antworten darauf zu finden.
Diese Reihe entsteht in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin und wird von der Alfred-Toepfer-Stiftung F.V.S. unterstützt.
[bilingbox]Ein Mensch aus Mariupol hat mir einmal gesagt: „Für die Evakuierung musste man eine andere Person werden – halb-leer und semi-neu. Anders hattest du keine Chance, aus der Stadt herauszukommen. Du wirst eine Person ohne Vergangenheit, denn sie wird dir weggenommen, ein Mensch, dessen Erinnerungen keine materielle Grundlage mehr haben. Du stehst ohne alles da, sogar ohne die Gräber deiner Eltern.“
Die Fotos habe ich in Schutzräumen für Binnenflüchtlinge in Lwiw aufgenommen. Theater, Schulen, Bibliotheken, Kindergärten und Büros wurden in Schutzräume umgewandelt. Außerdem nehmen die Bewohner von Lwiw auch viele Menschen bei sich zu Hause auf. Lwiw in der Westukraine, die Stadt, in der ich lebe, ist heute ein wichtiger Fluchtort für mehr als 200.000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die wegen des Krieges von zu Hause fliehen mussten. Einige von ihnen werden nach Hause zurückkehren können, einige nicht, weil es nichts gibt, wohin sie zurückkehren können. Die Städte, aus denen sie kommen, sind womöglich dem Erdboden gleichgemacht, wie zum Beispiel Mariupol.
In einem Team von Gleichgesinnten arbeite ich an einem Projekt, bei dem wir die Geschichten von Menschen aufzeichnen, die wegen des Kriegs gezwungen waren, von zu Hause zu fliehen. Das Ziel unseres Projekts ist eine Dokumentation mit Fakten und den tragischen persönlichen Geschichten dieser Menschen. Nach Fertigstellung wollen wir der Welt dieses Projekt zeigen, obwohl das wahrscheinlich noch lange dauern wird.
Mein Ansatz beim Fotografieren ist mittlerweile ein anderer als in den ersten beiden Kriegswochen, als ich die Serie Chairs at the Border aufgenommen habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, ich dürfe den privaten Raum der Menschen nicht verletzten, denn es würde ihnen Zeit rauben, die sie brauchen, um sich von ihren Angehörigen zu verabschieden. Ich habe nicht gewagt, in ihre sowieso schon fragile und zerstörte Privatsphäre einzudringen, obwohl ich mir der historischen Bedeutung und Wichtigkeit des Moments bewusst war. Auch für mich selbst war alles seltsam, so dass ich mich auf die Suche nach Spuren der Anwesenheit von Menschen begab – das waren Dinge, die sie zurückgelassen hatten. Ich habe einige Stillleben fotografiert. Stühle mit Gegenständen, die dort noch lagen. Das waren für mich Inseln inmitten der Wellen von Menschen, auf denen man innehalten und kurz ausruhen konnte.
Mittlerweile höre ich den Geschichten von Menschen zu und fotografiere sie dann. Manchmal unterhalten wir uns mehrere Stunden, denn jetzt haben sie Zeit und das Bedürfnis, uns von sich zu erzählen. Sehr oft setzen sich diese Bekanntschaften fort. Wir haben ihre Kontaktdaten und versuchen zu helfen, wo wir nur können.
So entstand auch dieses Portrait von Olena, 44. Sie ist mit ihrem kleinen Sohn Jaroslaw (1 Jahr und 7 Monate alt) und ihrer Schwiegermutter aus Charkiw geflohen. Ungefähr zehn Tage nach Kriegsbeginn war Olenas Mann aus dem Haus gegangen, um nach Wasser für die Familie zu suchen. Auf dem Rückweg geriet er in ein Feuergefecht, fiel in ein durch eine Explosion entstandenes Erdloch und brach sich ein Bein. Der Krankenwagen erreichte sie wegen der scharfen Kämpfe in dem Gebiet erst nach zwei Tagen. Nach einem Monat im Keller wurde das Kind allmählich krank und Olena beschloss, die Stadt zu verlassen. Sie stiegen in einen Zug, der Menschen evakuierte, und kamen nach Lwiw. Ihr Mann und ihre Mutter blieben in Charkiw.
