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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Kampf zurück ins Leben

    Kampf zurück ins Leben

    Wie finden ukrainische Kämpfer nach ihrem Armeedienst oder andere, die in russischer Gefangenschaft waren, den Weg zurück ins zivile Leben? Vor allem, wenn sie nach ihrem Einsatz an körperlichen oder psychischen Versehrungen und Traumata leiden und deswegen nicht in ihren alten Beruf zurückkehren können.

    Die Journalistin Iryna Oliinyk erzählt für das ukrainische Online-Medium Zaborona die Geschichte eines Betroffenen, der nach der Gefangenschaft einen beruflichen Neuanfang mit Hilfe des zivilgesellschaftlichen Projekts Heart of Asovstal schaffte, das auch Soldaten hilft, die im Frühjahr 2022 bei der Verteidigung des Asow-Stahlwerks in Mariupol im Einsatz waren. 

    Gefangenschaft und Neuanfang

    Hennadii Assheurow hat über 30 Jahre lang bei der Streifenpolizei von Mariupol gearbeitet. Was Krieg ist, wusste er schon seit 2014 sehr genau, denn seitdem befand sich sein Heimatdorf Hranitne an der Kampflinie. Im Februar 2022 sollte der Mann in den Ruhestand gehen. Er erinnert sich, dass am Abend des 23. Februar mit schwerem Beschuss begonnen wurde: Da gelang es den russischen Streitkräften, das Dorf abzuschneiden und einzukreisen. Wenige Tage später kamen Soldaten aus der sogenannten Donezker Volksrepublik und Luhansker Volksrepublik zu Hennadiis Haus und schnappten sich ohne Erklärung den Polizisten.

    „Meine Familie und ich konnten nicht fliehen, alles ging sehr schnell“, erinnert sich Hennadii im Gespräch mit Zaborona. „Als die Besatzer mich holten, wussten sie genau, wer ich war und was ich machte, sie haben nicht einmal das Haus durchsucht. Sie brachten mich zur örtlichen Polizeistelle, wo ich seinerzeit den Dienst angetreten hatte, aber dort wurde ich nicht lange festgehalten.“ 

    Dann ging es per Lastwagen in das besetzte Donezk: Zivilisten und Militärs zusammen, insbesondere vom Asow-Regiment und der Nationalgarde. Hennadii Assheurow berichtet, dass die Gefangenen hungerten und ihnen kein Wasser gegeben wurde. Während der Verhöre wurde Gewalt angewendet und psychologischer Druck ausgeübt. Einige Monate später wurde der Mann in die Strafkolonie in Oleniwka geschickt, wo er 40 Tage blieb.

     „Anfang Mai kam ich nach Oleniwka. Zu dieser Zeit war die Kolonie mit ukrainischen Gefangenen überfüllt, aber die Russen brachten weiterhin unsere Leute dorthin, die zu dieser Zeit aus dem Asowstal- und Illich-Werk kamen. Ich wurde viele Male verhört, sie versuchten, wenigstens kleine Hinweise zu bekommen, aber vergebens. Und sie konnten keine Anschuldigungen erheben. Am Ende setzten die Russen mich und über 20 Leute einfach vor die Tür und sagten: Ihr seid frei!“, behauptet der Mann aus Mariupol. Er erhielt eine Aufenthaltsbescheinigung in Oleniwka, aber um persönliche Gegenstände und Dokumente aus Donezk abzuholen, musste er 40 Kilometer zurücklegen. Und dann auf eigene Faust weiter in freies Gebiet. Nach seiner Freilassung hatte Hennadii Assheurow keine Ahnung, was er im zivilen Leben tun würde, da er aufgrund seiner Gesundheit und seines Alters nicht mehr zur Polizei konnte. Zusammen mit seiner Familie trat er in den Freiwilligendienst: Sie verteilten Lebensmittel an die Binnenvertriebenen. Das half, teilweise von den Gedanken an die Gefangenschaft und den Verlust der Heimat abzulenken, ergab aber keinen Plan für die Zukunft.

    „Ich wandte mich an die Organisation Heart of Asovstal, wo mir kostenlose Schulungen im IT-Bereich angeboten wurden. Eines der Arbeitsfelder, die ich wählen konnte, war Human Resources, also das Personalmanagement. Ich kommuniziere gerne und knüpfe gerne neue Kontakte und Beziehungen, also interessierte mich das. Schließlich haben sich die früheren Erfahrungen aus der Polizeiarbeit als nützlich erwiesen. Die Online-Schulung bei dem Unternehmen Dan.IT dauerte sechs Monate“, sagt Assheurow.

    So änderte der Mann sein Betätigungsfeld komplett: Im Alter von 55 Jahren begann er eine Karriere im Recruiting. Jetzt arbeitet Hennadii als Karriere-Mentor bei Heart of Asovstal: Nach dem Prinzip Peer-to-Peer hilft er den ehemaligen Kämpfern von Mariupol, eine interessante Richtung für Ausbildung und Umschulung zu wählen, und bietet umfassende Unterstützung bei der Arbeitsvermittlung. 

    Die Organisation „Heart of Asovstal“ unterstützt ehemalige Soldaten, den Weg zurück ins zivile Leben zu finden / Foto © Heart of Asovstal

    Psychologische Rehabilitation und Integration von Veteranen 

    Tausende ehemalige Soldaten und Kriegsgefangene haben nach ihrer Rückkehr ins zivile Leben Schwierigkeiten: Wie soll man sich an das zivile Leben anpassen und in die Gesellschaft integrieren, fragt die Psychologin Natalja Schewtchenko. Ihr zufolge sind für die effektive Integration von Kriegsdienstleistenden in aller erster Linie die Stabilisierung des psychischen Zustandes und die Aufarbeitung der mit dem Krieg verbundenen Traumata notwendig.

    „Die Veteranen spüren das besonders nach Verletzungen. Und dabei es geht nicht unbedingt um die Amputation von Gliedmaßen. Es gibt viele unsichtbare Verletzungen: Schädeltrauma, Gedächtnisverlust, Konzentrationsschwäche, die Gliedmaßen sind nicht voll funktionsfähig oder es gibt Rückenprobleme. Für solche Menschen ist es sehr schwierig, sich vorzustellen, wo sie in Zukunft arbeiten und was sie tun können“, sagt die Psychologin von Heart of Asovstal. — Dies sei insbesondere für Soldaten über 40 Jahre ein Problem. „Sie glauben nicht, dass sie lernen und umschulen können.“ 

    Der Spezialistin zufolge dauert die psychologische Rehabilitation mindestens drei Monate. Eine der größten Herausforderungen bestehe darin, Veteranen bei der Überwindung von Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu helfen.

    „Die Veteranen versuchen in der Regel einfach, ihre Kriegserfahrungen loszuwerden, indem sie alles verdrängen, was mit ihnen geschehen ist. Psychologen versuchen, ihnen dabei zu helfen, das, was sie durchgemacht haben, zu akzeptieren und zu lernen, damit zu leben. Außerdem haben die Veteranen einen geschärften Sinn für Gerechtigkeit, also werden sie durch alles getriggert, was mit dem normalen zivilen Leben außerhalb des Krieges zu tun hat. Wenn Menschen sich entspannen und irgendwo hingehen und das Leben genießen und woanders geht der Krieg weiter, ist das für sie wie zwei Parallelwelten“, bemerkt Natalja Schewtschenko. Die Verteidiger von Mariupol können von Heart of Azovstal umfassende Unterstützung im Rahmen der psychologischen Rehabilitation erhalten. Man kann sich einer Therapie in einem individuellen Format oder während des Gruppenunterrichts unterziehen.

    „Wir führen eine sehr effektive Form der psychologischen Rehabilitation für Soldaten durch — das ist Dekompressionstherapie und körperliche sowie psychische Erholung, die sehr gute Ergebnisse zeigt“, erklärt Shewtschenko. „Wir arbeiten mit kleinen Gruppen von zwölf ehemaligen Soldaten und bringen sie in Rehakliniken, wo Psychologen zweimal täglich Gruppentherapie mit ihnen machen – hauptsächlich Kunst- und Reittherapie. So schaffen wir eine Gemeinschaft und zeigen Veteranen, dass sie nicht allein mit ihren Problemen sind, sondern unter anderen Veteranen, die auch diesen Weg hinter sich haben.“

    „Die Veteranen versuchen in der Regel einfach, ihre Kriegserfahrungen loszuwerden, indem sie alles verdrängen, was mit ihnen geschehen ist.“ – Soldat in ukrainischer Uniform (Symbolbild) / Foto © IMAGO/Pond5 Images

    Demobilisierung und die Perspektiven

    Auch wenn es auf dem ukrainischen Arbeitsmarkt derzeit in vielen Branchen an Arbeitskräften mangelt, sind einige Arbeitgeber nicht bereit, demobilisierte Soldaten einzustellen, betont Natalja Slynko, Inhaberin der Consulting Firma Talent Match. Die Expertin erklärt, dass dies teilweise darauf zurückzuführen ist, dass die Arbeitgeber nicht wissen, wie sie mit Veteranen umgehen sollen und dass sie nicht bereit sind, deren Bedürfnisse zu berücksichtigen. Dazu gehört vor allem die Schaffung spezieller Arbeitsplätze für die Bedürfnisse der Veteranen gemäß den gesetzlichen Anforderungen, die von den Unternehmen eingehalten werden müssen. Ein Soldat wird in der Regel aus Gründen der körperlichen oder geistigen Gesundheit demobilisiert, so dass er ein ärztliches Attest und einen Nachweis für Rehamaßnahmen hat. Dort sind insbesondere die Arbeitsbedingungen festgelegt, die bei der Einstellung eines Veteranen zu berücksichtigen sind.

    „Der Arbeitgeber ist verpflichtet, einen besonderen Arbeitsplatz zu schaffen – so sagt es das Arbeitsrecht. Dies gilt ausnahmslos für alle Veteranen, die über eine Bescheinigung der Medizinischen und Sozialen Expertenkommission (MSEC) verfügen. In diesem Dokument sind die Bedingungen festgelegt, die erfüllt sein müssen, damit die Rechte eines Veteranen nicht verletzt werden“, betont Natalja Slynko. „Normalerweise sind diese Bedingungen sehr individuell, aber manchmal widersprechen sie dem, was eine Person körperlich tun kann. Für einen Arbeitgeber ist es äußerst schwierig, einen Arbeitsplatz zu schaffen, der der Beschreibung in der Bescheinigung entspricht. Außerdem drohen den Unternehmen hohe Bußgelder, wenn sie diese gesetzlichen Vorgaben nicht einhalten.“

    Ausbildung und Schulung von Veteranen

    Laut Natalja Slynko sind heute nur große ukrainische Unternehmen und Firmen sozial orientiert und bereit, demobilisierte Soldaten umzuschulen und anzustellen. Und das gilt nur für Personen, die zuvor schon in dem jeweiligen Unternehmen gearbeitet haben, denn in vielen Fällen haben die Arbeitgeber diesen Arbeitsplatz nicht neu besetzt. Die Expertin macht darauf aufmerksam, dass es auf dem Arbeitsmarkt fünf bis sieben solcher Unternehmen gibt, die den Veteranen wirklich helfen, sich an ein neues berufliches Umfeld anzupassen – dafür gibt es spezielle Programme. 

    „Ich weiß mit Sicherheit, dass Ukrsalisnyzja viel in dieser Richtung tut, weil man dort den größten Prozentsatz an mobilisierten Mitarbeitern unter den ukrainischen Unternehmen hat. Solche Unternehmen finden einen neuen Arbeitsplatz innerhalb ihrer Strukturen und schulen den Veteranen entsprechend um. Sie haben ein Zentrum für die Schulung und Zertifizierung von Mitarbeitern, und sie tun dies auf eigene Faust und auf eigene Kosten“, sagt die Recruiterin. „Es gibt auch andere Unternehmen, die ehemaligen Soldaten helfen, einen neuen Beruf innerhalb der Strukturen zu finden, aber dies wird durch Mentoring und Beratung von Kollegen umgesetzt.“

    ORGANISATION FÜR DIE UNTERSTÜTZUNG VON VETERANEN

    Das Projekt Heart of Azovstal läuft seit Februar 2023, um Soldaten zu unterstützen, die seit Beginn der groß angelegten Invasion der Russischen Föderation an der Verteidigung von Mariupol teilgenommen haben. Seitdem erhielten etwa 6000 Verteidiger der besetzten Stadt im Rahmen der Rehabilitation umfassende Hilfe nach ihrer Gefangenschaft. 

    Laut Tetjana Kuchozka, ebenfalls bei Heart of Azovstal beschäftigt, bekommen die Soldaten nach ihrer Entlassung mit Hilfe des Projekts eine langfristige physische und psychische Behandlung. Die NGO hilft Veteranen auch bei einer schnellen Anpassung an das zivile Leben, insbesondere bietet sie drei Optionen an: 

    • eine kostenlose Ausbildung oder Besuch von Kursen an Hochschulen der Ukraine
    • einen Arbeitsplatz der jeweiligen Fachrichtung mit der Möglichkeit der Aus- und Weiterbildung
    • Gründung eines eigenen Unternehmens.

    „Im Rahmen unseres Zukunftsprogramms werden derzeit 145 ehemalige Soldaten ausgebildet, um neue berufliche Fähigkeiten zu erlernen oder ihre Qualifikationen zu erweitern. Das sind vor allem Berufe im Bereich IT und Cybersicherheit sowie Fahrerberufe“, sagt Tetjana Kuchozka. Im Umschulungsprozess durchläuft ein Soldat alle Phasen mit Unterstützung eines Psychologen und eines beruflichen Mentors. Letzterer ist notwendig, um dem Veteranen zu helfen, aus den verschiedenen Berufen eine interessante und vielversprechende Richtung zu wählen, in der er sich erfolgreich einbringen kann. Der Mentor hilft auch dabei, die militärische Erfahrung im Lebenslauf korrekt und für den Arbeitgeber verständlich und überzeugend darzustellen.

    „Während des Projekts haben wir festgestellt, dass Soldaten und andere Militärangehörige über sehr gute Managementfähigkeiten verfügen, die im zivilen Leben benötigt werden“, sagt die NGO-Vertreterin. „Sie haben auch Erfahrung mit der Arbeit in Krisensituationen und Kenntnisse in militärischer Dokumentation.“ Nach der Demobilisierung seien die Veteranen oft verwirrt und gestresst, denn der Dienst an der Front und das zivile Leben seien eben zwei verschiedene Welten. Nach einer Weile würden die Veteranen von Unsicherheit erfasst: „Oft können sie aufgrund von Verletzungen und dem sich verschlechternden Gesundheitszustand nicht mehr das gleiche tun wie vor dem Krieg.“

    Hennadii Assheurow, beruflicher Mentor bei Heart of Azovstal, analysiert die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Präferenzen jedes Kandidaten, um ein interessantes Tätigkeitsfeld anbieten zu können. Seiner Meinung nach können sich die ehemaligen Kämpfer von Mariupol in vielen Bereichen erfolgreich verwirklichen, indem sie ihre militärischen Vorerfahrungen nutzen. „Nach der Rückkehr ins zivile Leben hat man den Wunsch, sich in demselben Bereich weiterzuentwickeln, in dem man vor der russischen Invasion gearbeitet hat. Die meisten ehemaligen Soldaten lebten und arbeiteten in Mariupol. Daher binden wir im Rahmen des Projekts unsere Partnerunternehmen ein und suchen nach einem neuen Arbeitsplatz. Zu den beliebtesten gehören Sicherheitsdienste, weil die Jungs wissen, wie man mit Waffen umgeht und Befehle befolgt.“

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    „Das war der letzte Tag, an dem ich meinen Sohn sah“

    Der Krieg hat viele Eltern in der Ukraine vor schwerste Entscheidungen gestellt: Auf der einen Seite steht der natürliche Wunsch nach Sicherheit für die eigenen Kinder und sich selbst. Auf der anderen Seite steht oft das Bedürfnis, die eigene Heimat im Überlebenskampf nicht im Stich zu lassen. Und das geltende Kriegsrecht, das wehrpflichtigen Männern im Alter von 18 bis 60 Jahren die Ausreise nur in Ausnahmefällen gestattet. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine haben nach aktuellen Angaben der UNO rund sechs Millionen Menschen aus der Ukraine – vor allem Frauen und Kinder – Zuflucht im europäischen Ausland gefunden. 

    „Meine Familie plant heimzukehren. Denn es gibt kein Ausreiserecht für den Vater, der seine Kinder sehen möchte, der will, dass sie Ukrainer bleiben und seine Familie nicht zerbricht. Ich habe gesehen, wie viele gute Familien nach 2022 über die Entfernung einfach aufgehört haben, eine Familie zu sein. Ich will nicht, dass das mit meiner Familie passiert.“ Das sagt Olexii Erintschak, ein Buchhändler aus Kyjiw. 

    Walerija Pawlenko hat für das ukrainische Portal Texty.org.ua drei Geschichten von Familien gesammelt, die der Krieg getrennt hat. Ein Text über Väter, die das Aufwachsen ihrer Kinder nur über das Handy verfolgen können, über Reisen in die unsichere Heimat und über Ängste vor Entfremdung und den Verlust der Identität.

    Am Bahnhof von Lwiw im Westen der Ukraine warten vor dem Krieg flüchtende Menschen auf die Abfahrt des Zuges / Foto © Ty O Neil/ZUMA/imago-images

    Wenn man das Gesetz bricht, um den Sohn zu sehen

    Kurz vor der groß angelegten Invasion ließen sich Ihor (alle Namen in dieser Geschichte wurden auf Wunsch des Mannes geändert) und seine Frau Olena scheiden, zogen aber ihren Sohn Sascha weiterhin gemeinsam groß. Im Januar 2022 beschlossen sie, das Kind aus Kyjiw in die Westukraine, nach Lwiw, zu bringen. Nach dem Beginn der Invasion kam Ihor nach.

