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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ – Protokoll eines Verbrechens: Suche nach den Hintermännern 2/3

    „Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ – Protokoll eines Verbrechens: Suche nach den Hintermännern 2/3

    Der Angriff auf die politische Aktivistin Kateryna Handsjuk 2018 in Cherson steht in der Ukraine symbolisch für die Zeit zwischen der Revolution der Würde 2014 und der russischen Vollinvasion 2022: Ein korrupter Lokalbeamter lässt die Stadträtin mithilfe eines stadtbekannten Kriminellen und ATO-Veteranen töten. Anschließend versucht er, der Strafe zu entgegen. Doch zivilgesellschaftliche Aktivisten aus ganz unterschiedlichen Richtungen bewegen die Strafverfolgungsbehörden dazu, nicht nur die Täter, sondern auch den Organisator und schließlich den Auftraggeber des Verbrechens festzunehmen und vor Gericht zu stellen.  

    Maksym Kamenjew hat für das ukrainische Onlinemedium Graty die Prozessunterlagen und Urteile über die Täter, Komplizen, den Organisator und den Auftraggeber ausgewertet und rekonstruiert damit Schritt für Schritt den tödlichen Angriff auf Kateryna Handsjuk. Dekoder veröffentlicht diese komplexe und verworrene Geschichte auf Deutsch in drei Teilen im Februar 2025. 

     

    Teil 1: Das Attentat 

    Teil 2: Die Suche nach den Hintermännern  

    Teil 3: Prozesse und Urteile 

    Gedenkprotest in Kyjiw zum ersten Jahrestag des Attentats auf Kateryna Handsjuk: Aktivisten fordern Antworten auf die Frage: „Wer hat [den Mord an] Katja Handsjuk bestellt?“  / © Olena Khudiakova / IMAGO / Ukrinform 

     

    Der Anstifter 

    Schon am 5. November 2018 – einen Tag, nachdem Kateryna Handsjuk im Kyjiwer Krankenhaus an den Folgen der Säure-Attacke in Cherson gestorben war – erklärten Freunde und Unterstützer des Bündnisses Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?, dass Ihor Pawlowsky, Mitarbeiter des Rada-Abgeordneten Mykola Palamartschuk vom Block Petro Poroschenko, in den Überfall verwickelt sei. Laut Angaben der Aktivisten war er bereits früher straffällig gewesen und unter dem Spitznamen „Hund“ bekannt.  

    Während der Präsidentschaft von Wiktor Janukowytsch hatte Pawlowsky für den Abgeordneten Jurii Samoilenko von der Partei der Regionen gearbeitet. Einem anderen Politiker der Partei, Olexii Schurawko, half er, nach dem Euromaidan im besetzten Donbas unterzutauchen.  

    Laut Aktivisten habe „Torbins Bande“ die letzten sechs Monate vor dem Angriff für Pawlowsky gearbeitet. Es sei Pawlowsky gewesen, der Torbin als Anführer der Truppe das „Geld für Katjas Ermordung“ gab. 

    Der Generalstaatsanwalt beschuldigte indes die Aktivisten, Ermittlungserkenntnisse durchzustechen 

    Pawlowsky selbst bestritt jede Beteiligung und betonte, er habe nicht einmal gewusst, wie das Opfer aussah. Sein Vorgesetzter Palamartschuk distanzierte sich von seinem Mitarbeiter und entließ ihn einen Tag nach den Veröffentlichungen der Aktivisten. 

    Generalstaatsanwalt Jurii Luzenko beschuldigte indes die Aktivisten, Ermittlungserkenntnisse an Medien durchzustechen. Doch vier Tage später, am 10. November, wurde Ihor Pawlowsky dennoch verhaftet. Am 12. November erklärte das Gericht den Verdacht auf Mittäterschaft an einem Auftragsmord mit besonderer Grausamkeit nach Artikel 115 des ukrainischen Strafgesetzbuchs.  

    Sechs Monate später stimmte Pawlowsky einem Deal mit den Ermittlern zu. Er verpflichtete sich, „ehrlich und wahrheitsgemäß über die ihm bekannten Umstände des Angriffs auf Handsjuk auszusagen“. Im Gegenzug stufte die Staatsanwaltschaft Pawlowskys Beteiligung von „Mittäterschaft an einem Auftragsmord“ zu „Strafvereitelung“ (Art. 396 Abs. 1 ukr. StGB) herunter. Im April 2019 entließ ihn das Prymorsky-Bezirksgericht von Odesa auf Antrag der Staatsanwaltschaft in den Hausarrest unter der Auflage, eine elektronische Fußfessel zu tragen.  

    Nach Fristablauf des Hausarrests stellte die Staatsanwaltschaft aufgrund von Pawlowskys Gesundheitszustand keinen Antrag auf Verlängerung. Im Juli desselben Jahres übergab die Staatsanwaltschaft den Fall ans Gericht.  

    Die Journalisten behaupteten, Torbin habe im Sommer 2018 130-mal mit Pawlowsky telefoniert 

    Pawlowskys Absprache mit den Ermittlern warf bei den Unterstützern Kateryna Handsjuks die Frage auf, ob dieser wirklich eine so geringe Rolle bei dem Angriff auf die Aktivistin gespielt habe. Im April 2019 veröffentlichten Journalisten von slidstvo.info eine Recherche auf Grundlage der Ermittlungsakten, die unter anderem Pawlowskys Telefonverbindungen in den Tagen vor und nach dem Angriff enthielt.  

    Die Journalisten behaupteten darin, dass Serhii Torbin im Sommer 2018 – vor seiner Verhaftung – 130-mal mit Pawlowsky telefoniert habe. Davon 40-mal nach dem 13. Juli, als Torbin laut Untersuchung den Anschlagsauftrag erhalten hatte. Auch am 18. Juli standen sie in Kontakt – dem Tag, an dem Torbin seine Komplizen nach Cherson brachte, um ihnen Handsjuk zu zeigen. Ebenfalls sprachen sie am 26. Juli, als Torbin und Horbunow die Säure kauften. Als die Polizei am 3. August Nowikow festnahm, telefonierten Torbin und Pawlowsky gar viermal miteinander. 

    Am 31. Juli 2019 schrieben Aktivisten von „Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ bei Pawlowskys Haus „Hier lebt ein Mörder“ an den Zaun. 

    Ihor Pawlowsky im Januar 2020 auf der Anklagebank im Mordfall Kateryna Handsjuk vor dem Bezirksgericht Pechersky in Kyjiw  / © Pavlo Bagmut / IMAGO / Ukrinform 

    Die Anschuldigung der Aktivisten, dass Pawlowsky Torbin das Geld für den Anschlag gegeben habe, wurden durch die Ermittlungsakten jedoch nicht bestätigt.  

    Erst ein Jahr später, am 1. Oktober 2020, sagte Ihor Pawlowsky vor Gericht aus – und nannte Olexii Lewin, einen Mitarbeiter eines Regionalabgeordneten von Cherson, und Wladyslaw Manher, Vorsitzender des Chersoner Regionalparlaments, als Organisator bzw. Auftraggeber des Anschlags. 

     

    Das Angebot 

    Die Absprache mit den Ermittlern sah vor, dass Serhii Torbin gegen Lewin und Manher aussagte. Nachdem er die beiden zunächst 2019 belastet hatte, bestätigte Torbin erneut im Juni 2022 seine Aussagen. Während des Prozesses gegen Lewin und Manher wurde er als Zeuge der Anklage vor Gericht befragt. 

    Torbin berichtete, dass Lewin ihm damals vorgeschlagen habe, Handsjuk zu überfallen, und ihm dafür eine Anzahlung von 500 Dollar und schließlich die Abschlusszahlung von weiteren 4500 Dollar gab.  

    Torbin und Lewin hatten sich im März 2018 kennengelernt. Ihre Wege kreuzten sich in einem Café, wo sie einander durch einen gemeinsamen Freund und ATO-Veteranen vorgestellt wurden. Anfang Juli 2018 bat Lewin Torbin, mit seinen Mitarbeitern zu einer Kundgebung in der Nähe des Regionalverwaltung von Cherson zu kommen. Laut Lewin würden am 6. Juli „schwere Jungs zusammenkommen und versuchen die Macht zu übernehmen“. Torbin glaubte seinem neuen Bekannten und brachte seine Leute von der Sicherheitsfirma und seiner NGO zur Kundgebung mit. 

    Handsjuk: „Antimaidan“, „Gauner in Uniform“ und ein „Haufen verärgerter Holzfäller“ 

    Am vereinbarten Tag gab es in der Nähe der Regionalverwaltung zwei Kundgebungen, unter den Teilnehmern befanden sich auch ATO-Veteranen. Torbins Leute unterstützten den damaligen Gouverneur Andrii Hordejew sowie den Vorsitzenden des Regionalparlaments Wladyslaw Manher. Die Teilnehmer der Gegenkundgebung forderten indes den Rücktritt von Hordejew, Manher und weiteren Beamten. Unter anderem kritisierten sie das Verbot, privat Holz in den Wäldern zu schlagen. 

    Kateryna Handsjuk kritisierte damals die Regionalverwaltung und ihre Unterstützer. Auf ihrer Facebook-Seite schrieb sie, Hordejew und Manher hätten einen „Antimaidan“ versammelt und „Gauner in Uniformen gesteckt, damit sie aussähen wie ATO-Veteranen“. Dazu postete sie ein Foto von Manher am Fenster der Stadtverwaltung: „Der Feigling Manher am Fenster, wie einst Wiktor Pelych von der Partei der Regionen.“ Handsjuk hatte 2014 zu den Organisatoren des Euromaidan in Cherson gehört. 

    Gleichzeitig zeigte Handsjuk kaum Sympathie für die andere Seite der Demonstrationen und nannte sie „einen Haufen verärgerter Holzfäller“. Torbin las den Beitrag auf Facebook.  

    „Zuerst meinte ich, dass ich mich nicht beteiligen werde. Doch ich hätte da Jungs, mit denen ich darüber reden könnte“ 

    Vor Gericht behauptete Torbin dann, Lewin habe ihn gebeten, sich privat und ohne Telefon in der Nähe des Cafés Soloty kljutschyk  [deutsch: Goldschlüsselchen] am Dnipro-Park zu treffen. Zur vereinbarten Zeit kam Torbin zum Café und ließ sein Telefon im Auto liegen. Lewin wartete bereits und bot ihm an, im Park spazieren zu gehen.   

    Lewin erwähnte, dass er einer Person eine Lektion erteilen wolle und begann zu erklären, um wen es sich handelte. Als Torbin Lewins Worten entnahm, dass es um Kateryna Handsjuk ging, schlug dieser ihm vor, sie zu verprügeln, um ihr einen Arm oder ein Bein zu brechen oder sie mit Säure zu übergießen. Er erklärte, es sei notwendig, dass sie arbeitsunfähig werde und ins Krankenhaus komme. Ein Mord stand damals nicht zu Debatte. Torbin fragte Lewin, warum es dies tun wolle.  

    „Lewin sagte, dass sie allen auf die Nerven gehe, auch Mykolajowytsch. Zuerst meinte ich, dass ich mich nicht daran beteiligen werde. Doch ich hätte da Jungs, mit denen ich darüber reden könnte“, erinnert sich Torbin vor Gericht an das Gespräch. Nachdem er sich mit seinen Kameraden beraten habe, habe er am nächsten Tag zugestimmt. 

    Torbin behauptete weiterhin, dass Lewin ihm die Entlohnung für den Angriff genannt habe. Er übergab die Anzahlung, drängte auf Ausführung und zahlte schließlich die Restsumme. Während der gesamten Zeit korrespondierten sie über WhatsApp und trafen sich im besagten Café Soloty kljutschyk.  

     

    Fluchthilfe 

    Torbin bestand vor Gericht darauf, dass Lewin nicht nur den Angriff auf Handsjuk bezahlte, sondern ihm und Wolodymyr Wassjanowytsch auch finanziell aushalf, als sie Cherson verlassen wollten. Ein Treffen der beiden wurde durch Zeugen bestätigt. Vor Gericht machten sowohl Torbin, Wassjanowytsch, Pawlowsky und dessen Fahrer Walerii Odinzow detaillierte Zeugenaussagen dazu. 

    Am 17. August rief Wassjanowytsch Torbin an und bat um ein Treffen. Einige Stunden später kam er nach Cherson und teilte ihm mit, dass Wyschnewsky und Horbunow von der Polizei festgenommen worden seien. Daraufhin beschlossen Wassjanowytsch und Torbin, die Stadt zu verlassen, hatten jedoch weder Geld noch ein Auto. Den Jeep Cherokee, mit dem sie Handsjuk gefolgt waren, hatten sie nach dem Anschlag angezündet.  

    Torbin versuchte erfolglos, Lewin über WhatsApp zu erreichen. Daraufhin bat er Pawlowsky um Hilfe. Am Abend desselben Tages fuhren Torbin und Wassjanowytsch zu Pawlowskys Haus am Stadtrand von Cherson.   

    Dort ging Torbin zum Eingang, während Wassjanowytsch im Taxi wartete. Torbin bat Pawlowskys Frau, die ihn empfing, ihren Mann zu rufen. Als dieser schließlich herauskam, erklärte ihm Torbin, dass er in Schwierigkeiten stecke und dringend Geld brauche, um die Stadt zu verlassen.  

    Pawlowsky war bereit zu helfen. Da er seine Bankkarte bei seinem Fahrer Walerii Odinzow gelassen hatte, warteten sie, bis dieser eintraf. Eine halbe Stunde später kam auch Lewin und gab ihnen 2000 Dollar. 

    August 2018: Die Polizei erwischt Torbin und Wassjanowytsch am Busbahnhof. Lewin flieht nach Bulgarien 

    Pawlowsky und Torbin sagten später aus, dass Lewin Torbin angeboten habe, sich gemeinsam nach Bulgarien abzusetzen, was dieser jedoch ablehnte, da er keinen Reisepass besaß. Anstelle dessen wolle er nach Kyjiw fahren und sich dort verstecken.  

    Torbin fragte Pawlowskys Fahrer, ob dieser ihn und Wassjanowytsch nach Kyjiw bringen könne. Odinzow erklärte jedoch, der Wagen müsse erst repariert werden, sonst würde er es nicht bis Kyjiw schaffen. Letztlich willigte er ein, die beiden zum Busbahnhof zu bringen, von wo aus sie mit dem Bus nach Kyjiw fahren könnten.  

    Am Busbahnhof nahm sie jedoch die Polizei fest.  

    Am nächsten Morgen verließ Lewin Cherson in Richtung Bulgarien. 

    Ihor Pawlowsky und sein Assistent Wassyl Schtscherbinin sagten vor Gericht aus, dass Lewin am Morgen seiner Abreise in Pawlowskys Büro vorbeikam. Lewin berichtete, dass Torbin am Vorabend von den Ermittlern aufgespürt und am Busbahnhof festgenommen worden war. Lewin meinte, bald werde man auch ihn finden, weshalb er die Stadt verlassen müsse.  

     

    Moskal 

    Erst am 4. Dezember 2018 gab der SBU bekannt, dass man Olexii Lewin verdächtigte, den Anschlag auf Kateryna Handsjuk in Auftrag gegeben zu haben. Noch einmal anderthalb Monate später, am 24. Januar 2019, wurde Lewin in der Ukraine zur Fahndung ausgeschrieben und dann erst im September desselben Jahres auf die Interpol-Fahndungsliste gesetzt.  

    Erst ein Jahr später, am 24. Januar 2020, nahm die bulgarische Polizei Lewin in der Stadt Burgas fest. Drei Tage später veröffentlichte sie Einzelheiten: Im Jahr 2018 reiste Lewin zu Fuß über den Grenzübergang im Dorf Durankulak nach Bulgarien ein. Er war hier nicht offiziell registriert. Seit der Ausschreibung zur internationalen Fahndung hatte er sein Aussehen verändert und ähnelte nicht mehr dem Foto in der Datenbank. Die Polizei konnte ihn anhand seiner Fingerabdrücke identifizieren.  

    Im März 2020, zu Beginn der Coronavirus-Pandemie wurde Lewin an die Ukraine ausgeliefert, wo das Gericht seine Festnahme anordnete. Vier Monate später gab die Staatsanwaltschaft den Abschluss ihrer Ermittlungen gegen die Auftraggeber des Anschlags auf Handsjuk bekannt und überwies den Fall am 27. Juli an das Gericht.  

    Lewin lebte nach Gefängnisstrafe unter falschem Namen 

    Die Ermittler fanden heraus, dass Lewin unter falschem Namen lebte. Er hatte ihn 2015 angenommen, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde. Davor hatte er den Nachnamen Moskalenko geführt und war unter dem Spitznamen Moskal-Junior bekannt.  

    Im Februar 2008 war Moskalenko Junior als Mitglied der Spynda-Bande verhaftet worden: Sechs Jahre später, am 7. Oktober 2014, befand eine Richterin des Korabelny-Bezirksgerichts von Mykolajiw ihn und seinen Vater Olexii Moskalenko Senior sowie sechs weitere Bandenmitglieder für schuldig, mehrere Auftragsmorde begangen zu haben, darunter am Direktor des Schumensky-Marktes in Cherson, Ihor Pantala. Wie sein Vater wanderte Moskalenko Junior für 12 Jahre ins Gefängnis.  

    Knapp ein Jahr später, am 25. Dezember 2015, wurde Olexii Moskalenko jedoch auf der Grundlage des sogenannten Sawtschenko-Gesetzes freigelassen: Das Berufungsgericht der Oblast Mykolajiw rechnete ihm dementsprechend jeden Tag der siebeneinhalb Jahre U-Haft als zwei Hafttage im Gefängnis an.  

    Später vor Gericht gab Lewin an, dass er sich nach seiner Entlassung zunächst um seine Gesundheit gekümmert und Ende 2016 seine Wohnung in Spanien verkauft habe. Mit dem Erlös gründete er dann einen Agrarbetrieb in der Region Cherson und registrierte ihn unter dem Namen „Leviathan“.  

    „Ich hatte 2400 Hektar Land in Bewirtschaftung. Außerdem lebte ich sieben Jahre in Spanien und hatte dort eine Baufirma und zwei Wohnungen, von denen ich eine verkauft habe. Die Wohnung kostete 200.000 Euro. 240.000 Euro habe ich dann investiert und Weizen und Sonnenblumen angebaut“, so Lewin vor Gericht. 

    Anfang 2017 lernte er in einem Fitnessclub Mykola Stawyzky, Abgeordneter im Chersoner Regionalparlament der Radikalen Partei von Oleh Ljashko, kennen. Später bot Stawyzky, der Lewins Vergangenheit kannte, ihm eine Stelle als Mitarbeiter an. 

    Im Juni 2018 meldete sich Mykola Stawyzky zum Dienst in der ukrainischen Armee und überließ Lewin seinen Mercedes.  

    In Bulgarien erzählte Lewin Journalisten seine Version 

    Lewin wollte Torbin kennenlernen, weil dieser in der Stadt als einer der „Cyborgs“ des Donezker Flughafens bekannt war. Er stellte sich Torbin bei Pawlowsky vor, zollte ihm seinen Respekt und bot Unterstützung an. Torbin bat ihn dann von Zeit zu Zeit um Hilfe, als er verschiedene Hilfslieferungen für die ATO vorbereitete.  

    In Bulgarien erzählte Lewin im Herbst 2019 Journalisten von slidstvo.info seine Version der Ereignisse: Damals betonte er, nichts mit dem Angriff auf Handsjuk zu tun zu haben.  

    Lewin bestätigte dabei, dass er einige Tage nach der Kundgebung vor der Chersoner Regionalverwaltung in Pawlowskys Büro war. Der Mitarbeiter des Abgeordneten war dabei gerade dabei, sich mit Torbin und vier anderen Männern zu besprechen. 

    Sie sprachen darüber, was sie mit Kateryna Handsjuk tun sollten, die sie alle nervte. Bei der Kundgebung habe sie die Gegenseite unterstützt, die gegen das Abholzungsverbot protestierte. Zu deren Organisatoren gehörte Olexandr Zehelnyk, ein ATO-Veteran aus Oleschky. Lewin nannte ihn „einen Erzfeind von Pawlowsky“.  Einige der Anwesenden schlugen vor, Handsjuk in eine Mülltonne zu werfen, aber dies sei schwierig zu bewerkstelligen. 

    „Ich meinte, wir sollten sie mit Seljonka übergießen. Denn so würden doch oft Beamte bei Kundgebungen mit grüner Farbe begossen“, sagte Lewin gegenüber den Reportern. 

    Doch diese Idee habe keine Unterstützung gefunden, stattdessen habe die Runde beschlossen, Handsjuk mit einem Eimer Fäkalien vor ihrem Büro zu übergießen und anschließend Fotos davon zu machen.  

    Lewin behauptete, dass er am Tag des Angriffs auf der Arbeit war und mit keinem der Angeklagten kommuniziert habe. Dass Handsjuk nicht mit Fäkalien, sondern mit Säure übergossen wurde, erfuhr er erst aus den Nachrichten. Lewin behauptete, Torbin habe ihn gebeten, ihn nach Kyjiw zu bringen, was er jedoch ablehnte, da er selbst Cherson am nächsten Morgen verlassen müsse.  

    „Wir sollten sie mit Seljonka übergießen“ 

    Als Torbin ihn um Geld bat, habe Lewin eingewilligt und ihm 1000 Dollar gegeben. Lewin bestand darauf, dass weder Pawlowsky noch Torbin gesagt hätten, warum sie nach Kyjiw wollten. Er habe Torbin einfach als Freund geholfen, der offenbar in Schwierigkeiten steckte.  

    Außerdem beharrte er darauf, dass die Reise nach Bulgarien zur Behandlung von gesundheitlichen Problemen zusammen mit seiner Frau seit langem geplant gewesen sei und sie damals bereits auf gepackten Koffern gesessen hätten. Mykola Stawyzky bestätigte vor Gericht, dass Lewin bereits im Mai eine geplante Auslandsreise erwähnt habe, ohne jedoch den genauen Zeitpunkt zu nennen.  

    Während der Anhörung vor Gericht bestritt Lewin die Aussage Torbins, er habe den Anschlag auf Handsjuk angeordnet und ihm zunächst eine Anzahlung und danach den Rest des Geldes gegeben, nachdem Kateryna mit Säure übergossen wurde. 

    Lewin bestritt nicht, dass er Torbin gelegentlich mit Geld, Waren und manchmal Tankgutscheinen ausgeholfen habe, bestand aber darauf, dass er hiermit nur dessen ehrenamtliche Projekte unterstützte. Des Weiteren betonte er, dass er und Torbin über WhatsApp nie das Café Soloty kljutschyk erwähnt hätten.   

    Das Gericht konnten den Inhalt der Konversation zwischen Lewin und Torbin über WhatsApp nicht ermitteln.  

     

    Kaution 

    In einem Interview mit ihrer Anwältin Jewhenija Sakrewska sagte Kateryna Handsjuk, sie wisse nicht, wer den Angriff auf sie in Auftrag gegeben habe. Doch sie habe keine Zweifel daran, dass es einen Auftraggeber gab. Handsjuk nannte zehn Personen, die aus ihrer Sicht infrage kämen und hob zwei von ihnen hervor: den stellvertretenden Leiter der Regionalverwaltung von Cherson, Jewhen Ryschtschuk, und den Vorsitzenden des Regionalparlaments, Wladyslaw Manher.  