Im Krieg erinnern mich die Menschen mehr und mehr an Bäume. Sie sind stark und mächtig, die Tiefe ihrer Wurzeln ist um Vieles größer als die Höhe ihrer Stämme. Doch nun werden diese Bäume entwurzelt und weggeworfen. Nicht jeder kann sich tief genug eingraben, um wieder Wurzeln zu schlagen, nicht jeder wird im Frühling blühen und im Herbst gelbe Blätter kriegen. Wir, alle Ukrainer, spüren keine Zukunft mehr. Alles, was wir noch haben, sind Fragmente der Erinnerung an das, was vor Februar geschah. Aber viele von uns haben nichts mehr.~~~One guy from Mariupol once told me, “In order to be able to evacuate from there, you had to become a different person—half-empty and semi-new. Otherwise, you had no chance to leave the city. You become a person with no past as it has been taken away, a person whose memories have no material basis. There is nothing you are left with, not even the graves of your parents.“ The photos you can see here were taken in Lviv shelters for internally displaced persons. Theaters, schools, libraries, kindergartens, and offices have been converted into shelters. Moreover, Lviv residents also take in many people at their own homes. Today, Lviv in Western Ukraine, the city, where I live, has become a great refuge for more than 200,000 Ukrainians who have been forced to flee their homes because of the war. Some of them will be able to get back home, and some will not because there will be nowhere to return to. The cities where they lived may be wiped off the face of the earth, as is the case with Mariupol. With a team of like-minded people, I am working on a project which deals with recording the stories of people who were forced to flee their homes because of the war. The end goal of the project is the creation of a document of recorded facts and tragic personal stories of those people. We aim to show this document to the world when the project is ready, although I understand that this may not happen soon.
Now my approach to taking photos is different from what it was during the creation of Chairs at the Border series in the first two weeks of the war. At that point in time, I felt that I could not violate people’s private space, because it would take their time, which they would rather like to use saying goodbye to their relatives. I did not dare to interfere in their already fragile and ruined private space, although I understood the historicity and importance of the moment. Also, for me personally, everything was strange, so I looked for traces of people’s presence—the things which remained after they left. I took a number of still life photos. I photographed chairs with the objects left on them, since they seemed to me like islands among waves of people, that is, places where one could stop and rest for a moment.
Now I listen to people’s stories before taking their photos. Sometimes we talk for a few hours because now they have time for it and feel the need to tell us about themselves. Very often these acquaintances have a continuation. Having the contacts of the people, we try to help them as much as possible. This is a portrait of Olena, 44. She fled Kharkiv with her young son Yaroslav, who is 1 year and 7 months old, and her mother-in-law. About 10 days after the start of the war, Olena’s husband left home to find and bring water to the family. On the way back, he came under gunfire, fell into a pit left after the explosion and broke his leg. The ambulance was able to reach them only in 2 days, because fierce battles were fought in their area. After a month of hiding in the basement, the child began to get sick and Olena decided to leave the city. They boarded an evacuation train and arrived in Lviv. Her husband and mother stayed in Kharkiv.
In wartime, people remind me more and more of trees. They are strong and powerful, the depth of their roots is many times greater than the height of their trunks. However, now these trees are uprooted and thrown away. Not everyone can bury themselves enough to take root again, not everyone will bloom in spring and turn yellow in autumn. Now, all of us Ukrainians no longer feel the future. All we have left are the fragments of memories of everything that happened before February. But many of us have nothing left.[/bilingbox]
ELENA SUBACH
geboren 1980 in Tscherwonohrad, Ukraine Wirtschaftsstudium an der Staatlichen Universität Wolyn Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Nationalgalerie Lwiw, Kuratorin, visuelle Künstlerin
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
2022 – Home again, Willy-Brandt-Haus, Berlin
2022 — In Ukraine, Gallery at Dobbin Mews, New York
2021 — Odesa Photo Days festival, Who is next to you?, Museum of Odesa Modern Art
2019 — City of Gardens, EEP Berlin (Einzelausstellung)
2019 — Woven Matter at Unseen, Amsterdam
2019 — Fotofestival Lodz
PUBLIKATIONEN u. a. in Weltkunst, SZ Magazin, Vogue Polska, Guardian (UK)
Fotos: Elena Subach Bildredaktion und Konzept: Andy Heller Übersetzung: Friederike Meltendorf Veröffentlicht am: 10.05.2022
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Inmitten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gab es bereits mehrere Verhandlungsrunden. Viel Hoffnung auf eine schnelle diplomatische Lösung besteht nicht. Und doch fällt immer wieder ein Stichwort: ein „neutraler“ Status für die Ukraine und die Verankerung eines solchen Status in der ukrainischen Verfassung. Aber was heißt das überhaupt? Geht das? Und: Könnte der Krieg dadurch wirklich (so einfach) beendet werden?