    Am 24. Februar wurde bekannt, dass die Russen mehrere Militäreinheiten in der Region Lwiw angegriffen hatten, und Anfang März starteten sie Raketenangriffe auf Lwiw und das Truppenübungsgelände Jaworiw. Der Westen der Ukraine war kein sicherer Ort mehr, sodass Olena sich entschloss, mit ihrem Sohn ins Ausland zu gehen.

    Ihor unterstützte diese Entscheidung, damit sein Sohn in Sicherheit war: „Ich wollte nicht, dass mein Kind ständig in diesen stressigen Umständen lebt, in der ständig Sirenen ertönen und vor dem Fenster Geschosse explodieren.“

    Sascha und seine Mutter gingen nach Polen, und Ihor merkte, dass er seinen Sohn sehr vermisste. Fast ein Jahr später fand er, wie er es nennt, einen halblegalen Weg, um ins Ausland zu fahren, und verbrachte drei Wochen mit seinem Sohn.

    Später kamen seine Frau und sein Sohn in die Ukraine, um den Vater in die Armee zu verabschieden

    „2022 war für mich ein sehr angsteinflößendes Jahr. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht in der Armee war, mir kam es vor, als würde ich irgendeinen Blödsinn machen. Am Ende des Jahres war ich schon fast so weit und wollte in den Krieg ziehen. Mir war klar, dass ich meinen Sohn vielleicht für lange Zeit nicht sehen würde. Als sich also die Gelegenheit ergab, ins Ausland zu fahren, habe ich sie ergriffen“, sagt Ihor.

    Ein paar Monate später kamen seine Frau und sein Sohn zu Ihor in die Ukraine, um Saschas Geburtstag zu feiern und den Vater in die Armee zu verabschieden.

    In den zweieinhalb Jahren des großen Krieges hat Ihor seinen Sohn nur viermal gesehen und schätzt diese Begegnungen sehr.

    „Wir telefonieren sehr oft, aber solche Gespräche sind halt nur so lala. Früher hat er mir einfach seine Spielsachen gezeigt, aber jetzt frage ich ihn, wie es im Kindergarten war, wie es seinen Freunden geht, was zu Hause so los ist. Ich verbringe gerne Zeit mit ihm: spielen, lesen, irgendwohin gehen, irgendwelche Aktivitäten. Wenn wir uns sehen, sind wir jeden Tag unzertrennlich: Wir gehen auf den Rummel, in Museen, immer zusammen“, erinnert sich Ihor.

    „Ich finde es furchtbar, dass mein Kind größer wird, sich verändert, und ich es nicht sehe. Er ist ein sehr interessanter Junge, und ich würde das alles gerne mit ihm erleben.“

    Unsere Gesellschaft wird noch lange nach Kriegsende traumatisiert und verstört sein

    Ihor sagt, er sei sich nicht sicher, ob sein Sohn in die Ukraine zurückkehren wird. Er möchte, dass der Junge in einem ruhigen Umfeld aufwächst.

    „Natürlich war ich traurig, dass er die Ukraine verlassen hat. Aber Sascha spricht weiterhin Ukrainisch und weiß, dass er Ukrainer ist, obwohl er bereits Polnisch gelernt hat. Im Herbst wird er auf eine polnische Schule gehen, er hat dort schon Freunde. Ich verstehe, dass ein Umzug, besonders während des Krieges, für Kinder schwierig ist. Ich weiß nicht, was als nächstes passieren wird, denn es scheint mir, dass unsere Gesellschaft noch lange nach Kriegsende traumatisiert und verstört sein wird.“

    „Wir verlassen die Ukraine zum letzten Mal“

    Olexii Erintschak, Gründer der Kyjiwer Buchhandlung Sens, fand sich in einer ähnlichen Situation. Er bereitete sich auf die Invasion vor: Seine Frau und seine Söhne Orest und Oles hatten Tickets für eine Ausreise aus der Ukraine am 26. Februar 2022. Aber die Invasion begann, und er musste seine Familie mit dem Auto zur Grenze bringen.

    Olexii sagt, dass er anfangs beruhigt war, als seine Familie im Ausland war: Er konnte sich auf die Arbeit und den Freiwilligendienst konzentrieren und musste sich keine Sorgen um seine Söhne und seine Frau machen. Er hat sich sogar daran gewöhnt, allein zu sein – er arbeitet hauptsächlich von zu Hause aus, also lenkt ihn niemand mehr von der Arbeit ab.

    Ich fühle mich einsam, ich vermisse den körperlichen Kontakt mit meiner Familie

    Aber mit der Zeit setzt ein solches Leben zu: „Es ist zermürbend, wenn man nach Hause kommt und alles, was man noch hat, ist, wieder zu arbeiten oder einen Film anzusehen. Ich fühle mich einsam, ich vermisse den körperlichen Kontakt mit meiner Familie.“

    Aber das Schwierigste für Olexii ist, dass er verpasst, wie seine Kinder aufwachsen.

    „Meine Kinder sind gerade in einer so interessanten Phase – die Jungs sind sechs und acht Jahre alt, es zeigen sich individuelle Eigenschaften bei ihnen. Und ich bin meiner Frau sehr dankbar, dass sie mir ständig Videos schickt, dank derer ich interessante Momente aus ihrem Leben ansehen kann, oder sie erzählt mir davon.

    Ich wäre gerne jetzt ein Vorbild und ein Vater für meine Söhne

    Aber die Geschichten von diesen Momenten zu hören und ein Zeuge von ihnen zu sein, sind zwei Paar Schuhe. Ich wäre gerne jetzt ein Vorbild und ein Vater für meine Söhne. Ich habe doch nicht eine Familie gegründet, wenn sie dann irgendwo weit weg ist, ich bin doch kein Seemann“, scherzt Olexii.

    Und auch die Jungs vermissen ihren Vater sehr. Olexii erinnert sich: Als er die Kinder unmittelbar nach Beginn der Invasion wegbrachte, war ihnen nicht klar, dass sie so lange von ihrem Vater getrennt sein würden. Während Olexii fuhr und versuchte, die Tatsache zu begreifen, dass ein vollumfänglicher Krieg begonnen hatte, spielten seine Söhne hinten im Auto auf dem Tablet. Aber schon bei den nächsten Treffen weinten Orest und Oles, als die gemeinsame Zeit mit ihrem Vater zu Ende ging.

    „Nach einem dieser Treffen fuhr ich zurück nach Kyjiw, und auf dem Weg dorthin spielte sich ein langer Monolog in meinem Kopf ab. Ich wägte ab, ob ich alles richtig mache, zweifelte, ob ich überhaupt das Richtige tue, weil ich jetzt nicht mehr bei meiner Familie bin“, erinnert sich Olexii. Er und seine Frau diskutierten viele Monate lang, ob die Kinder in die Ukraine zurückkehren sollten, denn es ist ja ein großes Risiko.

    Es waren schließlich die Kinder, die nach der letzten Zusammenkunft der Familie auf ukrainischem Boden im April dieses Jahres dazu beitrugen, die Zweifel zu zerstreuen.

    „Ich brachte die Kinder zum Zug und fuhr nach Hause. Danach erzählte mir meine Frau, dass der jüngste Sohn beim Einsteigen in den Zug nach Polen sagte: „Dies ist das letzte Mal, dass wir die Ukraine verlassen“, erinnert sich Olexii.

    In ein paar Monaten werden Olexiis Kinder und seine Frau endlich nach Hause zurückkehren.

    „Ich muss cool sein für meinen Sohn“

    Hlib, der dritte Held unseres Artikels, hat eine dramatischere Geschichte. In den ersten Tagen der vollumfänglichen Invasion waren er und seine Familie von den Russen umzingelt und seine Stadt konnte sehr schnell besetzt werden. Ihm, seiner Freundin Julia (Name geändert) und seinem Sohn gelang es auf wundersame Weise, aus der Einkesselung zu entkommen – die Familie fuhr mit dem Auto an einen sichereren Ort.

    Auf dem Weg hielt er bei seinen Eltern an, aber seine Freundin bestand darauf, dass sie noch weiter weg müssten. Das Paar hatte schon vor der Invasion eine schwierige Beziehung gehabt, aber während dieser stressigen Zeit verschlechterte sich die Situation. Julia stritt sich mit Hlibs Eltern und beschuldigte ihn, ihr das Kind wegnehmen zu wollen.

    Das war der letzte Tag, an dem ich meinen Sohn sah

    „Sie packte ihre Sachen, schnappte sich den Sohn und ging einfach weg. Dann riefen mich ihre Freunde an und sagten, sie habe die Pässe vergessen. Ich brachte ihnen die Pässe. Ich versuchte, mit meinem Sohn zu sprechen, aber aus irgendeinem Grund war er mir gegenüber sehr feindselig. Das war der letzte Tag, an dem ich ihn sah“, erinnert sich Hlib.

    Danach war die Verbindung zu seiner Freundin fast abgebrochen. Julia ging ins Ausland und sprach nicht mehr mit Hlib. Er erfuhr nur durch gemeinsame Bekannte, was mit seinem Sohn geschah.

    „Ich erfuhr, dass die Stadt, in der sie leben, ein Postamt hat, also beschloss ich, meinem Sohn blindlings ein Paket zu schicken. Sie nahm es an, ohne zu reagieren. Ich schickte noch ein paar Pakete und versuchte von ihr zu erfahren, was meinem Sohn gefällt, damit ich es ihm zum Geburtstag schenken konnte. Aber alles, was ich bekam, waren die Worte ,Er hat Sommersprossen auf der Nase‘“, meint Hlib.

    Ich vermisse die Atmosphäre in seinem Kinderzimmer, die Art und Weise, wie er mir Dinge ins Ohr sagte

    Er erzählt, dass es anfangs sehr schwer für ihn war: „Ich ging durch die Stadt und erinnerte mich, wo mein Sohn und ich spazieren gegangen waren, wo er geschrien und dem Echo seiner Stimme gelauscht hatte. Einmal sah ich in der Stadt ein anderes Kind auf dem Roller meines Sohnes – es war sehr schmerzhaft. Ich vermisse die Atmosphäre in seinem Kinderzimmer, wenn er schlief, unsere gemeinsamen Morgen als Familie, die Art und Weise, wie er mir Dinge ins Ohr sagte, was sehr lustig war, weil es mich kitzelte.“

    Hlib sagt, dass er eine Seite erstellt hat, auf der er Briefe an seinen Sohn verfasst, in der Hoffnung, dass er sie eines Tages sehen wird. Er hat sich lange Vorwürfe gemacht, den letzten Streit immer wieder in seinem Kopf durchgespielt und überlegt, was er hätte ändern können. Aber dann fand er, dass er in den Augen seines Sohnes nicht erbärmlich wirken wollte.

    „Eines Tages stellte ich mir vor, dass er mich plötzlich anruft und ich fange an, mich bei ihm zu beschweren, ihm zu sagen, wie sehr ich mich nach ihm sehne, und ihn mit dieser Lawine von Gefühlen überschütte. Aber das sind zu starke und schmerzhafte Emotionen für ein Kind, das hält er nicht aus. Das war für mich der Ansporn, mich zum Besseren zu verändern. Jetzt erzähle ich auf dieser Seite nicht über mein Leben und schreibe nicht, wie traurig ich bin, wie ich es früher getan habe, sondern schreibe ein paar Witze, nehme Märchengeschichten auf, etwas Positives.

    Ich weiß, dass meine Situation nicht einzigartig ist“, sagt Hlib. „Und ich möchte allen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden, einen Rat geben: Seid cool für Eure Kinder. Sportlich, interessant, lustig. Seid die beste Version von Euch selbst. Kinder mögen keine jammernden Erwachsenen, das interessiert sie einfach nicht.“


    Der ukrainische Originaltext wurde unter Creative-Commons-Lizenz (CC BY 4.0) veröffentlicht.

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    „Wenn man dich Propaganda nennt, dann berührt dich das emotional“

    Es macht einen Unterschied, ob jemand über ein Land schreibt oder aus diesem heraus berichtet – insbesondere, wenn dieses Land das eigene ist und sich im Krieg befindet: In einer Kolumne für die Ukrajinska Prawda berichtet die ukrainische Journalistin Alina Poljakowa über einen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen in europäischen Redaktionen, über typische Fragen zu Korruption und Pressefreiheit in der Ukraine sowie das Schreiben über die Heimat im Überlebenskampf.

    Journalisten berichten im März 2022 über die Folgen eines Beschusses der Stadt Wassylkiw bei Kyjiw / Foto © Imago, NurPhoto

    In den letzten anderthalb Monaten habe ich mit meinen ukrainischen Kollegen 18 Redaktionen ausländischer Medien in sechs europäischen Ländern besucht und mit mehr als hundert ausländischen Kollegen gesprochen.

    Wir wurden gefragt: „Wie können wir die Berichterstattung über die Ukraine in unseren Medien verbessern?“ oder „Auf welche anderen Themen sollten wir die Aufmerksamkeit lenken?“ Sie boten uns an, etwas gemeinsam zu machen, und haben uns für die Arbeit gedankt. 

    An anderer Stelle wurden komplexe und wichtige Fragen aufgeworfen, auf die ich weiter unten eingehen werde, und wieder woanders wurde Propaganda beklagt.

    Korruption in der Ukraine

    Beginnen wir mit den Fragen. Zur Korruption in der Ukraine wurden am häufigsten Fragen gestellt. Definitiv war diese Frage in allen drei deutschen Redaktionen zu hören.

    Meine Kollegen und ich haben es sogar geschafft, einen internen Witz darüber zu machen, denn in jeder dieser Redaktionen mussten wir das Gleiche wiederholen: Alle Recherchen zur Korruption in der Ukraine in den letzten gut zwei Jahren wurden von ukrainischen Journalisten veröffentlicht – man denke nur an die Eier für 17 Hrywnja oder an die türkischen Jacken. Und, vor allem: Es hatte Konsequenzen. Die Leute verloren ihre Positionen. 

    Als wir gefragt wurden, ob es deswegen interne Konflikte gebe, ob solche Stücke während des Krieges publiziert werden sollen, waren sich alle einig, dass das Thema behandelt gehört, wenn es gesellschaftlich wichtig ist und die Situation im Land verbessern kann.

    Natürlich wurde auch nach Verfolgung gefragt: etwa die Überwachung von Journalisten von Bihus.info und Einberufung als Rache für die Journalisten von Slidstvo.info. Unsere internen Angelegenheiten sind nicht so intern, was übergangslos zur nächsten Frage führt. 

    Meinungsfreiheit

    Auch das Thema Meinungs- und Pressefreiheit in der Ukraine stand ganz oben. Nicht zuletzt wegen der beiden oben beschriebenen Fälle. 

    Stellenweise klang es auch ein wenig ungläubig: „Könnt ihr überhaupt während des Kriegsrechts über alles schreiben?“ Wo sich herauslesen ließ: „Können wir Euch, den ukrainischen Medien, vertrauen?“ Auch das Thema Objektivität tauchte mehr als einmal auf. 

    Aber seltsamerweise fühlen sich die Medien in der Ukraine meiner persönlichen Wahrnehmung nach während des Krieges freier an als in Ungarn ohne den Krieg. Zwei der drei Medien, die wir dort besucht haben, hatten ihren Sitz in gemieteten oder gekauften Wohnungen, weil es für sie schwierig ist, überhaupt ein Büro zu mieten. Und Geschichten wie die über UMH und Kurtschenko trifft man dort oft an. 

    Obwohl wir noch viel vor uns haben, wenn wir uns beispielsweise an den Telemarathon oder die Situation mit Ukrinform erinnern.

    Verhandlungen

    Am Vorabend des Friedensgipfels [am 15./16. Juni in der Schweiz – dek] gab es viele Fragen über Frieden und Verhandlungen. „Unsere Leser wollen wissen, wohin das alles führt“, hieß es. 

    Also, ich würde auch gerne wissen, wohin das führt. Aber bisher mussten wir in jeder Redaktion, in der das gefragt wurde, über Minsk 1, Minsk 2 und die „Position der Stärke“ als einzig möglicher Option für die Ukraine sprechen, in der die Ukraine in solche Verhandlungen eintreten kann. Vorausgesetzt, dass auch Russland das will. Russland zeigt jedoch keine Anzeichen der Bereitschaft dazu, sondern versucht nur, so viel wie möglich zu zerstören. 

    Reisen in die besetzten Gebiete

    Was in den besetzten Gebieten passiert, ist sowohl für ausländische als auch für ukrainische Medien von Interesse. Der einzige Unterschied ist, dass es für ukrainische Journalisten einfach unmöglich ist, dorthin zu fahren, weil wir wissen, was das für Folgen haben kann. Einige ausländische Journalisten fragen sich, ob es für sie möglich ist.

    Im Laufe der Gespräche sind wir zu dem Schluss gekommen, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen nicht gegen die Gesetze der Ukraine verstoßen will, und genau das würde passieren, wenn sie zum Beispiel von Russland aus auf das Territorium der Krim einreisen würden, was jetzt die einzige Option ist.

    Sie würden auch ihre Russland-Korrespondenten nicht dorthin schicken (die sie immer noch haben), weil sie verstehen, dass die Realität und das, was sie vor Ort zeigen dürfen, sehr unterschiedlich sein kann. So geschehen zum Beispiel bei dem Journalisten des ZDF.

    Nicht synchron

    Und obwohl wir in den meisten Fällen mit allen eine gemeinsame Basis und eine gemeinsame Sprache fanden, selbst als es um „gute Russen“ (!) ging, kamen unsere Meinungen in einigen Fällen nicht überein.