    „Sie verfügen über bestimmte Kontakte, die so etwas organisieren können: Olexii Lewin, ein Mitarbeiter von Manher, ist einer von ihnen“, sagte Handsjuk damals und fügte hinzu, dass sie einen grundsätzlichen Konflikt mit Ryschtschuk und Manher habe.  

    In einem Interview mit Kateryna für den slidstvo.info-Investigativfilm Handsjuk. Ein System-Mord nannte die Aktivistin noch einen weiteren möglichen Auftraggeber: den Chef der Regionalverwaltung, Andrii Hordejew. 

    „Eine Verbindung von Ryschtschuk und Hordejew mit dem Angriff auf Handsjuk konnten wir jedoch nicht feststellen“, sagte Staatsanwalt Andrii Synjuk gegenüber Graty

    Die Ermittler nannten schließlich Wladyslaw Manher als Anstifter des Anschlags auf Handsjuk. Am 11. Februar 2019 erklärten sie dem Vorsitzenden des Regionalparlaments von Cherson ihren Verdacht auf Anstiftung zu einem Auftragsmord mit besonderer Grausamkeit nach Artikel 27, Absatz 3 und Artikel 115, Absätze 4, 6, 11, 12, Teil 2 des ukrainischen Strafgesetzbuchs.  

    Wladyslaw Manher im Februar 2019 vor Gericht in Kyjiw, weil er den Säure-Anschlag auf Kateryna Handsjuk beauftragt haben soll.  / © Zuma / IMAGO / Ukrinform 

     

    Die Staatsanwaltschaft hielt Manher für den Auftraggeber des Mordes an Handsjuk und Lewin und Pawlowsky für seine Mittäter. Der Wortlaut des Verdachts implizierte, dass Manher das Geld für den Angriff bezahlte habe, während Lewin und Pawlowsky die unmittelbaren Täter – Torbin und seine Komplizen – ausfindig machten und bezahlten.  

    Vier Tage später, am 15. Februar 2019, erließ das Petschersky-Bezirksgericht Kyjiw Haftbefehl gegen Manher. Doch gegen Zahlung einer Kaution in Höhe von 2.497.000 Hrywnja [umgerechnet damals etwa 80.620 Euro – dek], welche sein Anwalt noch am selben Tag anwies, wurde Manher aus der Untersuchungshaft entlassen.  

    Im April desselben Jahres stufte die Staatsanwaltschaft den Verdacht gegen ihn zurück und beschuldigte ihn anstatt des Mordes nur noch der Anstiftung zur schweren Körperverletzung (Art. 121 Abs. 2 ukr. StGB). 

    Die Anwälte des Parlamentsvorsitzenden beantragten infolgedessen eine 17-fache Reduzierung der Kaution. Im November 2019 gab das Kyjiwer Schewtschenko-Bezirksgericht dem Antrag teilweise statt und reduzierte die Kaution auf 1.152.000 Hrywnja [26.550 Euro – dek]. 

    Wladyslaw Manher blieb bis zum 19. Juni 2020 auf freiem Fuß. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Ermittlungen des Angriffs auf Handsjuk abgeschlossen, sodass ihm und Lewin Akteneinsicht gewährt wurde. Die Anklage gegen Ihor Pawlowsky war bereits in Strafvereitelung geändert worden. 

    Ausweitung der Ermittlungen wegen neuer Umstände: Manher wird im Krankenhaus festgenommen 

    Am 11. Juni 2020 aber wandte sich die Staatsanwaltschaft unerwartet an das Gericht und beantragte eine Ausweitung der Ermittlungen aufgrund neuer Umstände. Außerdem beantragte die Staatsanwaltschaft abermals Manher zu verhaften. Staatsanwalt Andrii Synjuk begründete diesen Schritt damit, der Verdächtige versuche, Druck auf Zeugen auszuüben und sie zu zwingen, ihre Aussagen zu widerrufen oder zu ändern.  

    Doch statt vor Gericht zu erscheinen, begab sich Manher auf die Intensivstation der Kardiologie-Abteilung des Chersoner Regionalkrankenhauses. Richterin Tetjana Iljewa vom Pertschersky-Bezirksgericht in Kyjiw veranlasste dennoch Manhers Festnahme. 

    Das Gericht entschied in nichtöffentlicher Sitzung über die Vorwürfe gegen Manher. Die Staatsanwaltschaft gab keine Auskunft darüber, wem genau der Parlamentsvorsitzende gedroht habe. Manher selbst bestritt, Druck auf Zeugen ausgeübt zu haben. 

    Fortsetzung folgt:

    Wie das Gericht letztlich zu seinen Urteilen über Olexii Lewin und Wladyslaw Manher kommt, berichtet Teil 3 von „Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ – Protokoll eines Verbrechens: Prozesse und Urteile – ab 27. Februar 2025  

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  • „Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ – Protokoll eines Verbrechens: das Attentat 1/3

    „Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ – Protokoll eines Verbrechens: das Attentat 1/3

    Der Angriff auf die politische Aktivistin Kateryna Handsjuk 2018 in Cherson steht in der Ukraine symbolisch für die Zeit zwischen der Revolution der Würde 2014 und der russischen Vollinvasion 2022: Ein korrupter Lokalbeamter lässt die Stadträtin mithilfe eines stadtbekannten Kriminellen und ATO-Veteranen töten. Anschließend versucht er, der Strafe zu entgegen. Doch zivilgesellschaftliche Aktivisten aus ganz unterschiedlichen Richtungen lassen nicht locker und zwingen die Strafverfolgungsbehörden praktisch dazu, weiter zu ermitteln.  

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    Teil 1: Das Attentat 

    Teil 2: Die Suche nach den Hintermännern

    Teil 3: Prozesse und Urteile

    „Ein Jahr ohne Katja“: Trauerkerzen vor dem Portät von Kateryna Handsjuk zu einer Gedenkdemo 2019 vor dem Büro des Präsidenten der Ukraine in Kyjiw / ©  Hennadii Minchenko / IMAGO / Ukrinform 

     

    Der Überfall 

    An jenem Dienstag, dem 31. Juli 2018, stand Kateryna Handsjuk früh auf. Sie musste pünktlich zu einer Sitzung in der Stadtverwaltung von Cherson erscheinen. Sie arbeitete dort als Abteilungsleiterin, doch Kateryna Handsjuk war keine typische Beamtin. Mit ihren 33 Jahren lebte sie mit ihrem Mann in der Zweizimmerwohnung ihres Vaters in einem Plattenbauviertel von Cherson, obwohl sie eine recht hohe Position in der Stadtverwaltung bekleidete.  

    Kateryna Handsjuk besaß kein Auto und teilte sich einen Dienstwagen mit Fahrer mit ihrem Kollegen, dem stellvertretenden Bürgermeister Wolodymyr Nikolajenko. Der Fahrer musste stets im Voraus bestellt werden. Um acht Uhr morgens griff Kateryna Handsjuk also zum Telefon und begann sich fertig zu machen. 

    Vierzig Minuten später rief der Fahrer zurück: Er warte vor dem Hauseingang. Handsjuk packte ihre Sachen und eilte hinunter. Als sie aus der Haustür trat und hinten in den Wagen steigen wollte, spürte sie plötzlich etwas Warmes über sich ergießen. 

    „Ich riss mir den Rest meiner Kleidung herunter und schrie“ 

    Im Augenwinkel sah Kateryna noch einen Mann davonlaufen. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit weißer Aufschrift, kurze Hosen und ein Basecap. Er war etwa 20 bis 25 Jahre alt, nicht groß gewachsen und hatte trainierte, aber krumme Beine. Er rannte in Richtung eines Nachbarhauses, während ein anderer Mann in der Nähe stand und den Flüchtigen beobachtete. 

    „Ich sah, wie die verätzte Kleidung an meinen Armen herunterlief und mir wurde klar, dass es sich um Säure oder eine Chemikalie handelte. Ich riss mir den Rest meiner Kleidung herunter und schrie“, erinnerte sich Handsjuk später in einem Interview mit der Anwältin Jewhenija Sakrewska im Krankenhaus. 

     

    Im Krankenhaus 

    Ein Krankenwagen brachte Handsjuk ins Gebietskrankenhaus Cherson. Im Schockzustand kam sie auf die Intensivstation. Am nächsten Tag wurde sie mit einem Rettungsflugzeug nach Kyjiw ins Verbrennungszentrum des Städtischen Klinischen Krankenhauses Nr. 2 geflogen. Die Ärzte beurteilten ihren Zustand als schlecht, aber stabil.  

    Wiktor Handsjuk, Katerynas Vater, kam jeden Tag zu ihr auf die Station. Er war selbst Chirurg und konnte sich mit den Kollegen des Verbrennungszentrums austauschen, die versuchten, seine Tochter zu retten. Sie sagten ihm offen, dass ihr Zustand sehr ernst sei und sie keine Erfahrung in der Behandlung solcher Verbrennungen hätten. 

    „Bislang hatte man bei uns Säureverbrennungen mit einer betroffenen Körperoberfläche von bis zu 15 Prozent behandelt. Katjas Körper aber war zu über 39 Prozent verbrannt. Laut Frank-Index ist es unmöglich, mit einem Index über 90 zu überleben. Katjas Index lag bei 117“, erinnerte sich Wiktor später in seiner Aussage vor Gericht.  

    14 Hauttransplantationen unter Vollnarkose in vier Monaten 

    Die ukrainischen Ärzte wandten sich an ihre ausländischen Kollegen, aber keine Klinik erklärte sich bereit, Katerynas Behandlung zu übernehmen, da auch sie keine Erfahrung mit der Behandlung solch schwerer Verbrennungen hatten. 

    Mehr als drei Monate führten die Ärzte des Kyjiwer Verbrennungszentrums bei Handsjuk insgesamt 14 Hauttransplantationen unter Vollnarkose durch. Die Haut wurde an gesunden Körperstellen entnommen, um die Verbrennungen zu bedecken, doch immer wieder wurde sie abgestoßen und färbte sich innerhalb von zwei bis drei Tagen schwarz. 

    Ende September fühlte sich Kateryna Handsjuk ein wenig besser. Die Ärzte rieten ihr zu leichten Bewegungen, ihre Beine zu strecken. Sie konnte sich sogar mehrmals selbst aufsetzen.  

    Am 17. Oktober allerdings verschlechterte sich Katerynas Zustand drastisch. Sie wurde bewusstlos und begann blau anzulaufen. Doch gelang es den Ärzten, ihren Zustand zu stabilisieren und sie wieder zu Bewusstsein zu bringen. Am 2. November, nach weiteren Beratungen, rieten die Ärzte Wiktor Handsjuk, sich auf das Schlimmste vorzubereiten.  

    Zwei Tage später, am Morgen des 4. November, ging Vater Handsjuk Lebensmittel einkaufen. Katerynas Ehemann Serhii Denysow blieb bei ihr. 

    „Ich habe mich gefragt, was passiert wäre, hätte Katja überlebt“ 

    „Wir sprachen über die Reha und darüber, wie wir hier rauskämen, wenn dieser ganze Horror vorbei sei“, erinnerte sich Denysow später in einem Interview mit der ukrainischen Nachrichtenplattform Suspilne

    Als Wiktor zurückkam, musste Serhii ihm mitteilen, dass Kateryna gestorben war.  

    „Ich habe mich gefragt, was passiert wäre, hätte Katja überlebt“, sagt Wiktor Handsjuk vor Gericht. „Sie hätte keine Haare mehr gehabt, hätte nie mehr ohne Krücken gehen können. Sie hätte nie mehr ein kurzärmeliges Kleid getragen oder ihren Hals entblößt. Ihr linker Arm hätte nicht mehr funktioniert und sie hätte ohne rechte Brustwarze gelebt. Ihr Kopf wäre ganz vernarbt gewesen. Sie hätte ihr linkes Auge nicht mehr schließen können, die Hornhaut wäre bald ausgetrocknet und sie erblindet. Sie wäre schwerstbehindert gewesen und ich weiß nicht, wie sie so hätte leben sollen.“

      

    Abschied von Kateryna Handsjuk am 7. November 2018 in Cherson. Handsjuk war am 4. Nowember den Verbrennungen durch einen Säureanschlag am 31. Juli erlegen. / ©  Nina Liashonok / IMAGO / Ukrinform 

     

    Freunde 

    Der Angriff auf Kateryna Handsjuk erschütterte die ukrainische Öffentlichkeit: Fußballfans und Menschenrechtler, rechte und linke Aktivisten, Ehrenamtliche, Korruptionsbekämpfer und Journalisten setzten sich für sie ein.  

    Obwohl Kateryna Handsjuk eine lokale Beamtin war, galt sie als Aktivistin, die sich dem prorussischen Einfluss in Cherson entgegenstellte und Korruption in den Behörden und vor allem bei der Polizei bekämpfte. 

    „Zum Schluss knüpfen sie sich noch uns einfache Pussys vor“ 

    Handsjuk hatte die Zivilgesellschaft unabhängig von politischen Ausrichtungen dazu aufgerufen, sich gemeinsam gegen prorussische Kräfte und korrupte Strafverfolgungsbehörden zu stellen. Ihr öffentlicher Appell an die Zivilgesellschaft wurde berühmt:  

    „Lasst uns zusammenstehen und uns gegenseitig unterstützen. Sonst erledigen sie erst die Linken mithilfe der Rechten und die Rechten werden danach von den Bullen fertiggemacht. Zum Schluss knüpfen sie sich noch uns einfache Pussys vor.“  

    Handsjuk verfolgte Angriffe auf Aktivisten und Journalisten in der gesamten Ukraine und forderte die Strafverfolgungsbehörden auf, diese Verbrechen zu untersuchen. Sie zählte allein in den Jahren 2017–2018 in der Ukraine mehr als solche 50 Angriffe auf Aktivisten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. 

    Auch nach dem Angriff auf sie selbst sprach Handsjuk im Krankenhaus über ihr angespanntes Verhältnis zur Polizei 

    Handsjuk war überzeugt, dass korrupte Beamte und Sicherheitskräfte dahintersteckten und darum die Mehrheit dieser Verbrechen ungeklärt blieb. Auch als sie nach dem Angriff auf sie selbst im Krankenhaus lag, sprach sie über ihr angespanntes Verhältnis zur Polizei in vielerlei Hinsicht.  

    Am Tag nach dem Anschlag auf Handsjuk fand vor dem Hauptgebäude des Innenministeriums in Kyjiw eine Protestaktion unter dem Motto „Bestraft das Böse“ statt. Einer der Organisatoren der Kundgebung, Wladyslaw Hresjew, erklärte gegenüber  
    BBC-Ukraine, dass die Demonstrierenden dem Innenminister Arsen Awakow und der Nationalen Polizei als Teil des Innenministeriums misstrauten. Also wandten sich die Aktivisten an Generalstaatsanwalt Jurii Luzenko und baten darum, die Ermittlungen an die Abteilung für Spionageabwehr des SBU zu übertragen.

    Wandgraffiti 2023 in Kyjiw mit Handsjuks berühmtestem Ausspruch: „Lasst uns zusammenstehen und uns gegenseitig unterstützen …“  / © Kirill Chubotin / IMAGO / Ukrinform 

     

    Zwei Tage später besuchte Jurii Luzenko Kateryna Handsjuk im Krankenhaus und versprach, die Ermittlungen der Polizei zu entziehen. Doch er hatte es nicht eilig, sein Versprechen einzulösen.  

    Nach dem ersten Protest schlossen sich die Unterstützer der Aktivistin aus Cherson in der Initiative Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt? zusammen. Fußballfans hängten bei Spielen der Ukraine-Liga regelmäßig Transparente mit dieser Frage auf. Aktivisten sprühten Graffiti mit Katerynas Konterfei an Hauswände und auf Bürgersteige, versammelten sich zu Kundgebungen in der Nähe der Werchowna Rada und verteilten Flugblätter an die Teilnehmer des Yalta European Strategy Forums

    Journalisten in T-Shirts mit Handsjuk-Porträt fragten bei Pressekonferenzen der Regierung und Ermittlungsbehörden und jeder Gelegenheit auch den Präsidenten: „Wer hat den Mord an Kateryna Handsjuk bestellt?“ 

    Oft schien es, als würden die offiziellen Ermittlungen nur durch die Bemühungen von Katerynas Unterstützern vorangetrieben. 

     

    Nicht schuldig 

    Allein am Tag nach dem Angriff auf Kateryna Handsjuk änderte die Polizei zweimal die juristische Einstufung des Verbrechens. Zunächst leiteten die Ermittler ein Verfahren wegen Rowdytums (Artikel 296, Absatz 4 des ukrainischen Strafgesetzbuchs) ein, später als vorsätzliche schwere Körperverletzung (Art. 121 Abs. 2 ukr. StGB) ein. Erst nach ersten Protesten wurde schließlich wegen versuchten Mordes mit besonderer Grausamkeit (Art. 15 und Art. 115, Abs. 2, Punkt 4 ukr. StGB) ermittelt. 

    Die Polizei erklärte die Neueinstufung des Verbrechens damit, dass sie die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung erst einen Tag später erhalten habe. Diese erst bestätigte, dass Handsjuk mit konzentrierter Schwefelsäure übergossen wurde, was das Ausmaß der Verletzungen und die Lebensgefahr bestimmte. 

    Der Polizei gelang es nicht, Katerynas Angreifer sofort zu ergreifen. Am Tag des Angriffs veröffentlichte die Nationale Polizei ein Video, auf dem zu sehen ist, wie ein Verdächtiger – ein Mann mit Basecap, schwarzem T-Shirt und braunen Shorts – den Tatort verlässt. Mykola Werbyzky, damals Polizeichef der Region Cherson, sagte, dass der Angreifer von Komplizen mit Fluchtwagen unterstützt wurde.  

    Ein Mitdreißiger mit kurzen Haaren ähnelte dem Mann aus den Überwachungsvideos 

    Am 3. August 2018 verkündete Innenminister Arsen Awakow, dass Ermittlungsbeamte einen Verdächtigen festgenommen hätten: Der in Cherson lebende Mykola Nowikow, ein Mitdreißiger mit kurzen Haaren, ähnelte dem Mann von aus den Überwachungsvideos.  

    Der stellvertretende Leiter der Nationalen Polizei, Wjatscheslaw Abroskin, fügte sogleich hinzu, dass die Ermittler weiter nach Beweisen suchten. Doch die vorliegenden Beweise reichten dem Gericht in Cherson, um Nowikow am 6. August für zwei Monate in Untersuchungshaft zu nehmen. 

    Die Unterstützer Handsjuks recherchierten indes auch selbst. Am 12. August veröffentlichten die Journalisten Denys Kasansky und Marjana Pezuch einen Beitrag, wonach die Polizei einen Unschuldigen inhaftiert hatte.  

    Sie veröffentlichten die Aussagen von Anna Antoschyna und ihrem Ehemann Serhii aus Lwiw, die das Ermittlungsverfahren nicht berücksichtigt hatte. Das Paar behauptete, am Tag des Angriffs auf Handsjuk mit Nowikow und dessen Schwester im Dorf Prymorske, 90 Kilometer von Cherson entfernt, Urlaub gemacht zu haben. Nowikow habe den Ort an jenem Tag nicht verlassen.  Am 22. August wurde Nowikow aus der Untersuchungshaft entlassen. 

     

    Freiwilligenkämpfer 

    In der Zwischenzeit hatten die Ermittler neue Verdächtige festgenommen, die ATO-Veteranen Mykyta Hrabtschuk (Kampfname „Ameise“), Wolodymyr Wassjanowytsch („Schraube“), Wjatscheslaw Wyschnewsky („Wirkungsgrad“), Wiktor Horbunow („Harry“) und Serhii Torbin („Einsatzführer“). Alle vier waren Freiwilligenkämpfer und kämpften im Donbas in der Ukrainischen Freiwilligenarmee (UDA)

    Torbin diente als Kommandeur des 5. UDA-Bataillons im Donbas, die anderen in seiner Einheit. Im September 2017 war Torbin nach Cherson zurückgekehrt, wo er die NGO „Freiwillige der Gotteskompanie“ und die Sicherheitsfirma „Legion Service“ registrierte. Er organisierte außerdem ehrenamtlich Hilfsgüterlieferungen an die Front.  

    Torbin mietete ein Haus für seine Kameraden in der Stadt Oleschky in der Nähe von Cherson, wo sie gemeinsam die Ernte auf den Feldern oder Ferienkomplexe am Meer bewachten.  

    Handsjuk identifizierte Hrabtschuk als die Person, die sie mit Schwefelsäure übergegossen hatte 

    Wiktor Horbunow wurde bereits am 6. August zur Fahndung ausgeschrieben. Denn die Polizei hatte herausgefunden, dass er Schwefelsäure über eine Anzeige gekauft hatte. Sie nahm ihn und Wolodymyr Wyschnewsky am 16. August in der Region Dnipro im UDA-Hauptquartier fest. Am Abend des nächsten Tages griff die Polizei Serhii Torbin und Wolodymyr Wassjanowytsch am Busbahnhof von Cherson auf, als die beiden gerade nach Kyjiw fahren wollten. Zwei Tage später verhafteten die Beamten auch Mykyta Hrabtschuk in Shytomyr. 

    Kateryna Handsjuk identifizierte Hrabtschuk als die Person, die sie mit Schwefelsäure übergegossen hatte. Außerdem wies Hrabtschuk Spuren charakteristischer Verbrennungen am Hals und seinem rechten Bein auf.  

    Kateryna Handsjuk kannte Serhii Torbin, der laut den Ermittlern den Angriff organisiert hatte, persönlich. Torbin hatte Handsjuk als Beamtin der Chersoner Stadtverwaltung mehrmals um Hilfe gebeten. Einmal bat er sie um Kraftstoff für seine Spendenfahrten, ein anderes Mal um Werbetafeln für Plakate seiner NGO. 

    Alle fünf Inhaftierten bestritten zunächst ihre Schuld. Nach Handsjuks Tod änderte die Polizei abermals die Einstufung des Verbrechens zu Mord: Nun wurde wegen Mordes mit besonderer Grausamkeit (Artikel 115 des ukrainischen Strafgesetzbuches) ermittelt. Den Verhafteten drohte eine lebenslange Freiheitsstrafe.  

    Auf Anweisung von Generalstaatsanwalt Luzenko übergab die Nationale Polizei den Fall an den SBU.  

    Die Aussicht auf eine lebenslange Haftstrafe trieb die Männer zu einem Deal mit den Ermittlern 

    Die Aussicht auf eine lebenslange Haftstrafe trieb die verhafteten Männer zu einem Deal mit den Ermittlern. Torbin und seine Komplizen legten Geständnisse ab und verrieten, wer den Angriff auf Kateryna befohlen hatte. Die Staatsanwaltschaft ermittelte dafür nur wegen schwerer Körperverletzung mit Haftstrafen von drei bis sechseinhalb Jahren.  

    Am 6. Juni 2019 bestätigte Richterin Olena Tschorna am Pokrowsky-Bezirksgericht von Odesa die Einigung zwischen den Angeklagten und den Ermittlern. Mit Zustimmung von Wiktor Handsjuk und Serhii Denysow und ihren Anwälten verurteilte das Gericht Torbin zu sechseinhalb Jahren, Hrabtschuk zu sechs Jahren, Wassjanowytsch und Wyschnewskyi zu je vier Jahren und Horbunow zu drei Jahren Haft. 