Die Idee klingt tatsächlich nach einer einfachen Lösung: Die russische Führung würde mit einem neutralen Puffer-Staat („cordon sanitaire“) bekommen, was sie verlangt, und der Krieg könnte schnell enden.
So einfach ist es aber nicht und zwar aus drei zentralen Gründen:
Zweitens: Egal, ob es am Ende um einen „neutralen“ Status geht oder um einen anderen Kompromiss – Sicherheitsgarantien sind dabei das Kernproblem, wie bisherige Forderungen der Ukraine ↓ zeigen. Alles dreht sich in dem, was dazu bislang bekannt ist, um die Frage, wer einer möglichen „neutralen“ Ukraine im Fall eines Angriffs militärisch beistehen würde, ohne Wenn und Aber. Andernfalls sähe sich die Ukraine als Nicht-NATO-Mitglied schutzlos einem Angreifer ausgeliefert. Entscheidend sind also Garanten, sprich: (Schutz-)Staaten (USA, Großbritannien etc.) oder internationale Organisationen, die rechtsverbindlich verpflichtet wären einzugreifen, notfalls militärisch. Allen voran müsste sich auch Russland darauf erst einmal einlassen. Und die Ukraine muss sich sicher sein können, dass die Garantien das Papier, auf dem sie stehen, auch wert sind.
Drittens: Die jüngere Geschichte der Ukraine mahnt zur größten Vorsicht, weil Russland mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 bereits ein Schutzabkommen gebrochen hat, nämlich das Budapester Memorandum von 1994. Über das Abkommen war der Ukraine territoriale Integrität, Souveränität und Schutz zugesichert worden – von Russland selbst, außerdem von den USA und Großbritannien. Im Gegenzug hat die Ukraine damals die auf ihrem Gebiet aus Sowjetzeiten „geerbten“ Atomwaffen abgegeben (aber keine „Neutralität“ versprochen ↓). Die Annexion hat gezeigt, dass das Budapester Memorandum keinen effektiven Schutz bot. Der Angriffskrieg seit dem 24. Februar 2022 unterstreicht das nur ein weiteres Mal.
Ganz grundsätzlich stellt sich die Frage, ob sich die russische Seite mit einer „Neutralität“ allein wirklich zufrieden geben würde. In den TV-Ansprachen vor der Invasion hat Russlands Präsident Wladimir Putin die Existenz der Ukraine als Staat wiederholt und mit Nachdruck generell infrage gestellt.
Cindy Wittke Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)
Stefan Wolff Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham
2. Was genau liegt überhaupt auf dem Verhandlungstisch?
Momentan fungiert das Stichwort „Neutralität“ vor allem als eine Art Türöffner für die ersten Verhandlungsrunden zwischen Russland und der Ukraine – wobei unklar ist, ob das irgendwo hinführen kann. Die zentralen Punkte, sowohl auf der russischen, als auch auf der ukrainischen Seite, zeigen, wie weit die Vorstellungen dabei auseinander liegen.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat drei zentrale Maximalforderungen genannt. Erstens: Neutralität der Ukraine, verbunden mit einer Entmilitarisierung Zweitens: Anerkennung der Krim als Teil Russlands Drittens: Anerkennung der Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken im Donbass
Das Ziel eines Regimewechsels in Kiew, der im russischen Propaganda-Narrativ „Entnazifizierung“ impliziert war, ist im Zuge der eigentlichen Verhandlungen kaum noch betont worden. Damit wird nun der ursprünglich angestrebte Regimewechsel in Kiew nicht explizit angesprochen und der Weg für direkte Gespräche zwischen Wladimir Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky offen gehalten.
Selensky hat auf die russischen Verlautbarungen bisher deutlich ablehnend reagiert, insbesondere auf die Forderungen zwei und drei, die die territoriale Integrität der Ukraine infrage stellen.