    Das anschaulichste Beispiel ereignete sich auf einem Diskussionspanel mit einem spanischen Fotografen, der acht Jahre lang den Einmarsch Russlands in die Ukraine einen „Bürgerkrieg“ genannt hatte, während er auf der Krim und im Donbas fotografierte, dem aber 2022 anscheinend alles klar wurde.

    Die Gedanken, die er in dem ihm eigenen Ton weiter äußerte, veranlassten mich und meine Kollegen schließlich, den Raum zu verlassen, was er mit den Worten kommentierte: „Das ist es, was Propaganda von Journalismus unterscheidet.“

    Wenn man dich Propaganda nennt, dann berührt dich das emotional.

    In solchen Momenten möchte ich gerne sehen, wie diese Leute arbeiten würden, wenn der Krieg in ihr Land kommt.

    Denn es ist eine Sache, nach Libyen, Syrien oder in die Ukraine zu fahren, um eine Pulitzer-Preis-würdige Geschichte zu finden.

    Eine andere Sache ist es, Berichterstattung über die Folgen des Beschusses deiner Heimatstadt zu machen, von Orten zu berichten, an denen deine Freunde möglicherweise getötet worden sind, Kollegen in den Krieg zu verabschieden und Freunde und Verwandte zu begraben.

    Ein bisschen spät zum „Tag des Journalisten“, und dennoch möchte ich meinen ausländischen Kollegen danken, die weiterhin über den Krieg in der Ukraine berichten, und natürlich unseren ukrainischen Kollegen, die einfach keine andere Wahl haben.

    Unsere Aufgabe ist es, die Wahrheit lauter zu schreien als die russische Propaganda schreit.

    Machen wir also weiter.

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    Das ganze Land steht hinter der Sbirna, der ukrainischen Nationalmannschaft, die gegen Rumänien in die Fußball-Europameisterschaft startet. Der Druck ist groß, die Erwartungen sind hoch – man will  der eigenen Bevölkerung, die sich im Abwehrkampf gegen den russischen Angriffskrieg befindet, ein paar Momente des Glücks und der Genugtuung bescheren. Entsprechend groß ist auch die Hoffnung auf das Weiterkommen des Teams von Trainer Serhij Rebrow, das sich auch in Zeiten des Krieges weiterentwickelt hat. 

    Der ukrainische Journalist Yuriy Konkevych erklärt die Gründe für den kleinen Aufschwung im Fußball seines Landes und die Bedingungen, unter denen der Ballsport in Zeiten des Krieges stattfinden kann.

    Russisches Original

    Während eines Spiels in der Region Iwano-Frankiwsk knien Kinder nieder, um einem gefallenen Soldaten zu gedenken / Foto © Oleksandr Bondarenko

     

    Russland beschießt nach wie vor jeden Tag ukrainische Städte mit Raketen und Kamikaze-Drohnen, und dennoch wurde seit Februar 2024 erlaubt, dass ein Teil der Fans wieder in die Stadien zurückkehrt. Viele Teams hatten gefordert, das Reglement zu ändern und wieder Zuschauer zuzulassen. Es geht nicht ums Geschäft. Der Erlös aus dem Ticketverkauf kann gerade mal die Kosten der Spiele decken. Die Clubs wollten, dass die Arenen nicht verwaist sind, auch nicht während des Krieges. Präsident Wolodymyr Selensky  hatte seinerzeit, im Sommer 2022, die Entscheidung zur Wiederaufnahme des Profifußballs in der Ukraine – damals noch ohne Zuschauer – als Versuch deklariert, zu einem „normalen Leben“ zurückzukehren.

    „Wenn es erlaubt ist, große Konzerte zu veranstalten, wenn die Theater und Kinos geöffnet sind, warum sollen dann Fußballspiele mit Zuschauern untersagt sein? Die Fußballer spielen für die Fans.“ So fasste dann Ihor Nadein, der Präsident von Weres Riwne, gegenüber der Leitung des Ukrainischen Fußballverbandes (UAF) das Problem zusammen. Er und die Manager anderer Clubs wurden dann im Winter 2024 erhört. In dem neuen Reglement wurden rund 100 Anforderungen aufgestellt, die zu erfüllen waren, bevor man wieder Zuschauer in die Stadien lässt. Die wichtigste war, dass es in mindestens 500 Metern vom Stadion Luftschutzräume geben muss, die zu Fuß innerhalb von zehn Minuten erreichbar sind. In die Stadien werden genauso viele Fans gelassen, wie die Schutzräume aufnehmen können. Der Zugang zum Stadion muss durch Metalldetektoren erfolgen.

    Die Fußballer waren von den Neuerungen begeistert. „Das letzte Mal haben wir vor der Coronapandemie so viele Zuschauer gesehen“, sagte mir der Verteidiger bei Weres Riwne Olexander Kutscherenko nach einem Heimspiel. Es wurde nicht von Luftalarm unterbrochen. Das war eher eine Ausnahme als die Regel. Manchmal wurden die Begegnungen aber gleich mehrere Male durch russische Luftangriffe unterbrochen.

    Andrij Schewtschenkos Reformen im ukrainischen Fußball

    Dass die Fans wieder in die Stadien gelassen werden, ist nicht die einzige Reform, die Andrij Schewtschenko, Superstar des ukrainischen Fußballs und seit Januar 2024 Präsident des UAF, anstieß. Der Verband war über ein Jahr praktisch führungslos gewesen. Gegen den vorherigen Präsidenten Andrij Pawelko liefen Ermittlungen in einem Korruptionsfall. Die Probleme im ukrainischen Fußball sind durch den Krieg natürlich nur größer geworden. Ein Teil der Clubs ist von der Bildfläche verschwunden. Einige Hundert Schüler von Fußballakademien der Vereine sind ins Ausland gegangen. In der Liga gab es viele Schiedsrichterskandale und die Eigentümer der Vereine konnten sich nicht auf gemeinsame Übertragungsrechte für das Fernsehen einigen.

    Die Umstände der Rückkehr von Schewtschenko in die Ukraine, dessen Familie in London lebt, wurden von Fans und Journalisten viel diskutiert. Es wurde vermutet, dass dessen Wahl zum Präsidenten des UAF nicht ohne administrativen Druck seitens der Kanzlei des Präsidenten erfolgt sei. Dieser wollte wohl an der Spitze des ukrainischen Fußballs einen „seiner Leute“ sehen. Die Führungsstruktur des ukrainischen Fußballs ist derart aufgebaut, dass die regionalen Verbände von Leuten angeführt werden, die der Exekutive nahestehen. So war es wohl nur schwer zu bewerkstelligen, einen UAF-Kongress einzuberufen, auf dem Schewtschenko einstimmig zum neuen Präsidenten gewählt wurde, ohne dass es dann wenigstens indirekte Hinweise auf die Präsidialkanzlei gab.

    Schewtschenko, der legendäre Spieler und Trainer, begann seine neue Aufgabe mit abrupten Schritten: Fans wurden zu den Spielen zugelassen, im Verband wurde das gesamte Management ausgewechselt, bei den Spielen der Premjer-Liha werden die Schiedsrichter jetzt per Los angesetzt, und die Referees werden mit Lügendetektoren gecheckt. Die Premjer-Liha hat eine eigene Plattform zur Übertragung der Spiele geschaffen und will damit Geld machen. Im Verband gibt es jetzt eine Stelle für interne Ermittlungen, die die Korruption im ukrainischen Fußball bekämpfen soll.

    Investitionen und neue Spieler auf dem Markt

    Es klingt absurd, aber die Situation des ukrainischen Fußballs hat sich im dritten Jahr der russischen Vollinvasion verbessert. In den drei Profiligen spielten in der abgelaufenen Saison 50 Clubs: 16 in der Premjer-Liha, 20 in der Ersten Liga und 14 in der Zweiten Liga. Mehr noch: Auf dem Fußballmarkt der Ukraine gibt es jetzt neue Spieler, weil große Unternehmen nun in den Fußball investieren. Dabei werden die Gelder nicht nur für den Kauf neuer Spieler eingesetzt wie zu Zeiten des sogenannten Oligarchen-Fußballs, sondern auch für Marketing und Jugendakademien.

    Um Erfolge auf der europäischen Ebene kämpfen jetzt nicht nur Dinamo Kyjiw und Schachtar Donezk, sondern auch Dnipro-1 aus Dnipro. Krywbas trägt seine Spiele in Krywy Rih aus, unweit der Front. Der Club, der von Leuten wiederbelebt wurde, die Präsident Selensky nahestehen, gehört in der Premjer-Liha zur Spitzengruppe. In Lwiw hat zwischen den Vereinen Karpaty und Ruch ein Wettringen um Talente und Zuschauer begonnen. Ersterer ist traditionell ein Aushängeschild der Stadt und wird von dem Zuckermagnaten Wolodymyr Matkiwski gesponsort. Karpaty konnte mit einem zweiten Platz sogar seine Rückkehr in die Premjer-Liha sichern. Die Mannschaft wird von Miron Markewitsch trainiert, der Dnipro 2015 bis ins Finale der Europa League geführt hatte.

    Die ukrainische Nationalmannschaft singt die Nationalhymne beim Freundschaftsspiel gegen Polen in Warschau am 7. Juni / Foto © Maciej Rogowski/ZUMA Press Wire/IMAGO

    Ruch wurde von Hryhorii Koslowsky aufgebaut, dem reichsten Unternehmer der Stadt, der auch weiter in den Verein investiert. Die Fußballakademie von Ruch gilt als die beste in der Ukraine. Die U 19 ist stets bei den Jugendturnieren der UEFA vertreten. Und dann sorgte Polissja Schytomyr für Aufsehen. Der Club wurde im Herbst 2021 von Hennadii Butkewytsch gekauft. Er besitzt ATB, die größte ukrainische Einzelhandelskette. Der Krieg hat seinen Investitionen in den Fußball kein Ende gesetzt. In Schytomyr gibt es zwei Stadien und viele Plätze, eine Fußballakademie, und Spieler, die vom gleichen Niveau sind wie die von Dinamo und Schachtar. Noch fehlen aber die Ergebnisse. Am Ende der Saison ergatterte Polissja gerade noch den fünften Platz und konnte sich somit für die Conference League qualifizieren.

    2023 machten zwei weitere Clubs von sich reden, in die viel Geld floss. LNZ aus Tscherkassy (LNZ steht für die LNZ Group bzw. die Lebedynsky-Saatgutfabrik) hat es in die Premjer-Liha geschafft, kaufte dann bekannte Spieler und baut jetzt in Tscherkassy ein Fußballzentrum auf. Der Chef des Aufsichtsrates der Agrarholding LNZ Group, Dmytro Krawtschenko, steht auf Platz 86 der reichsten Ukrainer.

    Metalist 1925 Charkiw hat wegen der russischen Angriffe auf die ukrainische Industrie den Besitzer gewechselt. Nach einer Reihe von Raketenangriffen verlor die AES Group, der der Verein früher gehörte, sämtliche Unternehmen in den Sparten Petrochemie, Spirituosen, Bau und Energie. Neuer Besitzer des Vereins wurde im September 2023 Wolodymyr Nossow, der Begründer und Geschäftsführer von WhiteBIT, einer der größten europäischen Kryptobörsen, die in der Ukraine gegründet wurde.

    Geld für den Fußball und Rückstellung für die Spieler

    Wenn zu Kriegszeiten Profifußball gespielt wird, geht es nicht nur um gewonnene Matches, sondern auch um die moralische Komponente des Geschäfts. Wie verantwortbar ist es, Millionen Euro für das Spiel mit dem Ball auszugeben? Pawlo Petritschenko, Veteran der Streitkräfte der Ukraine, hat im Januar dieses Jahres einen Sturm der Emotionen losgetreten. Als Reaktion auf den Kauf von teuren Legionären durch Schachtar Donezk postete er auf X folgenden Tweet: „Rinat Achmetow  hat sich für 15 Millionen Euro ein brasilianisches Spielzeug gekauft. Das ist ungefähr so viel wie Sternenko [ein ukrainischer Freiwilliger – dek] in all der Zeit für FPV-Drohnen gesammelt hat. Achmetow ist der Krieg egal; seine Mannschaft spielt jetzt einfach nicht mehr in Donezk, sondern in Kyjiw“.

    Diejenigen, die Ausgaben für Fußball befürworten, verweisen beharrlich darauf, dass alle Vereine in einem gewissen Umfang für die Armee spenden und der Kauf von Spielern als Investition gilt. Schachtar verdient auch nach Beginn des großangelegten Krieges weiter. Nach Schätzungen des Portals Transfermarkt.de hat der Club aus Donezk seit 2022 für 125 Millionen Euro Fußballer verkauft. Nicht nur Schachtar ist zu einer Politik der großen Investitionen zurückgekehrt. Fast alle Clubs der Premjer-Liha haben aufsehenerregende Transfers getätigt, über die in der Ukraine diskutiert wurde. Eine klare Antwort, ob es richtig ist, während des Krieges mit Geld um sich zu werfen, das in den Fußball fließt, ist nicht in Sicht.

    Eine andere problematische Frage: Wie soll man mit Fußballern umgehen, die dienstpflichtig sind und unter die Mobilmachung fallen? Eine der Lösungsvarianten ist hier der Status eines strategisch wichtigen Unternehmens, der eine Rückstellung der Spieler ermöglicht. Mit Stand vom 1. April haben fünf Vereine diesen Status: Schachtar, Dinamo, Obolon Kyjiw, Dnipro-1 und Krywbas.

    Schewtschenko und Rebrow: das Star-Duo im ukrainischen Fußball

    Die Nationalmannschaft, die Sbirna, ist immer noch das stabilste Aushängeschild des ukrainischen Fußballs. Sie wird von allen geliebt und die Übertragungen sorgen für gute Einschaltquoten, im Hinterland wie in Frontnähe. Das war nicht immer so. Die Nationalmannschaft startete ohne Cheftrainer in die EM-Qualifikation. Die Lage wurde allmählich schwierig. Im März 2023 übernahm diese Funktion vorübergehend Ruslan Rotan, ein ehemaliger Spieler von Dnipro, der gleichzeitig die Mannschaft des Erstligaclubs Oleksandrija und die Jugendauswahl der Ukraine trainierte. Erst im Juli unterzeichnete der Verband den Vertrag mit Serhij Rebrow. Mit ihm qualifizierte sich die Ukraine dann in den Play-Offs  gegen Bosnien-Herzegowina und Island für die EM in Deutschland.

    Rebrow kehrte mit seiner Familie in die im Krieg stehende Ukraine zurück. Zuvor war er in Ungarn tätig gewesen, wo er mit Feréncvaros Budapest zweimal die Meisterschaft geholt hatte und sogar in die Gruppenphase der Champions League eingezogen war. Außerdem hatte er zuvor einen guten Vertrag mit al-Ain in den Vereinigten Arabischen Emiraten unterschrieben und dort die Meisterschaft geholt.

    „Ich persönlich werde weiterhin die Armee und diejenigen unterstützten, die Opfer des russischen Angriffskrieges wurden. Ich freue mich, dass ich in die Ukraine zurückgekehrt bin, und werde für unseren Staat arbeiten. Meine Familie kehrt ebenfalls zurück. Ich bin sehr froh, dass meine Frau meine Entscheidung so angenommen hat“, sagte Rebrow damals. Schewa [Schewtschenko – dek] und Rebrow sind wieder – wie vor 20 Jahren bei Dinamo Kyjiw – die wichtigsten Akteure im ukrainischen Fußball.

    „Der Krieg in der Ukraine geht weiter. Das ist für die Spieler schwierig, die ständig aufs Handy schauen und die Nachrichten verfolgen. In einer solchen Atmosphäre fällt die Arbeit nicht leicht. Wir verstehen, dass wir ein starkes Land repräsentieren. Wir müssen Charakter zeigen“, hatte Rebrow vor dem Spiel gegen Bosnien-Herzegowina gesagt.

    Eine neue „goldene Generation“ in der ukrainischen Nationalmannschaft

    Die Spieler der aktuellen ukrainischen Nationalmannschaft werden wieder die „goldenen Jungs“ genannt. Dort gibt es erfahrene Führungsspieler und junge Talente. Andrij Jarmolenko und Taras Stepanenko werden von der Motivation getrieben, mit der Sbirna endlich etwas zu gewinnen. Die jungen Spieler wollen sich bei einem großen internationalen Turnier zeigen und beweisen. Die meisten Spieler der heutigen Sbirna hatten es schon 2020 geschafft, bis ins Viertelfinale der EM vorzustoßen. Und sie sind Stammspieler bei Vereinen der europäischen Top-Ligen.

    Andrij Lunin hütet bei Real Madrid das Tor, Anatolii Trubin bei Benfica Lissabon. In England ist jetzt eine ganze Brigade Ukrainer am Start: Olexander Sintschenko ist eine zentrale Größe bei Arsenal. Der Transfer des 21-jährigen Mychailo Mudrik von Schachtar zu Chelsea vor zwei Jahren war eine Sensation. Witalii Mikolenko ist bei Everton ein wichtiger Verteidiger, ganz wie Illja Sabarny bei Bournemouth. Viktor Syhankow und Artem Dowbik haben in dieser Saison den spanischen Club FC Girona mit in die Champions League gebracht. Ruslan Malinowsky und Roman Jaremtschuk spielen bei Genua und Valencia. Für Mykola Schaparenko und Wolodymyr Braschko (beide bei Dinamo Kyjiw) sowie für Heorhii Sudakow (Schachtar Donezk) bedeutet die Qualifikation für die EM in Deutschland die Chance, einen europäischen Spitzenclub zu finden und einen vielstelligen Vertrag zu ergattern. Wie dem auch sei: Sie alle werden nicht nur für eine gute Platzierung bei der EM kämpfen, sondern auch für ihr Land. 

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    Bilder vom Krieg #21

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Rafał Milach

    Foto © Rafał Milach

    dekoder: Ein verrußtes Gebäude und eine junge Frau mit dem Wappen der Ukraine auf der Wange – was verbindet diese beiden Bilder? 