     

    Geständnisse 

    Hrabtschuk, Wassjanowytsch, Wyschnewskyi und Horbunow sagten aus, dass Serhii Torbin den Angriff auf Handsjuk an sie herangetragen habe. Alle fünf erinnerten sich an ähnliche Details, wie es dazu kam. 

    Am 13. Juli 2018 sagte Torbin seinen Kameraden, dass es in Cherson eine „Separatistin“ gäbe, die schlecht über ATO-Kämpfer spreche. Viele hätten die Schnauze voll und man müsse ihr Grenzen setzen. Torbin schlug ihnen vor, sie zu verprügeln und einen Arm oder ein Bein zu brechen oder sie mit Säure zu übergießen. Für die erste Variante versprach er fünftausend Dollar „für alle“, im zweiten Fall dreitausend.  

    „Selbst wenn es kein Geld gegeben hätte, hätte ich das gemacht“ 

    „Selbst wenn es kein Geld gegeben hätte, hätte ich das gemacht“, wird Hrabtschuk vor Gericht von Watchers zitiert, das als einziges Medium alle Gerichtsverhandlungen zum Attentat auf auf Handsjuk verfolgte. Er erklärte demnach weiterhin, dass er Torbins Befehle ausgeführt habe, weil er ihn als Kommandeur respektierte. 

    Am nächsten Tag, dem 14. Juli 2018, fuhr Torbin mit seinen Komplizen nach Cherson, wo in der Nähe des Rathauses ein Treffen zwischen Beamten der Stadtverwaltung und Veteranen des Asow-Regiments stattfand. Torbin zeigte den Vieren Kateryna Handsjuk, die ebenfalls beim Treffen anwesend war. Danach warteten sie, bis Handsjuk die Arbeit verließ und versuchten ihr zu folgen, um ihren Wohnort herauszufinden. Da sie sich aber in Cherson nicht gut auskannten, verloren sie sie schnell aus den Augen.  

    Einige Tage später übergab Torbin den vier Komplizen 10.000 Hrywnja, damals circa 500 Dollar, als Anzahlung und forderte sie auf, sich an die Arbeit zu machen. 

    Es würde schwierig, sie zu verprügeln: Handsjuk war immer von Menschen umgeben 

    Torbins Komplizen beschlossen, Handsjuk zu verprügeln, da es hierfür mehr Geld gab. Von der Anzahlung kauften sie einfache Tastenhandys und SIM-Karten, die sie nur am Tag des Überfalls benutzen wollten. Dazu einen Hammer, mit dem sie Handsjuk schlagen wollten.   

    Da sie den Wohnort der Aktivistin nicht ermitteln konnten, baten sie Torbin, ihnen die Adresse zu besorgen. Einige Tage später übergab er einen Zettel mit der Adresse.  

    Als sie Handsjuk beschatteten, wurde Horbunow, Wassjanowytsch, Hrabtschuk und Wyschnewsky schnell klar, dass es schwierig werden würde, sie zu verprügeln: Kateryna war ständig von Menschen umgeben und fuhr mit Auto und Fahrer zur Arbeit und zurück.  

    Sie berieten sich und beschlossen, dass es einfacher wäre, sie mit Säure zu übergießen. Torbin meldeten sie ihren neuen Plan – mit der Bedingung, dass sie auch hierfür fünftausend Dollar bekämen. Torbin meinte, dass er dies erst klären müsse und sagte ihnen am darauffolgenden Tag zu. 

    Dann schlug Torbin vor, dass sie die Säure in einem Autoteileladen kaufen sollten. Da es dort aber Überwachungskameras gab, mussten sie die Idee verwerfen. Alternativ begannen sie, im Internet zu suchen. 

    Hrabtschuk holte sie ein und goss das Glas voller Säure über ihren Kopf und Rücken. Einige Tropfen trafen dabei ihn selbst 

    Am 26. Juli kauften Horbunow und Torbin in Kachowka zwei 1,5-Liter-Flaschen Schwefelsäure zum Preis von je 300 Hrywnja [damals knapp 10 Euro – dek]. Einen Liter Säure füllten sie später in ein Glas, das sie vorsichtshalber in einen Lappen wickelten.  

    Nach einer Woche kam Torbin wieder zu seinen Kameraden und forderte sie auf zur Tat zu schreiten.  

    Am 31. Juli, dem Tag des Anschlags, stiegen Hrabtschuk, Wassjanowytsch und Wyschnewsky um sechs Uhr morgens in einen Jeep Cherokee und verließen Oleschky Richtung Cherson. Horbunow blieb zu Hause. Die Angreifer wussten, dass Kateryna Handsjuk für gewöhnlich nach 8 Uhr vom Fahrer zur Arbeit abgeholt wurde.  

    Wassjanowytsch blieb mit dem Auto einige Kilometer von Handsjuks Haus entfernt stehen. Wyschnewsky wartete auf einem Sportplatz in der Nähe von ihrem Haus, während Hrabtschuk mit dem Säureglas am Hauseingang wartete. Alle vier Angreifer schalteten ihre Mobiltelefone ein und aktivierten die neuen SIM-Karten. 

    Um 8:40 Uhr meldete Wyschnewsky an Hrabtschuk, dass ein Daewoo Lanos zu Handsjuks Haus fuhr. Fünf Minuten später eilte Kateryna aus dem Haus zum Auto. Hrabtschuk holte sie im letzten Moment ein und goss das Glas voller Säure über ihren Kopf und Rücken. Einige Tropfen trafen dabei ihn selbst an Hals und Bein und verursachten Verätzungen. Er ließ das Glas fallen und rannte zu Wassjanowytsch mit dem Auto. Hinter sich hörte er Handsjuk schreien. 

    Torbin erfuhr aus den Nachrichten, dass seine Komplizen den Auftrag ausgeführt hatten. Drei Tage nach dem Überfall traf er sie in Cherson. Am 2. August brachte er ihnen die versprochenen 4000 Dollar nach Oleschky, die sie unter sich aufteilen sollten. 500 Dollar behielt Torbin als Organisator für sich. 

    Fortsetzung folgt: 

    Wie die ukrainischen Behörden weiter ermittelten und warum die Unterstützer von Kateryna Handsjuk jahrelang selbst recherchierten und protestierten, erläutert Teil 2 von „Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ – Protokoll eines Verbrechens: Die Suche nach den Hintermännern – ab 20. Februar 2025

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    Ein ukrainischer Kriegsveteran hat russische Gefangenschaft, Folter, eine Freundschaft mit einem russischen Major und die Flucht nach Europa hinter sich. Jetzt sitzt er mit seiner Familie in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft und schimpft auf alle – und will trotzdem zurück.  

    Viele der seltener publizierten individuellen Kriegserfahrungen erscheinen auf den ersten Blick wenig heldenhaft. Oft widersprüchlich, anstößig, unbequem und für Menschen jenseits der Kampfzone schwer nachvollziehbar. Das bringt auch die in der Kriegsrealität alles bestimmende Gewalt mit sich.  

    Olessja Gerassimenko und Ilja Asar haben für Novaya Gazeta Europe eine solche Geschichte dokumentiert: Hier berichtet der ehemalige ukrainische Soldat Witali Manshos von seinem Leben – in teils derben Ausdrücken und mit brutalen Details. Dekoder veröffentlicht diese Geschichte in zwei Teilen auf Deutsch. 

    Teil 1: Mit sowjetisch geprägtem Lebenslauf über missglückten Widerstand hinein in den russischen Folterkeller

    Hier ist Fortsetzungsteil 2: Raus aus dem Folterkeller durch die russische Besatzung bis zur Flucht nach Deutschland

    Als Witali von den russischen Besatzungstruppen festgenommen wurde, trug er einen roten Wollfaden um sein Handgelenk. Das sollte gegen Kopfschmerzen helfen, hatte ihm seine Großmutter beigebracht. Als ihm Handschellen angelegt wurden, waren sie sehr eng, aber an seiner rechten Hand schlossen sie sich über dem Faden, der so verhinderte, dass die Blutzufuhr abgequetscht wurde. Seitdem nimmt Witali den roten Wollfaden nie ab. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow
    Als Witali von den russischen Besatzungstruppen festgenommen wurde, trug er einen roten Wollfaden um sein Handgelenk. Das sollte gegen Kopfschmerzen helfen, hatte ihm seine Großmutter beigebracht. Als ihm Handschellen angelegt wurden, waren sie sehr eng, aber an seiner rechten Hand schlossen sie sich über dem Faden, der so verhinderte, dass die Blutzufuhr abgequetscht wurde. Seitdem nimmt Witali den roten Wollfaden nie ab. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow

    Ein paar Tage später kommt der russische Soldat mit Rufnamen 505 wieder zu Witali in den Folterkeller: „Wir haben wieder von den Dichtern und so angefangen“, erinnert sich Witali. „Und da geht plötzlich das Kriegsschiff Moskau unter. Das vermieste ihm die Stimmung. Er fing an: ‚Wer braucht das alles, wie hat das überhaupt angefangen …‘ Ich wusste es auch nicht.“ 

    Bis zum 14. April bekam Witali nichts zu essen. Zu trinken gab es nur Wasser aus der Kanalisation. Über zwei Wochen war er nicht auf der Toilette, er konnte nicht. Auf dem Kellerboden standen auch so knöcheltief Kot und Urin. Witali sagt, die Militärs hätten die Klos kaputtgeschlagen. „Sie haben ins Loch geschissen, kein Papier benutzt. Es lief alles in den Keller.“ 

    Irgendwann erzählte 505 Witali, da würde jeden Tag eine Frau Essen für ihn zum Stabsquartier bringen. Als er hörte, dass Witali nichts davon bekam, versprach er, sich darum zu kümmern.  

     

    Kapitel 6: „Ihr Schweine, ihr habt ihn gebrochen, oder?“ 

    Wynohradne, Mai 2022 

    Irina Manshos kam wirklich jeden Tag zur ehemaligen Stadtverwaltung von Molotschansk. Sie stand um fünf Uhr morgens auf, molk und tränkte die Ziegen, kochte frisch – „eine Suppe, damit er was Flüssiges hat, oder Nudeln mit Fleisch oder Frikadellen mit Kartoffelbrei, legte ein Stück Schokolade und Zigaretten dazu“ – und fuhr zum Stabsquartier. Die Soldaten nahmen die Behälter und die Thermoskanne an und gaben sie ihr am nächsten Morgen leer zurück. „Ich dachte, das isst alles Witali.“ 

    Über einen jungen Mann aus der Nachbarschaft, der aus dem Keller freikam, richtete Witali ihr aus, dass er am Leben sei und Zigaretten brauche. 

    „Dabei hab ich ihm jeden Tag welche zum Essen dazugelegt … Vielleicht haben sie das weggekippt, vielleicht haben sie es selbst gegessen. Die waren hungrig. Ich habe gesehen, wie sie unsere wilden Rebhühner gefangen und selbst gerupft haben, gleich dort im Amtsgebäude.“ 

    505 hielt Wort: Ab nun kamen Essen und Zigaretten im Keller an. Eines Abends entdeckte Irina beim Abwaschen der Thermoskanne unter dem Deckel auch einen Zettel. Witali hatte ihr auf einem Fetzen Zeitungspapier mit Putin auf der Titelseite eine Botschaft hinterlassen. Er schrieb, sie soll die Reisepässe vergraben und die Bankkarten verstecken. So begann ihre Korrespondenz. Im zweiten Briefchen bat er um eine Bibel. Irina besorgte beim Priester kleine Heftchen. 

    Tochter Sascha munterte Irina manchmal auf: „Es wird alles gut mit Papa“, und tauchte wieder in ihren Computerspielen ab. So habe sie abschalten können, erklärt Irina. Manchmal legte sie mit einer Freundin Tarotkarten. Sie sagten, ihrem Vater würde die Kraft der Diplomatie in die Hände spielen. 

    Seine Augen waren traurig, er konnte kaum sprechen. Steht vor mir, als würde er sich verabschieden.

    Noch mal zwei Wochen später ließ Stabsleiter 505 Witali zum ersten Mal seine Frau anrufen. Dann kam er mit einer guten Nachricht: Am nächsten Tag würden sie sich sehen dürfen. „Aber erzähl nicht zu viel“, ermahnte er ihn. „Das wäre sowieso nicht gegangen“, erinnert sich Irina. Das fünfminütige Treffen fand im Beisein eines bewaffneten Wachmanns statt. 

    „Witali kam in denselben Sachen, die er vor einem Monat getragen hatte. Pullover, Hose, Armeeunterhose und grüne Socken mit Dreizack …“ Sie tauschten nur ein „Hallo, wie geht’s dir?“ und „Gut“ aus. Aber alles in Irinas Innerem schrie: „Ihr Schweine, ihr habt ihn gebrochen, oder?“ Irina erinnert sich: „Seine Augen waren traurig, er konnte kaum sprechen. Stand vor mir, als würde er sich verabschieden. Anfassen durfte ich ihn nicht. Er fragte nach seiner Tochter.“ 

    Weil Witali seltsam schief stand, entdeckte Irina die Einschusslöcher in der Hose. Bei nächster Gelegenheit brachte sie ihm Wunddesinfektionspulver. Witali schüttete das Pulver in die Einschusslöcher im Schritt, und es kamen verrottete Stofffetzen zum Vorschein.  

    Nach diesem Treffen legte Irina ihre ukrainische SIM-Karte ein, rief im Verteidigungsministerium in Kyjiw an und meldete, dass ihr Mann gefoltert wird. Es war Anfang Mai 2022. Witali saß immer noch im Keller. 

    „Lasst mich doch wenigstens zum Tag des Sieges raus. Wer bin ich denn schon?“, bat Witali Georgi. – „Du weißt zu viel, der FSB ist an dir dran, dein Bruder ist bei der Armee, die pfuschen uns in den Vormarsch. Du wirst sowieso nicht eingetauscht, und ausreisen darfst du auch nicht.“ 

    Am 15. Mai ließen sie Witali schließlich doch für einen Tag nach Hause. Zum ersten Mal seit März konnte er duschen. Dann sagte der Stabsleiter, er solle Kartoffeln setzen, schließlich sei schon Mai. 

     

    Im Süden der Karte befinden sich Tokmak und Molotschansk, das Dorf Wynohradne liegt etwas nordwestlich davon. Seit März 2022 sind diese Orte von der russischen Armee besetzt. Ebenso Enerhodar im Westen der Karte. Die Gebietshauptstadt Saporishshja (hier im Norden) ist nicht von Russland besetzt, aber häufiges Ziel russischer Raketen-, Drohnen- und Gleitbombenangriffe. © Deep State

    Ich schulde dir noch drei Kugeln

    Zwei Wochen später ließ ihn 505 aus dem Keller, unter der Bedingung, sich einmal am Tag im Stab zu melden und sich höchstens fünf Kilometer von seinem Haus zu entfernen. Deswegen fuhr Witali nicht ins Krankenhaus – das nächste war 12 Kilometer entfernt, dazwischen 14 Checkpoints. Der Entlassungsschein ist immer noch im Garten hinter ihrem Haus in Wynohradne vergraben, erzählt Witalis Frau. 

    Als Witali aus dem Stabsquartier kam, sah er den Kommandanten, der ihm in Knie und Schritt geschossen hatte: „Ich sagte zu ihm, ich schulde dir noch drei Kugeln. Da zuckte er zusammen. Ich werde ihm das noch heimzahlen“, sagt Witali. 

    „Haben Sie die Kartoffeln gesetzt?“ 

    „Und geerntet.“ 

    „Mit angeschossenen Beinen?“ 

    „Ich hab einen Traktor.“ 

    Witali Manshos zeigt seine Beine mit den Folterspuren. Foto von Iwan Pugatschjow
    Witali Manshos zeigt seine Beine mit den Folterspuren. Foto von Iwan Pugatschjow

    Kapitel 7: „Die Dorfälteste blieb auch unter den Russen die Dorfälteste“ 

    Wynohradne, 2023 unter Besatzung 

    Stabsleiter 505 gab Witali vor seiner turnusmäßigen Abreise dessen Handy, SIM-Karte und Papiere zurück. Dazu legte er eine Wurst und eine Schachtel Fruchtpastillen. Witali briet ihm zum Abschied eine Ente: „Danke, Georgi, wenigstens ein Mensch hier.“ Das Essen schlug 505 allerdings aus. 

    „Ich sag zu ihm: Georgi, sei mal ehrlich, wie soll ich die Ukraine nicht lieben? Wir gehen zu meinem Haus. Ich zeig ihm meinen Hof, meine Puten. Sag zu ihnen: ‚Slawa Ukrajini!‘ Und die Vögel so: ‚Iu-iu-iu!‘“ Witali imitiert das Gekacker. „Da zischt Georgi, ich soll bloß leise sein. Aber ein Pfundskerl, echt! Wenn ich ihn finde, gibt’s was zu feiern. Er sagte, ich soll die Seite wechseln, für die arbeiten. Aber ich lehnte ab.“ 

    „Haben Sie mit ihm über die Folter gesprochen?“ 

    „Nein, nie. Wir haben über Majakowski, Twardowski, Borodino geredet. Und die globale Kastration von Russland. Er hat alles verstanden.“ 

    „Über die globale Kastration?“ 

    „Er hat gesagt, die Ukraine wär am Arsch, sie würden uns flächendeckend niederbomben. Wie Amerika Vietnam. Dann gäb’s die Ukraine schlichtweg nicht mehr. Und ich: Träum weiter! Wir werden auferstehen und euch alle umbringen.“ 

    Unsere Jungs ließen grüßen, mit Beschuss. Die ganze Technik war im Arsch. 

    Im September 2023 hat Witali den russischen Pass und eine Arbeit als Elektriker in der Kolchose angenommen: „Ich musste ja irgendwie meine Familie ernähren. Also hab ich als Systemadministrator diesen ganzen russischen Dreck eingerichtet, S1, Kontur.Fokussy und wie sie nicht heißen. Die ganze Kolchose kam zu mir. Den Omas half ich mit den ukrainischen Banken, damit sie ihre Rente bekamen.“ 

    Am 6. Mai 2023 war die Kolchose von der ukrainischen Armee beschossen worden: „Unsere Jungs ließen schön grüßen, mit Beschuss. Aber das Ding ist, solange die Russen da waren, war Ruhe. Kaum waren die abgezogen, schlug es bei uns in die Kolchose ein, die ganze Technik war im Arsch.“ 

    Sofort kam ein Zugriffstrupp zu ihm nach Hause. Sie verdrehten Witali die Arme und zerrten ihn in den Gemüsegarten. „Du hast unsere Koordinaten ausgeliefert“, sagten sie und schlugen zu. 

    Irina leistete indes stillen Widerstand: weigerte sich zu arbeiten, den russischen Pass anzunehmen und ihre Tochter zur Schule zu schicken. Dem Referendum blieb die Familie fern. Abends stritten sie: „Wir müssen weg!“ – „Wie soll ich weg? Sie lassen mich nicht raus! Fahr alleine …“ Die Dorfälteste setzte sie unter Druck: „Warum geht ihr nicht wählen? Ihr müsst zur Wahl!“ 

    „Die Dorfälteste Nina Wassiljewa blieb auch unter den Russen die Dorfälteste. Der Mann unserer Nachbarin ist abgehauen und dient jetzt in der ukrainischen Armee, sie hat den russischen Pass angenommen und lebt im besetzten Dorf. Die Feldscherin Sneshana Iwantschidse spielt jetzt in Propagandafilmchen der russischen Staatssender mit“, zählt Irina auf und zeigt uns einen Nachrichtenbeitrag. 

    Auch Witali gehört formell zu den Kollaborateuren, weil er als Elektriker beim Werk gearbeite hat: „Man hat natürlich gesehen, dass ihm das alles, gelinde gesagt, nicht gefällt“, erklärt aber sein Chef in der Kolchose und bekräftigt damit Witalis Aussage. 

    Dreckskerle, wie ich sie hasse. Erst unsere Leute beschießen, dann humanitäre Hilfe verteilen.

    Irina Manshos erinnert sich, wie russische Soldaten einmal 20 Eier von ihr haben wollten und zum Tausch 15 Dosen Kondensmilch, Konserven und fünf Kilo Zucker angeschleppt haben. Sie nahm es an. In den Dorfladen brachten sie Waffeln, Kekse und Bonbons, damit sie gratis verteilt wurden. 

    „Ich hab dieses System in den zwei Jahren, die ich dort gelebt habe, nicht kapiert. Dreckskerle, wie ich sie hasse. Erst unsere Leute beschießen, dann humanitäre Hilfe verteilen. Dann machten sie so Zentren auf – ‚Unser Russland‘ – die Kinder durften kostenlos ins Ferienlager, auf die Krym, nach Moskau …“, erzählt Irina.  

    „Selbst der Patenonkel meiner Frau …“, fährt Witali über die Kollaborateure fort. „Als sie mich schlugen, sollte ich sagen, wer bei der Polizei war. ‚Verrat es uns, und wir lassen dich laufen.‘ Dieser Patenonkel war zum Beispiel Polizist, aber ich hab noch letztens auf seiner Hochzeit getanzt, sie haben gerade ein Kind bekommen. Ich denk, Scheiße, die killen den armen Kerl doch, und halt meine Klappe … Dann komm ich aus dem Keller, und er sitzt da und trinkt mit denen Tee. Immer noch Polizist, nur jetzt für die Russen.“ 

    Irina Manshos. Foto von Iwan Pugatschjow
    Irina Manshos. Foto von Iwan Pugatschjow

    Unter der Besatzung stellte Witali eine Fernsehantenne so ein, dass er ukrainische Sender empfangen konnte. Da kam in den Nachrichten gerade die Meldung, dass der Staat knapp eine Milliarde Hrywnja [ca. 22,9 Millionen Euro – dek] für Militäruniformen ausgegeben habe. 

    „Verstehst du, mein Neffe ist mit 18 an die Front gegangen. Er hat mir Videos geschickt, überall Leichen, verdammte Scheiße, Mann. Und er sagt: Na, wenigstens muss ich nicht für den Bus bezahlen … Kacke, verfickte.“ Witali bricht in Tränen aus. „Sie bringen die Menschen tonnenweise ins Grab, tonnenweise … Ich hab dieser Armee 7,5 Jahre geopfert … Ich will nicht mehr …“ 

    Obwohl über seinem Haus in Wynohradne auch nach der Rückkehr von der Front die ukrainische Flagge weht, hält Manshos von den ukrainischen Soldaten fast genauso wenig wie von den Russischen, die ihn beinahe umgebracht hätten. 

    „Waren es nicht die Russen, die das alles angefangen haben?“, fragen wir nach. 

    „Es waren die Chochly. 2013. Die verfickten Chochly aus Donezk und Dnipropetrowsk: Kolomoiski und Janukowytsch. Damit fing die ganze Scheiße an“, antwortet er. 

    „Welche Scheiße?“ 

    „Der Krieg. Die Aufteilung der Macht. Verstehst du, die wollten in Kyjiw keine Nummernschilder aus Donezk und Dnipro sehen. Was sollen die mit der Südostukraine? Lieber weg damit und keine Renten mehr bezahlen. Weißt du, wie viel die sich sparen?“ 

    Die Leute wechseln schnell die Lager. 