Auch eine mögliche Neutralität legt Selensky anders aus. Erstens: Er verwendet eine enge Definition von Neutralität und meint damit den Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft, die mit noch zu definierenden Sicherheitsgarantien durch eine größere Anzahl von Garantstaaten (darunter die USA, Großbritannien, Frankreich, Russland, oder auch die Türkei, Polen, Israel) abgesichert werden soll. Diese Sicherheitsgarantien und die Frage, wie sie durchgesetzt werden können, sind der eigentliche Knackpunkt ↑. Zweitens: Eine Entmilitarisierung wird von der Ukraine abgelehnt Drittens: Es besteht Selbstbestimmungsrecht in der politischen und wirtschaftlichen Westorientierung der Ukraine (EU-Integration)
Die mehrheitliche gesellschaftliche Zustimmung in der Ukraine für die NATO-Mitgliedschaft ist seit 2019 gestiegen1 und bleibt auch jetzt im Krieg hoch. Daher ist unklar, ob ein möglicher Kompromiss seitens Selenskys überhaupt auf die nötige gesellschaftliche Akzeptanz stoßen würde. Der ukrainische Präsident hat ein Referendum über ein Abkommen angekündigt. Territoriale Fragen der Ukraine würden dabei voraussichtlich noch kontroverser in der Bevölkerung aufgenommen als ein Verzicht auf einen NATO-Beitritt.
Gwendolyn Sasse Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)
3. War die Ukraine bislang nicht sowieso neutral? (Spoiler: Jein)
Die Kurzversion: Ja, die Ukraine gehört weder der NATO noch der EU an. Für die Ukraine gab und gibt es mittelfristig auch keine Perspektive, in die NATO aufgenommen zu werden. Was die EU angeht, hat sich dagegen seit dem Assoziierungsabkommen von 2014 eine potentielle Beitrittsperspektive eröffnet, wobei der Weg zum offiziellen Status als Beitrittskandidat noch weit ist.
Die Beantwortung dieser Frage ist jedoch etwas komplizierter und hilft zu verstehen, dass es zu einfach ist, eine Art „neutrale“ Ukraine als schnelle Lösung für den derzeitigen Krieg anzusehen. Also von vorn: Die Ukraine war und ist bündnisfrei, besaß jedoch nie einen offiziell „neutralen“ Status (wie etwa Finnland). Zugleich hatte die Ukraine seit 1994 mit dem Budapester Memorandum ↑ einen gewissen Schutzstatus genossen. Die Außen- und Sicherheitspolitik war seither davon geprägt, sowohl in Richtung EU und NATO also auch in Richtung Russland zu blicken – je nachdem, ob der prorussische Viktor Janukowitsch oder prowestliche Kräfte wie Viktor Juschtschenko in Regierungsämtern waren. Unter Juschtschenko erhielt die Ukraine auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 eine grundsätzliche Beitrittsperspektive (neben Georgien). Hintergrund waren Ängste um die territoriale Integrität mit Russland als direktem Nachbarn und seinem Flottenstützpunkt auf der Krim, während ein Konflikt um die Lieferung russischen Gases schwelte. Der Fünf-Tage-Krieg zwischen Russland und Georgien nur kurze Zeit später bestätigte solche Ängste. Damit wurde jedoch die NATO zögerlich. Wegen Bedenken, Länder aufzunehmen, die eine mögliche Konfrontation mit Russland als Bündnisfall mit sich bringen könnten, rückte eine Mitgliedschaft auch für die Ukraine schlagartig in die Ferne. Mit Janukowitsch zurück im höchsten Staatsamt, ab 2011, erklärte sich die Ukraine sogar per Gesetz zu einem Staat ohne militärisches Bündnis. Als Janukowitsch auf Druck aus Moskau EU-Annäherungen stoppte, löste das im Winter 2013/14 die Maidan-Revolution gegen ihn aus. In der Folge annektierte Russland die Krim. Nur wenige Wochen später wurde der politische Kurs, in die NATO und die EU zu streben, von der neuen ukrainischen Regierung umso hartnäckiger wieder aufgenommen. Mit zunehmender Bedrohung wurden Allianzen verstärkt gesucht.