    Rafał Milach: Ich beschäftige mich schon lange mit den unterschiedlichen Initiativen, die hier bei uns in Polen gegen die russische Aggression protestieren. Vor einigen Jahren habe ich zusammen mit anderen Fotografen, Künstlern, Wissenschaftlern und Aktivisten das Archive of Public Protests gegründet. Uns interessiert das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft und was politische Entscheidungen auslösen können. Ein Krieg ist wohl die heftigste Auswirkung, die eine politische Entscheidung auf das Leben der Menschen haben kann. Ich berichte nicht direkt über den Krieg, aber hin und wieder fahre ich auch in die Ukraine, um mir vor Ort einen Eindruck von den Folgen der russischen Aggression zu machen. Die beiden Bilder stellen die Verbindung her zwischen Krieg und Protest.

    In Deutschland gibt es zwei Arten von Demonstrationen mit Bezug zu diesem Krieg: Auf den einen fordern Teilnehmerinnen und Teilnehmer mehr Unterstützung für die Ukraine, auch mit Waffen. Auf den anderen werden ein Ende dieser Unterstützung und Verhandlungen mit Russland gefordert. Gibt es so etwas auch in Polen?

    Demonstrationen, die die russische Position offen unterstützen, gibt es in Polen nicht. Aber es gibt auch hier Proteste, die von Russland benutzt werden. Das sind zum Beispiel die Proteste der Bauern gegen Importe aus der Ukraine. Oder der Widerstand rechter Politiker gegen Klima-Abkommen, die die Vorgängerregierung der rechten PiS-Partei noch selbst geschlossen hat. Das passt in die Agenda der russischen Propaganda und die Proteste spielen Russland in die Karten, ähnlich wie das in anderen Ländern Europas auch der Fall ist. 

    Wer kommt denn zu den Protesten? Sind das überwiegend Ukrainerinnen, oder auch Polinnen und Polen?

    Die Proteste werden überwiegend von Ukrainerinnen getragen. In Polen gab es ja auch schon vor dem Beginn des Krieges 2014 eine große ukrainische Diaspora. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind zum Arbeiten nach Polen gekommen. Aber nach dem Februar 2022 haben sich auch sehr viele Polen beteiligt und übrigens auch viele Menschen aus Belarus. Es gab Proteste im ganzen Land, in Wrocław, in Krakau, in Poznań und vielen anderen Städten. Über eine lange Zeit gab es fast wöchentlich Proteste, aber seit einer Weile wird es weniger. Mein Eindruck ist, dass auch die Menschen in Polen langsam müde werden von diesem Konflikt. Wenn man bedenkt, dass die polnische Gesellschaft sehr ablehnend gegenüber Migranten eingestellt ist, dann war die Solidarität nach Beginn der Vollinvasion und die Bereitschaft, Ukrainerinnen und Ukrainer aufzunehmen wirklich beeindruckend. Aber das lässt jetzt nach und vereinzelt wird auch Unmut über die Geflüchteten laut. Deswegen halte ich es für so wichtig, dass wir uns von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass wir froh sein können, dass wir nicht direkt vom Krieg betroffen sind. Wir können uns ja nicht einmal sicher sein, dass das nicht noch kommt.

    Haben die Menschen in Polen Angst vor der russischen Aggression?

    Ja. Sie sprechen oft darüber, was passieren würde, wenn Russland unser Land angreift. Das ist gar nicht so unrealistisch, gerade wenn man unsere Geschichte kennt. Polen war ja mehrfach von Russland besetzt.

    An wen richtet sich der Protest?

    In Warschau haben sich die Demonstrierenden meistens vor der russischen Botschaft getroffen, sind dann vor das Parlament gezogen und schließlich in die Innenstadt. Sie hatten also mehrere Adressaten: Russland, die polnische Regierung und die polnische Gesellschaft. Oft haben sich ihnen auch polnische Politiker angeschlossen.

    Wie ist das Bild von dem verrußten Beton entstanden?

    Nach der Welle von Raketenangriffen auf die ukrainische Hauptstadt Anfang Februar 2024 habe ich den Schauplatz im Südwesten von Kyjiw besucht, wo Trümmer eines abgeschossenen Marschflugkörpers niedergegangen sind. Es gab mehrere Tote und einige Wohnungen wurden zerstört. Ich habe mich einer Gruppe Freiwilliger angeschlossen, die Trümmer beseitigten und verbrannte Möbel wegräumten, damit die Wohnungen wieder bewohnbar gemacht werden können. Das ist gewiss nicht mit dem vergleichbar, worunter derzeit die Menschen in Charkiw und anderen frontnahen Städten zu leiden haben. Aber selbst an Orten wie Kyjiw, die relativ gut durch Flugabwehrsysteme geschützt sind, besteht immer noch ein Risiko, unter russischen Beschuss zu geraten. 

    Sie haben sich für ein abstraktes Motiv entschieden. Warum?

    Die Medien zeigen täglich Bilder von Leid und Zerstörung. Ich fahre nicht an die Front, ich mache keine News-Fotografie. Ich interessiere mich mehr für das, was nach diesen traumatischen Ereignissen passiert, wenn der Rauch sich verzogen hat und das Leben wieder beginnt. Ich möchte zeigen, wie der Krieg auch jenseits der großen Katastrophen seine Spur in den Städten und im Leben der Menschen hinterlässt. So arbeiten wir übrigens auch beim Archive of Public Protest. Es geht um mehr als nur Berichterstattung, wir wollen die Perspektive öffnen. 

    Fotografie: Rafał Milach 
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 11.06.2024

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  • „Wie kann es sein, dass man die Sprache seiner Heimat nicht beherrscht?“

    „Wie kann es sein, dass man die Sprache seiner Heimat nicht beherrscht?“

    „Wie kann es sein, dass man die Sprache seiner Heimat nicht beherrscht?“ Mit diesem unter Belarussen und Ukrainern immer wieder heiß diskutierten Thema beschäftigt sich eine Ausgabe der Artikelserie Baljutschyja pytanni (dt. Schmerzhafte Fragen) von Media_IQ, in der Experten auf drängende Fragen der Zeit antworten und diese diskutieren. Dazu hat sich das belarussische Online-Portal zwei Koryphäen auf diesem Gebiet eingeladen: den belarussischen Sprachwissenschaftler und ehemaligen Oppositionspolitiker Winzuk Wjatschorka und die ukrainische Linguistin Larysa Masenko, die in der Ukraine als eine der führenden Forscherinnen zur ukrainischen Sprache gilt. Beide diskutieren in ihren jeweiligen Muttersprachen, Belarussisch und Ukrainisch, über die Dominanz des Russischen in ihren Ländern und über die Unterschiede in der Verwendung von Sprachen in der Ukraine und Belarus. Wir bringen einen Auszug des Gesprächs.

    Media_IQ: Sind russischsprachige Belarussen Belarussen? Und russischsprachige Ukrainer Ukrainer?

    Larysa Masenko: Die zentrale Frage an dieser Stelle ist aus meiner Sicht: Welche Antwort gibt die Person auf die Frage nach der Muttersprache (ukr. ridna mowa)? Wenn ein russischsprachiger Ukrainer oder ein russischsprachiger Belarusse antworten, dass ihre Muttersprache Ukrainisch respektive Belarussisch ist, dann kann man sie als Ukrainer beziehungsweise Belarussen betrachten. 

    Mit der Unterstützung internationaler Organisationen haben wir 2006 eine große Befragung in der Ukraine durchgeführt. Wenn man die Ergebnisse betrachtet, so nannten 15 Prozent der Ukrainer Russisch als ihre Muttersprache, sie lebten mehrheitlich im Osten und Süden des Landes. Bei den Bewohnern von Kyjiw, dessen Großteil leider auch russischsprachig ist, gibt jedoch die Mehrheit als Muttersprache Ukrainisch an. Anhand dieses Kriteriums kann man also tatsächlich erkennen, ob eine Person ukrainisch ist und eine ukrainische Identität hat, obwohl sie Russisch spricht. 

    Winzuk Wjatschorka: Bei uns ist die Situation komplizierter. Unter anderem, weil wir keine konkrete, sichere Antwort auf die Frage haben, wie viele Belarussen das Belarussische als Muttersprache betrachten und was sie unter diesem Begriff überhaupt verstehen – Muttersprache. Die Sache ist, dass in der internationalen Soziolinguistik eine ganze Bandbreite an Bezeichnungen für die sprachliche Identität und das Sprachverhalten des Menschen existieren. Da gibt es mother tongue, die Muttersprache oder Erstsprache. Es gibt die Hauptsprache, die der Mensch am besten beherrscht, die Sprache, die er üblicherweise im Alltag verwendet. Und es gibt die sprachliche Identität – mit welcher Sprache verbindet der Mensch seine Herkunft, seine Familie, seine Zukunft und letztlich auch seine Nationalität.

    Belarussisch als Muttersprache, auch wenn die Mutter gar nicht Belarussisch sprach – das waren die Opfer der sowjetischen Russifizierung der 1960er und 1970er Jahre

    Bei uns wurde früher in den Volksbefragungen die Frage nach der Muttersprache ohne Erläuterung gestellt, wodurch die Befragten ihre eigene Interpretation zugrunde legen konnten, so auch das Konzept der Sprachidentität. Wenn jemand also nicht täglich Belarussisch sprach, oder nicht die belarussische Literatursprache, konnte er die belarussische Sprache dennoch als seine rodnaja mowa betrachten, also die Sprache seiner Familie und Herkunft, oder sie gar als Muttersprache bezeichnen, auch wenn seine Mutter gar nicht Belarussisch mit ihm sprach (das waren die Opfer der sowjetischen Russifizierung der 1960er und 1970er Jahre), aber die Mutter seiner Mutter, also die Großmutter, noch Belarussisch gesprochen hatte. So ergibt sich eine Perspektive, dass seine Kinder und Enkel wieder Belarussisch sprechen werden, und das hat bei uns ja tatsächlich stattgefunden – die Rückkehr zur belarussischen Sprache nach ein oder zwei Generationen.

    Was bedeutet eigentlich Belarussisch sprechen?

    Sehr wichtig ist aber auch, dass die Menschen, die selbst zurückgefunden haben oder ihre Kinder an die belarussische Sprache heranführen, sich dessen bewusst sind, dass dies die Sprache ihrer Herkunft, ihrer Familie ist. In den späteren Volkszählungen, die schon unter Lukaschenka stattfanden, wurde auf einmal erläutert, was unter rodnaja mowa zu verstehen sei: Nämlich jene Sprache, die der Mensch zuerst in seiner Kindheit gelernt hat. Damit wurde den Menschen praktisch das Recht entzogen, die Sprache ihrer Identität anzugeben. Dadurch ergab sich zwischen den Umfragen 1999 und 2009 ein absolut katastrophaler Einbruch bei den Zahlen zur sprachlichen Identität – 22 Prozent weniger gaben Belarussisch als Muttersprache an.

    Es ist wirklich beispiellos, dass sich innerhalb von zehn Jahren die sprachliche Identität einer kompletten Bevölkerung so verändert! Einerseits liegt das an der antibelarussischen Politik des Lukaschenka-Regimes, andererseits an der Veränderung der Fragestellung, durch die man Belarussisch nicht mehr als rodnaja mowa angeben konnte. 

    Ein weiterer wichtiger Punkt: Was bedeutet eigentlich Belarussisch sprechen? Wie ich schon sagte, umfasst das nicht nur die Verwendung der Standardsprache. Jede Person, die einen Dialekt spricht, spricht ohne Frage Belarussisch. Die Person selbst versteht das vielleicht als Mischsprache: „Sie wissen schon, wie wir sprechen – ein belarussisches Wort, ein polnisches Wort, ein russisches Wort, ein belarussisches Wort, ein ukrainisches Wort …“ Es ist abhängig von der Geografie. Tatsächlich sind das aber belarussische Dialekte. Nur war es den Menschen nicht möglich zuzugeben, dass sie Belarussisch sprechen – es galt als unfein. 

    In der Sowjetzeit galt das als peinlich. Und auch jetzt ist es wieder unangenehm. Dabei ist doch eine Person, die das Belarussische passiv beherrscht, es versteht und gut beherrscht, letztlich auch belarussischsprachig. Worauf ich hinaus will: Eine Person, die im Alltag Russisch spricht, aber das Belarussische versteht und beherrscht, einige Wörter einbaut, kann potenziell jederzeit zu dieser Sprache zurückkehren. Die Person ist potenziell belarussischsprachig. Und wenn irgendwelche emsigen Soziologen sagen, dass bei uns nur drei Prozent oder fünf Prozent Belarussisch sprechen, dann verstehen sie diese Hintergründe einfach nicht. 

    Insofern ist ohne Frage jeder, der Russisch spricht, aber diesen Hintergrund, diese Vorgeschichte hat, ein Belarusse, und besitzt mithin die Option, zur belarussischen Sprache zurückzukehren.

    In der Ukraine ist es wichtig, die ridna mowa als Sprache meines Volkes, meines Landes zu behandeln 

    L.M.: Hier wurde eine wichtige Frage aufgeworfen: Was ist die Muttersprache, wenn die Eltern russischsprachig sind. Bei uns sind die Großstädte am stärksten russifiziert, in den Städten leben viele Menschen, dort fand die Industrialisierung statt, es gab viel Zuzug, und so entstand der Schmelztiegel der Russifizierung. Die Kleinstädte und Dörfer verloren ukrainischsprachige Einwohner. Für die Kinder dieser Generation, die in die Städte zogen und zum Russischen übergingen, war das Ukrainische oft die Sprache von Oma und Opa, es war die Sprache ihrer Ahnen, die Sprache aller vorangegangenen Generationen. In diesem Sinne ist das Ukrainische also zweifellos ihre Muttersprache, ridna mowa. Ich möchte außerdem sagen, dass wir für unsere Situation folgende Definition gefunden haben: ridna mowa ist die Sprache meines Landes. Ich verstehe, dass ridna mowa in anderen Ländern anders definiert wird, wie Sie bereits gut beschrieben haben, am weitesten verbreitet ist das Konzept der Muttersprache. Ja, ridna mowa ist die Sprache der Mutter, von ihr lernt das Kind diese Sprache. Aber in Anbetracht unserer Situation ist es, denke ich, ebenfalls wichtig, ridna mowa als Sprache meines Volkes, meines Landes zu behandeln.

    Ist es im 21. Jahrhundert korrekt, die Identität eines Menschen über die Sprache zu definieren?

    L.M.: Die sprachliche, ethnische und nationale Identität sind doch sehr eng miteinander verbunden. In allen Ländern, hauptsächlich in den europäischen Ländern, gibt es nur eine Amtssprache; es gibt nur sehr wenige zweisprachige Staaten. Diese kann man separat besprechen, dort gibt es fast immer einen Konflikt, da jedes Volk, jede Nation ihre Identität unstrittig hauptsächlich über die Sprache definiert. Jedoch nicht nur über die Sprache, sondern auch über die Kultur, die in dieser Sprache geschaffen wird, denn in der Kultur kommt die Identität sehr klar zum Ausdruck.

    Deshalb ist es unbedingt notwendig, das Ukrainische bei uns zu verbreiten. Im Moment gibt es einen großen Umbruch, einen großen Bruch im Verhältnis zu Moskau …

    Und es hat ein starker Wechsel vieler russischsprachiger Ukrainer zum Ukrainischen begonnen. Tatsächlich hat dieser Prozess bereits nach der Revolution der Würde aktiv an Fahrt aufgenommen, nachdem im Jahr 2019 endlich das Gesetz Über die Staatssprache eingeführt wurde, das klar definierte, in welchen Bereichen das Ukrainische als Amtssprache verpflichtend zu verwenden ist. Putin und sein Umfeld dachten, nur weil es zu Sowjetzeiten gelungen war, einige Städte zu russischsprachigen zu machen, besonders die Großstädte im Osten und Süden, würden die Menschen dort die russische Armee mit Brot und Salz empfangen. Aber das Gegenteil war der Fall, die Ukrainer sehen Russland nun bewusst als Feind, sie sehen den genozidalen Krieg, der zum Zweck der Vernichtung der Ukrainer geführt wird. Ihr Widerstand ist sehr stark geworden und viele Menschen wechseln nun zur ukrainischen Sprache.

    Am schlimmsten ist, dass der Status des Belarussischen als alleinige Staatssprache nicht erhalten werden konnte

    W.W.: Die ukrainische Situation ist natürlich eine epochale Kraftprobe. Einerseits hat sich der ukrainische Staat stark für die ukrainische Sprache eingesetzt, worauf wir Belarussen in unserer aktuellen Situation nur mit Neid blicken können. Denn der aktuelle Staat, der sich Belarus nennt, verdrängt die belarussische Sprache funktional und zielgerichtet, letztlich muss man schon sagen, er vernichtet sie. Andererseits ist die Ukraine Ziel eines verbrecherischen Angriffs geworden, der unter anderem gerade mit einer sprachlichen Argumentation begründet wird. Das brachte alle an Russland angrenzenden Völker dazu aufzuwachen und zu verstehen, dass dieses Russland und die aufgezwungene Russischsprachigkeit, die von einigen als Reichtum betrachtet wird, da die russische Sprache zu den Weltsprachen gehöre und eine Brücke zu kulturellen, wissenschaftlichen und allerlei anderen Reichtümern darstelle, in Wirklichkeit die Brücke zum Einmarsch des Aggressors ist …

    Um auf die Frage zurückzukommen, ob die sprachliche Identität identisch ist mit der nationalen – ja, ich denke, dass die aktuelle sprachliche Situation in Belarus instabil und entropiehaft ist. Wenn wir in der kurzen Periode der realen Unabhängigkeit und der relativen Demokratie in der ersten Hälfte der 1990er Jahre innerhalb von sechs Jahren der belarussischen Sprache ihren Status zurückgeben konnten, ein bis zwei Millionen Schüler durch das belarussischsprachige Bildungssystem lotsen konnten, dann trat eine sprachliche Wirkung ein, die dann mit Gewalt wieder aus der Gesellschaft herausgepresst wurde, nachdem gerade sprachliches Selbstbewusstsein und funktionale sprachliche Normalität zurückgekehrt waren.  