    Die Gebiete, die jetzt von Russland okkupiert sind, sollten Witalis kruder Theorie nach an die USA gehen, weil die das fruchtbare Land brauchen würden; auf die Menschen würden „die Chochly scheißen“. Seine Theorie sieht er darin bestätigt, dass es die Russen in vier Tagen bis nach Tokmak geschafft haben. 

    „Wissen Sie, was einen Chochol von einem Ukrainer unterscheidet? Ein Ukrainer lebt in der Ukraine, und der Chochol dort, wo es am besten ist. Aber momentan kennt sich keiner aus: Wo ist es denn am besten, vielleicht doch drüben? Die Leute wechseln schnell die Lager. Das sind diese Shduny. Bequem haben Sie’s ja: bekommen russische und ukrainische Rente. Natürlich schreien sie da: Slawa Rossii! Dann hauen sie mich noch an, ich solle ihnen russisches Fernsehen einstellen. Und ich: ‚Wenn du noch einmal ankommst, knall ich dich eigenhändig ab!‘“ 

    „Wären Sie geblieben, wenn Ihre Frau nicht darauf bestanden hätte?“ 

    „Nein. Ich wollte schon über die Minenfelder laufen. Aber die Besatzer haben gesagt: Du kannst nur nach vorne raus, über die Frontlinie. So lässt dich hier niemand durch. Oder du nimmst den Weg durch den Kachowka-Stausee.“ 

     

    Kapitel 8: „Militärkreis Turkestan, Einheit 791518“ 

    Flucht über Krym und Belarus, Januar 2024 

    Ende 2023 beharrte Irina Manshos immer dringlicher auf der Abreise. Am 10. Dezember unternahmen sie den ersten Versuch: Ukrainische Freiwillige schickten ein Auto. Das ganze Dorf kam, um die Familie zu verabschieden, alle weinten, erzählt Witali. Er rasierte sich ordentlich, ließ sich die Haare schneiden, zog einen neuen Pullover an. Gleich beim ersten Checkpoint bei Nowoasowsk ließen die Posten seine Frau und Tochter zwar durch – aber er musste in den Keller. 

    Witali hatte die Facebook-App vom Handy gelöscht, aber an sein Profil hatte er nicht gedacht. Bei der Überprüfung der Papiere entdeckten die russischen Soldaten dort das unglückselige Foto mit dem abgebrannten Panzer. 

    „Hat man Sie dort geschlagen?“ 

    „Ein bisschen. Ins Gesicht, in die Brust, dann legten sie mir wieder Handschellen an: Du bist ein Verräter, hast den Donbas bombardiert. Sie sagten, ich käme in Russland vor Gericht und sie würden mich nicht laufen lassen. Dann holten sie ein paar Tschetschenen und sagten denen, die könnten mit meiner Frau und meiner Tochter machen, was sie wollen, wenn ich nicht sofort hier verschwinde und in mein Dorf zurückgehe.“ 

    Wir haben doch gesagt, du sollst hierbleiben, du Penner! 

    Also lief die Familie die 13 Kilometer über Eis und Schnee zurück. Um vier Uhr nachts kamen sie in Nowoasowsk zu einem Hostel, das noch geöffnet war, und checkten dort ein. Drei Tage lang schliefen sie sich aus. Dann fuhren sie mit einem Taxi durch die Ruinen von Mariupol nach Wynohradne zurück. Der Ortsvorsteher schickte ihnen Geld, damit sie den Fahrer bezahlen konnten. 

    Witali lacht: „Aber die Weiber im Dorf waren zufrieden: ‚Wir haben doch gesagt, du sollst hierbleiben, Witalik, du Penner! Hast wohl gedacht, du kannst dich aufspielen? Ohne dich haben wir nicht mal Internet!‘ Die haben sich gefreut.“ 

    Einen Monat später beschlossen die Manshos, es noch mal zu versuchen, diesmal über die Krym. Um ausreisen zu können, ließen sich auch Witalis Frau und die Tochter einen russischen Pass ausstellen. Am 8. Februar packte Witali, mittlerweile mit Bart und langen Haaren, seine Sachen, erzählte noch mal seine Geschichte – „wir müssen nach Simferopol ins Krankenhaus“ – und setzte sich ins Freiwilligenauto. Ein Rucksack, eine Tasche und ein Notebook. Diesmal fuhren sie stillschweigend los, niemand verabschiedete sie, die Nachbarn dachten, die Manshos wären zu Hause. Nach zehn Stunden Warten an der Grenze wurde Witali zum Verhör abgeholt. 

    Sie fuhren nach Simferopol, von dort nach Belarus und weiter nach Polen. 

    „Wieder den Bock geschossen, aber sowas von“, sagt der ehemalige Soldat. „Der Posten fragt mich: ‚Witali Wladimirowitsch?‘ – ‚Jawohl!‘ – ‚Haben Sie gedient?“ –‚Jawohl!‘ Ich denke, jetzt bin ich am Arsch. Und sage: ‚Militärkreis Turkestan, Einheit 701518, Obergefreiter.‘ Aber der Grenzer sagt nur: ‚Gute Reise‘, und gibt mir meinen Pass zurück.“ 

    Sie fuhren nach Simferopol, von dort mit dem Zug nach Belarus und weiter nach Polen. Die Freiwilligen hatten ihnen zuvor geraten, dass sie beim Grenzübergang in Brest kein einziges russisches Dokument dabeihaben dürften. Also zerrissen sie auf der Zugtoilette ihre russischen Pässe, Steuer- und Rentennachweise und spülten alles im Klo runter. Die ukrainischen Pässe hatte Irina am Tag zuvor im Garten ausgegraben. 

    So kam die Familie nach Europa: zum ersten Mal im Leben im Ausland, ohne jegliche Sprachkenntnisse. 

    Witali mit seiner Frau und Tochter. Foto von Iwan Pugatschjow
    Witali mit seiner Frau und Tochter. Foto von Iwan Pugatschjow

     

    Epilog: „Von einem Gefängnis ins andere“ 

    Ludwigshafen, Juni 2024 

    Von Polen aus machte sich die Familie auf den Weg nach Berlin: „Am Bahnhof lauter Araber, Türken, Kanaken. Ich denk, Scheiße, wo bin ich denn hier gelandet …“ 

    Witali lässt sich noch eine Weile xenophob über Migranten aus. Seit Februar hat die Familie Manshos drei Flüchtlingsunterkünfte gewechselt, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen. Alles mit Hilfe von Freiwilligen. 

    Wir treffen die Manshos im vierten Lager in Ludwigshafen. Witali ist abgemagert, die Spuren der Folter sind immer noch sichtbar. Die dunkelhaarige Irina hat einen schneeweißen Ansatz: In den zwei Jahren Okkupation ist sie ergraut. 

    Die dreiköpfige Familie ist nun in einem verlassenen Supermarkt untergebracht. Die Menschen leben hier in Metallkäfigen, voneinander mit schwarzer Plastikfolie abgeschirmt. Man hört jedes Geräusch. In Witalis Abteil stehen zwei Stockbetten, auf dem freien Bett liegt ein Kleiderhaufen: „Wir sind mit einer Reisetasche gekommen, das hier haben wir aus dem Müll gefischt.“ 

    Flüchtlingslager in Ludwigshafen, wo Witali und seine Familie untergebracht sind. Foto von Iwan Pugatschjow
    Flüchtlingslager in Ludwigshafen, wo Witali und seine Familie untergebracht sind. Foto von Iwan Pugatschjow

    Witali und die anderen 14 Ukrainer, die hier wohnen, sind von den Geflüchteten aus arabischen Ländern, die hier in der Mehrheit sind, und deren Gebeten zunehmend genervt: „Ich kann nachts nicht schlafen. Ich kann gar nicht so viel saufen, dass ich umkippe und das nicht mehr höre.“ Er beklagt sich auch über verdreckte Toiletten: „Sie benutzen kein Papier, genau wie die im Keller.“ 

    „Wieder lebe ich jetzt unter der Aufsicht solcher Leute, Allahu Akbar. Ich bin von einem Gefängnis ins andere gekommen, erlebe den zweiten Ramadan im Keller, nur jetzt mit Frau und Kind“, sagt Witali. 

    Eine richtige Wohnung müssten sie selbst suchen. Das Jobcenter übernimmt die Kosten (ca. 50 m² für drei Personen, maximal 560 Euro im Monat), aber ohne Sprachkenntnisse gestaltet sich die Suche schwer. Deutschkurse besuchen sie trotzdem nicht: „Du schläfst zwei Stunden pro Nacht, und dann sollst du noch Deutsch lernen“, beklagt eine Ukrainerin. 

    Wir gehen raus rauchen, und Witali erzählt zu den Klängen arabischer Musik, die aus einem Handy schallt: „Was das Schlimmste im Keller war? Wenn die gesagt haben, wir geben deine Frau und Tochter den Tschetschenen, deine Frau bekommt eine Granate und wird Terroristin, dein Kind töten wir. Verfluchte Scheiße. Dann sitzt du da, und sie kommen zwei, drei Tage lang nicht wieder. Weißt du, was da in deinem Kopf für ein Kino abgeht?“ 

    Als wir zum zweiten Mal rauchen gehen, kommen wir an zwei Ukrainern vorbei. Sie fragen Witali, wie die Wohnungssuche läuft: „Keine Chance. Ich geh zurück in die Ukraine, meine Frau und mein Kind sollen hierbleiben. Was soll ich sonst tun? Ich hab kein Geld, nichts, wovon ich leben könnte“, sagt Witali plötzlich. „Wenn ich keine Wohnung bekomme, wartet die 53. Brigade [der ukrainischen Streitkräfte] schon auf mich, die stehen in der Nähe von Awdijiwka. Ist das hier etwa besser?“ 

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    Error 505 – Teil 1/2

  • Error 505 – Teil 1/2

    Error 505 – Teil 1/2

    Ein ukrainischer Kriegsveteran hat russische Gefangenschaft, Folter, eine Freundschaft mit einem russischen Major und die Flucht nach Europa hinter sich. Jetzt sitzt er mit seiner Familie in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft und schimpft auf alle – und will trotzdem zurück.  

    Viele der seltener publizierten individuellen Kriegserfahrungen erscheinen auf den ersten Blick wenig heldenhaft. Oft widersprüchlich, anstößig, unbequem und für Menschen jenseits der Kampfzone schwer nachvollziehbar. Das bringt auch die in der Kriegsrealität alles bestimmende Gewalt mit sich.  

    Olessja Gerassimenko und Ilja Asar haben für Novaya Gazeta Europe eine solche Geschichte dokumentiert: Hier berichtet der ehemalige ukrainische Soldat Witali Manshos von seinem Leben – in teils derben Ausdrücken und mit brutalen Details. Dekoder veröffentlicht diese Geschichte in zwei Teilen auf Deutsch. 

    Hier ist Teil 1: Mit sowjetisch geprägtem Lebenslauf über missglückten Widerstand hinein in den russischen Folterkeller. 

    Fortsetzungsteil 2: Raus aus dem Folterkeller durch die russische Besatzung bis zur Flucht nach Deutschland – ab dem 23. Januar. 

    Witali Manshos. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow
    Witali Manshos. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow

    Als sie Witali Manshos die Tüte vom Kopf gezogen hatten, schossen sie ihm ins Knie und zwischen die Beine; dann schlugen sie die Kellertür hinter sich zu. Doch Witali Manshos blieb bei Bewusstsein. 

    „Ich schau an mir runter, das eine Hosenbein voller Blut, das andere auch. Ich bringe meine gefesselten Hände am Hintern vorbei nach vorn. Taste mich an der Wand lang. Ein Stromschlag. Oh, bljad’, Kabel! Ich reiße die Kabel raus, drehe die Aluminiumenden ab, die aus der Wand ragen. Ich binde das Bein oben ab, es blutet weiter. Ich binde weiter unten ab. Die Zehen werden langsam taub, aber es hört halbwegs auf zu bluten.“ Anstatt sich mit seinem abgebundenen Bein hinzulegen, humpelte Witali Manshos nun die Wand entlang; versuchte sich zu orientieren: Wie viele Sonnenaufgänge, wie viele Sonnenuntergänge. Es vergingen drei Tage.  

    Der 29. März 2022 war ein klarer Morgen in Molotschansk: Durch einen Spalt unter der Decke sah Witali gegen sechs Uhr das Morgenrot. Jemand schaute zur Tür herein: 

    „Noch nicht verreckt, du Hund?“ 

     

    Kapitel 1: „Papa, ich will eine Ratte, basta!“ 

    Wynohradne, 23. Februar 2022 

    Der 53-jährige Obergefreite Witali Manshos wurde im Frühjahr 2021 mit dem Status eines Vaterlandsverteidigers aus der ukrainischen Armee entlassen. Er musste eine Verletzung an der Wirbelsäule operieren lassen, bevor er ins Dorf Wynohradne in der Oblast Saporishshja fuhr, zu seiner Familie. 

    „Ich sagte mir, Schluss, ich pfeif auf diese Armee, keine zehn Pferde bringen mich da nochmal hin. Also fuhr ich nach Hause. Und dann, was war das Erste? Ich hab mich zugelötet und das Auto meiner Frau zu Schrott gefahren. Mehr ist mir nicht geblieben. Ich hatte nichts, keine Kopeke“, erzählt Manshos. 

    Etwas später kam dann Geld. Für die 32.000 Hrywnja, die ihm für nicht genommenen Urlaub gezahlt wurden, kaufte er seiner Tochter weiße Sneakers und seiner Frau Stiefel. Für den Rest schaffte er vier Ziegen an. Die brachte er zu den Puten, Enten, Gänsen und Hühnern, die es bereits auf dem Hof gab. Bis zum Winter kaufte er mit Geld von seinem Bruder und seiner Invaliden-Entschädigung noch ein Nachbarhaus. 

    „Es hat acht Zimmer, vier Öfen auf 52 Quadratmeter. Ich hab das alles eingerissen und drei Zimmer daraus gemacht, einen Ofen hab ich als Kamin gelassen“, erinnert sich Witalij. 

    „Unsere Tochter wollte unbedingt ein eigenes Zimmer, wir wollten ihr die Zimmerdecke mit Sternen schmücken“, seufzt Witalis Frau Irina. 

    Am 23. Februar 2022 fordert die Tochter von Witali: „Papa, ich will eine Ratte, basta!“ 

    Also fuhren Witali und Irina zum Markt nach Tokmak. Eine Ratte fanden sie nicht, kauften aber ein Chinchilla und ein Paar Liebesvögel mit roten Köpfen gleich dazu. 

    Abends mussten sie nochmal los, um Gitter für den Käfig zu besorgen. 

    Im Süden der Karte befinden sich Tokmak und Molotschansk, das Dorf Wynohradne liegt etwas nordwestlich davon. Seit März 2022 sind diese Orte von der russischen Armee besetzt. Ebenso Enerhodar im Westen der Karte. Die Gebietshauptstadt Saporishshja (hier im Norden) ist nicht von Russland besetzt, aber häufiges Ziel russischer Raketen-, Drohnen- und Gleitbombenangriffe. © Deep State

    Raketen flogen, und ich betrank mich.

    „Ich schnitt die Gitter zurecht und bastelte den Käfig. Und am Morgen ging es schon los“, erzählt Witali. „Raketen flogen, ich brachte die Familie in den Keller, und betrank mich. Ich habe 500 Liter Wein da unten.“ 

    Die Männer aus Wynohradne fuhren zusammen zum Rekrutierungsamt in Tokmak – um Waffen zu holen.  

    „Und ich auch, besoffen wie ich war, rein ins Auto und nichts wie hin“, sagt Witali. „Auf in den Kampf, verdammt! Also, wir kommen an, der Kommandeur kommt raus – Oberst Witer, Veteran der Antiterroroperation (ATO), verdammt … Wir fordern Waffen: ‚Wir wollen kämpfen‘, und der so: ‚Habt ihr ‘ne Einberufung? Nein? Dann zieht Leine!‘ Der hat uns einfach weggeschickt!“ 

    Laut dem Datenportal Myrotworets und ukrainischen Medienberichten lief jener Oberst Wadim Witer eine Woche später zu den russischen Truppen über und steckte Routen für deren Kolonnen ab. 

    Wieder zu Hause rief Witali seinen älteren Bruder Eduard an, der als Offizier Soldaten der ukrainischen Streitkräfte im Donbas kommandierte. Der sagte: „Witacha, du bist kriegsversehrt, das ist nichts für dich, bleib zu Hause.“  

    Heute fühle sich sein Bruder schuldig, meint Witali: „Na ja, weil er mir sagte, ich soll hierbleiben. Die Jungs hatten mich ja damals angerufen: ‚Witacha, es gibt ‘nen Korridor. Zehn Minuten über Orichiw, mach dich bereit …‘ Aber wissen Sie, das war alles so irreal, was sollte das, dieser Überfall auf uns?“ 

     

    Kapitel 2: „Die Leute hatten den Staat satt“ 

    Enerhodar, 2014 

    Witali Manshos wurde in Saporishshja geboren. Den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte er als Wehrpflichtiger aber in Ferghana (er sagt, dort seien den Soldaten grüne Pionierspaten ausgegeben worden, mit denen sie „aufständische Usbeken erschlagen“ sollten). Witali lebte viele Jahre in Russland. Er arbeitete am Bau eines Wasserkraftwerks an der Angara, löschte Ölbrände in Urengoi, Tjumen und Salechard, fuhr Holztransporte in der Region Krasnojarsk. An die 1600-Kilometer-Trasse durch die Taiga erinnert er sich mit einem Seufzen: 

    „Da gibt’s Orte … Ich liebe diese Strecke bis heute. Nachts wachte ich mit der Frage auf: ‚Warum kann ich nicht dort sein?!‘ Jetzt aber nicht mehr, ich wache nicht mehr auf. Jetzt kann ich überhaupt nicht mehr schlafen.“ 

    1996 machte Manshos mit einem Freund in Moskau eine Firma auf. Sie bauten Stahltüren aus Joschkar-Ola ein: „Nach den Terroranschlägen, als der zweite Tschetschenienkrieg begann, gab’s ‘ne große Nachfrage nach gepanzerten Eisentüren.“ 

    2002 zog er zu seinem älteren Bruder Eduard, nach Enerhodar im Gebiet Saporishshja. 

    „Wenn ich frei hatte, fuhr ich zum Angeln ans Asowsche Meer. Wir haben Grundeln gefangen, die wir in der Stadt verkauften. Aber keiner kaufte sie, die Grundeln wurden schlecht. Ich schenkte sie meiner Freundin, die ich damals gerade erst kennengelernt hatte. Sie war 14 Jahre jünger als ich, und ich beschloss, ihr Mann zu werden“, erzählt Witali. 

    Natürlich war ich gegen die Annexion der Krym. Was sonst? Das ist mein Territorium.

    Dann ließen sich Witali und Irina in Enerhodar nieder. 

    „Was ich über unseren Putsch denke? 1991 kam der Sampolit  zu uns, zerriss das Gorbatschow-Porträt und sagte, der sei ein Vaterlandsverräter und ein Mistvieh. Fünf Tage später hängte er das Porträt wieder auf. Das war der ganze Augustputsch.“ 

    Zum Euromaidan meint Witali: „2014 hatten die Menschen es einfach satt, sie wollten nicht mehr in so einem Staat leben.“ Er war damals Systemadministrator beim Sender Orion Media in Enerhodar. Witali und seine Kollegen sammelten Geld für Zelte und Zigaretten für die Demonstranten; er war aber nicht auf dem Maidan: „Ich war mit allem zufrieden – ich hatte einen stabilen Job und ein normales Leben.“ 

    Die Annexion der Krym tat ihm weh: „Natürlich war ich dagegen. Was sonst? Das ist mein Territorium. Als sie die Krym abzwackten und all das andere, haben wir von jedem Lohn fünf Hrywnja per SMS an die Armee gespendet. “ 

    2015 begriff Witali, dass das „ein heftiger Krieg“ wird. Er brachte seine Frau und das Kind nach Wynohradne (rund 100 Kilometer von Enerhodar). Dort kaufte er ein Haus, anderthalb Hektar Land und legte zusammen mit seinem Bruder einen Garten an. 

    „Mein Bruder ist zwar Soldat, hat aber sehr viel für Gartenarbeit übrig. Er blüht einfach auf dabei. Er hat 300 Apfelbäume gepflanzt, die Äpfel wogen 450 Gramm das Stück. Weinstöcke hat er gepflanzt, Mandelbäume. Und ich wollte leben. Ich wollte einfach leben“, klagt Witali. „Jetzt ist das alles Russische Föderation, verdammt.“ 

     

    Kapitel 3: „Fuck you, Moskali!“ 

    Wynohradne, 26. März 2022 

    In den ersten Tagen des Einmarschs „benahmen sich die Männer wie kleine Kinder, stellten sich vor die Panzer, fuhren in den Wald und gaben sich Verfolgungsjagden“, erinnert sich Irina Manshos. Sie erzählt, wie Witali sich einen 20-Liter-Kanister griff und auf die Straße lief: Er wollte eine Kolonne russischer Panzer anzünden, die an seinem Haus vorbei Richtung Bohdaniwka unterwegs waren. Irina erzählt, wie sie ihn ins Haus zurückzerrte und schrie: „Die überfahren dich einfach, die kannst du nicht allein aufhalten.“ 

    Auch nach dem Einmarsch blieb Witali im Dorf. Am hinteren Scheibenwischer seines Hyundai Santa Fe hatte er eine große ukrainische Flagge befestigt: „Sie flatterte hinten am Auto, und ich saß in Armeekleidung am Steuer.“ Andere Kleidung trug er seiner Frau zufolge gar nicht mehr; er hatte von seiner Dienstzeit noch Hosen, Unterhosen und Socken mit ukrainischen Armeesymbolen. „Leute sagten mir: ‚Du bist vollkommen übergeschnappt!‘, aber ich fuhr weiter, mir doch scheißegal, ich war besoffen. Und dann kam ich mit einigen ATO-Jungs nach Molotschansk und kapiere auf einmal, dass das schon Russland ist. Bei der Brücke sitzt er schon, der Wichser.“ 

    „Ein Russe?“, fragen wir nach. 

    „Ja, ein Maschinengewehrschütze.“ 

    Ich schnappte mir ‘ne Jagdflinte und wollte den MG-Schützen umlegen. 

    „Der wievielte Tag war das?“ 

    „Keine Ahnung, ich war schon dunkelblau. Vielleicht schon der dritte oder sogar vierte. Ich war schon komplett hinüber, verstehste? Nichts mehr gecheckt, gar nichts. Das Rekrutierungsamt hat uns verarscht. 