Cindy Wittke Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)
Stefan Wolff Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham
4. Was soll das überhaupt sein – ein „neutrales“ Land – wenn man es auf dem Reißbrett entwirft?
Neutral kann ein Land in zwei Hinsichten sein: Zum einen, wenn ein Land sich nicht in geopolitische Rivalitäten von Großmächten einmischt – was in der Praxis einer Nicht-Paktgebundenheit entspricht. Oder zum anderen auch dann, wenn ein Land grundsätzlich im Kriegsfall seine Neutralität wahrt (abgesichert über einen entsprechenden „völkerrechtlichen Status“). Neutralität bedeutet damit nicht zwangsläufig eine Entmilitarisierung: Es gibt auch eine sogenannte bewaffnete Neutralität. Sie räumt neutralen Staaten zumeist das Recht ein, eigene Streitkräfte zur Landesverteidigung zu unterhalten. Was dann sogar umso wichtiger ist, um sich gegen Angriffe selbst wehren zu können. Traditionell war ein neutraler Status in zurückliegenden Jahrhunderten vor allem zum Schutz kleiner Staaten gedacht, insbesondere in Kriegszeiten. Daraus erklärt sich auch, dass in Bezug auf die Ukraine beim Stichwort „Entmilitarisierung“ und/oder „Neutralität“ viele, zum Teil sehr verschiedene Schlagworte wie „Finnlandisierung“ ↓ fallen, beziehungsweise von einem schwedischen oder von einem österreichischen Weg ↓ die Rede ist.
Cindy Wittke Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)
Stefan Wolff Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham
5. Was ist mit der Idee einer „Finnlandisierung“ der Ukraine?
Der Begriff „Finnlandisierung“ bezieht sich auf den neutralen Status Finnlands, den das Land seit den 1940er Jahren inne hat. Der wurde zwar zu Sowjetzeiten anders mit Leben gefüllt als das seit Ende des Kalten Krieges geschieht. Entscheidend aber ist, dass er weder damals noch heute ein passendes Modell für die Ukraine liefert.
Um das vor Augen zu führen, zunächst kurz zu den völkerrechtlich relevanten Prinzipien, auf denen das finnische Modell fußt: Es gibt eine gegenseitige Nichtangriffs-Garantie, eine gegenseitig zugesicherte Bündnisfreiheit und Begrenzungen der finnischen Streitkräfte, die in ihrer Größe und Ausrüstung lediglich Aufgaben der inneren Sicherheit und der Landesverteidigung entsprechen dürfen. Zugleich werden die Souveränität und territoriale Integrität Finnlands bekräftigt. Vertragspartner war einst die Sowjetunion, heute ist es der Rechtsnachfolger Russland. Insofern bestehen die ursprünglich zu Sowjetzeiten geschlossenen Verträge fort. Doch die finnische Regierung hat sich Anfang der 1990er Jahre entschieden, das Land innerhalb des neutralen Status anders aufzustellen: So ist Finnland zwar nicht Mitglied der NATO, wohl aber Teil aller Partnerschaftsprogramme der NATO2 geworden und seit 1995 auch vollwertiges EU-Mitglied.
Das Kernproblem bei der Idee einer neutralen Ukraine nach finnischem Vorbild: Die gegenwärtig bekannten russischen Forderungen gehen weit darüber hinaus. Russlands Vorstellung nach dürfte es keinerlei Armee geben, auch keinerlei Assoziierung mit Militärbündnissen wie der NATO. Damit wäre die Ukraine wehrlos. Russland würde sich de facto Einfluss auf den Nachbarn sichern, so wie es der Sowjetunion in Finnland bis zum Ende des Kalten Krieges schon gelang3 – weil die Bedrohung durch eine Atommacht ohne andere Schutzalternativen zu groß war.
Zudem bieten die (völkerrechtlichen) Grundlagen zur finnischen Neutralität so oder so nicht die notwendigen Sicherheitsgarantien ↑, die die Ukraine mit Blick auf die Erfahrungen aus Krim-Annexion und laufendem Angriffskrieg erwarten würde. Ob eine Aggression Russlands damit eingehegt werden kann, ist daher fraglich.
Cindy Wittke Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS)
Stefan Wolff Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham
6. Schweden oder Österreich – sind vielleicht das die passenderen Modelle?
Die Modelle von Schweden und Österreich sind ebenfalls in die Diskussion eingebracht worden. Beide sind aber noch weniger als eine „Finnlandisierung“ ↑ dazu geeignet, um auf die Ukraine angewendet zu werden, weil keine vertraglich verbindlich festgehaltenen Sicherheitsgarantien existieren – die aber bräuchte es jetzt ↑.