    L.M.: Am schlimmsten ist, dass der Status des Belarussischen als alleinige Staatssprache nicht erhalten werden konnte, so wie es in der Ukraine gelungen ist. Als Lukaschenka an die Macht kam, wurde das belarussische Sprachengesetz geändert, und Russisch wurde neben Belarussisch zur Staatssprache erklärt. Natürlich öffnete das den Russifizierern und Kolonisatoren Tür und Tor. Es ist sehr bedauerlich, dass durch verschiedene Manipulationen, faktisch durch Betrug der Bevölkerung, eine Person wie Lukaschenka an die Macht gekommen ist. Denn Lukaschenka verachtet die belarussische Sprache, er hat geäußert, dass es nur zwei große Sprachen gäbe – Russisch und Englisch, Belarussisch hingegen sei sehr arm, man könne damit keine technischen Sachverhalte beschreiben, da es keine Fachtermini gäbe, und so weiter. Wie soll eine Sprachenpolitik mit einem solchen Präsidenten aussehen?

    Auch bei uns ist die sowjetische Politik noch spürbar, dass damals die hervorragendste Elite, die das Ukrainische verteidigte, ins Lager geschickt wurde, und die Russifizierung stark vorankam. Besonders unter Schtscherbyzky in den 1970er Jahren, der die ukrainische Sprache aus dem offiziellen Gebrauch nahm, auch in der Partei. 

    Sind die ukrainische und belarussische Sprache durch ihre Nähe zum Russischen bedroht?

    L.M.: Bei uns wird häufig nicht berücksichtigt, dass es einen Unterschied zwischen der individuellen Zweisprachigkeit und der staatlichen Zweisprachigkeit gibt. Wenn ein Mensch zwei Sprachen beherrscht, oder heutzutage oft auch drei, denn unsere Schüler und Studenten lernen ja auch intensiv Englisch, dann ist daran überhaupt nichts Schlimmes, im Gegenteil.

    Die staatliche Zweisprachigkeit ist jedoch ein ausgesprochen negatives Phänomen, besonders, wenn sie so ausgeprägt ist wie bei uns, in einem postimperialen Raum, wo die gesamte Bevölkerung der Ukraine und Belarus‘ in der sowjetischen Zeit Russisch lernen musste, da andernfalls keine berufliche Karriere möglich war.

    Diese Sprache verdrängte die lokalen Sprachen, so dass dieser Bilinguismus, wie sogar Wissenschaftler aus anderen Ländern bestätigen, ein Zustand des Ungleichgewichtes war, in dem ein ständiger Konflikt zwischen zwei Sprachen herrschte, da eine Sprache die andere Sprache aus deren heimischem Territorium verdrängen wollte. Ein solcher Konflikt wird nur durch den Sieg einer der beiden Sprachen gelöst, oder durch den Zerfall des Staates in zwei Teile, wie es beispielsweise in Belgien der Fall ist.

    W.W.: Ich würde die regionale Betrachtung etwas eingrenzen. Wir sind in Mittelosteuropa, und für Mittelosteuropa ist staatliche Zweisprachigkeit etwas sehr Exotisches. Die einzige Ausnahme ist zum großen Leidwesen Lukaschenkas Belarus. Auch wenn Lukaschenka hundertmal sagt „Wir haben kein Sprachproblem, es wird uns untergeschoben“, so war er es doch selbst, der nach seinem durch populistische Losungen errungenen Wahlsieg 1994 die unausweichlichen Probleme beim wirtschaftlichen und politischen Aufbau eines jungen Staates gleichsetzte mit dem Sprachenproblem, als er nämlich sagte: All diese bewussten Menschen mit ihrer Sprache seien schuld an all diesen Problemen. Das Referendum begann er ausgerechnet mit der Sprachenfrage. Er verwirrte die Menschen und stellte eine die Identität betreffende Frage, was der damaligen Gesetzeslage nach bei einem Referendum eigentlich nicht zulässig war. Die Ergebnisse sollten nur beratenden Charakter haben, aber Lukaschenka entwickelte schon damals seine eigene Haltung zu Gesetz und Verfassung. Er betrachtete das Ergebnis als verbindlich und so wurden wir das einzige postsowjetische Land, und darüber hinaus auch das einzige mittelosteuropäische Land, mit zwei Staatssprachen – und die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. 

    In komplizierten Situationen, wie der belarussischen, kann es eine Übergangszeit geben

    Bereits 2007 nahm die UNESCO die belarussische Sprache in ihren unheilvollen Atlas der gefährdeten Sprachen auf, da der Prozentsatz der Menschen, die in den Folgegenerationen die Sprache von ihren Eltern oder in der Schule lernen würden, auf ein gefährliches Niveau gesunken war. Noch stehen wir auf der ersten Stufe der Bedrohung, aber vielleicht hat sich das seit 2007 auch schon geändert und wir sind in diesem bedrohlichen UNESCO-Atlas eine Stufe höher geklettert.

    Der Status der Staatssprache bedeutet, dass ein Staatsbeamter verpflichtet ist, diese Sprache zu verwenden, dass der Staat verpflichtet ist, die Rechte dieser Sprache zu schützen, dass ich, als Belarussischsprachiger, das Recht habe, mich auf Belarussisch an jede beliebige staatliche Institution zu wenden, und auf Belarussisch eine Antwort erhalte. Nicht mehr und nicht weniger. 

    In komplizierten Situationen, wie der belarussischen, kann es eine Übergangszeit geben. In Kasachstan, wo der demokratische Charakter des politischen Systems zwar infrage steht, wird das Kasachische als Staatssprache beispielsweise für einige Zeit begleitet von Russisch als zweiter Amtssprache, das aber nicht Staatssprache ist. Allmählich, langsam, aber sicher, nähert man sich so einem Zustand, in dem die kasachische Sprache vollwertig und allgegenwärtig gebraucht wird. 

    Wenn Menschen, die sich für das Belarussische als einzige Staatssprache aussprechen, ein Hang zu Gewalt und Zwang nachgesagt wird, verfälscht das schlicht die Realität. Im Jahr 1990, als die Entscheidung getroffen wurde, Belarussisch zur alleinigen Staatssprache zu machen, beschloss man eine sehr sanfte Zeitschiene: fünf bis sechs Jahre, für das juristische Feld sogar zehn Jahre Zeit, um vollständig zur belarussischen Sprache überzugehen, unter Berücksichtigung der Ausbildung von Fachkräften, Entwicklung der Terminologie, Buchdruck, Übersetzung der Gesetzgebung. Hätte es 1994 nicht diesen populistischen Umsturz gegeben, hätten wir heute eine Situation ähnlich wie in der Ukraine. Diese Lehre sollten wir verinnerlichen und Fehler nicht wiederholen. 

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  • Operation „Deportation“

    Operation „Deportation“

    Melitopol im Süden der Ukraine war eine der ersten großen Städte, die im Frühjahr 2022 von russischen Truppen eingenommen und besetzt wurden. Bis dahin lebten dort fast 150.000 Menschen. Im September 2022 veranstaltete der Kreml ein Scheinreferendum. Seitdem betrachtet er das Gebiet als Teil Russlands. Anfangs wehrten sich die Bewohner gegen die Besatzung. Dann wurden die Aktivsten deportiert, wer nicht freiwillig ging, wurde bedroht oder gefoltert. Olga Mussafirowa hat mit einigen von ihnen gesprochen. Sie schildert, wie Russland eine Stadt nach und nach in seine Gewalt bringt. 

    An der Stadtgrenze von Melitopol hat sich im Frühjahr 2022 eine lange Schlange gebildet. Wenige Kilometer entfernt verläuft die Front. Der Fahrer dieses Wagens hat groß das Wort „Kinder” auf die Frontscheibe geschrieben / Foto © Imago, SNA

    Im frontnahen Saporishshja heulen Tag und Nacht die Sirenen, oft schlagen Artilleriegeschosse ein. Vierzig Kilometer von hier Richtung Orichiw wird gekämpft, aber leider nicht nur dort … 

    Iwan Fedorow, gebürtig aus Melitopol und Gouverneur der Oblast Saporishshja, nennt es im ukrainischen Fernsehen seine Hauptaufgabe, eine Verteidigungslinie und Befestigungsanlagen zu bauen. Daran wird, sagt Fedorow, rund um die Uhr gearbeitet.  

    Am 11. März 2022 wurde der 33-jährige Fedorow (damals Bürgermeister von Melitopol, der sich weigerte, sich zu ergeben) vom russischen Militär entführt. Die Aufnahme einer Überwachungskamera zeigt, wie er von Männern mit Maschinenpistolen aus dem Amtsgebäude gezerrt wird. 

    Trotz der Besatzung reagierte die Stadt sofort: Die Bewohner gingen auf die Straße und forderten die Freilassung ihres Bürgermeisters. Die „Befreier“ wunderten sich: Haben die keine Angst zu protestieren? Von wem werden sie bezahlt? Am nächsten Tag verkündete Präsident Selensky, dass Fedorow gefoltert werde, damit er vor laufender Kamera sage: Russland bleibt für immer, und Widerstand ist zwecklos. Bald wurde der Entführte gegen mehrere 2002 und 2003 geborene russische Soldaten im Grundwehrdienst eingetauscht. Vor kurzem [im Februar 2024 – dek] wurde er zum Verwaltungschef der Oblast ernannt.  

    Den neuen Verwaltungschef nennen die Ukrainer „Gauleiter“ 

    Melitopol hingegen wurde zur „Hauptstadt“ des okkupierten Teils der Oblast Saporishshja. Als Verwaltungschef (in der Ukraine nennen sie solche Leute „Gauleiter“) bestimmten die Russen einen Einheimischen mit militärischem Stammbaum, Jewhen Balyzky. Er war Volksdeputierter der Ukraine und des Rats der Oblast Saporishshja, Mitglied von Janukowitschs Partei der Regionen und in weiterer Folge des Oppositionsblocks. Als einer der Ersten in der Oblast erhielt er einen russischen Pass und schloss sich Putins Partei Einiges Russland an. Er war es, der sich die „Operation Deportation“ in Melitopol und anderen besetzten Gebieten ausdachte und sie auch umsetzte.  

    „Wir haben zahlreiche Familien ausgesiedelt. Das war alles andere als einfach“, erinnerte sich der „Gauleiter“ kürzlich und meinte damit offensichtlich moralische Hürden, mit denen sein Team zu kämpfen hatte. „Und zwar die, die gegen die Spezialoperation waren, die die russische Flagge, die Hymne oder den Präsidenten der Russischen Föderation diffamiert haben. Wir nutzten den Status, den wir damals hatten – rechtlich gehörten wir noch nicht zur Russischen Föderation –, und wiesen solche Leute mitsamt ihren Familien aus. Das taten wir, weil wir wussten: Die können wir nicht umstimmen. Und dann müssten wir noch brutaler gegen sie vorgehen. Es könnte höchste Gefahr für ihr Leben bestehen, deswegen sollen sie sich doch lieber in ihren Banderastaat verziehen und sich dort ihre ideale Welt zusammenbauen.“  

    „Was meinen Sie mit Lebensgefahr?“, fragte eine Journalistin eines staatlich kontrollierten Senders.            

    „Sie hätten einfach von Nachbarn umgebracht werden können“, erklärte Balyzky. „Leider gab es in der ersten Phase der Spezialoperation bedauerliche Fälle von Selbstjustiz. Wo Leute fremde Wohnungen bezogen, fremde Häuser ausraubten, es gab Plünderungen, auch von Einkaufsläden … Wir ließen sie gehen. Manche mussten wir dazu zwingen. Die brachten wir bis zum ‚Bändchen‘ [gemeint ist der Checkpoint, hinter dem die graue Zone beginnt – dek], dort verlasen wir den Aussiedelungsbescheid, gaben ihnen eine Flasche Wasser mit und … Aber was macht man mit einer Frau mit drei Kindern, die andere Überzeugungen hat? Die Russland eben nicht als ihre Heimat sieht. Die das, was passiert, nicht richtig findet. Sollen wir die etwa umbringen?“ Der neue russische Regionalchef wirbt beim Publikum um Verständnis. „Wir haben unseren Bescheid verlesen und sie losgeschickt. Sollen sie machen, was sie wollen.“           

    „Sind Ihnen solche Entscheidungen schwergefallen?“, fragte die Interviewerin.  

    „Ja, was denn sonst? Wenn ich doch gerade erst mit diesen Leuten Silvester gefeiert habe!“ Balyzky wirkte direkt ein bisschen gekränkt. „Wir haben an einem Tisch gesessen. Wir leben doch alle in derselben Stadt, ich bin seit 1998 in der Lokalpolitik. Ich kenne 15.000 Menschen persönlich, per Handschlag.“  

    Jahrelang saßen sie an einem Tisch. Heute kollaboriert der eine mit den Russen, der andere ist ins Ausland geflohen 

    Einen der Ersten, die aus Melitopol ausgewiesen wurden, konnte ich in Israel ausfindig machen. Mychailo Wolodymyrowytsch Kumok passt genau in die Beschreibung des „Gauleiters“: „Wir haben an einem Tisch gesessen.“ Wenn man nämlich an die Tische im Sitzungssaal des Regionalrats denkt, an denen offizielle, aber auch andere Veranstaltungen stattfanden. Eigentlich sahen sie sich fast täglich. Die Adresse der Medienholding Melitopolskije wedomosti (dt. Melitopoler Nachrichten), die Kumok gegründet und als fortschrittlichster Herausgeber der Region drei Jahrzehnte lang geleitet hat, befand sich unmittelbar neben dem Amtsgebäude des Exekutivkomitees mit dem Empfangszimmer des Volksdeputierten Balyzky. Noch dazu waren die Ehefrauen der beiden befreundet – bis zur russischen Invasion.   

    Auf die Besatzung von Melitopol reagierte Kumoks Familie eher verärgert als verängstigt. Tatjana, die älteste Tochter, wurde sogar zur Chronistin der Ereignisse. Sie war gerade erst nach vielen Jahren in Israel in die Ukraine zurückgekehrt, um eine Zweigstelle ihres Unternehmens zu eröffnen, ein Geschäft für Brautmode. Ihre Blogeinträge und Facebook-Postings über tägliche Entführungen, Enteignungen und andere Errungenschaften der „neuen Staatsgewalt“ wurden von Medien weltweit aufgegriffen.  

    Die Familie nahm an proukrainischen Demonstrationen teil, zu der größten kamen 7000 Menschen. Tatjana stellte oft Livestreams davon ins Netz. Dann begannen die Besatzer, die Proteste gewaltsam aufzulösen, und die Menschen standen vor der Wahl, entweder stillzuhalten oder über die Krim das Weite zu suchen. Eine Überquerung der hart umkämpften Frontlinie wäre wohl keine gute Idee gewesen.  

    Die Website der Medienholding war weiterhin in Betrieb, dort wurden die Dinge beim Namen genannt. Auch der redaktionsinterne Chat wurde weitergeführt. Mitte März wurden in einer Vorstadt zwei Journalisten festgenommen. Es war klar, es würden alle drankommen, auch der „Chef der ganzen Bude“, meinte Kumok selbstironisch.                         

    Mychailo Kumok bekam am 21. März 2022 Besuch von den Besatzungsbehörden. Nicht nachts, sondern gegen zehn Uhr vormittags. Seine Tür wurde nicht aufgebrochen, man wartete draußen auf ihn.  

    Kumok schlussfolgerte: Wenn sie ohne Türaufbrechen und sonstige Special Effects auskommen, dann ist das hier die Light-Version. Er ließ die fünf Bewaffneten in Sturmhauben ein.  

    Während der Hausdurchsuchung mussten er und seine Frau in getrennte Zimmer gehen. Die Männer packten den Rechner und diverse Geräte ein und forderten Kumok auf, mitzukommen – „gleich hier um die Ecke“. Tatjana, die ein bisschen aufmüpfig war, musste auch zum Verhör.    

    „Es begann ganz klassisch mit: ‚Wir befreien euch doch …‘“, äfft Mychailo Kumok, ein fabelhafter Erzähler, sein damaliges Gegenüber nach. „‚Warum nennt ihr uns in eurer Zeitung Orks und Okkupanten?‘ – ‚Die Orks sind eine Metapher. Aber Okkupanten – was seid ihr denn sonst? Meine Festnahme macht in Israel bereits Schlagzeilen. Viel Spaß mit dem internationalen Skandal. Bald kriegt ihr den Befehl aus Rostow – freilassen!‘ So kam es dann auch, nach sechs Stunden Nervereien. Unsere Geräte bekamen wir aber erst nach und nach zurück.“ 

    Kumok beriet sich mit der Geschäftsführerin seiner Holding, und gemeinsam beschlossen sie, die Website „stillzulegen“, um die Mitarbeiter nicht zu gefährden. Israelische Pässe hatte nur seine Familie. Dafür veranstalteten die „Befreier“ in seinem Betrieb ein Pogrom: Sie ruinierten die Überwachungskameras und klauten aus allen Büros die alkoholischen Getränke. Tatjana blieb ihrer Mission treu und stellte ein Video mit entsprechenden Kommentaren zum ‚Appetit des Russki Mir‘ ins Netz. Bei Mychailo Kumok klingelte danach wieder das Telefon: „Wir müssen uns treffen!“ – „Zweck?“ – „Bezüglich Ihrer Tochter.“ – „Das überzeugt mich. Wann sehen wir uns?“ Tatjana engagierte sich damals mit einem Wohltätigkeitsfonds für alte Menschen in Melitopol. Das „Rendezvous“ fand auf dem Friedhof statt, für die passende Atmosphäre.            