    „Nicht die beste Zeit zum Trinken.“ 

    „Was blieb denn sonst?“ 

    „Alles Mögliche: sich retten, die Familie in Sicherheit bringen …“ 

    „Mit einem Liter Wein intus bis du nicht mehr du selbst. Und es war mir scheißegal. Ich schnappte mir ‘ne Jagdflinte und wollte den MG-Schützen umlegen. Bloß gut, dass die Jungs sie mir aus der Hand geschlagen haben. Der Schütze beachtete uns nicht mal; aber hinter ihm stand eine ganze Einheit. Die Jungs sagten: ‚Drück aufs Gas, Witacha‘. “ 

    Als sie in sicherer Entfernung waren, nahm Manshos die Flagge vom Auto ab. Aber auf dem Weg zündete er noch mit einem Molotow-Cocktail einen liegengebliebenen Schützenpanzer an: „Den haben sie voll ausgestattet zurückgelassen, weil irgendwas kaputt war. Ich hab das alles aufgenommen und das Video auf Facebook gestellt. Hab ihnen beide Mittelfinger gezeigt, die sie mir später abschneiden wollten: ‚Fuck you, Moskali!‘“ 

    „Allerdings haben mir die Tschetschenen im Keller dann auch gesagt, dass sie die Moskali selbst hassen, weil das alles Schwuchteln sind. Und der Panzer, den ich abgefackelt habe, war längst abgeschrieben.“ 

    Zunächst seien die Russen nicht nach Wynohradne gekommen, sagt Witali: „Das interessierte die ‘nen Scheißdreck“, sie fuhren nur immer wieder die Strecke Moskau–Simferopol. 

    Ich hab alles gefilmt, die Koordinaten durchgegeben: die Standorte und ihre beschissenen Waffendepots. 

    „Sie zogen einfach kolonnenweise durch, mit 200, 300 … Ich hab das alles gefilmt, die Koordinaten durchgegeben, fuhr umher, versuchte ihre Stellungen zu finden. Wo die Geräte für die elektronische Kampfführung stehen. Hab die Standorte abgefilmt und ihre beschissenen Waffendepots“, sagt er. 

    Nach rund einem Monat, am 26. März, saß Witali, der gewöhnlich früh aufstand, auf einer Bank vorm Haus und rauchte. Plötzlich sah er, wie die Zu- und Ausfahrt aus dem Dorf mit Schützenpanzern blockiert wurde und Soldaten von Haus zu Haus gingen.  

    Witali rief seinen Bruder an: „Die Russen gehen durchs Dorf … Soll ich abhauen? –  „Nein, bleib zu Hause, du bist Invalide, dein Krieg ist zu Ende.“ 

    „Ein gepanzerter Wagen schlich hinter den Soldaten her, zu jedem durchsuchten Haus“, erinnert sich Witali.  

    Er rief seinen Bruder nochmal an: „Sie checken schon die Häuser, brechen die Schlösser und Türen auf …“ – „Dann bist du am Arsch.“ 

    „An dem Tag hat mich die Scheiße echt voll getroffen“, betont Witali. 

    Witali Manshos. Foto von Iwan Pugatschow
    Witali Manshos. Foto von Iwan Pugatschow

    Kapitel 4: Borja und das Achmat-Dreieck 

    Keller in Molotschansk, 26. März 2022 

    Am 26. März wurde Irina Manshos um sechs Uhr früh vom Dröhnen der Awtosak geweckt. Sie versteckte Witalis häusliche Armeeklamotten und seine Auszeichnung von Poroschenko, aber die Tasche mit den Armeedokumenten und der Pensionsbescheinigung übersah sie. Als die Soldaten in den Hof kamen, hörte Irina vor Schreck nicht, was sie sagten. Sie seien etwa zu fünft gewesen, erinnert sie sich, „bärtige Kaukasier, mit Akzent“: 

    Witali musste sich ausziehen, die Männer durchsuchten die Schränke. Irina hat noch heute vor Augen, wie sie die saubere Bettwäsche mit dem Pistolenlauf anhoben und auf den Boden warfen. Sascha, die Tochter, lag im Zimmer auf dem Sofa. In der Schublade darunter waren ein Gummiknüppel von der Polizei und ein Luftdruckgewehr. Irina sagt, das hätten sie mal von einem Bekannten bekommen, um Wildenten aus dem Gemüsegarten zu verscheuchen. Sascha weigerte sich aufzustehen. 

    Plötzlich entdeckte Irina, gleichzeitig mit den Soldaten, wie die khakifarbene Tasche aus der Kommode herausragte. „Da waren alle Bescheinigungen: Teilnahme an Kriegshandlungen, Rente …“ Das hat gereicht: „Du kommst mit.“ Die Tochter filmte die Festnahme mit dem Handy. Die Soldaten schrien sie an, zielten auf sie. Während Irina ihre Tochter beruhigte, wurde Witali abgeführt. 

    „Wohin?“, schrie Irina und rannte ihnen nach. 

    „Wir lassen ihn wieder gehen, keine Sorge, wir müssen was klären und lassen ihn dann frei.“ 

    Wenn du genau weißt, die bringen dich um, dann bist du ganz entspannt.

    Mit einem Sack über dem Kopf wurde der ehemalige Kämpfer der ukrainischen Streitkräfte in den Gefangenentransporter gesteckt. Witali erinnert sich, dass er dort drinnen kaum den Boden berührte: Er wurde so sehr verprügelt, dass er von Wand zu Wand flog, von einem Soldaten zum anderen. Sie brachten ihn zu einem Bach, gaben ihm eine Schaufel und sagten, er soll sich sein Grab schaufeln. 

    „Sie nannten mich Abschaum und Bastard. Während sie mich schlugen, sagten sie, dass sie salo [ukrainischer Speck – dek.] aus mir machen. Salo aus einem Chochol.“ 

    „Und Sie haben gegraben?“ 

    „Nee, ich hab gesagt: Wozu graben? Ist doch ein Fluss da, ich füttere lieber die Krebse. Verstehst du, wenn du genau weißt, die bringen dich um, dann bist du ganz entspannt. Außerdem hatten die mich so verdroschen … Ich war blutüberströmt, da macht noch mehr Schmerz keinen Unterschied. Sie schlugen mir die Zähne aus … Ich konnte nichts machen.“ 

    „Erinnern Sie sich an Namen?“ 

    „Sie sagten, sie seien von der OMON in Dagestan. Ich war allein, ohne Zeugen. Wer den Befehl gab, mich zu schnappen und fertig zu machen, weiß ich nicht.“ 

    Witali wurde nicht umgebracht. Stattdessen brachten sie ihn ins Gebäude der Stadtverwaltung von Molotschansk. Zogen ihm den Sack vom Kopf, aber die Handschellen blieben dran. 

    „Ich steh im Korridor, alles fließt aus mir raus: Rotz, Blut, Sabber, Pisse. Wieder musste ich mich ausziehen und durchsuchen lassen.“ 

    Er wurde in den Keller gebracht. Sein Handy rutschte ihm aus der Unterhose. Darin fanden sie ein Foto seines Bruders mit Scharfschützengewehr in der Hand. 

    „Das volle Programm, ich hab versucht, mich zu schützen, mal den Kopf, mal die Beine, die Arme, wo ich eben gerade Halt fand.“ 

    „Hatten Sie denn keinen Pin-Code am Handy?“ 

    „Hatte ich nicht, wozu auch. Die haben mein ganzes Geld vom Konto abgebucht. Hätte nichts genützt, wenn’s gesperrt gewesen wäre.“ 

    ‚Du bist ATO-ler? Dann lernst du jetzt mal meinen Borja kennen.‘ Borja war eine Pistole. 

    ZSU-Socken, ungesichertes Handy, Sie waren eindeutig nicht auf eine Verhaftung vorbereitet.“ 

    „Auf was bitte? Ich hatte keine Angst, hab geglaubt, unsere Leute lassen das nicht zu. Uns kann man nicht aufhalten, uns kann man nicht verraten. Ich war doch in Tschonhar, in Armjansk, dort war alles vermint, al-les vol-ler Mi-nen. Da brauchst du nur eine Selbstfahrlafette hinzustellen, und keiner kommt mehr durch, durch diese Hölle. Alle zehn Minuten – Kawumm! Aber sie haben uns einfach hängenlassen.“ 

    „Sie haben doch selbst gesagt, dass es auch viele prorussische Leute gab.“ 

    „Na ja, ich konnte das trotzdem nicht so recht glauben. Ich war schon zu Hause, raus aus der Armee. Ich hab diesen Wichsern auch gesagt: Ich kämpfe nicht gegen euch. Aber dann haben sie auf meinem Handy den brennenden Schützenpanzer auf Facebook gefunden. Und was ich auf WhatsApp rumgeschickt habe: ‚Hängt euch auf, ihr Russenwichser‘.“ 

    „Sie waren wieder zu fünft. Wieder Sack übern Kopf, und dann volles Rohr: Prügel, Prügel, Prügel.“ Dann kam der Kommandeur dieser OMON aus Machatschkala und sagte: ‚Du bist ATO-ler? Dann lernst du jetzt mal meinen Borja kennen.‘ Und er holte Borja.“ 

    Borja war eine Pistole. Der Kommandeur schlug Witali damit ins Gesicht, sodass er hinfiel. Dann begann er zu schießen: „Er sagte, das heißt Achmat-Dreieck: beide Knie und Pimmel. Ich hatte die Hände am Rücken, konnte nichts machen.“ 

    „Er schoss mir nacheinander in die Knie, zielte mir zwischen die Beine. Aber ich wich aus. Er traf mich am Oberschenkel. Dann wummerte mir ein Rucksack an den Schädel. Einer stach mir mit einem Messer in die Arme.“ 

    Witali streicht sich über die Arme. Er hat Dutzende kleine Narben, von den Handflächen bis zu den Ellenbogen. Am Oberschenkel haben die Kugeln Spuren hinterlassen. 

     

    Kapitel 5: „Da bin ich mal einem Guten begegnet …“ 

    Keller in Molotschansk, 10. April 2022 

    Im März 2022 zog vor Witalis innerem Auge seine gesamte Dienstzeit vorüber. Was ihn rettete, war, dass die Pistole Borja keine tödlichen Geschosse hatte und es im Keller kalt war. Und, dass er selbst halb nackt war (Den Verletzungen nach zu urteilen war es eine Pistole vom Typ Osa, die Gummigeschosse hatten einen Metallkern – Novaya). 

    „Anscheinend hat mein Körper jede Menge Adrenalin ausgestoßen. Ich kam zu mir, guckte: Meine Schuhe sind voller Blut. Ich brachte meine gefesselten Hände am Hintern vorbei nach vorne.“ 

    Drei Tage lang blieb er auf den Beinen, lief im Kellerraum umher. Am Morgen kam der Wächter und wunderte sich, dass Witali noch lebt. 

    „Ich wundere mich selbst, dass ich nicht verreckt bin … Dann wieder Prügel. Und Folter mit Strom. Mit Tapik (Feldtelefon der Armee, das auch zur Folter mit Stromstößen eingesetzt wird – dek), das ist echt scheiße, da musst du zeigen, dass es dich zerreißt, musst dich winden und schreien. Dann drehen sie die Spannung nicht hoch und du überlebst.“ 

    Die einen droschen los, während sich die anderen unterhielten, dann droschen die anderen. 

    „Sie fragten, wen ich in der Stadt vom Militär kenne … Ich sagte, ich bin nicht von hier, ich war in Enerhodar beim Militär. In Molotschansk kenn ich keinen, was wollt ihr von mir? Dann fragten sie nach Geschäftsleuten. Einer der Russen sagte: ‚Zu mir haben sie schon Bauern in den Keller gebracht. Einer wurde einen ganzen Tag verprügelt. Seine Frau brachte 2000 Bucks, und er kam frei. Zwei Tage später wurde er wieder gebracht, wieder verprügelt. Seine Frau brachte nochmal 2000, und er wurde freigelassen.“ 

    Sie hätten mal sehen sollen, wie die teilen …

    Witali hatte da schon gelernt, woran er den Morgen erkannte, weil dann nämlich die Leute „zur Bearbeitung gebracht werden“: „Wenn sie zurückkamen, konnte ich die einzelnen Leute an den Schreien erkennen. Nach dem Mittag fing das an.“ 

    Am 10. April 2022 waren in Molotschansk Explosionen zu hören. Witali erinnert sich, wie alle, die ihn vorher geschlagen hatten, in den Keller gelaufen kamen und sich dort bei ihm versteckten. 

    Sie fingen an: „Witacha, du kennst doch bestimmt diesen Punja aus deinem Dorf?“ – „Kenn ich nicht, wer ist das? (Ich kannte ihn natürlich, aber warum sollte ich …)“ – „Der soll vier Autos haben, Geld ohne Ende, 150 Stück Hornvieh und 200 Schweine. Wir teilen.“ 

    „Sie hätten mal sehen sollen, wie die teilen …“, schnaubt Witali. „OMON-Leute gegen Infanteristen … Sie schrien: Wir haben den zuerst geschnappt. Die anderen: Nein, wir waren die Ersten … Und Punja saß nebenan und brüllte, dass alle ATO-Veteranen Junkies und Mörder sind und er sie hasst … Dann kam der Bürgermeister, der schon vor 2022 Bürgermeister von Molotschansk gewesen war, und nahm Punja mit: Hat ihn gerettet.“ 

    Unter denen, die sich vor dem Beschuss im Keller versteckten, war auch ein Soldat Namens Georgi, Rufname „505“. 

    „Da bin ich mal einem Guten begegnet. Während die anderen über Punjas Besitz stritten, saßen wir nebeneinander und redeten“, erzählt Witali.  

    Georgi fragte: „Was bist du für einer?“ – „ATO-ler.“ – „Dann bist du am Arsch“, schlussfolgerte 505, brach das Gespräch aber nicht ab. 

    Natürlich kooperiere ich zum Wohle meiner Heimat. Der Ukraine.

    Sie kamen drauf, dass Witalis Bruder, der für die ukrainischen Streitkräfte kämpfte, in der gleichen Saratower Militärschule ausgebildet worden war wie Georgi. Sie redeten über die Armee in den 1990ern. Georgi reagierte schockiert darauf, dass man Witali in die Beine geschossen und ihn mit einem Messer malträtiert hatte. 

    „Er brachte mir einen Verbandskasten russischer Produktion. Ich nahm Elastikbinden und wickelte sie mir um die Beine.“ 

    „Danke, Major.“ – „Woher kennst du dich mit Rängen aus?“ 505 hatte keine Abzeichen.  – „Ich spür das.“ 

    Dann erzählte Georgi, dass er Stabsleiter ist, und Witali rezitierte das Gedicht „Wassili Tjorkin“ von Alexander Twardowski

    Als eine halbe Stunde später alle weg waren, musste Witali hoch in das Zimmer von 505 im ersten Stock: „Der Stabsleiter hat gesagt, wir müssen ein Video aufnehmen.“ 

    „‚Ich, Manshos Witali Wladimirowitsch, verpflichte mich, zum Wohle meiner Heimat mit der russischen Armee zu kooperieren.‘ Das habe ich aufs Handy aufgesprochen. Na und? Natürlich kooperiere ich zum Wohle meiner Heimat. Der Ukraine.“ 

     

    Fortsetzung folgt … am 23. Januar 2025. 

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  • Operation „Spinnennetz“

    Operation „Spinnennetz“

    Ein handelsübliches Drohnen-Schutznetz kostet fünf bis zehn Euro pro Quadratmeter. Die ukrainische Armee braucht aber ständig neue solche Abwehrnetze gegen russische Drohnenangriffe. Überall an der Front, über tausende Quadratkilometer. Freiwillige Helfer der ukrainischen Armee haben darum eine kostengünstige Alternative gefunden und ausprobiert. 

    Etwa 500 Tonnen ausgemusterte Fischernetze von niederländischen Fischereibetrieben haben sie schon zu Fronteinheiten gebracht. Die Soldaten schützen damit sich selbst und ihre Technik. Gleichzeitig verändern solche Schutznetze auch den Drohnenkampf an sich.  

    Wie genau alte Fischernetze ins Kampfgebiet kommen und dort eingesetzt werden, hat Frontliner-Reporter Artem Derkatschow in einer Fotoreportage dokumentiert.   

    Soldaten und Helfer entladen nachts im Gebiet Charkiw Lkw mit Fischernetzen für die Front. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner
    Soldaten und Helfer entladen nachts im Gebiet Charkiw Lkw mit Fischernetzen für die Front. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

    In den Lagerhallen europäischer Häfen warten tausende Tonnen ausrangierter Fischernetze auf ihren Einsatz. Ukrainische Soldaten können die gut da gebrauchen, wo im Kampfgebiet Drohnen eingesetzt werden und der Schutz davor eine der größten Herausforderungen ist.  

    Ukrainische Armeehelfer starteten darum ihre Logistik-Operation Pawtunnja (Spinnennetz). 

    Ein Fischernetz wird auf einem ukrainischen Militär-Lkw befestigt. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner
    Ein Fischernetz wird auf einem ukrainischen Militär-Lkw befestigt. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

    Eine Kolonne aus zehn Lkw rollt in Richtung Kyjiw. In jedem befinden sich etwa 15 Tonnen Fischernetze. Diese Netze sind grob genug, um an der Front FPV-Drohnen abzufangen, mit denen die russische Armee häufig ukrainische Stellungen angreift. 

    Eine Kolonne aus zehn Lkw auf ihrem mehr als 2000 Kilometer weiten Weg aus den Niederlanden nach Kyjiw. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner
    Eine Kolonne aus zehn Lkw auf ihrem mehr als 2000 Kilometer weiten Weg aus den Niederlanden nach Kyjiw. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

    Die ukrainischen Militärhelfer rund um die Stiftung Volonter haben die Netze aus den Niederlanden organisiert, wo in zahlreichen Hafenanlagen noch etwa 4000 Tonnen Netze lagern. Denen jagten aber auch schon russische Händler hinterher, berichten die Freiwilligen bei einem Zwischenstopp zur Transportkontrolle in Kyjiw. 

    Grobe Fischernetze aus dem Lager einer Fischfabrik in den Niederlanden, Foto © Artem Derkatschow/Frontliner
    Grobe Fischernetze aus dem Lager einer Fischfabrik in den Niederlanden, Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

    „Dieses Netz hier wollten Chinesen kaufen“, sagt Ihor Bondartschuk von Volonter. „Aber wir konnten unsere Partner in den Niederlanden davon zu überzeugen, sie uns kostenfrei zu geben. Wir müssen also nur Geld für die Logistik ausgeben.“ 

    Ausgediente niederländische Fischernetze erreichen die Ukraine. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner
    Ausgediente niederländische Fischernetze erreichen die Ukraine. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

    Die Netze wurden früher von Fischereibetrieben zum Fischen verwendet. Aber mit der Zeit hat sich das Material abgenutzt. Dann kamen sie ins Lager, um später recycelt oder entsorgt zu werden.  

    Bis die Militärhelfer sie entdeckten: Mit ganz ähnlichen Netzen bedecken die Soldaten ihre Schützengräben und Militärtechnik, um die Stellungen zu maskieren und gleichzeitig gegen Einschläge von Lancet-Kampfdrohnen und FPV-Drohnen zu schützen. Dank der festen Struktur fängt das Netz die Drohnen oder abgeworfene Geschosse ab und wirft sie zurück, bevor sie dann in einigermaßen sicherem Abstand vom eigentlichen Ziel explodieren. Der Angreifer muss dann eine neue Attacke starten. 

    Ukrainische Soldaten holen die gelieferten Fischernetze aus einem frontnahen Dorf in der Region Charkiw. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner
    Ukrainische Soldaten holen die gelieferten Fischernetze aus einem frontnahen Dorf in der Region Charkiw. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

    Wenn so beispielsweise eine gegnerische Drohne mit Hohlladungsmunition ihr eigentliches Ziel verfehlt und nicht mehr direkt in Militärtechnik einschlägt, verursacht sie nur geringe Schäden. Oder die Drohne verfängt sich im Netz und explodiert dort. 

    Ein Militärtruck mit Anti-Drohnen-Netz, Foto © Artem Derkatschow/Frontliner
    Ein Militärtruck mit Anti-Drohnen-Netz, Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

    „Am Anfang haben wir eine Testcharge geliefert“, berichtet der Leiter der Hilfsorganisation, Artem Kuljubajew. „Das war gar keine große Menge Netze. Sie erwiesen sich als tatsächlich effektiv und so nahmen die Anfragen verschiedener Einheiten, mit denen wir zusammenarbeiten, beträchtlich zu. Wir wollen unseren Jungs entlang der gesamten Frontlinie helfen: in den Regionen Saporishshja, Cherson, Donezk und Charkiw. Unsere Ressourcen sind unbezahlbar – die menschlichen wie die technischen: Panzer und gepanzerte Fahrzeuge sind, wenn sie mit solchen Netzen abgedeckt sind, kaum mehr erreichbar für russische Angriffe.“ 

    Helfer und Soldaten entladen den Fischernetz-Transport nachts in einem frontnahen Dorf in der Region Charkiw. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner
    Helfer und Soldaten entladen den Fischernetz-Transport nachts in einem frontnahen Dorf in der Region Charkiw. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

    Nach einem Zwischencheck in Kyjiw macht sich ein Teil der neuen Lieferung auf den Weg in die Oblast Charkiw. Dort kommt sie spät in der Nacht an. Das Ausladen muss schnell gehen, denn hier in Grenznähe greifen die Russen praktisch täglich auch mit Gleitbomben an. Und sicher beobachten ihre Aufklärungsdrohnen Orlan alles, was hier passiert.  

     Mit Rotlicht versucht man in Frontnähe möglichst nicht die Aufmerksamkeit der feindlichen Truppen auf sich zu ziehen. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner
    Mit Rotlicht versucht man in Frontnähe möglichst nicht die Aufmerksamkeit der feindlichen Truppen auf sich zu ziehen. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

    Am nächsten Morgen befestigt einer der Soldaten, Rufname Wilhelm, direkt ein frisch geliefertes Netz an seinem Militärtruck. „Heute ist das Gras noch grün, morgen schon gelb. Welche Farbe die Netze haben, ist also nicht so wichtig“, erklärt der Soldat „Wilhelm“. „Das Wichtigste ist, dass uns diese verdammten Drohnen nicht gleich beim ersten Anflug treffen. Das ist jetzt ein Krieg der Artillerie und der Drohnen. Unsere Technik können wir jetzt gleich mit den Netzen schützen, aber unsere vordersten Stellungen leider nicht. Die Russen machen gerade viel Druck in Richtung Charkiw – haufenweise Bomben und Drohnen und Raketen. Da schaffst du es kaum, dich einzugraben, geschweige denn, Netze drüber zu ziehen.“ 

    Soldat „Wilhelm“ schützt seinen Militärtruck mit einem Fischernetz aus den Niederlanden. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner
    Soldat „Wilhelm“ schützt seinen Militärtruck mit einem Fischernetz aus den Niederlanden. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

    Die Verteidigungsstellungen abzusichern, ist unter den aktuellen Kampfbedingungen keine leichte Aufgabe. Das braucht nicht nur Material, sondern auch Zeit. Jeder zusätzliche Schutz bedarf gründlicher Planung. Die Soldaten erklären, dass man während des Anbringens von Fischer- oder speziellen Anti-Drohnen-Netzen mehrere Faktoren beachten muss: So darf das Netz nicht die Bewegungsfreiheit der Soldaten in den Schützengräben beeinträchtigen. Es darf auch nicht beim Schießen und Granatenwerfen stören.