Schwedens Neutralität war freiwillig, also ohne jegliche Vertragsbindung und geht in die Zeit der napoleonischen Kriege im frühen 19. Jahrhundert zurück. Daher war die Umsetzung auch relativ uneben und besonders im Zweiten Weltkrieg hat Schweden seine neutrale Position nicht gehalten: Die Regierung hat Nazideutschland sowohl wirtschaftlich unterstützt als auch den Transit deutscher Truppen an die Ostfront ermöglicht. Nach 1945 war Schweden zwar weiterhin formell neutral, hat sich aber immer stärker auch militärisch an den Westen angelehnt und ist analog zu Finnland seit 1995 EU-Mitglied, wenngleich in militärischer Hinsicht weiter bündnisfrei.
Österreich ist ein weiterer Fall, der in der Diskussion um eine neutrale Ukraine eine Rolle spielt. Im Fokus stehen vor allem die zwischen Österreich und der damaligen Sowjetunion geschlossenen Abmachungen aus den frühen 1950er Jahren, mit denen Österreich seine Souveränität wiedererlangte. Die Neutralität des Landes ist in der Verfassung und in einem separaten Verfassungsgesetz verankert worden. Es gibt hier, wie im Falle von Schweden, keine Sicherheitsgarantien. Außerdem hat Österreich sich über die Jahrzehnte strikt vorbehalten, selbst zu entscheiden, was mit seiner Neutralität vereinbar ist. Das hat unter anderem dazu geführt, dass es 1995 zu einer Novellierung des Verfassungsgesetzes zur Neutralität kam, so dass der Weg in die Europäische Union geebnet werden konnte – einschließlich einer Beteiligung an der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union.
Angesichts der russischen Forderungen ist es schon erstaunlich, dass diese Staaten überhaupt als Modelle einer vermeintlich einfachen Lösung herangezogen werden: Denn für sie sind eine EU-Mitgliedschaft und Kooperationen mit der NATO über die vergangenen Jahrzehnte zu einem wesentlichen Teil ihrer Außen- und Verteidigungspolitik geworden. Das zeigt sich auch im russischen Angriffskrieg selbst: Sowohl Finnland als auch Schweden haben Waffen an die Ukraine geliefert; Österreich hat der NATO erlaubt, seinen Luftraum für Überflüge zu nutzen.
Gwendolyn Sasse Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)
Stefan Wolff Institute for Conflict Cooperation and Security, University of Birmingham
Russland führt Krieg gegen die Ukraine. dekoder stellt die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen. Gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern geht es in diesem FAQ darum, fakten- und wissenschaftsbasiert zu erklären und einzuordnen, was man zu Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wissen muss.
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Diese Reihe entsteht in Kooperation mit dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin und wird von der Alfred-Toepfer-Stiftung F.V.S. unterstützt.
Veröffentlicht am 1. April 2022
1.Das zeigen Vergleichsdaten in den Umfragen des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS): Lagen Zustimmungswerte für einen NATO-Beitritt im Jahr 2014 noch bei 40 bis 45 Prozent, lagen diese im Dezember 2021 bei knapp 60 Prozent, vgl. Umfrage des KIIS aus 12/2021, vgl. Umfrage des KIIS aus 08/2019. ↑
2.In Finnland ist seit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine auch erstmals die Idee einer NATO-Vollmitgliedschaft kein Tabu mehr, vgl. Deutschlandfunk: Der lange Abschied von der Neutralität. Trotzdem kann Finnland eine Vollmitgliedschaft in der NATO nicht so einfach anstreben, wie es manchmal in der öffentlichen Debatte den Anschein hat. Zwar kann Finnland in Fünfjahresabständen den Freundschaftsvertrag mit Russland als Rechtsnachfolger der UdSSR kündigen. Doch das Neutralitätsgebot (keinem Militärbündnis beizutreten) aus den Friedensverträgen von 1940, 1947 und dem Waffenstillstandsabkommen von 1944 verschwindet damit nicht. ↑
3.In Finnland herrschte zur Zeit des Kalten Krieges eine außenpolitische Linie, die sich den Interessen der Sowjetunion unterordnete. Auch innenpolitisch wurde Kritik am großen Nachbarn nicht geübt, was massive Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit, auf Kunst und Kultur hatte. In dieser Hinsicht gibt es auch Stimmen aus Finnland, die vor dem Pfad einer „Finnlandisierung“ als Modell für die Ukraine warnen, vgl. Deutschlandfunk: Interview mit Kai Sauer, Staatssekretär finnisches Außenministerium, zu: Ukraine (Ende März 2022). ↑