    Flucht oder Folterkeller – Sie haben die Wahl 

    Der Repräsentant der neuen Herrschaft bot ein paar Varianten zur Auswahl an, die „direkt mit Balyzky“ abgestimmt waren. Erstens: Wohltätigkeit schön und gut, aber aus der Politik soll Tatjana sich raushalten, wenn Sie in Melitopol bleibt. Zweitens: Als Geste des guten Willens bekommt die Familie die Möglichkeit, die Stadt zu verlassen. Oder drittens: Die ganze Familie ab in den Keller. Wofür entscheiden Sie sich? 

    Die meisten, die ausgewiesen wurden, durften sich das nicht aussuchen. 

    Im Netz findet man einiges an Videomaterial zur letzten Etappe der Deportation. Diese Beiträge mit immergleicher Handlung verbreitet die Okkupationsverwaltung, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Es gibt weder Ermittlungen noch Gerichtsverfahren, nicht einmal pro forma: Balyzky entscheidet allein über jedes Schicksal. 

    Flüchtlinge müssen zu Fuß die Front passieren 

    „Vom russisch besetzten Tokmak bis nach Saporishshja sind es 80 Kilometer. Auf der Strecke liegen noch die okkupierte Bezirksstadt Wassyliwka und Dörfer, die ebenfalls von den Okkupanten kontrolliert werden“, erzählte mir Olha Bohlewska, Journalistin aus Saporishshja. „Dahinter liegt die graue Zone, dann die Zone, die von der Ukraine kontrolliert wird, Dörfer und Felder. Da wird überall geschossen, praktisch verläuft da die Front. Die Leute werden in der nackten Steppe ausgesetzt, ohne Gepäck. Wenn sie Glück haben, haben sie ihre Dokumente dabei. Sie müssen die weiteren feindlichen Checkpoints auf eigene Faust passieren und sich einen Weg durch vermintes Gelände bahnen, das jederzeit aus der Luft beschossen werden kann.“        

    September 2022. Angesehene ältere Bürger werden ausgewiesen. Der 74-jährige Viktor Romanow, ein bekannter Unternehmer aus Melitopol, Eigentümer der Mineralwassermarke Mirnenskaja, Inhaber von Baufirmen, Cafés und Verkaufsstellen. Außerdem der 76-jährige Nikolaj Kischko, Direktor des Agrarunternehmens Mogutschi, verdienstvoller Landwirt der Ukraine, Abgeordneter im Regional- und Bezirksrat, Ordensträger. Vor seiner Ausweisung wird Kischko drei Tage lang eingesperrt. Betroffen sind auch Wassili Massalabow, Chef der landwirtschaftlichen Genossenschaft Drushba, emeritierter Professor an der Universität für Agrotechnik in Melitopol und Doktor der Ingenieurwissenschaften, und Anatoli Hrybko, Abgeordneter des Dorfrats von Wessele und Leiter von Irida, einem Kommunalbetrieb für Wasserversorgung.  

    „Alles klar? Naaach rechts! Lauft!“ Die Alten lassen sich Zeit. Romanow trägt eine Wasserflasche. Seine Firma kann er nicht mitnehmen. Heute meins, morgen deins. Wie viele Menschen sich in die Ungewissheit begeben mussten und wie viele von ihnen es bis zu den ukrainischen Checkpoints geschafft haben, ist statistisch nicht erfasst. Die Melitopoler schätzen die Zahl auf Hunderte. Nicht alle sind bereit, an die Öffentlichkeit zu gehen oder gar mit Journalisten zu sprechen.  

    Das Dorf Wessele im Bezirk Melitopol liegt versteckt abseits der Autobahn. Bis April 2022 – die umliegenden Siedlungen waren bereits von Russen besetzt – wehte auf dem Amtsgebäude die blau-gelbe Flagge. Doch gerade diese Zeit brachte eine schwere Enttäuschung, sagte Anatoli Hrybko: 

    „Die Hälfte der Bevölkerung hatte offenbar auf Russland gewartet. Der Rest sah bedrückt drein.“ 

    Der ehemalige Militärkommissar im Ruhestand glaubte nicht, dass die Besatzung lange dauern würde.     

    „Meine Firma Irida kümmerte sich um die Wasserversorgung und den Export von Industrieabfällen. Ich komme zum Stützpunkt und treffe auf beunruhigte Schlosser: Die Russen haben Sie schon gesucht, die Pistolen im Anschlag, wir sollen bloß nicht auf die Idee kommen, kein Wasser zum Checkpoint zu leiten. Auch das benachbarte Nowoolexandriwka, wo an die sechzig Soldaten im Sportsaal einer Schule lagerten, sollen wir mit Wasser beliefern. Und sie wollten einen Bagger zum Schützengräben ausheben. Aber das geht endgültig zu weit“, Hrybko zieht mit der Handkante eine Linie über den Tisch, „keine Schützengräben für die Raschisten. Da habe ich unbezahlten Urlaub bis Kriegsende beantragt.“  

    Doch hin und wieder besuchte er seine Kollegen, machte ihnen Mut: „Das geht vorbei, die Ukraine wird wiederkommen.“ Und er beobachtete, was in Wessele geschah.  

    Die Metzgerin läuft von Haus zu Haus und sammelt Unterschriften für den Anschluss an Russland 

    Da wurde gerade das Referendum über den Anschluss an Russland vorbereitet. Als Agitatorin lief die Metzgerin mit Heft und Kugelschreiber von Haus zu Haus: „Wofür werden Sie stimmen?“ Auch bei Hrybko klingelte sie. Und wurde weggeschickt. Die Kampagne für die Dumawahlen verlief noch revolutionärer. Mitglieder der Wahlkommission brachten die Wahlurnen in Begleitung von MP-Schützen zu den alten Leuten nach Hause: „Hier ankreuzen!“         

    „Einerseits hat die Bevölkerung Angst, ihre Jobs und ihr Einkommen zu riskieren. Andererseits sind sie es gewohnt, den Mund aufzumachen: ‚Sind die Wahlen denn frei?‘ – ‚Na klar …‘ – ‚Dann bin ich für die Kommunisten und nicht für Einiges Russland!‘“, erinnerte sich Anatoli Hrybko an die Aneignung der „neuen Gebiete“ und die Einführung einer neuen Ordnung durch die Russische Welt. „Wessele ist sehr dicht mit russischem Militär bevölkert. Leerstehende Häuser werden sofort von Soldaten besetzt, die von ihren Positionen im Wald abgelöst werden und sich ausruhen wollen.“ 

    Alles, was Anatoli Hrybko, der immer noch als Abgeordneter wahrgenommen wurde, tun konnte, war, bei freiwilligen Evakuierungen nach Saporishshja zu helfen und von dort aus humanitäre Hilfe zu organisieren. Er musste konspirative Fähigkeiten entwickeln, um weder sich noch seine Landsleute zu gefährden. Gegen Denunziation aber war er machtlos.   

    An einem frühen Samstagmorgen Anfang September 2022 rollten drei Autos vor Hrybkos Haus. Fünfzehn MP-Schützen stellten sich rund um den Hof auf. „Habt ihr euch nicht in der Adresse geirrt?“, fragte seine Frau im Hinausgehen. 

    Valentyna war Sachwalterin im Bezirksrat und verfügte über eine beneidenswerte Gelassenheit. Es war die erste demonstrative Hausdurchsuchung im Dorf. 

    Ein altes Abzeichen mit dem ukrainischen Wappen? Aha, ein Nazi-Symbol! 

    Abgesehen von Computern, Handys und Dokumenten nahmen sie auch Hochschul-Abzeichen mit, zum Beispiel die Anstecknadel des Dnepropetrowsker Regionalinstituts für staatliche Verwaltung, das Hrybko abgeschlossen hat.    

    „Da ist ein ukrainisches Wappen drauf, also war es für die gleich Nazi-Symbolik. Sie krallten sich auch die sowjetischen Medaillen mit Hammer und Sichel, aber dann fanden sie ein Namensschild und einen Souvenir-Pin von der UNO! Was sich über die Jahre eben so in den Schubladen ansammelt. Na, das war der Knüller: ‚Aha, du bist an dem Biolaboratorium beteiligt?!‘ Ich wusste gar nicht, wie ich reagieren sollte“, Hrybko hob ratlos die Schultern. „Zum Lachen war mir nicht. ‚Los, erzähl mal, was da gemacht wurde, wird‘s bald!‘ Die glauben das allen Ernstes. Dann entdeckten sie das Abschlussalbum von dem bereits erwähnten Regionalinstitut. Einige Kollegen trugen auf den Fotos Uniform. ‚Der ist beim SBU, und ihr habt Kontakt! Was ist sein Deckname?‘“ 

    Sie verbanden Anatoli Hrybko mit einem Handtuch die Augen, brachten ihn nach Melitopol und sperrten ihn in eine Zelle. Er wusste nicht, wo genau er sich befand – auf der Polizeidienststelle oder im Untersuchungsgefängnis.    

    „Am nächsten Morgen verhörten sie mich, mit einer Plastiktüte über dem Kopf. Sie schlossen mir irgendwelche Kabel an, angeblich einen Lügendetektor.“ 

    „Und wozu die Tüte?“ 

    „Damit mich keiner erkennen konnte. Den, der mich verhörte, nannten sie Jegor. Ich hatte den Eindruck, dass sie aus mir einen Partisanenführer machen wollten, den sie somit entlarvt hatten. Offenbar hatten die Denunzianten ihnen das so berichtet.“ 

    Anatoli ist bereit, alles zu sagen, wenn nur die Stromschläge aufhören 

    Bei den nächsten Verhören schalteten sie dann den Strom ein. Sie fesselten ihm die Hände mit Klebeband und steckten ihm Klemmen an die Finger. Er konnte nicht sehen, was passierte, er spürte es nur: 

    „Der Strom geht an. Aua! ‚Mit wem hast du kooperiert?‘ Sie lesen die Chats in meinem Handy, verstärken den Strom bis ich zu zucken begann. Und wieder fragen sie nach dem Biolaboratorium. Am nächsten Tag dasselbe noch einmal. Ich bin herzkrank, leide an Bluthochdruck, ich hatte keine Medikamente dabei und sie gaben mir keine.“

    Anatoli Hrybko fragt sich, wie er nach einer Befreiung seines Heimatortes dorthin zurückkehren und mit den Menschen zusammenleben soll, die ihn denunziert haben? / Foto © Olga Mussafirowa, Novaya Gazeta Europe
    Anatoli Hrybko fragt sich, wie er nach einer Befreiung seines Heimatortes dorthin zurückkehren und mit den Menschen zusammenleben soll, die ihn denunziert haben? / Foto © Olga Mussafirowa, Novaya Gazeta Europe

    Anatolis Frau Valentyna warf einen Blick in das Zimmer, wo wir uns unterhielten. Sie war besorgt: Erinnerungen sind genauso schmerzhaft wie Stromschläge. In der Zelle war seine größte Angst, dass sie auch Valentyna festnehmen würden. 

    „Das ging so weit, dass ich selbst den Vorschlag machte: ‚Sagt mir an, was ihr hören wollt‘“, seufzte Hrybko. „Ich schwärzte mich selbst an, nach dem Motto, ja, ich habe Informationen zu russischen Truppenbewegungen weitergegeben, Flugrouten und dergleichen. Darauf steht laut geltender russischer Gesetzgebung eine Haftstrafe von mindestens 15 Jahren. Sie fragten mich auch nach meiner Haltung zur ‚militärischen Spezialoperation‘. Als ich sagte, dass ich dagegen sei, wurde ich dafür sofort mit Strom bestraft. Also schrieb ich jetzt: ‚Neutrale Haltung.‘ Ich wiederholte meinen Text vor der Kamera. Damit war die Folter vorbei.“ 

    Auf Befreiung hoffte er gar nicht mehr. Er lebte von einem Tag auf den anderen und erwartete nichts Gutes.         

    „Die Zeit vergeht. Die Tür fliegt auf, ich höre ein Kommando: ‚Gesicht zur Wand!‘ Sie ziehen mir einen Plastiksack über den Kopf, legen mir Handschellen an, setzen mich in einen Wagen“, zählt Hrybko auf. „Wir fahren über eine Stunde. An der Stimme erkenne ich Jegor, der mich verhört hat: ‚Balyzky hat dir das Leben geschenkt!‘“   

    Denunzianten werden reich belohnt. Auf einmal haben die Nachbarn ein neues Auto

    Am Checkpoint Wassyliwka drängten sich die Journalisten. Kameras der russischen TV-Sender umzingelten ihn: Eine Deportation, wie interessant, wie brandheiß! Die Urteile gegen Romanow, Kischko und Massalabow waren schon vorher veröffentlicht worden. Der völlig entkräftete Hrybko in seiner abgewetzten Kleidung wurde als Letzter gebracht. Am Schluss ertönte das übliche Kommando: „Lauft!“     

    In seiner schönen Villa in Wessele haben sich FSB-Leute einquartiert. Sein Elternhaus ist völlig leergeplündert. Schade um all die schönen Dinge, aber das ist nicht das Schlimmste. Hrybko plagte eine andere Frage: Wie kann er nach der Befreiung zurückkehren und mit Leuten zusammenleben, die denunziert oder sonstwie dem Feind zugearbeitet haben?

    „Plötzlich haben die Nachbarn ein neues Auto oder neue Haushaltsgeräte“ – die Besatzer belohnen Denunzianten großzügig, sagt Iryna Kabanowa / Foto © Olga Mussafirowa, Novaya Gazeta Europe
    „Plötzlich haben die Nachbarn ein neues Auto oder neue Haushaltsgeräte“ – die Besatzer belohnen Denunzianten großzügig, sagt Iryna Kabanowa / Foto © Olga Mussafirowa, Novaya Gazeta Europe

    „Denunzianten werden mit 50.000 Rubel [knapp 500 Euro – dek] belohnt“, mischte sich Verwaltungssekretärin Iryna Kabanowa, eine ehemalige Ortsvorsteherin von Oserne, in unser Gespräch ein. „Die Rente beträgt 10.000 [knapp 100 Euro – dek]. So lieben die Leute eben Russland, auch wenn sie in der Ukraine geboren sind. Dabei sollten wir zusammenhalten wie Pech und Schwefel!“  

    Iryna Kabanowa forderte das Schicksal lieber nicht heraus. Gleich nach dem ersten Besuch des FSB, dem jemand „signalisiert“ hatte, dass Kabanowa Spitzel sei und der ukrainischen Armee Koordinaten durchgebe, ließ sie Haus und Besitz zurück und ging weg. Die Frage, wer es gewesen ist, versucht sie sich gar nicht erst zu stellen, aber die Gedanken drängen sich von selbst auf. Die einen Nachbarn haben auf einmal neue Haushaltsgeräte, die anderen ein schickes Auto. Aber das Dorf sieht aus wie tot, sagt sie. Die Leute reden nicht mehr miteinander. Sie haben Angst.

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    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Mykhaylo Palinchak

    Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet Donezk / Foto © Mykhaylo Palinchak
    Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet Donezk / Foto © Mykhaylo Palinchak

    dekoder: Herr Palinchak, ein Soldat schaukelt auf einer Kinderschaukel. Was war da los? 

    Mykhaylo Palinchak: Im Februar war ich zusammen mit einem Journalisten in einem Dorf nahe der Front im Donbas. Einige Soldaten haben uns eine zerstörte Schule gezeigt. Während mein Kollege Interviews führte und ich Bilder machte, wurde einem der Soldaten langweilig und er setzte sich auf die Schaukel. Als er merkte, dass ich ihn fotografiere, stand er sofort auf.  

    Beide Bilder strahlen etwas von dem kühnen Widerstandsgeist aus, mit dem die Ukrainer die Welt verblüffen. Manchmal wirkt es, als warteten ausgerechnet wir im Westen auf eine Aufmunterung durch die Ukrainer, um selbst nicht zu verzagen. 

    Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass ihr eine Wahl habt. Ihr habt die Wahl, hinzusehen, was in der Ukraine passiert, oder wegzuschauen. Die Nachrichten aus der Ukraine zu verfolgen oder nicht. Wir Ukrainer haben diese Wahl nicht. Wir können die Nachrichten nicht einfach abschalten, denn das passiert mitten unter uns. Wir können nicht davor weglaufen. Wir haben keine Wahl als zu kämpfen. Und wer kämpft, braucht Motivation und Hoffnung. Er muss an sich glauben, sonst kämpft er vergeblich.  

    Ein Hund pinkelt an einen Blindgänger eines russischen Grad-Raketenwerfers. Der Ort wurde im September 2022 befreit, die Spuren des Krieges sind immer noch allgegenwärtig / Foto © Mykhaylo Palinchak
    Ein Hund pinkelt an einen Blindgänger eines russischen Grad-Raketenwerfers. Der Ort wurde im September 2022 befreit, die Spuren des Krieges sind immer noch allgegenwärtig / Foto © Mykhaylo Palinchak

    Der Hund auf dem zweiten Bild hat offenbar die richtige Einstellung. Ist es am gleichen Ort entstanden? 