    Ein Drohnenschutznetz wird befestigt, Foto © Artem Derkatschow/Frontliner
    Ein Drohnenschutznetz wird befestigt, Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

    Auch die Russen nutzen ähnliche Schutzvorrichtungen, erzählt ein Soldat mit Rufnamen „Dessjaty“ (dt.: der Zehnte). Bei einem der letzten Kampfflüge entdeckte der Drohnenpilot bei seinem Monitoring per Drohne ganze „Volleyballfelder“, wie er es nennt, Felder voller Netze. 

    „Da sind wir mal ziemlich weit geflogen, haben den Feind bei der Rotation der Truppen und nachrückenden Technik angegriffen“, so „Dessjaty“. „Eine Weile nach ein paar erfolgreichen Attacken haben wir entdeckt, dass sie dort Netze über ein ganzes Wäldchen ziehen. Wir nennen das jetzt Volleyballfeld. Ohne Witz – das ist über zehn Kilometer lang. Und ich sage euch, das ist kein Quatsch, das stört uns jetzt wirklich bei der Arbeit.“ 

    Ein Soldat bereitet eine Drohne für den Fronteinsatz vor. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner
    Ein Soldat bereitet eine Drohne für den Fronteinsatz vor. Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

    Verteidigungsanlagen wie Anti-Drohnen-Netze zu beschädigen, ist indes schon ein eigener Teil des taktischen Drohneneinsatzes geworden. Der Pilot muss immer häufiger einen doppelten Angriff planen. Erst wenn die Verteidigung durchbrochen ist, können die eigentlichen Ziele ungehindert angegriffen werden.  

    Darum setzen sowohl die ukrainischen als auch die russischen Drohnenpiloten mittlerweile spezielle Drohnen mit Brandvorrichtungen, so genannte „Feuerzeugdrohnen“, ein. Ihre Aufgabe ist es, Netze oder andere Schutzvorkehrungen in Brand zu setzen. 

    „Wir hängen dann einen Brandsatz dran und brennen das Netz ab“, erklärt Drohnenpilot „Dessjaty“. „Ich kann auch versuchen, es zu umfliegen, oder ich zerstöre erst durch einen Einschlag das Netz und mache dann erst den eigentlichen Angriff.“ 

    Grobe Fischernetze aus dem Lager eines Fischereibetriebs in den Niederlanden, Foto © Artem Derkatschow/Frontliner
    Grobe Fischernetze aus dem Lager eines Fischereibetriebs in den Niederlanden, Foto © Artem Derkatschow/Frontliner

    Bislang haben die Helfer nach eigenen Angaben etwa 500 Tonnen Fischernetze in die Ukraine gebracht. Aber das soll erst der Anfang sein: Geplant würden schon die nächsten noch größeren Transporte von noch mindestens 1000 Tonnen. 

    „Pro Tag gibt es mittlerweile bis zu zehn Angriffe hintereinander, den Russen gehen die Drohnen nicht aus. Und die Störsender funktionieren nicht immer. Wer solche Netze hat, aber nicht braucht – bringt die bitte her!“, bittet der Soldat Serhii Plotnyzky. „Was unsere Stellungen schützen kann, ist nie überflüssig. Mag es auch kein Allheilmittel gegen russische Drohnen sein, aber so manche FPV-Drohne hat sich schon in solchen Netzen verheddert.“

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    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Oksana Nevmerzhitska

    In den Treppenaufgang einer Ruine hat jemand die Parole „Die Ukraine über alles“ gesprüht. Eine Explosion hat die Wand des Hauses rechts weggerissen. Die Fotografin gab der Serie den Titel: „Sie werden dort keinen Tee mehr trinken“ / Fotos © Oksana Nevmerzhitska 

    dekoder: Man traut sich fast nicht, das zu sagen, aber das sind schöne Bilder. Sie zeigen Krieg und Zerstörung. Gleichzeitig sind sie farbenfroh und haben fast eine friedliche Ausstrahlung: Man fühlt sich eingeladen in diese Wohnungen, der Himmel strahlt blau. Wie sind diese Aufnahmen entstanden? 

    Oksana Nevmerzhitska: Ich hatte eigentlich gar nicht geplant, vom Krieg zerstörte Gebäude zu fotografieren. Ich bin keine Kriegsfotografin und arbeite nicht dokumentarisch. Außerdem sind schon so viele Bilder von Zerstörung und Ruinen aus diesem Krieg um die Welt gegangen. Mir schien, dass zu diesem Thema bereits alles gezeigt wurde und alles gesagt ist. Aber dieses Haus hat mich auf besondere Weise berührt. Es steht etwa 60 Kilometer außerhalb von Kyjiw in Borodjanka. Dort sind in den ersten Wochen des Krieges fürchterliche Dinge geschehen. Der Stadtteil, in dem das Haus steht, wurde völlig zerstört. Ich kenne das Gebäude gut, weil ich seit 20 Jahren immer wieder daran vorbeifahre, wenn ich meine Eltern besuche. Seit das Haus eine Ruine ist, lässt es mir keine Ruhe. Jedes Mal, wenn wir daran vorbeikamen, hat sich mir innerlich alles verkrampft. An einem schönen Sommertag im August 2023 habe ich schließlich meinen Mann gebeten anzuhalten. Meine Familie hat im Auto gewartet und ich bin losgezogen und habe diese Bilder gemacht. 

     

    Die Serie trägt den Titel: „Sie werden dort keinen Tee mehr trinken“. Was wollten Sie damit ausdrücken? 

    Es sind keine dokumentarischen Bilder, eher eine Reflexion. Mein Ziel war es nicht, dem Publikum ein weiteres zerstörtes Haus zu zeigen, sondern etwas von meinen Gefühlen auszudrücken, von der Angst und der Verunsicherung mit der wir in der Ukraine seit fast drei Jahren leben. Das internationale Publikum ist müde von den Bildern der Zerstörung. Wir alle sind müde. Man möchte sich am liebsten abwenden und das alles nicht mehr sehen. Deswegen wollte ich weg von diesen düsteren Bildern und etwas zeigen, wo man sich nicht so schnell abwenden kann. Da sind frohe Farben, ein strahlender Himmel – und erst auf den zweiten Blick erkennt man die Tragödie. Dieser Kontrast zwischen Schönheit und Schrecken zwingt zum Nachdenken. 

     

    Sie sprachen davon, dass sie der Anblick dieses Hauses so aufgewühlt hat. Warum? 

    Dieses Haus ist einerseits groß und gleichzeitig wirkt es wie ein Puppenhaus. Eine Explosion hat die Außenwand weggerissen, man blickt in das Intimste, den privaten Lebensraum der Menschen. Das ist für mich die schlimmste Erfahrung in diesem Krieg: 

    Ein Haus bedeutet Schutz. Mein Zuhause war immer auch meine Festung, in die ich mich zurückziehen konnte. Unsere Wohnung ist Teil unserer Innenwelt, hier kann ich nackt und verletzlich sein. Der Krieg hat diese Gewissheit zerstört. Wir mussten erleben, dass diese Festung fragil ist, und das macht Angst. Ich kann mich nirgends mehr sicher fühlen. Jederzeit kann jemand in meinen intimsten Rückzugsraum eindringen, mit schmutzigen Fingern in meinen Sachen wühlen. Das hat viele Parallelen zu der sexuellen Gewalt, die die russischen Angreifer ja auch häufig ausüben. Dieses Bild verkörpert für mich all diese Gefühle: Etwas, das mir lange unerschütterlich schien, ist plötzlich ganz zerbrechlich. 

     

    Die Möbel stehen noch immer an ihrem Platz. Es wirkt fast so, als könnten die Bewohner jeden Moment nach Hause kommen…  

    Als ich das Bild aufgenommen habe, stand das Haus bereits seit anderthalb Jahren so da. Und heute, fast drei Jahre nach Kriegsbeginn, sieht es fast noch genauso aus. Die Stühle, die Zeitschriften im Regal. Es hat geregnet, geschneit und gestürmt. Der Krieg dauert an, aber hier wirkt es, als wäre die Zeit angehalten. So habe ich das auch in den ersten anderthalb Jahren nach Kriegsbeginn empfunden: Als wäre das Leben eingefroren, als wäre ich in einem Vakuum gefangen. Du bewältigst deinen Alltag, du lächelst, aber du hast keine Vorstellung davon, wie es weitergehen soll.  

     

    Das zweite Bild zeigt das Treppenhaus eines zerstörten Gebäudes in der Nähe. Jemand hat „Ukrajina ponad use!“ an die Wand gesprüht – „Die Ukraine über alles!“ – und daneben das Kürzel der ukrainischen Streitkräfte „WSU“. Ist diese Parole in einer Ruine ironisch zu verstehen? 

    Für mich überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Graffito erst nach der Zerstörung des Gebäudes entstanden ist. Für mich ist diese Parole wie ein Aufschrei: Ihr werdet uns nicht brechen! Ihr könnt unsere Häuser zerstören, ihr könnt unseren Alltag zur Hölle machen. Aber unseren Selbstbehauptungswillen und unsere Identität werdet ihr uns nicht nehmen. „Die Ukraine über alles“, das heißt, es gibt etwas, das wichtiger ist als materielle Dinge. 

     

    Wie reagieren Ihre Landsleute auf diese Bilder? 

    Sie wecken auch bei Ihnen widersprüchliche Gefühle. Das war ja auch meine Absicht.  Meine Absicht war nicht, den Krieg zu ästhetisieren. Ich wollte ihn so zeigen, dass die Leute hinsehen. Dieses Nebeneinander von Schrecken und Schönem ist Teil unseres Alltags. In unseren Familien erleben wir schreckliche Tragödien, aber wir feiern auch Kindergeburtstage. Nachts fallen die Bomben, aber am nächsten Morgen um 7 habe ich Yoga. Manchmal komme ich aus dem Luftschutzkeller und gehe erstmal auf die Matte, bevor ich mich nochmal hinlege. Das ist unser täglicher Surrealismus: Heute früh um 6 mussten wir in den Luftschutzkeller, weil Raketen im Anflug waren. Ich habe die Kinder geweckt und wir sind losgelaufen. Es war dunkel, es war kalt, auf der Straße lag Schneematsch, und meine Tochter lachte und rief: „Schnee, Schnee!“. Wir laufen in den Luftschutzraum, und meine Tochter freut sich über den ersten Schnee.  

     

    Die Ruinen, die Sonne und auf der Wiese blühen Blumen. Bomben fallen und Kinder freuen sich über den ersten Schnee – das passt alles nicht zusammen. 

    Aber so sieht unsere Realität aus. Du bekommst eine Warnung: Es sind wieder Flugzeuge aufgestiegen, in 20 Minuten werden ihre Raketen in Kyjiw sein. Und während du mit der einen Hand Kaffee kochst, lädst du mit der anderen noch schnell einen Film bei Netflix runter, damit ihr euch die Zeit im Luftschutzraum vertreiben könnt, denn 20 Minuten hast du ja noch. Du hast Angst, und gleichzeitig handelst du routiniert. Zu den Eigenschaften, die ich am meisten an meinen Landsleuten schätze, gehört der Humor. Wir Ukrainer lachen viel, selbst wenn wir Angst haben müssen. Es kommt vor, dass der Luftalarm versagt. Neulich wurden wir von einer Explosion aus dem Schlaf gerissen. Es war keine Zeit mehr, sich anzuziehen, alle sind wie sie waren in den Luftschutzraum gerannt: im Nachthemd, im Schlafanzug, mit zwei unterschiedlichen Hausschuhen. Und als wir da einer nach dem anderen in diesem Aufzug eintrafen, meinte jemand, ob wir denn zu einer Pyjama-Party verabredet waren, und alle lachten. Die emotionale Belastung ist enorm, aber der Humor hilft manchmal, den Druck rauszunehmen und mental zu überleben. 

     

    Wie kann man das jemandem vermitteln, der das nicht selbst erlebt hat? 

    Das ist sehr schwer. Einerseits verstehe ich, dass die Menschen in Europa den Krieg in der Ukraine verdrängen. Das ist eine normale Reaktion. Es gibt so viele gewaltsame Konflikte auf der Welt, wir können uns nicht alles zu Herzen nehmen. Deswegen will ich den Betrachter einfangen, bevor er sich wieder abgewandt hat von so einem schrecklichen Bild. Weil er das schon kennt, weil er es nicht sehen will, weil er nichts tun will und auch nicht will, dass das an ihm nagt. Ich hoffe, dass er schon in dieses einladende Gebäude eingetreten ist, bevor er merkt, dass es hier um Krieg geht. Dass er nicht mehr weglaufen kann. 

     

    Arbeiten der Fotografin Oksana Nevmerzhytska (geb. 1984) wurden unter anderem auf Ausstellungen in Frankreich, Schweden, Israel und den USA gezeigt und bei internationalen Wettbewerben ausgezeichnet. Ihre Bilder erschienen unter anderem im renommierten British Journal of Photography. Sie lebt mir ihrer Familie in Kyjiw. 

    Foto © Oksana Nevmerzhitska

     

     

     

    Fotos: Oksana Nevmerzhitska, aus der Serie „They will no longer drink tea there“ 
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans 
    Veröffentlicht am: 17.12.2024 

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    „Russland wird sich so viel nehmen, wie wir ihm geben“

    Marija Berlinska ist eine der bekanntesten Armee-Freiwilligen der Ukraine. 2014 absolvierte sie erste Luftaufklärungskurse in einem Freiwilligenbataillon, der gegen die von Russland gesteuerten Kräfte im Osten der Ukraine kämpfte. Seitdem engagiert sie sich in mehreren mitbegründeten Projekten für die Technologisierung der ukrainischen Armee. Ob NGO Zentr pidtrymky aeroroswidky (Zentrum für Luftaufklärungsunterstützung), Initiativen wie Narodny FPV (Volks-FPV) und Victory Drones oder die Stiftung Dignitas Fund – all diese Projekte bilden Militärangehörige und Zivilisten in Bau, Wartung und Umgang mit Drohnen aus.  

    Berlinska ist die „Mutter der ukrainischen Luftaufklärung“, so der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy im Porträt. Sie berät staatliche und militärische Entscheider ebenso wie zivilgesellschaftliche Akteure. Ihre Prognosen und Ratschläge werden im Hinterland oft als zu pessimistisch kritisiert, stoßen an der Front jedoch häufig auf große Zustimmung. 

    Berlinska schreibt regelmäßig Beiträge für die Ukrajinska Prawda, im Interview mit Chefredakteurin Sewhil Mussajewa spricht sie über ihr jüngstes Treffen mit Präsident Wolodymyr Selensky und die aktuell so schmerzhaften wie umstrittenen ukrainischen Themen: drängende Reformen im Verteidigungssektor, notwendige Verbesserungen bei der Mobilisierung sowie Worst-Case-Szenario und realistische Maßnahmen zu dessen Vermeidung. 

    Marija Berlinska im Interview mit Ukrajinska Prawda

    Ukrajinska Prawda: Wir haben schon verschiedene Phasen dieses Krieges durchlaufen. Zu Beginn der Invasion begeisterter Widerstand, später die Befreiung der Regionen Charkiw und Cherson, dann die erfolglose Gegenoffensive. Danach kam, was Walerii Salushny, der ehemalige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, als Pattsituation und Sackgasse bezeichnete. In welchem Stadium des Krieges befinden wir uns deiner Meinung nach jetzt? 

    Marija Berlinska: Wir befinden uns an einem Punkt, an dem die Russen in der Offensive und dabei erfolgreich sind. Sie werden die Offensive fortsetzen, das ist logisch. Doch wir kämpfen nicht nur gegen die versammelte Rüstungsindustrie Russlands, sondern auch Chinas, Nordkoreas, des Iran, Belarus’ und vieler anderer offener oder verdeckter Verbündeter. 

    Unter anderem beliefern leider auch westliche Länder die Russen mit Komponenten für Drohnen, Raketen, Flugzeuge und andere Rüstungsgüter. 

    Wir befinden uns also an einem Punkt, an dem der Feind aus seinen Fehlern gelernt, sich neu aufgestellt und beschlossen hat, nun aufs Ganze zu gehen. 

    Ja, auf DeepState können wir das offensichtliche Vorrücken der Russen sehen. Gleichzeitig haben wir erwartet, dass die Russen Pokrowsk schon im September 2024 umzingeln und einnehmen würden. Jetzt haben wir November und sie stehen immer noch einige Kilometer vor Pokrowsk. Zwar rücken sie weiter vor, aber in einem sehr langsamen Tempo. 

    Ich würde das Ganze aus einer weiteren Perspektive betrachten. Heute sehen wir es als Norm an, dass es die Ukraine gibt: mit funktionierendem Bankensystem, dass wir Kaffee trinken gehen können und der Verkehr funktioniert – also die Staatlichkeit und damit grundlegende wirtschaftliche, kulturelle und politische Prozesse. Doch in Wirklichkeit ist das ein Wunder. Nur gewöhnen sich Menschen sehr schnell an gute Dinge. 

    Die Tatsache, dass Pokrowsk noch nicht eingenommen wurde, ist auf keinen anderen Faktor zurückzuführen als auf das Heldentum der Ukrainer. Sie kämpfen um jedes Waldstück und jeden Meter. Freiwillige Helfer setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um Geld für Drohnen zu sammeln. Und unter vielen miesen Kommandeuren gibt es immer noch anständige Leute, die bis zum Schluss bei ihren Einheiten bleiben, sterben und verwundet werden, aber um jeden Meter kämpfen. 

    Wenn wir es zynisch mit einem Boxkampf vergleichen, sind die Russen irgendwo in Runde 3 oder 4, doch wir bereits in Runde 10 oder 11. 

    Nur so ist zu erklären, dass Pokrowsk im November 2024 immer noch uns gehört. Angesichts des dichten Artilleriefeuers, der Luftangriffe, der Tausenden von Gleitbomben, die auf uns fallen, und der ständigen taktischen Verbesserungen der Russen, ist das ein Wunder. 

    Die Russen zögern nicht, von uns zu lernen, sie übernehmen unsere besten Praktiken und verbreiten sie bei sich, auch in der Technologie. 

    Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem der Feind beschlossen hat, aufs Ganze zu gehen. Wenn wir es zynisch mit einem Boxkampf vergleichen, sind die Russen irgendwo in Runde 3 oder 4, doch wir bereits in Runde 10 oder 11.  

    Also nach dem Grad der Erschöpfung? 

    Ja, nach der Erschöpfung. Wir hängen mehr und mehr in den Seilen und sie haben ihre Kriegsmaschinerie gerade erst in Gang gesetzt. Das heißt, sie spüren ihre katastrophalen Verluste noch nicht. 

    Die Kremlführung weiß, dass eine Niederlage oder das Ausbleiben sichtbarer Ergebnisse für sie nicht nur den politischen, sondern auch den realen Tod bedeutet. Das könnte einen Aufstand in Russland geben. Deshalb lassen sie nicht locker und werden so viele Ressourcen wie nötig in dieses Kriegsfeuer werfen, nonstop. 

    Ihre angestrebten Ziele beschränken sich nicht auf die Besetzung der Region Donezk und die vollständige Kontrolle über den Donbas, richtig? 

    Wir reden hier nicht über rein administrative Grenzen. Wenn es ihnen gelingt, die Region Saporishshja im Ganzen zu besetzen, werden sie dafür kämpfen und sie einnehmen. Wenn es ihnen gelingt, Richtung Dnipro vorzustoßen, werden sie gegen Dnipro ziehen. 

    Ich habe festgestellt, dass die Ukrainer oft der Illusion unterliegen, es reiche aus, Putin etwas zu geben, ein Opfer zu bringen, und er werde aufhören. Aber Russland versteht nur Gewalt, das weiß ich sicher. Ich weiß ebenso, dass Russland sich genau so viel nehmen wird, wie wir ihm geben. Und wenn es die Ressourcen hat, bis nach Lwiw zu marschieren, wird es bis nach Lwiw ziehen. 

    Deshalb habe ich schon mehrfach darauf hingewiesen, dass es sehr wichtig ist, wie der Feind zu denken. Der Feind denkt wie ein Verrückter. 

    Könnte Russland uns also einnehmen, wenn sich seine Verbündeten auf der „Achse des Bösen“ maximal konsolidierten, die westlichen Länder aber untätig blieben und die Ukraine selbst von internen Unruhen geplagt würde?  Ja, das kann es durchaus. 

    Ich war erstaunt über die Zahlen vom September 2024: Russland hat 200 ballistische Raketen aus Nordkorea erhalten und gegen unsere Städte eingesetzt. Gleichzeitig war die Zahl der Raketen, die wir in dieser Zeit von allen unseren Partnern erhalten haben, geringer. Was können wir in diesem Fall nicht nur Russland, sondern auch seinen Verbündeten entgegensetzen? 

    Erstens müssen wir die Realität akzeptieren und dürfen uns nicht einlullen lassen. Zweitens müssen wir uns das Worst-Case-Szenario klarmachen. 

    Welches ist das für Marija Berlinska im November 2024? 

    Das Worst-Case-Szenario ist, dass wir uns nach und nach zu einem der Hauptschlachtfelder in einem Dritten Weltkrieg zwischen der „Achse des Bösen“ und den demokratischen Ländern entwickeln, was sich bereits abzeichnet. So werden wir zu einem großen Trainingsgelände. 

    Das Worst-Case-Szenario ist auch, wenn einerseits die Länder der „Achse des Guten“ nicht rechtzeitig aufwachen und erkennen, dass sie so schnell und so viel wie möglich Ressourcen und vielleicht sogar eigene Soldaten bereitstellen müssen. 

    Andererseits werden wir ohne Einigkeit und Konsens bei uns selbst Kampfgeist und Moral verlieren. Dann verlieren wir die Kontrolle über die Armee und damit allmählich unsere Staatlichkeit als solche. 

    Könnte Russland uns also einnehmen, wenn sich seine Verbündeten auf der „Achse des Bösen“ maximal konsolidierten, die westlichen Länder aber untätig blieben und die Ukraine selbst von internen Unruhen geplagt würde? Ja, das kann es durchaus. Und nicht nur die linke Dnipro-Seite. 

    In den letzten Monaten hatte ich den Eindruck, dass unsere Partner in den europäischen Ländern alles tun wollen, um den Krieg einzufrieren. Was lässt diese Menschen erkennen, dass das auch eine Bedrohung für sie darstellt? 

    Siehst du, das Verbrechen ist gut organisiert und wir sind es nicht. 

    Die Terroristen und Wahnsinnigen haben sich zusammengetan, doch die westliche Welt ist leider sehr gespalten und begreift nicht, welche existenzielle Bedrohung dies für das eigene Koordinatensystem und seine Spielregeln bedeutet. Die Länder der so genannten Achse des Bösen versuchen, ihre eigene Weltsicht hierauf zu übertragen. 

    Je schlimmer die Situation, desto mehr wollen die Leute zuhören. 

    Du warst bei einem vertraulichen Treffen mit Präsident Wolodymyr Selensky. Außerdem kommunizierst du mit der Militärführung und den Leitern einiger wichtiger Ministerien, die für unsere Verteidigungsfähigkeit verantwortlich sind. Verstehen diese Menschen dort die Gefahr? 

    Ich habe festgestellt, dass man zuhören möchte und einige Ideen akzeptiert. Ich habe auch festgestellt, dass es leider viele Prozesse gibt, die manuell gemanagt werden, selbst auf der strategischen Ebene. Was mir noch aufgefallen ist? Je schlimmer die Situation, desto mehr wollen die Leute zuhören. 

    Ich sage mal so, ich habe es in all den zehn Jahren als meine Pflicht angesehen, immer wieder das gleiche Mantra zu wiederholen: Drohnen werden den Verlauf dieses Krieges bestimmen, Technologie wird den Verlauf dieses Krieges bestimmen. Wir müssen die Bevölkerung vorbereiten, Leute ausbilden und die Philosophie des gesamten Krieges neu begründen. Wir müssen aufhören daran zu glauben, dass es uns schon nicht betreffen wird oder wir einen leichteren Weg haben. 

    Der einzige Weg, der uns hilft, ist die technologische Militarisierung der Gesellschaft. 

    Der einzige Weg, der uns hilft, ist die technologische Militarisierung der Gesellschaft. Das bedeutet, dass jeder in der Lage sein muss, Technologie zu produzieren und anzuwenden, um sich und sein Volk zu schützen. Dann geht kein Mensch mehr nach vorn, um aufzuklären, sondern es fliegt eine Drohne, oder Bodendrohnen sorgen für Deckungsfeuer, Minenverlegung und -räumung, Logistik usw. 

    Ein Team von Freiwilligen und ich sind bereit, diese Aufgabe zu übernehmen und dafür zu sorgen, dass mindestens 10-20.000 Menschen in jeder Region wissen, wie man Boden- und Flugroboter steuert und die Betriebsprogramme versteht, wie man mit ihnen kommuniziert und kämpft. 

    Der Krieg nährt sich auch nicht aus der Region Donezk oder aus Kursk. Er wird tief aus Russland gespeist. 

    Ich habe ja bereits über das Worst-Case-Szenario gesprochen, nun wollen wir uns dem Best-Case-Szenario zuwenden. Auch wenn es ein sakrales Mantra umstößt, müssen wir die Wahrheit sagen: dass das nicht mehr die Grenzen von 1991 sein werden. Das können wir vergessen. Wir geben kein Land auf, nicht die Krim und nicht den Donbas. Doch wir müssen aufhören, in der Öffentlichkeit zu diskutieren, dass wir sie in einem Jahr wieder haben werden. Das könnte im besten Fall – mit der richtigen und umfassenden Vorbereitung – in Jahren geschehen. 

    Im Moment besteht das beste Szenario darin, eine aktive Verteidigung zu führen. Das bedeutet, einen 30-40 Kilometer breiten Streifen, vermint mit mehreren und befestigten Verteidigungslinien entlang der gesamten Frontlinie zu bauen. Man kann hier vom Feind lernen, der teils eine sieben-, acht-, manchmal zehnfach gestaffelte Verteidigung hat. Dort muss investiert werden. 

    Der Krieg nährt sich auch nicht aus der Region Donezk oder aus Kursk. Er wird tief aus Russland gespeist, aus den Panzerfabriken, den Reparaturwerken, den Forschungs- und Entwicklungszentren. Dort müssen wird zuschlagen und diese Ressourcen zerstören. 

    Wir brauchen wirklich ein eigenes Raketenprogramm, doch wir beginnen erst, uns dem zu nähern. 

    Das ganze Land muss bereit sein, einen Sprintmarathon zu laufen. 

    Und drittens muss das ganze Land, die ganze Bevölkerung, endgültig auf die Geschichte eines langen Krieges, eines Sprintmarathons, eingestimmt werden und darauf, dass jeder bereit sein muss, ihn zu laufen. Kinder sollten bereits ab der 5. oder 6. Klasse Programmieren, Robotik und die Grundlagen der militärischen Kommunikation lernen. 

    Nicht, dass ich möchte, dass unsere Kinder in den Krieg ziehen, sondern weil der Krieg 2014 begonnen hat und diejenigen, die damals 12-14 Jahre alt waren, jetzt kämpfen und nicht darauf vorbereitet waren. 

    Wenn man mit den Militärs an der Front spricht, beklagen alle, dass es zu wenig Leute gibt, zu wenig Infanterie. Was kann man gegen den katastrophalen Personalmangel tun? 

    Man könnte zumindest drei konkrete Schritte unternehmen: Erstens, die Versetzungen innerhalb der Armee vereinfachen. Damit könnten einige unzufriedenen Leute Dampf ablassen und gleichzeitig würde die Armee etwas Menschlichkeit gegenüber den eigenen Soldaten zeigen. 

    Es ist wirklich absurd, dass Menschen, die gekommen sind, um die Freiheit zu verteidigen, sich in der Sklaverei wiederfinden. 

    Man muss es jedoch vernünftig machen, denn wir wollen nicht, dass auf einmal eine ganze Brigade zu einer anderen wechselt und wir dann, wie man uns im Generalstab erklärte, ein Loch in der Front haben. 

    Wenn jedoch alle plötzlich einen Kommandeur verlassen, liegt dies wohl am Kommandeur. Das wäre vielleicht ein Signal, ihn auszutauschen. 

    Ich würde die Forderung der Gesellschaft und der Armee nach Gerechtigkeit erfüllen. 

    Der zweite Punkt ist die vertikale Versetzung. Wenn eine Person in der Führungsebene einer Einheit bei der Erfüllung ihrer Aufgaben versagt, sollten wir auf jeden Fall ihre Rolle überdenken. 

    Es kann nicht sein, dass jemand in einer hohen Position nur befördert werden kann. Ich denke, es wäre fair zu sagen: Wer seine Aufgaben nicht erfüllt, geht nach unten und kann Zugführer oder einfacher Infanterist werden. 

    Drittens würde ich die Forderung der Gesellschaft und der Armee nach Gerechtigkeit erfüllen. Wir müssen den Menschen eine Pause gönnen, denn die Lasten des Krieges werden die ganze Zeit von denselben Menschen getragen. Deshalb würde ich allen zumindest alle drei-vier Monate ein paar Wochen oder sogar einen Monat Urlaub gönnen. 

    Wenn man es richtig und systematisch durchdenkt, die Front nicht ausdünnt und die ganze Sache digitalisiert und dabei die Reihenfolge der Prioritäten beachtet, ist das absolut realistisch. 

    Dann gibt keine Selbstmorde, keine Scheidungen und nicht einen solch hohen Prozentsatz von Deserteuren. Dann haben die Menschen die Möglichkeit, ihre Kinder zu umarmen, Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, ins Kino oder zum Arzt zu gehen. 

    Ist die Führung bereit, solche Entscheidungen zu treffen? 

    Wie man ein ineffizientes Managementsystem verändert? Was ich jetzt sage, klingt für einige wahrscheinlich nach Astrophysik oder wirrem Gerede: Ich behandle Menschen wie Roboter. Das ist meine Berufskrankheit der letzten zehn Jahre. 

    Ich glaube, dass die einzige Möglichkeit, Ressourcen effektiv zu nutzen, darin besteht, sie zu digitalisieren. Jeder von uns hat seine eigenen taktischen und technischen Eigenschaften. Du hast zum Beispiel die Eigenschaft, ein großes Team von Journalisten zu führen. Doch gibt es auch etwas, was du nicht kannst. Magst du zum Beispiel Excel-Tabellen? 

    Ich hasse sie. 

    Siehst du. Wenn man dir das aufbürdet, würdest du das nicht schaffen. 

    Wir haben gute Ingenieure, die schlechte Mörserschützen sind, oder gute Fahrer und Mechaniker, die schlechte Scharfschützen abgeben. Mit anderen Worten, wir setzen Menschen für den falschen Zweck ein. Denn wir kennen ihre Eigenschaften nicht. 

    Wenn man den Menschen als Roboter betrachtet, hat jeder von uns seine eigenen Spezifikationen: Mit einem Staubsaugerroboter pflügt man kein Feld, oder? Und mit einem Bewässerungsroboter kocht man keinen Borschtsch.  

    Da geht um das Humankapital. 

    Aber wie können wir es am besten nutzen? Zunächst jeden Roboter beschreiben. Wir bewerten doch auch Pizzalieferanten, Uber-Fahrer oder einen Coffeeshop. Big Data lügt nie. Wenn du ein Café mit einer Bewertung von 4,9 bei 6000 Bewertungen siehst, ist der Kaffee dort wahrscheinlich wirklich gut. So ist es hier auch. 

    Nur so kann man vernünftige Entscheidungen treffen – nicht getrieben von Emotionen oder weil man irgendwo Beziehungen hat, weil man mal zusammen auf einer Hochzeit gefeiert hat. 

    Anfang September veröffentlichte die Ukrajinska Prawda euren Artikel „Ministerium des Chaos“. Hat sich seitdem etwas verändert? Wie würdest Du das Verteidigungsministerium heute beschreiben? 

    Wahrscheinlich als das „Ministerium des letzten Versuchs“ (lächelt). 

    Was für Personen braucht es da deiner Meinung nach? 

    Wir brauchen jetzt geniale Leute. Die gibt es nur sehr wenige. Ich für meinen Teil gehöre nicht dazu. 

    Ich würde mich deshalb auf Logik, technische Eigenschaften und frühere Leistungen stützen und nicht von Emotionen leiten lassen, nicht von irgendwelchen Bekanntschaften, einem guten Eindruck oder der Fähigkeit zu schmeicheln und der Führung Komplimente zu machen oder sich verbiegen zu können. Das ist alles Unsinn. Ich glaube, dass solche Leute ihren Vorgesetzten einen schlechten Dienst erweisen. 

    Aber du verstehst doch, dass die derzeitige Regierung und Verwaltung nach dem Loyalitätsprinzip aufgebaut sind und das wird sich wohl kaum ändern. 

    Also ich hatte diese eine Gelegenheit, mit dem Präsidenten zu sprechen. Und ich habe ihm ganz aufrichtig und ehrlich gesagt, was ich denke. Im Grunde sage ich das schon seit zehn Jahren jedem, mit dem ich rede. Abgeordneten, Ministern und Leitern von Rüstungsunternehmen habe ich immer die Dinge gesagt, die ich für richtig halte. 

    Ich brauche nichts, ich bin nach Beginn der großen Invasion hierher zurückgekommen. Seit 2018 habe ich in Amerika gelebt, arbeitete in einer guten Führungsposition, alles war gut – ganz klassisch: Familie, Haus, viele Reisen – alles war in Ordnung. 

    Deshalb habe ich dem Präsidenten die Wahrheit gesagt. Als ich die Gelegenheit hatte, es ihm ins Gesicht zu sagen, sagte ich: „Wenn wir ertrinken, ertrinken wir alle.“ Woraufhin er mir sagte, dass er hier leben wolle. 

    Bist du zum Beispiel bereit, für das Verteidigungsministerium zu arbeiten? 

    Ich bin nicht bereit – nicht weil ich eine weiße Weste tragen möchte oder Angst vor Verantwortung habe. Ich bin nicht bereit, weil ich glaube, dass ich dort, wo ich gerade bin, effektiv bin: Unser Team bei Victory Drones und Dignitas tut sehr viel, um dem Verteidigungs- und Sicherheitssektor dabei zu helfen, einige wirklich gute Veränderungen voranzubringen. Einiges davon können wir hier noch nicht sagen. Aber so Gott will, wird die Zeit kommen, in der wir erzählen können, wie viel sich im Rahmen der positiven Reformen verändert hat. 

    Wie viele Drohnen werden derzeit im Programm Narodny FPV gebaut? 

    Etwa tausend Drohnen werden übergeben. Das ist nicht sehr viel, aber viel wichtiger ist, dass wir die Blockade in den Köpfen der Menschen beseitigt haben. 

    Lasst uns intelligent kämpfen. Dann werden wir diesen Kampf David gegen Goliath gewinnen. 

     

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    Es war eine dieser im Krieg so seltenen guten Nachrichten: Beim Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine am 18. Oktober ist unter den 95 aus russischer Kriegsgefangenschaft befreiten Ukrainern auch der Menschenrechtler und Journalist Maxym Butkewytsch.  

    Butkewytsch, geboren 1977, trat zum ersten Mal, damals als Siebtklässler, während der sogenannten „Revolution auf Granit“ 1990 öffentlich für eine unabhängige Ukraine auf. Später wurde er Journalist und Menschenrechtsaktivist mit Überzeugungen zwischen christlichen Werten, Anarchismus und Pazifismus.  

    Im Zuge des Euromaidan, der folgenden russischen Annexion der Krym und dem von Russland forcierten Krieg im Osten der Ukraine baute Butkewytsch mit Kollegen das unabhängige Radio Hromadske und das Menschenrechtszentrum mit Medienplattform Zmina auf. Er engagierte sich besonders für Binnenvertriebene und -Flüchtlinge in der Ukraine. 

    Als Russland im Februar 2022 die Ukraine mit seinem vollumfänglichen Angriffskrieg überzieht, meldet sich Butkewytsch freiwillig zum Militär. Im Juni 2022 gerät er in der Oblast Luhansk in russische Kriegsgefangenschaft. Dort wird er im März 2023 von einem russischen Besatzungsgericht zu 13 Jahren Haft verurteilt, weil er in Sewerodonezk mit einer Panzerfaust auf ein Wohngebäude geschossen haben soll. Seine Einheit war zu diesem Zeitpunkt nicht dort, wie Kameraden und Angehörige von Butkewytsch betonen.  

    Mit Butkewytschs Freilassung im Oktober ist zum ersten Mal ein in Russland verurteilter ukrainischer Militärangehöriger ausgetauscht worden. Erstmals kann jemand direkt vom Ablauf und den Bedingungen in russischer Kriegsgefangenschaft und Gerichtsverfahren im Krieg berichten. Kurz nach seiner Ankunft in Kyjiw gibt Butkewytsch mehrere Interviews: Dieses Gespräch mit seinen Kolleginnen von Hromadske Radio ist das allererste, nach gerade mal fünf Tagen in Freiheit.  

    Dieses Interview ist ein Anfang, über das Erlebte zu sprechen. Denn mit der Befreiung beginnt ein komplizierter Verarbeitungsprozess. Das Befragen ehemaliger Kriegsgefangener ist – und das zeigt auch die YouTube-Aufzeichnung des Interviews – schwierig, will man Retraumatisierung vermeiden. Die ukrainische Medien-NGO Instytut massowoji informaziji (dt. Institut für Masseninformationen, IMI) hat dazu Tipps einer ehemaligen Kriegsgefangenen veröffentlicht. Das Wichtigste: Der befragte Mensch bestimmt den Ablauf. 

    Maxym Butkewytsch kurz nach seiner Freilassung in Kyjiw, Foto © Ruslana Krawtschenko/Hromadske Radio
    Maxym Butkewytsch kurz nach seiner Freilassung in Kyjiw, Foto © Ruslana Krawtschenko/Hromadske Radio

    Hromadske Radio: Wie geht es dir? 

    Maksym Butkewytsch: Mir geht es wunderbar. So gut ist es mir in den letzten zwei Jahren und vier Monaten nicht gegangen. Wahrscheinlich sogar in den letzten zweieinhalb Jahren nicht. Wahrscheinlich bin ich glücklich. Ich erlebe etwas, das die Menschen Glück nennen. Generell und in vielen kleinen Momenten über den Tag verteilt – wenn ich Dinge sehe, die ich kannte und vergessen hatte, wenn ich Menschen treffe, die mir nah sind und mit denen ich jetzt reden kann, den einen oder anderen sogar sehen. Das ist wunderbar. Natürlich hat das alles auch seine Schattenseiten.   

     

    Unsere Zuschauer wissen ja, wie lange du festgehalten wurdest. Aus den ersten Videos und Informationen aus der Strafanstalt haben wir geschlossen, dass dein Zustand nicht sehr gut war, sich mit der Zeit aber besserte. Erzähle ein bisschen darüber. 

    Ich denke, eines der ersten Videos war aus dem Untersuchungsgefängnis Luhansk. Die Soldaten stehen aufgereiht an einer Wand. Es heißt, wir seien in Hirske und Solote gefangengenommen worden. Das war eine PR-Aktion. Dafür haben sie die erstbesten Kriegsgefangenen genommen. Darunter waren natürlich Leute, die an diesen Orten gefangengenommen wurden. Wir aber wurden woanders gefangengenommen.  

    Selbst bei so unwichtigen Dingen, bei denen es keinen Sinn macht zu lügen, gab es keine Wahrheit.  

    Was meinen Gesundheitszustand betrifft – ich hatte Probleme, allem voran mit einer Verletzung, die mir am zweiten Tag nach der Gefangennahme zugefügt wurde. Das war auf dem Weg nach Luhansk. 

    Die Verletzung stammte von einem Holzknüppel, mit dem ich geschlagen wurde, ich weiß nicht mehr wie oft, aber ich denke, ziemlich oft. Mein Arm war daraufhin für einige Zeit teilweise bewegungslos. Zum Glück heilte es irgendwie. Ich befürchtete einen Bruch, aber es war keiner. Ob davon etwas geblieben ist, werden wir bald erfahren, es sind Untersuchungen geplant. 

     

    Es gab noch ein Video, in dem ihr zur sogenannten Luhansker Beauftragten für Menschenrechte gebracht wurdet und angeblich Verwandte anrufen durftet. Damals kam ich für mich zu dem Schluss, dass sie sich auf ihre Weise noch immer mit euch beschäftigten, obwohl seit der Gefangennahme schon etwa ein halbes Jahr vergangen war. 

    In den ersten Wochen war es natürlich am intensivsten, da wurden wir von Personen aus verschiedenen Strukturen befragt. Man konnte nur raten, welche Strukturen das waren, denn selbstverständlich hatte niemand die „dumme“ Angewohnheit sich vorzustellen. Dann war da noch die eher formale Prozedur des Ministeriums für Staatssicherheit der sogenannten Volksrepublik Luhansk. Danach kehrte für einige Zeit Ruhe ein. 

    Später, im September 2022, wurde ein sogenanntes Strafverfahren gegen mich eingeleitet. Das war eine Woche vor dem Treffen mit der „Beauftragten für Menschenrechte“ der „Volksrepublik Luhansk“. Dieses Treffen war eine Überraschung für uns. Denn sie kam mit einem Mitarbeiter der UNO-Menschenrechtskommission. Danach beschäftigte man sich aufgrund des Strafverfahrens mit mir. 

     

    Du bist einer der ersten Ausgetauschten, den die Russen in einem Fake-Prozess verurteilten, aber schließlich zum Austausch freigaben. Und das, obwohl in den ukrainischen Menschenrechtskreisen im letzten Jahr große Unsicherheit und Zweifel darüber bestanden, ob die Russen verurteilte Kriegsgefangene herausgeben würden. Erzähl bitte, ob zwischen verurteilten und nicht verurteilten Gefangenen unterschieden wurde, wie ihr behandelt wurdet und wozu das alles war. 

    Wir hatten Informationen darüber, dass im letzten oder in den beiden letzten Austauschen Verurteilte gewesen waren, aber wir konnten das nicht überprüfen. Informationen kommen zwar zu den Gefangenen, aber oft spät und unvollständig. Viele Männer waren besorgt, dass keine verurteilten Kriegsgefangenen ausgetauscht würden. Zumindest in der Oblast Luhansk. Darin waren wir uns sicher. Weil in der Oblast Luhansk unseres Wissens alle verurteilten Kriegsgefangenen in derselben Strafkolonie festgehalten wurden. Dort war auch ich – in der früheren Strafkolonie Nr. 19, jetzt Strafkolonie Nr. 2 des Föderalen Strafvollzugdienstes Russlands in der „Volksrepublik Luhansk“. 

    Wir Verurteilte befanden uns dort gemeinsam mit anderen, die nach dem [russischem – dek] Strafrecht verurteilt worden sind. Es ist eine Strafkolonie mit strengen Haftbedingungen für sogenannte „Erstsitzer“, für solche also, die zum ersten Mal im Freiheitsentzug sind. Andere Kriegsgefangene gab es dort nicht. Sie befinden sich in anderen Strafkolonien der Oblast Luhansk, die sich durch ihre Haftbedingungen unterscheiden.  

    Der Umgang und die Haftbedingungen waren in der Strafkolonie eher zum Leben geeignet.

    Ich könnte nicht sagen, dass es eine spürbare Unterscheidung zwischen verurteilten Kriegsgefangenen und „normalen“ Verurteilten gab, jedenfalls meistens nicht. Obwohl es für Kriegsgefangene natürlich zusätzliche Beschränkungen gab. 

    Sie waren zu bestimmten Arbeiten nicht zugelassen, und noch andere Dinge. Aber es war nicht belastend. Im Großen und Ganzen war der Unterschied zwischen der Strafkolonie, in der wir uns aufhielten, und dem Untersuchungsgefängnis, wo wir zuvor noch als Kriegsgefangene gewesen waren, sehr groß. Der Umgang und die Haftbedingungen waren in der Strafkolonie eher zum Leben geeignet

    Wir waren gemeinsam mit anderen Verurteilten untergebracht. In denselben Baracken und denselben Blocks. Wir gingen zu derselben Arbeit, aber nicht zu allen Arbeiten waren Kriegsgefangene zugelassen. Wir aßen in derselben Kantine. 

     

    Arbeit – meinst du damit, dass man euch zwang zu arbeiten?  

    Genau. Eine andere Sache ist, dass nicht alle dazu gezwungen wurden und nicht jeder zu allen Arbeiten. Als meine verurteilten Kameraden und ich vor mehr als einem Jahr dorthin gebracht wurden, teilte man uns inoffiziell mit, dass das Arbeiten verpflichtend sei. Und dass eine Verweigerung bestraft würde.  

     

    Aus manchen Strafkolonien hört man, dass die Gefangenen dort russische Militäruniformen nähen. 

    Ich habe von Strafkolonien gehört, in denen genäht wird. Ob Uniformen, habe ich nicht gefragt. Aber das waren Strafkolonien in Russland. In der Oblast Luhansk werden Kriegsgefangene hauptsächlich für Wartungsarbeiten und Arbeiten zur Aufrechterhaltung des täglichen Lebens im Wohnbereich eingesetzt. Aufräumen, Lasten transportieren, Bordsteine streichen, Reparaturarbeiten. Im Industriegebiet arbeiten natürlich kaum Kriegsgefangene. Meistens gab es dort aber auch kaum Arbeit. Die Industriezone ist sehr klein, von ihr ist fast nichts übrig. Sie wurde in den zehn Jahren davor ziemlich heruntergewirtschaftet. 

     

    Du bist Armeeangehöriger und nun ehemaliger Kriegsgefangener, darüber hinaus bist du Menschrechtsaktivist. Als du den Russen in die Hände fielst, hattest du eine Ahnung, was weiter passieren würde – weil du ja an Menschenrechtsaktivitäten zum Schutz und zur Befreiung von ukrainischen Häftlingen teilgenommen hattest? 

    Ich hatte vage Erwartungen, die sich nicht bewahrheiteten. Allem voran muss ich sagen, dass ich überhaupt nicht erwartete, in Gefangenschaft zu geraten. Dieser Gedanke tauchte nur als eine der Varianten auf, wie es weitergehen könnte, aber niemand stellte sich darauf ein, niemand war bereit dafür. Das waren hauptsächlich Leute, die 2022 in Gefangenschaft gerieten. Sie hatten sich darauf vorbereitet, 300er [verwundet – dek] oder 200er zu werden.  