    Nein. Das war in einem anderen Dorf an der Grenze zwischen der Oblast Mykolajiw und Oblast Cherson. Anfang März habe ich einige freiwillige Helfer begleitet, die die Menschen in den befreiten Gebieten im Osten versorgen. Wir sind drei Stunden über Land gefahren, bis wir dort ankamen. Das Dorf war besetzt gewesen, bei heftigen Kämpfen wurden fast alle Gebäude zerstört. Heute leben dort noch 25 Menschen. Sie versuchen, ihre Häuser wieder aufzubauen. Das Dorf liegt so weit entfernt von der nächsten größeren Stadt, dass nur selten Hilfe kommt. In Kyjiw und anderen Großstädten bemüht sich die Verwaltung, die Schäden nach jedem Angriff schnell zu beseitigen und Gebäude wieder aufzubauen. Aber obwohl dieses Dorf schon im September 2022 befreit wurde, sieht es immer noch so aus, als wäre die Front erst vor kurzem darüber hinweggegangen. Es stecken noch immer Granaten und Blindgänger in den Gärten. Man bekommt dort eine Ahnung davon, was es heißt, dass große Gebiete der Ukraine mit Minen und Artilleriegeschossen verseucht sind. Trotzdem ist die Moral dieser Menschen hoch. Sie wollen ihr Leben weiterleben, sie wollen ihre Häuser wieder aufbauen. Sie brauchen nur etwas Unterstützung. 

    Bringen die Helfer Lebensmittel? 

    Die Organisation, mit der ich unterwegs war, bringt vor allem Saatgut. Die Menschen dort leben von dem, was sie selbst anpflanzen. Früher haben sie Melonen und Tomaten angebaut. Jetzt sind die Gewächshäuser und die Traktoren zerstört und die Felder mit Munition verseucht. Niemand kann sagen, wie lange es dauern wird, das alles wieder aufzubauen.  

    Fühlen sich die Menschen allein gelassen? 

    Ich glaube, sie verstehen, dass die Regierung nicht überall zugleich sein kann. Gerade wurde die Stromversorgung wiederhergestellt, aber es geht eben sehr langsam voran. Ich finde, da gibt es auch eine Lücke in der Berichterstattung über den Krieg: Die konzentriert sich meistens auf die Raketenangriffe auf Kyjiw und andere große Städte oder auf die Frontbewegungen. Das Leben der Menschen in dem großen Raum dazwischen wird oft vergessen. Neulich habe ich mit einem Minenräumer gesprochen, der hat mir erzählt, dass sie in der Oblast Charkiw vor der russischen Vollinvasion jeden Monat Hunderte Alarme hatten, weil Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurden. Dieser Krieg ist jetzt bald 80 Jahre her, und es wird immer noch Munition gefunden. Und jetzt kommt die Munition aus dem neuen Krieg noch dazu.

     

    Fotografie: Mykhaylo Palinchak
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 26.03.2024

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    „Ich habe Sehnsucht, dieses Land ist mir sehr nah“

    Um einem Strafverfahren zu entgehen, verließ die Aktivistin Kira Bojarenko ihre Heimat Belarus. Weil sie von jetzt auf gleich abreisen musste, musste sie ihre Ausweisdokumente zurücklassen. Den 24. Februar 2022, den Beginn der russischen Invasion in die Ukraine, erlebte sie in Kyjiw. Sie flüchtete aus der Ukraine und kehrte nach einiger Zeit dorthin zurück, wurde bei einem Raketenangriff verletzt und wird zurzeit in Polen behandelt.

    Im Interview mit dem belarussischen Ableger des Online-Mediums Mediazona erzählt die Belarussin davon, wie es ist, wenn das Schicksal alle Lebenspläne durchwirbelt, wenn man einfach durchkommen muss, dabei aber seine Ideale nicht aus dem Blick lässt.

    Vor zwei Jahren erwachten die Bewohner eines Kyjiwer Hauses von Explosionsgeräuschen. In dem Haus lebten vor allem Belarussen, die vor den Repressionen geflüchtet waren. Niemand hatte ernsthaft daran geglaubt, dass ein Krieg beginnen würde. Einige Hausbewohner besaßen aus verschiedenen Gründen nicht einmal Papiere, darunter auch die damals 31-jährige Kira Bojarenko. Ihr Pass war bei den belarussischen Sicherheitsbehörden geblieben, als sie das Land überstürzt verlassen hatte, da sie wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt worden war. 

    Viele der Hausbewohner beschlossen, die Ukraine zu verlassen. Alle zusammen hatten nur ein Auto, daher sollten zuerst die Kinder und die Erwachsenen ohne Papiere an die polnische Grenze gebracht werden. Noch am selben Tag erreichten sie den Grenzübergang in Hruschiw, mussten dort aufgrund der langen Warteschlange aber bis zum 27. Februar warten. 

    „Es war hart: kleine Kinder im Auto, kaum Sachen dabei, wir hatten nur ein paar Flaschen Wasser eingepackt, und die waren alle. Alle wollten essen und trinken, aber an der Grenze gab es keine Geschäfte, keine Häuser. Die Tankstellen waren schon leergekauft“, berichtet Kira.

    An der Schlange durften nur jene vorbei, die Kinder unter drei Jahren dabeihatten. Eine Frau bat eindringlich darum, vorgelassen zu werden, obwohl ihr Kind älter war, erinnert sich Kira. Die Ukrainerin sagte, dass sie das Kind zur Grenze bringen und dann zurückkommen würde. Letztlich wurde die Frau vorgelassen und kehrte einige Zeit später in Begleitung mehrerer Autos mit Wasser und Nahrung zurück, die sie an die wartenden Menschen verteilte. Die Belarussin erinnert sich, dass ein ukrainischer Grenzer am Kontrollpunkt sagte: „Was wollt ihr eigentlich, ihr Belarussen. Wir haben euch reingelassen, und ihr schießt auf uns.“ 

    „Ich sagte ihm damals: Hier gibt es keine Belarussen, die nicht unter diesem Regime gelitten hätten und die der Ukraine nicht dankbar sind. Was sollen wir denn tun – an die Grenze zurückkehren und die Raketen mit bloßen Händen abfangen?“

    „In Polen ist die Integration schwerer.“ – Rückkehr in die Ukraine

    In Polen erhielten die belarussischen Geflüchteten Hilfe von Freiwilligen – Wasser, Essen und eine Unterkunft in einem Schulgebäude, das als Aufnahmeeinrichtung diente, später dann in einem Dorf bei Warschau. „Unsere größte und einzige Bitte war damals, nicht getrennt zu werden. Wir wollten als Hausgruppe zusammenbleiben, erst einmal zu uns kommen.“

    In Polen erhielt Kira internationalen Schutzstatus. Während ihre Anerkennung geklärt wurde, arbeitete sie in einem Call Center der Organisation Helping to leave, die Ukrainern dabei half, die besetzten Gebiete zu verlassen. Die Belarussin sprach mit Menschen, die Hilfe brauchten, und half bei der Zusammenstellung von Evakuierungsrouten. 

    Im vergangenen Jahr empfahl ihr eine Freundin, die selbst ein Auto für die ukrainischen Streitkräfte überführte und humanitäre Hilfsgüter in die Ukraine brachte, bei einem Transport mitzufahren. Kira fuhr mit Papieren der Organisation, für die sie arbeitete, in die Ukraine und beschloss schließlich, in Kyjiw zu bleiben. In Polen sei es schwierig gewesen, sich zu integrieren, erzählt sie, die Ukraine sei ihr näher, zudem waren da noch Freunde.

    Freiwilligendienst in Cherson: „Unterwegs musste ich mich um Alte kümmern, sie füttern, Windeln wechseln, weil sie oft bettlägerig waren“

    In Kyjiw beschloss Kira, dass sie mehr tun könne als nur Telefondienst. Die Organisation schlug ihr vor, nach Cherson zu fahren und bewegungseingeschränkten Menschen bei der Evakuierung aus der Stadt zu helfen. Kira willigte ein. 

    Die Arbeit bestand darin, Alte und Menschen mit Behinderung bei der Evakuierung aus gefährlichen Stadtteilen von Cherson zu begleiten. Kira zufolge waren das manchmal Leute, die ihr Haus verloren hatten, Menschen, die aus Kellern geholt wurden. Die Freiwilligen (Kira nennt sie „Blutsbrüder“) sammelten die Leute in jenen Stadtteilen ein, die am häufigsten beschossen wurden, und brachten sie zum Bahnhof. Kira fuhr dann gemeinsam mit ihnen mit dem Zug und übergab sie am Zielpunkt anderen Freiwilligen, die sie dann in Gruppenunterkünften unterbrachten. „Unterwegs musste ich mich um sie kümmern, sie füttern, Windeln wechseln, weil sie ganz oft bettlägerig waren.“

    Auf jeder Fahrt begleitete die Freiwillige drei bis sieben Personen. Jede von ihnen hatte ihre eigene Geschichte, einige davon sind Kira besonders im Gedächtnis geblieben. Die erste Geschichte ist die von einem Großmütterchen, das 104 Jahre alt war. „Sie hatte schon einen Krieg überlebt, und jetzt erlebte sie wieder Beschuss und hatte ihr Zuhause verloren.“

    Die zweite Geschichte ist die von einer Frau mit einem schweren Beckenbruch, die zuerst mit der Evakuierung einverstanden war, dann aber die ganze Reise über nach Cherson zurückwollte, weil dort kürzlich ihr Ehemann gestorben war. „Sie war sogar böse auf mich, als ich sagte, dass ihr Mann tot sei und sie nun weiterleben müsse, dass man sie an einen guten Ort brächte. Wir waren ja keine ausgebildeten Psychologen.“

    „Im Bein steckten Splitter.“ – Die Verletzung

    Im Juni 2023 erlitt Kira in Cherson eine Verletzung. Sie war gerade auf dem Heimweg von der Migrationsstelle, als sie unter Beschuss geriet. Sie wartete an einer Haltestelle auf den Bus, als ein Geschoss in ein nahegelegenes Haus einschlug. Im ersten Moment war der Schock so stark, dass sie nichts begriff oder spürte. Ein Ukrainer, der gerade mit dem Auto vorbeikam, bot Kira Hilfe an, brachte sie nach Hause, da bald der nächste Angriff beginnen konnte. Und so war es auch: Kira kam in ihre Wohnung, ging auf den Balkon, um zu rauchen und sich nach dem Erlebten zu beruhigen, als die Stadt erneut von Raketen angegriffen wurde.

    „Ich nahm ein Kopfkissen und eine Decke und ging zum Ausruhen ins Badezimmer, da das der sicherste Ort ist. Dort begriff ich schließlich, dass etwas nicht stimmte. Es stellte sich heraus, dass in meinem Bein ein Splitter steckte.“ 

    Kira erzählt, dass sie selbst ein Tourniquet anlegte, das sie damals immer bei sich trug, und den Fremdkörper aus der Wunde entfernte. Sie wählte den Rettungsdienst, kam aber nicht durch, da das Netz beeinträchtigt war. Am nächsten Morgen rief sie dann andere Freiwillige an, die sie ins Krankenhaus Tropinki brachten. „Der Arzt sagte, ich hätte alles richtig gemacht, ich solle die Wunde reinigen, frisch verbinden und in einer Woche wieder zu ihm kommen.“
    Aber nach zwei Tagen hatte Kira stark erhöhte Temperatur und ihr Bein war aufs Doppelte angeschwollen. Sie musste schnell ins Krankenhaus. 

    „Da ich nicht alle Splitter erwischt hatte, war eine Entzündung entstanden, die Wunde war infiziert. Ich musste im Krankenhaus bleiben.“ Einige Tage später hatten Kiras Freiwilligenfreunde erreicht, dass sie nach Kyjiw verlegt werden konnte, um nicht unter dauerhaftem Beschuss im Chersoner Krankenhaus bleiben zu müssen. Nach Kyjiw reiste die Belarussin allein. Sie kam in das Krankenhaus, in dem sie im Endeffekt mehrere Monate blieb, die Ärzte entfernten eitriges Gewebe, reinigten die Wunde, gaben ihr Medikamente gegen Schmerzen und gegen die Schwellung. Kira zufolge hätte sie eine Hauttransplantation benötigt, aber in Kyjiw gab es Probleme mit einer solchen Operation. Kira beschloss, nach Polen zurückzukehren. In einem Krankenhaus in Białystok bekam sie schließlich eine Hauttransplantation. 

    Im Moment lebt die Belarussin in Polen und macht ihre Reha. Wenn die Wunde geheilt und ihr psychischer Zustand stabilisiert sind, plant sie, in die Ukraine zurückzukehren. „Ich habe Sehnsucht nach der Ukraine, dort sind meine Freunde, und das Land ist mir sehr vertraut. Aber noch ist da eine Art unterschwellige Angst. Selbst als hier in Polen zu Silvester überall die Feuerwerke krachten, habe ich mich unwohl gefühlt.“

    Das Leben in Cherson war nicht leicht: Die Geschäfte schlossen bereits um 15 Uhr, nur die ukrainische Kette ATB hatte bis 19 Uhr geöffnet. Ab 21 Uhr herrschte in der Stadt Ausgangssperre, niemand durfte mehr auf die Straße. Und ständig Beschuss. Im Februar 2021 war Kira in Minsk festgenommen worden, sie verbrachte ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. Dann wurden ihre Haftbedingungen geändert, sie kam aus der Untersuchungshaft frei und nutzte diese Chance, um Belarus zu verlassen, ungeachtet dessen, dass ihr Pass bei den Sicherheitsbehörden verblieben war. „Ich verglich Cherson mit Minsk, mit dem Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin. Es war sehr ähnlich, die gleichen Häuser, nur dass bei vielen Fensterscheiben fehlten und in den oberen Etagen häufig Wohnungen durch Angriffe ausgebrannt waren.“

    Nach Minsk kann Kira nicht zurück. Deshalb möchte sie wenigstens in Cherson leben, der Stadt, die sie an ihr Zuhause erinnert, trotz Krieg.

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  • Eine Karte der Verwüstung

    Eine Karte der Verwüstung

    Bis zur russischen Vollinvasion im Februar 2022 war die ukrainische Hafenstadt Mariupol ein bedeutendes Wirtschaftszentrum. Bei der Belagerung wurden Schätzungen zufolge mehr als 80.000 Menschen getötet, noch mehr flohen, mehr als 80 Prozent der Wohnungen wurden zerstört. Seit September 2022 ist Mariupol vollständig unter russischer Verwaltung. Der versprochene Aufbau geht derweil kaum voran. Geflohene Besitzer werden enteignet, die besten Objekte sichern sich die russischen Besatzer. Mediazona hat Eindrücke gesammelt: Von Bewohnern, von einem Bauarbeiter aus Siribiren, der geschockt wieder heimgefahren ist, und von einem Kartografen, der die Zerstörung von Israel aus dokumentiert.

    „Mariupol gehört zu Russland. Punkt“ steht auf diesen Imbiss-Wägen, bei denen die verbliebenen Bewohner der Ruinenstadt sich eine Mahlzeit besorgen können. Die Bilder hat ein Bauarbeiter mit Namen Michail aufgenommen und der Redaktion von Mediazona überlassen. / Fotos © Mediazona

    Oxana hat mit ihrem Mann und ihrem Kind am 16. März 2022 Mariupol in Richtung Dnipro verlassen. Vor dem russischen Überfall lebte sie im Bezirk Primorski. Im Keller ihres Wohnhauses betrieb sie einen Kosmetiksalon. Dort versteckte sie sich mit ihrer Familie drei Wochen lang, als Mariupol beschossen wurde, erzählt sie Mediazona

    „Ein fünfstöckiges Haus auf einer Anhöhe in der Nähe der Stadtverwaltung“, erinnert sie sich an ihr früheres Zuhause. „Alle Häuser in der Nähe wurden sofort zerstört, zurück blieben nur Ruinen. Aber unser Haus blieb wie durch ein Wunder unbeschadet, bis auf die zerplitterten Fenster natürlich.“

    Vergangenes Jahr, als Oxana schon in Vilnius lebte, ließ die Besatzungsregierung ihre leerstehende Wohnung in Mariupol durchsuchen. Bei ihrer Flucht hat die Ukrainerin zwar die Unterlagen für ihre Wohnung mitgenommen, aber mittlerweile ist es für sie unmöglich, nach Mariupol zu gelangen. Im November 2023 habe sie es von Estland aus versucht, erzählt Oxana, aber am Grenzübergang Iwangorod verweigerte man ihr die Einreise nach Russland.

    Anlass für die versuchte Einreise war allerdings nicht die zurückgelassene Wohnung sondern Oxanas Mutter, die sie seit Kriegsbeginn nicht gesehen hat. Oxana hatte gehofft, ihre Mutter und ihre Großmutter aus Mariupol herauszuholen. Die Mutter wurde im Frühling 2022 bei einem Beschuss zu Hause verwundet, seitdem sei das Haus immer noch „durchlöchert“, sagt Oxana. „Mittlerweile ist Mama dort ganz allein – sie hat weder Nachbarn noch Verwandte. Sie hat meine bettlägerige Großmutter zu sich geholt und pflegt sie, obwohl sie selbst kaum laufen kann. Und sie bekommen weder Gehalt noch Rente. Ich hätte sie da rausholen müssen.“

    Die flächendeckende Inventur 

    Oxana ist sich sicher, dass ihre Wohnung am Meer jetzt verstaatlicht, also beschlagnahmt wird. In der Stadt wird gerade eine sogenannte flächendeckende Inventur durchgeführt. Legt der Eigentümer einer Immobilie der Besatzungsregierung nicht innerhalb von dreißig Tagen seine Dokumente für die Wohnung vor, „verliert er das Recht auf Nutzung“. 