    Als wir bereits in Gefangenschaft waren, hatten wir entweder die allerschlimmsten Erwartungen, die nichts mit dem internationalen humanitären Völkerrecht gemein hatten, oder solche, die sich zumindest irgendwie mit dem humanitären Völkerrecht und der Genfer Konvention in Zusammenhang bringen ließen … Ein Lager für Kriegsgefangene … Wie sieht ein Lager für Kriegsgefangene aus? Wer weiß das schon, bevor er nicht selbst dort gewesen ist. Alles war ganz anders. Und ich kam erst nach einiger Zeit dahinter, dass man uns in einem Untersuchungsgefängnis festhielt. 

    Wie sieht ein Lager für Kriegsgefangene aus? Wer weiß das schon, bevor er nicht selbst dort gewesen ist.

    Später wurde uns klar, worin sich der Umgang mit den Menschen, die dort einsaßen, weil sie eines Verbrechens beschuldigt wurden, unterschied. Und er unterschied sich deutlich. Besonders 2022. Und ganz besonders bis Anfang Oktober 2022. Danach kam „offiziell“ Russland, was gewisse Änderungen mit sich brachte … Kam „offiziell“, weil Russland von dort in den Jahren zuvor ja nie weggegangen war. Aber es wurden einige Praktiken geändert, damit sie nicht allzu skandalös waren. Manche blieben gleich, mache wurden geändert. Um ehrlich zu sein, erwartete ich kein Strafverfahren. Dieser Teil war eine Überraschung für mich. 

     

    Wurde der Prozess gegen dich begonnen, weil du Menschenrechtsaktivist bist? 

    Ich weiß es nicht, ich glaube nicht, dass das der eigentliche Grund war.  Denn die meisten, fast alle Kriegsgefangenen, die in der Oblast Luhansk in solchen „Verfahren“ verurteilt wurden, wurden nach ein und demselben Schema verurteilt. Es waren absolut typische Strafverfahren. 

    Aber ich war der Erste, der verurteilt wurde, vielleicht auch der Erste, gegen den ein Strafverfahren eingeleitet wurde. Das könnte damit zusammenhängen, dass ich Menschenrechtsaktivist bin, denn bei den Verhören wurde natürlich – neben den Kampfhandlungen und meiner Einheit – besonderes Augenmerk darauf gelegt, was ich in meinem früheren Leben und im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit gemacht habe.  

    Vielleicht ist das tatsächlich der Hauptgrund dafür, dass ich der Erste war … Unter den verurteilten Kriegsgefangenen waren Menschen unterschiedlicher geografischer Herkunft, unterschiedlichen militärischen Rangs, mit verschiedenen militärischen Funktionen sowie Berufen im zivilen Leben. Es war ein Querschnitt durch die ukrainische Armee, wirklich sehr unterschiedliche Menschen.  

    Der menschliche Verstand sucht immer nach einem System, einer Gesetzmäßigkeit, aber wir fanden nichts. 

    Und wir versuchten in den Strafverfahren, in den Details im Umgang mit uns und der Unterbringung in den Zellen, ein System zu finden. Der menschliche Verstand sucht immer nach einem System, einer Gesetzmäßigkeit, aber wir fanden nichts. Manchmal hatten wir den Eindruck, ein Zufallsgenerator sei am Werk: „Wen sollen wir heute zum Kriegsverbrecher machen?“ 

    Noch dazu war offensichtlich, dass sie im August und Anfang September 2022, als die sogenannten „Untersuchungen“ zu meinem Strafverfahren durchgeführt wurden, große Eile hatten. Sie wollten so viele Menschen wie möglich nach diesem Schema verurteilen. Womit das zusammenhing, weiß ich nicht, aber vielleicht mit dem Zeitpunkt der formalen Annexion der „Volksrepublik Luhansk“ durch Russland. 

    Aber sie schafften es nicht. Deshalb kam es zu einer Pause von mehreren Monaten. Und danach hatten sie von manchen Formularen bereits die russische Version ausgefüllt. Zuvor waren es die Formulare der „Volksrepublik Luhansk“ gewesen, obwohl das Verfahren die ganze Zeit vom Russischen Ermittlungskomitee geleitet wurde. Verurteilt wurde ich bereits „im Namen der Russischen Föderation“. 

     

    Ich habe eine Frage zu jenen, die zurückgeblieben sind. Alle Kriegsgefangenen, die freikommen, reden immer von denen, die zurückgeblieben sind – sicher hast auch du eine Liste jener im Kopf, die noch dort sind. Aber ich frage dich im Zusammenhang damit, was du weiter tun wirst. Du hast einige Optionen, inwieweit könnten die Menschenrechte zum jetzigen Zeitpunkt eine Option sein? 

    Was meine weiteren Optionen betrifft, vermeide ich derzeit noch, eine mehr oder weniger endgültige Entscheidung zu treffen. Denn Optionen habe ich zum Glück einige. Es ist toll, mehrere Optionen zu haben. Sogar in der Situation, in der wir uns jetzt befinden – mit „uns“ meine ich die Ukraine. 

    Ich versuche, mir Möglichkeiten offen zu halten, einfach um zuerst verstehen zu können, was sich in den zweieinhalb Jahren verändert hat. Ich brauche genug Informationen. Aber ja, die Menschenrechte sind eine dieser Optionen. Wahrscheinlich die führende. Die Menschenrechte sind mein Leben. Sie sind ein Teil dessen, was den Kern meines Lebens ausmacht. 

    Es ist toll, mehrere Optionen zu haben. Sogar in der Situation, in der wir uns jetzt befinden – mit ‚uns‘ meine ich die Ukraine. 

    Aber in welcher Form das stattfinden wird, wird sich noch zeigen. Und natürlich wird mich das Thema jener, die ihre Heimat gegen ihren Willen verlassen mussten, immer begleiten. Das Thema Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge. Auch der Kampf gegen Diskriminierung und ungleiche Behandlung hat für mich an Relevanz gewonnen … das Thema der freien Meinungsäußerung und des freien Denkens hat neue Schattierungen angenommen, Dinge, die auch zuvor wichtig waren. 

    Mein Interesse für das Thema Strafvollzug wurde geweckt. Ich weiß jetzt einfach viel mehr darüber … 

    Aber natürlich sind unsere inhaftierten Kriegsgefangenen, sowohl die verurteilten als auch jene, die ohne Urteil festgehalten werden, mein Thema Nummer eins, der „Nagel“ in meinem Kopf. Und die Zivilisten, die festgehalten werden oder verurteilt wurden, weil sie auf irgendeine Weise gegen die Okkupation waren. Im Gefängnisjargon werden sie „Politische“ genannt. 

    Das sind menschliche Tragödien. Es gibt Familien, die einsitzen. Manchmal ganze, manchmal halbe. 

    Diese Menschen haben es sehr schwer, weil sie so viel riskiert haben und sich die Ängste, die sie dabei hatten, bewahrheiteten. Und viele fürchten, dass in der derzeitigen Situation, in der es viele Kriegsgefangene gibt, jemand vergessen werden könnte, und das wäre falsch. Schließlich gibt es Menschen, die gegen das Gesetz ihrer Freiheit beraubt werden. Ohne „gerichtliche Urteile“. Unter ihnen sind sogenannte prewentywnyky. Sie stehen unter präventivem Arrest, weil sie früher bei den ukrainischen Streitkräften gedient haben, bei der Polizei, in staatlichen Strukturen oder ähnlichem gearbeitet haben, davon gibt es viele. Ich habe sie in der Untersuchungshaft und im Gefängnis getroffen. Das sind menschliche Tragödien. Es gibt ganze Familien, die einsitzen. Manchmal ganze, manchmal halbe. 

    Die Atmosphäre trägt dazu bei, dass etwa bei Nachbarschaftskonflikten zur einfachsten „Lösung“ gegriffen und denunziert wird. Und sofort verschwinden die Probleme gemeinsam mit dem Nachbarn.  

    Aber vor allem sind unsere Kameraden und Kameradinnen Menschen, die von dort zurückgeholt, dort herausgeholt werden müssen. Ihre Würde steht unter ständigem Druck, immer, jeden einzelnen Tag. Das sind Druck und Bedrohungen, die man niemals vergisst. 

     

    Du hast gesagt, dass du in diesen fünf ersten Tagen in Freiheit versuchst zu verstehen, was sich verändert hat. Vielleicht hast du schon irgendetwas bemerkt. Zum Beispiel in Kyjiw, das du heute zum ersten Mal in all der Zeit gesehen hast. 

    Wir waren die meiste Zeit in einem Reha-Zentrum und halten uns auch weiterhin dort auf. Ich habe heute zum ersten Mal die Hauptstadt gesehen und auch meine Heimatstadt ganz kurz. Ich hatte heute nicht den Eindruck, wie andere oft sagen, durch eine „völlig unbesorgte Stadt zu fahren, die versucht zu verdrängen, dass Krieg ist“. Sagen wir so: Die Stadt ist fast friedlich, aber doch nicht ganz, ist fast ruhig, aber doch nicht ganz. 

    Aber das sind meine ersten Eindrücke, ich werde weiter sehen. Überhaupt nehme ich wahr, dass sich viel verändert hat, der Krieg ist alltäglich geworden, als „verstünde er sich von selbst“. Armeeuniformen, Militärfahrzeuge, verschiedene Besonderheiten, die es in Friedenszeiten nicht gab. Sie werden offensichtlich einfach als Teil der Landschaft wahrgenommen, was 2022 noch nicht der Fall war, damals war das noch eine Extremsituation.

     

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    Ein Drohnen-Pilot der 57. Motorisierten Brigade bereitet einen Quadrocopter auf den Einsatz in der Regioin Charkiw vor. Durch die FPV-Brille sieht er den Flug, als wäre er an Bord / Foto © IMAGO / ABACAPRESS 

     

    1. Artillerie 

    Die Hauptwaffe zur Bekämpfung des Gegners im taktischen Raum bleibt die Artillerie – sowohl großkalibrige Geschütze als auch Raketenartillerie (wie etwa die amerikanischen Raketenwerfer HIMARS oder die russischen Smersh oder Grad, die eine ballistische Flugbahn haben, aber beim Abschuss durch ein Rohr geleitet werden –  dek). In letzter Zeit berichten einige Experten, dass der Einsatz von Drohnen immer mehr in den Vordergrund rückt, doch bleibt die Artillerie wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg die wichtigste Waffe der Kriegsführung. 

    Nur das Artilleriekaliber hat sich verändert. Während im Ersten Weltkrieg 3-Zoll-Splittergranaten gegen die Infanterie und Geschosse bis zu 300 mm gegen starke Befestigungsanlagen eingesetzt wurden, verursachten im Zweiten Weltkrieg insbesondere 80-120 mm-Mörsergranaten einen erheblichen Teil der Schäden. Heute sind es 152 und 155 mm-Granaten und schwere Mehrfachraketenwerfer. 

    Mit der Integration eines Aufklärungszielradars und moderner Lenkmunition hat das Artillerie-Gegenfeuer eine neue Stufe erreicht. 

    2. Befestigungen 

    Feldbefestigungen erfordern einen erheblichen Aufwand; und während die Russen es sich leisten können, ganze Einheiten zum Graben einzusetzen, haben die ukrainischen Streitkräfte diese Möglichkeit aufgrund des Personalmangels nicht. Außerdem hat sich herausgestellt, dass sowohl Marinestützpunkte als auch Flugplätze praktisch nicht auf Angriffe vorbereitet sind. Deshalb braucht es eine verstärkte technische Ausstattung der Pioniereinheiten aller Teilstreitkräfte. 

    3. Minen 

    Alle Systeme zur Minenverlegung zeigen eine hohe Effektivität. Gleichzeitig wird deutlich, dass es an technischen Lösungen für die Aufklärung und die Überwindung von Minenfeldern fehlt. 

    4. Drohnen und elektronische Kampfführung 

    Viele Experten prognostizierten den breiten Einsatz von Luft- und Seedrohnen. Während dies eingetreten ist, bleibt die Drohnenabwehr jedoch systematisch zurück. Dieser Umstand zwingt die Streitkräfte dazu, neue taktische Einsatzpläne für verschiedene Kräfte anzuwenden sowie spezialisierte Systeme der elektronischen Kampfführung und Flugabwehr zur Bekämpfung von schwer zu erfassenden und niedrigfliegenden Drohnen zu entwickeln. 

    Der massenhafte Einsatz von FPV-Drohnen sowie KI-gelenkter Loitering-Waffen verändert das Bild auf taktischer Ebene des Gefechtsfelds grundlegend. Die Wirksamkeit des Einsatzes von schwer zu erkennenden taktischen Drohnen in niedriger Flughöhe hat sich als viel höher erwiesen als angenommen. 

    5. Flugabwehr 

    Eine gestaffelte Flugabwehr aus Boden-Luft-Raketensystemen hat sich als besonders effektiv erwiesen, um den Einsatz der gegnerischen Luftwaffe über und hinter der Frontlinie zu begrenzen. Dies wiederum führte zu einer raschen Anpassung aufseiten der Russen, welche konventionelle Bomben mit speziellen Modulen zu Gleitbomben umrüsteten.  

    Eigenbeschuss durch Boden-Luft-Raketen mit Zielsuchsensoren stellt bei den ukrainischen Streitkräften ein ernsthaftes Problem dar. Bis zu 30 Prozent der Verluste an Fluggeräten entfallen auf Friendly Fire. Dies erfordert neue Lösungen für Freund-Feind-Erkennungssysteme und die Einleitung der Selbstzerstörung von Raketen im Flug bei Anvisierung eigener Kräfte. 

    Generell hat der Krieg gezeigt, dass Marschflugkörper und ballistische Raketen das wirksamste Mittel sind, um die gegnerische Flugabwehr zu überwinden und Ziele im rückwärtigen Raum zu bekämpfen. Diese Fähigkeiten reichen jedoch nicht aus, um Waffenfabriken und die Hauptverkehrsstränge vollständig zu zerstören. 

    Daher ist damit zu rechnen, dass Raketen entweder mit höherer Sprengladung und höherer Geschwindigkeit entwickelt werden oder der Gegner bis zu zehn Raketen gleichzeitig auf ein Ziel abschießt, so wie zum Beispiel bei der Zerstörung des Wärmekraftwerks Trypillja

    Die von der Ukraine eingesetzten Anti-Schiffs-Raketen haben sich als effektiv erwiesen, um die Flugabwehr von Schiffen durch Einzel- und Doppelschläge zu überwinden, was beispielsweise zur Zerstörung des Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte, des Kreuzers Moskwa, führte. 

    Deshalb müssen die russischen Streitkräfte neue Lösungen für den Schutz von Kriegsschiffen und vor allem ihrer Liegeplätze finden, denn Angriffe ukrainischer Seedrohnen haben die russische Flotte bereits gezwungen, nach Noworossisk zu fliehen. Bislang versuchen die Russen Helikopter zur Abwehr einzusetzen, doch das Aufkommen von Seedrohnen mit Flugabwehrraketen wird dieses Problem [aus Sicht der Ukrainer] lösen. 

    6. Gepanzerte Fahrzeuge 

    Der Krieg hat gezeigt, wie anfällig gepanzerte Fahrzeuge für Angriffe aus der Luft sind. Mehr als 90 Prozent der Zerstörungen von gepanzerten Fahrzeugen werden heute durch einfache Hohlladungsmunition verursacht, die von Drohnen abgeworfen wird, beziehungsweise von Kamikaze-Dohnen, die sich auf die Fahrzeuge stürzen. 

    Daher benötigen alle Kampf- und Schützenpanzer sowie gepanzerten Mannschaftstransportwagen Anpassungen, um das Schutzniveau der Panzerung auf der Oberseite zu erhöhen, sowie Ausrüstung mit Systemen der elektronischen Kampfführung zum Schutz vor Drohnen. 

    7. Drohnen-Luftkämpfe 

    Er häufen sich Fälle, in denen russische Drohnen von ukrainischen Kampfdrohnen abgefangen werden. Das erinnert an den Ersten Weltkrieg, als die Hauptaufgabe von Jagdflugzeugen darin bestand, feindliche Aufklärungsflugzeuge zu vernichten. In naher Zukunft ist mit echten Luftkämpfen zwischen Drohnen zu rechnen. 

    8. Sturmangriffe auf Städte 

    Während der Angriffe auf Städte bleibt die im Ersten und Zweiten Weltkrieg entwickelte Praxis der Sturmbataillone relevant. Nur die Taktik ändert sich: Eindringen und Konzentrierung von Personal an den Angriffslinien oder Angriffe mit hochmobilen Trupps. Solche Gruppen zu bekämpfen ist schwierig, doch können die ukrainischen Streitkräfte Erfolge verzeichnen. 

    9. Leichte Fahrzeuge 

    Es besteht dringender Bedarf an der Entwicklung und Bereitstellung von leichten Fahrzeugen wie Quads oder Elektromotorrädern zur Unterstützung von Aufklärungseinheiten und Truppen im rückwärtigen Raum. Auch bestehen weiter systemische Probleme bei der Evakuierung von Verwundeten vom Gefechtsfeld durch spezialisierte Einheiten mit entsprechender Ausrüstung. Zwar gibt es Einsätze von Bodendrohnen, doch sind diese sehr selten. 

    10. Satelliten 

    Die Mittel zur Beschaffung von Aufklärungsinformationen haben sich stark verändert. So setzen die ukrainischen Streitkräfte äußerst effektiv verschiedene Elemente der Weltraumaufklärung und Satellitenkommunikation ein. Um dem etwas entgegenzusetzen, müssen die Russen ihrerseits Satellitenkommunikationskanäle stören und mehr eigene Satelliten ins All bringen, womit sie sich allerdings schwertun. Die ukrainischen Streitkräfte erhalten über ihre Verbündeten Informationen in Echtzeit, was ihnen erlaubt, kurzfristig auf Veränderungen der Lage zu reagieren und den Besatzern das Leben deutlich zu erschweren. 

  • Bilder vom Krieg #24

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Nicole Tung

    Ein verwundeter ukrainischer Soldat wird bei Kurachowe in ein Frontlazarett eingeliefert / Foto © Nicole Tung 

    dekoder: Die Verteidiger der Ukraine sind im Osten des Landes seit Wochen stark unter Druck. Sie waren Ende September im Frontgebiet zwischen Pokrowsk und Kurachowe. Was haben Sie da erlebt? 

    Nicole Tung: Das Feldlazarett in Kurachowe, in dem ich dieses Foto aufgenommen habe, versorgte einen 90 Kilometer langen Frontabschnitt. Das ist ein riesiges Gebiet. Als der verwundete Soldat auf einer Trage eingeliefert wurde, wand er sich vor Schmerzen. Die Sanitäter hatten ihm diese Plastikspritze zwischen die Zähne gesteckt, damit er da draufbeißen konnte. Unter anderen Umständen hätte die Wunde an seinem linken Bein gut behandelt werden können. Aber das Bein war oberhalb des Knies mit einem Tourniquet abgebunden, um die Blutung zu stillen. Wegen des starken Beschusses konnten die Sanitäter ihn nicht gleich aus der Gefechtszone rausholen. Also lag er einen halben Tag da. Als sie ihn eingeliefert haben war das Bein schon lila. Er flehte immer wieder: „Bitte rettet mein Bein!“.  

    Welchen Eindruck haben sie insgesamt von der Situation an der Front? 

    Die Lage ist sehr ernst. Die Ukrainer verlieren stetig an Boden. Als ich den Versorgungspunkt zum ersten Mal besuchte, befand er sich im zweiten Stockwerk eines Gebäudes in Kurachowe. Beim nächsten Besuch war er in den ersten Stock verlegt worden, weil bereits Gleitbomben in die Stadt flogen. Als ich dieses Foto aufnahm, war die Front nur noch zehn Kilometer oder weniger entfernt. Erkundungsdrohnen kreisten über der Stadt und wir konnten hören, wie die Ukrainer Mörser abfeuerten. Zwei Wochen später musste das Lazarett in einen anderen Ort verlegt werden, weiter weg von der Front.

    Es gab unterschiedliche Phasen in diesem Krieg: Auf den ersten Schock nach dem Überfall folgte eine Euphorie, als die Russen zurückgeschlagen werden konnten. Wie ist die Stimmung in der Truppe zur Zeit? 

    Ich glaube, sie sind ziemlich verzweifelt, weil kein baldiges Ende des Krieges absehbar ist. Die Ukrainer sind sehr innovativ, zum Beispiel beim Einsatz von Drohnen. Aber sie können einfach nicht dieselben Ressourcen mobilisieren, wie Russland sie in die Schlacht wirft. Der Staat bemüht sich verstärkt darum, mehr Männer einzuziehen. Aber sie haben momentan einfach nicht genug Leute. Und wenn die Russen rasch vorrücken, wirkt sich das auch auf die Moral der ukrainischen Soldaten aus. Selbst wenn es in nächster Zeit Verhandlungen geben sollte, könnte das bedeuten, dass so viele Kämpfer vielleicht vergeblich gestorben sind und Russland dennoch große Territorien einnimmt. Eine verbreitete Klage lautet: „Unsere Unterstützer geben uns gerade genug Waffen, damit wir nicht verlieren. Aber nicht genug, um diesen Krieg zu gewinnen.“ 

    Zu Beginn des Krieges hatten sich viele Männer und auch Frauen freiwillig gemeldet, um ihr Land zu verteidigen. Jetzt werden Männer auch gegen ihren Willen eingezogen. Wie wirkt sich das auf die Motivation aus? 

    Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Wehrpflichtige heute nur einen oder anderthalb Monate lang ausgebildet werden, bevor sie in den Einsatz müssen. Einige werden Truppenteilen zugewiesen, die russische Stellungen stürmen müssen, das sind die gefährlichsten Einsätze. Ich war in letzter Zeit bei vielen Beerdigungen von Einberufenen. Die waren oft zwischen 40 und 50 Jahre alt, als sie nach vier Wochen Ausbildung an die Front geschickt wurden. Man kann sich denken, dass sich diese Situation auch auf die erfahreneren Soldaten auswirkt, die vielleicht schon seit 2014 kämpfen, wenn sie sehen, wie schlecht die Soldaten ausgebildet sind, die sie unterstützen sollen. 

    Sie sind eine erfahrene Reporterin und haben schon aus vielen Kriegen berichtet, unter anderem aus Syrien. Was ist das Besondere am Krieg in der Ukraine? 

    Zunächst handelt es sich aus historischer Sicht um den größten Landkrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir leben im Jahr 2024 und in Europa sitzen Menschen in Schützengräben. Zum anderen ist da die Technik: Wir sehen Artilleriegeschütze aus der Sowjetzeit und gleichzeitig Drohnen, die erst am Morgen zusammengebaut wurden. Und die Soldaten, die sie steuern, gucken durch diese VR-Brillen auf das Schlachtfeld. Dieser Kontrast ist krass. Und schließlich ist da die menschliche Seite: Die Ukrainer sind sehr widerstandsfähig. Sie halten ihr Alltagsleben unter allen Umständen aufrecht. Aber auch das wird langsam zermürbt. Einst lebendige Orte wurden ausgelöscht. In jedem Krieg gibt es Tod und Zerstörung. Aber dieser Krieg fühlt sich wirklich an wie ein Angriff auf die ukrainische Identität und ihre Geschichte. 

     

    Foto: Nicole Tung @nicoletung 
    Bildredaktion: Andy Heller @frau.heller 
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 11.11.2024

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