    Bewohner, die ihr Zuhause durch die Kampfhandlungen verloren haben, demonstrieren und fordern die ihnen versprochenen Wohnungen: „Das Haus, in dem wir viele Jahre gewohnt haben, existiert nicht mehr. Man hat uns hängen lassen: Man gibt uns keine Wohnungen, man verspricht sie uns nicht einmal mehr. Helfen sie uns, Wladimir Wladimirowitsch! Sie sind der Garant der Verfassung!“

    Ein Video von den Protesten in der Stadt zeigt eine Frau mit einem Zettel in der Hand, sie redet aufgeregt, verhaspelt sich: „Das ist unser Haus auf der Artjoma 88. Dreißig Jahre haben wir da gewohnt. Und im Februar 2022 wurde es dem Erdboden …“ Sie kommt ins Stocken. Jemand aus der Menge spielt ihr einen Euphemismus zu: „Es hat gelitten.“ Sie korrigiert sich: „… hat unser Haus während der Kampfhandlungen gelitten.“

    „Jetzt sind alle auf der Straße gelandet“, schließt sie, wie um sich zu entschuldigen. „Die Volksrepublik Donezk schränkt unsere Rechte ein und verstößt damit gegen die russische Verfassung.“

    Straßenszenen aus Mariupol. Der russische Dienst Yandex tilgt zerstörte Gebäude aus seinen Karten. Ein Aktivist in Israel dokumentiert jede Ruine und jedes Grab in der Stadt. / Fotos © Mediazona

    Eine Karte der verschwundenen Häuser

    Ihre Pläne, Mariupol wieder aufzubauen, hatte die russische Regierung schon am 24. März 2022 bekanntgegeben, als die Kämpfe um die Stadt noch tobten. Seit dem Herbst 2022 verschwinden von den Karten des Anbieters Yandex zunehmend Einträge von zerstörten Häusern.

    Aber auf einer anderen Karte gibt es diese Häuser noch. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sorgt Witali Stutman dafür, ein Social-Media-Experte aus Israel. Die Zahl der Häuser auf der Karte wächst, mit den genauen Adressen helfen ihm nicht selten auch die Einwohner Mariupols.

    „Bisher sind 2000 Wohnhäuser verzeichnet“, erzählt Stutman. „Nicht alle sind komplett verschwunden, manche sind beschädigt oder die Ruinen stehen noch. Außer den Wohnhäusern finden sich dort an die hundert andere Gebäude: 55 Schulen, 16 Kindergärten, 15 Hochschulen, 20 Krankenhäuser, 16 Kirchen. Und noch knapp hundert Restaurants, Geschäfte, Hotels und so weiter.“

    Im Oktober 2022 hat das Zentralnstitut für Stadtplanung im Auftrag des russischen Bauministeriums einen Plan für den Wiederaufbau Mariupols bis 2025 erarbeitet, der von The Village veröffentlicht wurde. Laut Prognosen des Instituts soll die Stadtbevölkerung von Mariupol bis zum Jahr 2025 von 212.000 auf 350.000 anwachsen. Ganz oben, unter „prioritäre Aufgaben“, ist in diesem Plan der „Wiederaufbau von Wohnobjekten wie Einfamilienhäusern und Wohnblöcken in Leichtbauweise“ verzeichnet. Gefolgt von städtischer Infrastruktur und „der Wiederherstellung und dem Erhalt von Grünflächen“. In dem Bauvorhaben findet sich auch das Theater, in dem bei den russischen Luftangriffen vom 16. März 2022 unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen 12 und 600 Zivilisten ums Leben kamen. Vizepremier Marat Husnullin versicherte, das Theater werde bis Ende 2024 wiederaufgebaut.

    Alle Baumaßnahmen in Mariupol werden von einem Unternehmen mit der Bezeichnung Zentraler Auftraggeber im Bausektor geleitet. Im März 2023 veröffentlichte die Firma einen Bericht mit der Gesamtzahl der Gebäude, die zum Abriss bestimmt sind: 407. Davon waren 321 wie berichtet bereits abgerissen worden. An weiteren 1829 Objekten sollten „Sanierungsarbeiten“ durchgeführt werden. Nach Angaben von Bumaga ist der Wert der Aktiva des Unternehmens Zentraler Auftraggeber im Jahr 2022 um 182 Prozent gestiegen. Im Dezember gab das Unternehmen an, 20.000 Bauarbeiter aus allen Teilen Russlands seien nach Mariupol gekommen.

    Im Dezember 2022 zählte die Agentur Associated Press auf Satellitenaufnahmen vom besetzten Mariupol über 10.300 Gräber, die seit Beginn des russischen Angriffs hinzugekommen waren. Auf Witali Stutmans Karte sind über 400 Gräber eingezeichnet; außerdem die Orte, an denen die Menschen umkamen, mit Fotos. Viele befinden sich in den Innenhöfen der Häuser, wo nun gebaut wird. Niemand weiß, ob die sterblichen Überreste der Opfer vor den Bauarbeiten auf einen Friedhof umgebettet wurden. 

    „Nicht anzünden! Dieses Haus ist bewohnt“ hat jemand an die Fassade eines Gebäudes in Mariupol geschrieben. Auf dem Zaun steht „Hier wohnen Menschen“. / Fotos © Mediazona

    „Bei meiner Rückkehr war ich moralisch erschüttert.“ Bericht eines Bauarbeiters

    „Für mich war das in gewisser Hinsicht eine wirklich traumatische Erfahrung“, gibt Michail aus Nowosibirsk im Gespräch mit Mediazona zu. Von Oktober bis Dezember 2022 war er Hilfsarbeiter auf der Baustelle des Hotels Drushba – heute ist es ein Wohnheim für Mariupols Stadtbewohner, die ihre Wohnung verloren haben.

    „Als ich wieder zu Hause war, stand ich unter Schock, ich war moralisch erschüttert von dem, was ich gesehen habe“, erzählt Michail. „Wir haben weder etwas zu essen noch eine Unterkunft bekommen. Die Erfahrung war außerdem traumatisch, weil die Stadt aus ausgebrannten Ruinen bestand, und die Stadtbewohner uns von ihren schrecklichen Verlusten erzählten, die der Preis für ihre ‚Befreiung‘ waren, um die sie nie gebeten hatten, glaube ich.“ 

    Damals reiste Michail schon seit einem Jahr per Anhalter durch Russland und verdiente sich auf Baustellen etwas dazu. Er hatte gehört, dass Mariupol eine gute Möglichkeit sei, auf dem Bau etwas Geld zu machen.

    „Ein Justizangestellter hat mich nach Mariupol mitgenommen. Bei der Baustelle Drushba hat er mich rausgelassen; dort habe ich mich mit ein paar Leuten unterhalten und erfahren, dass sie Arbeit haben“, erinnert sich Michail. „Sie haben mir angeboten, gleich am nächsten Tag anzufangen. Ich weiß gar nicht, ob ich denen meinen Pass gezeigt habe. Ihre Pässe habe ich, glaube ich, auch nicht gesehen. Die haben nur gefragt: ‚Also los?‘, und mich zu sich nach Hause mitgenommen, wo ich schlafen konnte.“

    Das Haus in Guglino, einem Dorf in der Nähe, mietete die Bauarbeiterkolonne für 10.000  Rubel [100 Euro – dek] monatlich. Anfangs gab es weder Strom noch Wasser. Michail verdiente 2000 Rubel [20 Euro – dek] am Tag; er machte alles Mögliche: Verladen, Malern, Spachteln, Putzen. Für welche Firma er in Mariupol arbeitete, weiß er gar nicht. 

    „Unser Vorarbeiter hat auf verschiedenen Baustellen mit zwei unterschiedlichen Firmen zusammengearbeitet: TechnoStroi aus Petersburg und RosKomStroi aus Moskau“, erinnert sich Michail. „Drushba müsste zu der Moskauer Firma gehört haben.“

    Die Webseite des Moskauer Bauunternehmens RosKomStroi wurde seit 2018 nicht aktualisiert, die dort angegebene Telefonnummer funktioniert nicht. Das Unternehmen TechnoStroi wird von Iwan Oryntschuk geleitet, einem Geschäftsmann aus Sankt Petersburg. Im November vergangenen Jahres wurde er von der Regierung „für den Wiederaufbau“ Mariupols ausgezeichnet. 

    „Sehr geehrte Abgeordnete, das, was Petersburg dort leistet, ist eine Heldentat“, sagte Oryntschuk bei der Verleihung. „Ich habe mittlerweile mehr als fünf Monate in Mariupol verbracht. Wir werden alle unsere Aufgaben erfüllen, wir tun es jetzt schon. Sankt Petersburg wird Mariupol wiederaufbauen – so ein Team macht das Unmögliche möglich.“

    Knapp eine Woche später wurde er verhaftet, weil er auf staatlichen Baustellen 70 Millionen Rubel [etwa 700.000 Euro – dek] veruntreut haben soll. 

    Schätzungen zufolge sind bei der Belagerung der Stadt im Frühjahr 2022 mehr als 80.000 Menschen ums Leben gekommen. Viele Leichen werden noch in den Trümmern ihrer zerstörten Wohnungen vermutet. / Fotos © Mediazona

    „Bis heute hausen sie in Kellern.“ Wie die Menschen in Mariupol leben

    Um neuen Wohnraum zu bekommen, muss man bei der Stadtverwaltung der Besatzungsregierung von Mariupol Unterlagen seiner zerstörten Immobilien vorlegen. 

    „Viele haben diese Unterlagen nicht: Als die Stadt beschossen wurde, mussten sich die Menschen in Sicherheit bringen, da haben sie nichts mitgenommen“, erzählt Nikolaj Ossytschenko, der ehemalige Chef des TV-Senders in Mariupol. Er verließ die Stadt am 15. März 2022, betreibt aber immer noch einen Telegram-Kanal und hält nach eigenen Angaben Kontakt zu den Menschen, die vor Ort geblieben sind. 

    „Schon im vergangenen Jahr veröffentlichte die Stadtverwaltung der Besatzer Mariupols erste ‚Listen verlassenen Wohnraums‘ und brach leerstehende Wohnungen auf“, erzählt Ossytschenko. Meldet sich der Eigentümer nicht innerhalb von 30 Tagen nachdem seine Wohnung auf so einer Liste aufgetaucht ist bei der Stadtverwaltung, und legt die Dokumente für die Wohnung vor, wird diese für „herrenlos“ erklärt und „verstaatlicht“.
    „Im letzten Jahr war es noch möglich, sich von einem Nachbarn bestätigen zu lassen, dass die Wohnung dir gehört – das geht jetzt nicht mehr. Jetzt musst du persönlich da sein oder dich von einem russischen Notar vertreten lassen“, erklärt Ossytschenko.

    Aber manchmal helfen selbst die Dokumente für eine Wohnung nicht. Alexandra Borman ist Waise. Zwölf Jahre hatte sie darauf gewartet, dass ihr eine Wohnung zugeteilt wird. Ein Jahr vor dem russischen Angriff hatte sie endlich eine Wohnung im Haus Nr. 29 auf der Uliza Geroitscheskaja (dt. Heldenstraße) bezogen. Da brach der Krieg aus. 

    „Wir verließen unser Haus, und noch am selben Tag wurde es von einer Rakete getroffen, es ist sofort halb eingestürzt“, erzählt sie Mediazona. „Jetzt wohnen wir in einem kleinen Haus in dem Bezirk Mirny, seit vier Tagen haben wir keinen Strom, die Heizung funktioniert nicht, der Ofen auch nicht. Es sind zwei Grad Celsius im Haus, dabei habe ich zwei Kinder.“

    „Das zerstörte Haus blieb lange als Ruine stehen“, erzählt Alexandra. In der Zwischenzeit hat sie alle Unterlagen zusammengetragen: den Wohnbescheid, die Meldebescheinigung, den Vertrag für die Sozialwohnung. Trotzdem wurde ihr Antrag auf eine neue Wohnung abgelehnt. Ohne Begründung. 

    Nikolaj Ossytschenko erzählt, dass als Erstes Beamte von der Besatzungsregierung und zugereiste Bauarbeiter in Mariupol Wohnungen bekämen, die „Unterbringung der einfachen Leute“ sei zweitrangig. Manche Stadtbewohner brachte man in Notunterkünften unter – in diesen Wohnheimen leben sie bis heute, obwohl ihnen zugesichert wurde, das sei eine vorübergehende Lösung. 

    „Es gibt Menschen, die immer noch in Kellern leben“, berichtet Ossytschenko. „Eine Freundin erzählte mir, dass sie mit ihrer Mutter, einer alten Frau, seit anderthalb Jahren in einem Keller wohnt. Ihr Haus wurde zerbombt, sie kann nirgendwo anders hin. Sie wollte wissen, wie teuer es ist, aus Mariupol in die Ukraine auszureisen. Sie sagt, noch einen Winter im Keller überstehen sie nicht.“

    „Da ist alles vollkommen im Arsch.“ Warum nicht alle Bezirke wiederaufgebaut werden

    „Die Besatzungsregierung lässt allem voran das Zentrum und die Bezirke am Stadtrand Richtung Donezk und Saporishshja wiederaufbauen, was natürlich kein Zufall ist“, sagt Ossytschenko.

    „Das sind die Richtungen, aus denen die Gegenoffensive kommen könnte – deswegen wurden sie mit Wohnblöcken zugebaut“, erklärt er. „Aber wenn man die russischen Medien verfolgt, gibt es fast gar keine Berichte über das linke Ufer. Da ist nämlich alles vollkommen im Arsch. Das linke Ufer liegt am nächsten an Russland dran, da waren die heftigsten Gefechte, aus der Richtung hat Russland Mariupol überfallen. Dort liegt fast alles in Trümmern.“

    Oleg war Abgeordneter des Stadtrates, mit der neuen Regierung in Mariupol hat er die Zusammenarbeit verweigert. Er erzählt Mediazona, auf dem Morskoi Boulevard am linken Ufer seien fast alle Häuser abgerissen worden – knapp vier Kilometer entlang der Küste. 

    „Ich denke, da kommen Luxusbauten hin, aber bisher wurde am linken Ufer noch kein einziges Haus gebaut“, sagt er. „Der ganze Bezirk bestand fast nur aus Chruschtschowki. Ein paar wenige stehen noch, auf denen prangen Schriftzüge wie: Wir wollen wieder nach Hause.“ 

    Derweil wächst in Russland das Interesse an Immobilien in Mariupol. Auf YouTube gibt es „Room Tours“ durch die zerstörten Häuser, veröffentlicht werden sie vom Propaganda-Kanal Mirnyje (dt. Die Friedlichen).

    „Vom Balkon hat man eine fabelhafte Aussicht, kommt mit, ich zeige es euch“, sagt in einem dieser Videos eine Maklerin namens Natalja, während sie den Blick von der einstürzenden Decke abwendet und sich ihren Weg durch die zerstörten Möbel in der bombardierten Wohnung bahnt. 

    „Stellen Sie sich das mal vor, ein Bezirk wurde dem Erdboden gleichgemacht und man gibt den Menschen gar nichts“, entrüstet sich Oleg. Als Beispiel führt er das berühmte Haus mit der Uhr an, das 2022 beschädigt und bald darauf abgerissen wurde. Im Juli gab die Stadtverwaltung bekannt, dass die Wohnungen in dem neuen, rekonstruierten Haus mit der Uhr zum Verkauf stünden. Anzeigen in den sozialen Netzwerken zufolge kostet eine Einzimmerwohnung in dem noch nicht fertig gebauten Haus fünf Millionen Rubel [50.000 Euro – dek], für zwei Zimmer bezahlt man achteinhalb Millionen. Oleg ist sich sicher: „Einheimische können sich diese Wohnungen nicht leisten, auch nicht auf Kredit – in der Stadt gibt es keine Arbeit.“  

    Dabei sind die Wohnungen im Haus mit der Uhr längst verkauft, teilte das Büro des Bauunternehmens PKS-Development auf Anfrage von Mediazona mit. Laut dem Sales Manager sind nur noch Wohnungen im neunstöckigen Nachbarhaus verfügbar, das auch noch gebaut wird. 

    „Wir vergeben alle Wohnungen zu gleichen Konditionen“, hieß es in der Stellungnahme des Bauunternehmens. „Als Bauunternehmen sind wir nicht für Entschädigungen zuständig, wir bauen Häuser. Mit Entschädigungsfragen beschäftigt sich die Lokalverwaltung.“ 

    „Die Besatzungsregierung hat nicht die Mittel, um die Stadt vollständig wiederaufzubauen“, sagt Oleg. „Öffentliche Verkehrsmittel funktionieren nach wie vor nicht, obwohl die prorussische Lokalpresse das Gegenteil behauptet. Gleichzeitig boomt der Immobilienbau durch private Investoren.“

    „Es kommen Lkws aus Taganrog oder Rostow mit fertigen Zimmern auf der Ladefläche“, beschreibt Oleg das modulare Bauen. „Das sind Kästen mit Löchern für die Fenster, die werden aufeinandergestapelt, verschraubt, die Übergänge verspachtelt. Eins zwei drei – schon hat man Häuser.“

    Nach einem heftigen Sturm Ende November veröffentlichen ukrainische Nutzerinnen in Sozialen Netzwerken allerdings Bilder vom abgerissenen Dach eines solchen Neubaus im Westen Mariupols. „So viel zur Qualität“, war der Kommentar zum Post.

    „Nach dem Sturm im November blieben 3500 Haushalte in Mariupol ohne Strom“, teilte der stellvertretende Bürgermeister Oleg Morgun mit. „Privathaushalte waren mehr als zehn Tage lang vom Stromnetz abgeschnitten, manche Bezirke sogar bis Ende Dezember.“

    Im März 2023 besuchte Wladimir Putin das besetzte Mariupol. Er war auch in Newski, dem Neubau-Bezirk. Als er sich mit den Leuten auf der Straße unterhielt, rief eine Frauenstimme im Hintergrund etwas, das viele später als „Das ist alles gelogen. Das ist alles nur zum Schein“ erkannten. Diese Sequenz wurde aus dem Beitrag auf der Kreml-Webseite entfernt. Genau wie eine andere, in der ein älterer Herr zu Putin sagt, er habe „mit 70 Jahren alles verloren“. „Jetzt hat er wieder alles“, korrigierte ihn sofort eine Nachbarin mit nervösem Lachen. 

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